Schriftstellerporträts
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2019
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ISBN (Print) 978-3-8353-3557-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4407-5
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4408-2
Auftakt mit Porträts
Marcel Proust (1871–1922)
Nicht Erfindung, sondern Beseelung
Thomas Mann (1875–1955)
Ins Reine, Wahre, Unveränderliche
Franz Kafka (1883–1924)
All diese Lügen und Legenden
Samuel Beckett (1906–1989)
Der ewige Romanträumer
Wolfgang Koeppen (1906–1996)
Der Zwang zur Formulierung
Max Frisch (1911–1991)
Für mich ist das Leben geheim
Albert Camus (1913–1960)
Die Angst muss im Genick sitzen
Gert Ledig (1921–1999)
Das Glück, das vor ihm lag
James Salter (1925–2015)
Umständehalber jetzt nicht zu drucken
Martin Walser (*1927)
Weil ich das letzte Wort haben will
Günter Grass (1927–2015)
Störfälle und Sommerstücke
Christa Wolf (1929–2011)
Das erträgt man eigentlich nicht
Walter Kempowski (1929–2007)
Wir haben nur uns selbst
Imre Kertész (1929–2016)
Ein Zeuge fürs eigene Leben
John Updike (1932–2009)
Die entwürdigende Katastrophe
Philip Roth (1933–2018)
Ich habe das lange verdrängt
Dieter Forte (1935–2019)
Jedes Buch muss für sich einstehen
Joyce Carol Oates (*1938)
Aber ich bin doch nicht nur ich
Peter Handke (*1942)
Der Sinn für Vermissen
Botho Strauß (*1944)
Zurück in die eigene Geschichte
Christoph Ransmayr (*1954)
Nachbemerkung
Er war ein hübscher Junge, ein schöner junger Mann, wohlgelitten, beliebt. Schon im Gymnasium suchte er die Freundschaft von Söhnen der besseren Kreise, vornehmlich des Adels. Er verliebte sich gern in ältere Frauen oder zumindest doch solche, die unerreichbar waren: gern auch die Freundinnen seiner Freunde. Er konnte schwärmen, nicht nur für Mädchen und später Männer und Knaben, er himmelte auch Künstler an: Schriftsteller, Maler, Musiker. Dem Komponisten Gabriel Fauré schrieb er in einem Brief: »Monsieur, nicht nur liebe, bewundere und verehre ich Ihre Musik, ich war vielmehr und bin in sie verliebt.«
Marcel Proust wollte Schriftsteller werden. Aber wie? Anatol France, dessen umfangreiches literarisches Werk er in jungen Jahren bewunderte, sagte zu ihm: »Das ist ganz einfach, mein lieber Marcel. Als ich so alt war wie Sie, war ich nicht hübsch und beliebt wie Sie, ich ging nicht in die Gesellschaft, sondern blieb zu Hause und las in einem fort.« Der elegante junge Mann dagegen, Sohn eines Arztes, trieb sich mit Vorliebe in den Pariser Salons der Belle Époque herum, in den höheren und höchsten Etagen der Gesellschaft. Er schrieb zwar auch, veröffentlichte Bücher, Aufsätze, Zeitungsbeiträge. Doch nichts deutete darauf hin, dass er es eines Tages auf sich nehmen sollte, das große Epos des Jahrhunderts zu schreiben.
Beliebt? Nicht immer kam er gut an, bisweilen wurde sein Hang, die Nähe bestimmter Kreise und Personen zu suchen, als aufdringlich empfunden. Der Gräfin Élisabeth Greffulhe zum Beispiel, der er 1893 mit Anfang zwanzig erstmals begegnete und danach mit Hilfe seines Freundes Robert de Montesquiou, eines Cousins der Bewunderten, näherzukommen trachtete, mochte das gar nicht. Später erinnerte sie sich an ihn (sie überlebte Proust um dreißig Jahre): »Sein unaufhörliches Umschmeicheln gefiel mir nicht. Es war da etwas an ihm, das ich wenig anziehend fand. Und hinzu kam noch der Unfug mit der Fotografie von mir; stets und ständig belästigte er Robert damit, er möge ihm ein Bild von mir verschaffen.«
Dass man sich fotografieren ließ, war damals noch eine relativ neue Leidenschaft, der vor allem die besseren Kreise mit großem Eifer anhingen. Freilich hielt man solche Porträts unter Verschluss. Sie galten als privat und intim. »Man gab sie nicht an Außenstehende weiter«, befand auch die Gräfin, die das Vorbild für gleich zwei Figuren in Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit abgab – als Herzogin und als Prinzessin eines fiktiven Adelsgeschlechts Guermantes.
Die Gesellschaft von Paris ließ sich im Fotoatelier Nadar ablichten. Es war Mitte des 19. Jahrhunderts von Felix Nadar gegründet und gegen 1880 von dessen Sohn Paul übernommen worden. Der machte es zu einem höchst vornehmen Atelier, das mit anspruchsvollen Porträts bald zu Ruhm kam. Auch die Familie des Arztes Adrien Proust ließ sich dort ablichten – wie nahezu sämtliche Persönlichkeiten aus jenen Kreisen, für die der Sohn Marcel sich so brennend interessierte. Der junge Schriftsteller versuchte, an möglichst viele dieser Bilder heranzukommen. Er sammelte Fotos der Menschen, die ihn umgaben. Niemand verstand so recht, warum, zunächst vielleicht nicht einmal er selbst.
Dann, mit Mitte dreißig, zog er sich ganz plötzlich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, »blieb zu Hause«, wie es ihm einst Anatol France anempfohlen hatte, und arbeitete nahezu ununterbrochen an seinem Hauptwerk À la recherche du temps perdu, fünfzehn Jahre lang, bis zu seinem Tod im November 1922. Er verließ das mit Kork gegen Lärm isolierte Zimmer nur noch, um sich eines Details zu vergewissern, das sein Gedächtnis oder ein Foto nicht hergab: ob das nun die Geste einer bestimmten Person oder die Möbel eines Salons war. Dazu mischte er sich noch einmal unter Menschen. Sonst galt für ihn: »Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie bei dem Künstler in jedem Augenblick wohnt.« So sagt es der Ich-Erzähler in Prousts Riesenepos, das mehr als 200 Romanfiguren enthält und mehr als 4000 Seiten umfasst.
Dieser Erzähler heißt Marcel wie sein Schöpfer und ist doch nicht einfach das Abbild des Schriftstellers, genauso wenig wie der Romanzyklus insgesamt reale Personen der Pariser Gesellschaft schlicht nachbildet. Aber die Existenz der gesammelten Porträts ist zu verlockend, als dass ein Proust-Liebhaber sie einfach ignorieren könnte – auch wenn diese historischen Fotos die lebendige Figurenzeichnung und Tiefenschärfe des epischen Wunderwerkes nicht wirklich erklären können, das zwischen 1913 und 1927 nach und nach erschien und das der Zurückgezogene vor seinem Tod immerhin noch abschließen konnte.
Erst spät kam die Nachwelt auf die Idee, im Fotoarchiv des Ateliers Nadar einfach einmal nach den Porträts jener Menschen zu fahnden, die Proust zu Vorbildern seiner Figuren nahm, wobei er nicht selten mehrere Personen zu einer vermengte. Es war ein Amerikaner, William Howard Adams, der diese Bilder zuerst in einem Buch veröffentlichte, zunächst 1984 in den Vereinigten Staaten, vier Jahre später folgte unter dem Titel Prousts Figuren und ihre Vorbilder eine deutsche Ausgabe. Beglückt über seinen Fund schrieb Adams im Vorwort: »Betrachten wir die außergewöhnliche Kundenliste Nadars im Blick auf Proust, so will es erscheinen, als habe der Schriftsteller, zum Vorteil späterer Generationen, mit dem Fotografen ein abgekartetes Spiel getrieben, um die Porträts seiner Welt festzuhalten, sodass wir das Rohmaterial, wovon sich Proust für seinen großen Roman inspirieren ließ, verstehen können.« Wohlgemerkt: das Rohmaterial, denn das alles wäre nichts und vergessen, wenn nicht dieses wunderbare Werk der Weltliteratur daraus erwachsen wäre und alle möglichen Quellen hinter sich gelassen hätte.
Die Zeitgenossen aber, die sich wiederzuerkennen glaubten, waren erbost. Auch Robert de Montesquiou, der einst das Foto seiner gräflichen Cousine besorgen sollte und sich in der Romanfigur Baron de Charlus wiedererkannte. Er war ein Bekannter, wie Proust ihn sich wünschte: Angeblich reichten seine Adelsverbindungen bis zu den Merowingern zurück. Der Graf war – wie sein Spiegelbild im Roman – ein eigenwilliger Kauz und Künstlern ein guter Gesprächspartner. Im Roman heißt es über ihn: »Es gibt Fälle, in denen zur Vervollständigung der Personenbeschreibung eine phonetische Wiedergabe unerlässlich wäre; die Schilderung der Persönlichkeit des Baron de Charlus läuft jedenfalls Gefahr, unvollständig zu bleiben, weil eben dies feine, leichte Lachen fehlt.« Wenn es stimmt, was Prousts Haushälterin Céleste Albaret später in ihren Memoiren schrieb, so konnte der Romancier sein vermeintliches Opfer nur schwer beruhigen.
Als Vorbild für jenen Swann, nach dem der erste Teil des Romanwerkes Du côté de chez Swann heißt (mal als In Swanns Welt, mal als Unterwegs zu Swann übersetzt), gilt Charles Haas, ein Elegant der Belle Époque, ein wohlhabender Müßiggänger und gesellschaftlicher Aufsteiger, den Proust beneidete und bewunderte – wobei er lange bestritt, ihn als Vorbild genommen zu haben. Die Geschichte der unglücklichen Liebe Swanns zur Edelprostituierten Odette, die er eifersüchtig bis zur Raserei verfolgt (»Seine Liebe war, wie die Chirurgie es nennt, inoperabel geworden«) und am Ende sogar heiratet, ist die bekannteste Episode aus der Recherche, nicht zuletzt durch Volker Schlöndorffs Verfilmung. In Odette, der Romanfigur, verschmelzen mehrere reale Personen, eine davon war Laure Hayman, eine berühmte Kokotte, in die Proust wohl auch selbst einmal verliebt war, der er jedenfalls noch Jahre nach der ersten Begegnung glühende Liebesbriefe schrieb. An den realen Charles Haas aber, ob nun Vorbild oder nicht, erinnerte man sich lange nach dessen Tod als Swann-Haas – ähnlich wie Jahrzehnte später dem wichtigen Ort aus Prousts Kindheit, Illiers, einfach der fiktive Name Combray angehängt wurde, unter dem er in der Recherche auftaucht: das Städtchen in der Region Centre-Val de Loire nennt sich heute stolz Illiers-Combray.
Und doch geht von den historischen Fotos ein Zauber aus, da sie nun einmal für Proust Bedeutung hatten und durch die Verwendung im Werk veredelt sind. Und so schaut man gerührt auf diese Menschen, auf Jeanne Pouquet etwa, das Mädchen mit der Lockenpracht, in das Proust verliebt war, »wie man es mehr nicht sein kann«, und das eines der Vorbilder für die kleine Gilberte im Roman abgab. Der Schriftsteller schickte der jungen Frau Jahre später sogar einen Vorabdruck aus dem Buch, mit genau jener Passage, in der sich Marcel, der Ich-Erzähler, an die erste Begegnung erinnert: »So klang dicht neben mir der Name Gilberte auf, mir geschenkt wie ein Talisman, der mir vielleicht erlauben würde, eines Tages diejenige wiederzufinden, die er aus einem eben noch ganz ungewissen Bilde zu einer wirklichen Person umgeschaffen hatte.«
Auf einem anderen Porträt steht in langem Gewand die wohl letzte der Damen aus der Pariser Gesellschaft, die Proust verehrte, bevor er sich dann zurückzog, um daheim in seinen Romankosmos einzutauchen, die Prinzessin Helene Soutzo. Sie war, wie er selbst schrieb, »die einzige Frau, der es zu meinem Unglück geglückt ist, mich dazu zu bringen, meine Wohnung zu verlassen«. Oder Graf Henri Greffulhe: Er, Sohn aus einer belgischen Bankiersfamilie, galt etwas in der Pariser Gesellschaft. Er verdränge mehr Luft als jeder gewöhnliche Sterbliche, hieß es von dem Mann mit gewaltigem Bart. Der Graf und seine Frau Elisabeth, eine geborene Prinzessin de Caraman-Chimay, gaben Proust die entscheidende Anregung für den Herzog und die Herzogin Guermantes, das gesellschaftliche Doppelgestirn in der Welt des Romans.
Sein Leben lang beharrte Proust vergeblich auf dem Wunsch, ein Porträt der Comtesse Greffulhe in Händen zu halten. Er ließ einfach nicht locker: »Ich bin zu krank, um Ihnen länger zu schreiben, erlaube mir aber, Sie an meine Bitte um eine Fotografie zu erinnern.« Und er führte weiter aus: »Um sie mir zu verweigern, hatten Sie einst einen äußerst schlechten Grund vorgeschoben, nämlich dass eine Fotografie die Schönheit der Frau festhalte und damit erstarren lasse. Aber ist es nicht gerade schön, einen strahlenden Augenblick festzuhalten, das heißt, ihn zu verewigen?« Natürlich war das nicht hilfreich, und nicht lange vor seinem Tod resignierte er. Er begehre nun kein Bildnis mehr, wie er es »zu oft verlangt habe«.
Im Archiv des Pariser Ateliers fand sich auch ein Foto von Proust selbst in jungen Jahren, als er noch nicht schreibend auf der Suche nach der verlorenen Zeit in seinem lärm- und lichtgeschützten Zimmer unterwegs war. Da steht mit Scheitel und Lippenbart der hübsche Marcel neben seinem jüngeren Bruder Robert, zu dem er zeitlebens nur eine oberflächliche Beziehung unterhielt. Umso enger und liebevoller war stets seine Bindung an die Mutter, die stolz zwischen beiden Söhnen thront und mit großer Nachsicht die immer exzentrischer werdende Lebensweise ihres Erstgeborenen akzeptierte.
Nicht um Fotografien aber, nicht um Abbilder geht es am Ende, sondern um jene Innenbilder, die der Erzähler im Leser hervorruft. Das Werk des Schriftstellers, heißt es am Ende dieser in jeder Hinsicht riesigen Recherche des Marcel Proust, sei doch »lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können«.
In Kalifornien, unweit von Hollywood, hatte sich der ins Exil getriebene Schriftsteller Thomas Mann noch einmal ein Haus bauen lassen, und dort erreichte ihn 1951, er war Mitte siebzig, die Nachricht von der in Deutschland publizierten Jubiläumsausgabe der Buddenbrooks: fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans im Oktober 1901. Die deutsche Gesamtauflage seines »Familienromans« war damit auf 1,8 Millionen geklettert, und der Autor, dem Deutschland in den Exiljahren seit 1933 »doch recht fremd geworden« war, notierte am 26. November 1951 gerührt: »Bei den Deutschen, so hämisch sie oft sind, schließlich einzig Verständnis.«
Wollte er geliebt werden? Ausgerechnet von den Deutschen, denen er den Pakt mit Hitler nicht verzeihen konnte? Er hatte sein Haus in München zurücklassen müssen und den Verlust »der gewohnten Lebensbasis« als Schock erlebt, ebenso wie die gleich nach 1933 gegen ihn gerichteten »kläglichen Aktionen daheim, Ausbootungen, Absagen«. Es war ein quälendes Paradox: Deutsche Bürger, die den Roman über das Bürgertum doch ihm verdankten, hatten Thomas Mann aus Deutschland vertrieben und ihm seine Würde abgesprochen, ausgerechnet ihm, der so viel auf sein »Deutschtum« gab, der die deutsche Sprache liebte und beherrschte wie kaum einer.
Er war, wie sein Held Tonio Kröger, ein »verirrter Bürger«, hin- und hergerissen zwischen »Anständigkeit und Abenteuertum«. Und er war ein deutscher Schriftsteller, den die mystische »Altertümlichkeit« der deutschen Seele faszinierte, aber auch abstieß, als sie sich in der »hysterischen Barbarei« des Nationalsozialismus entlud. Wie ihn als Künstler die »Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit« im bürgerlichen Alltag nie losgelassen hat, so suchte er auch immer wieder die Anerkennung durch das Land seiner Herkunft und die Auseinandersetzung mit dessen Dämonen.
Ob der Künstler der Antipode des Bürgers ist, ob er seiner Kunst das Leben, auch die Liebe opfern muss, das war für ihn von Anfang an eine große Frage gewesen, die er schon in seinen frühen Novellen Tonio Kröger (1903) und Der Tod in Venedig (1912) gestellt hatte – und nun erst wieder in seinem in den USA geschriebenen, in Deutschland spielenden, auf Deutschland zielenden Roman Doktor Faustus (1947), der Geschichte eines Teufelspakts. Der Künstler sei der Bruder des Verbrechers und des Verrückten, heißt es darin – und über den Romanhelden, den Komponisten Adrian Leverkühn: »Wen hätte dieser Mann geliebt? Einst eine Frau – vielleicht. Ein Kind zuletzt – es mag sein … Wem hätte er sein Herz eröffnet, wen jemals in sein Leben eingelassen?«
Das war ein Stück Selbstporträt, und dennoch schrieb Thomas Mann 1950 in einem Brief die Worte: »Unbeliebt soll man sich machen bei den Dummen und Schlechten, und ich habe es immer unbedenklicher, rücksichtsloser getan, je älter ich wurde. Aber ungeliebt war ich nicht, bin ich nicht, will ich nicht sein, leugne, es zu sein.«
Noch einmal ein halbes Jahrhundert später, 100 Jahre nach dem Erscheinen seines ersten und bis heute erfolgreichsten Romans, wurde der Schöpfer zum Fernsehhelden: in dem TV-Dreiteiler Die Manns von Heinrich Breloer und Horst Königstein, verkörpert durch den Schauspieler Armin Mueller-Stahl, der ihm ein liebevolles, überraschend gütiges Gesicht lieh. Aus Anlass der ersten Ausstrahlung dieses Films durch den Fernsehsender Arte schrieb der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der »FAZ«: »Thomas Mann, er, der Emigrant, der in Deutschlands Unglück Deutschlands Glück war – jetzt erst ist er ganz heimgekehrt. Diese Heimkehr ist ein nationales Ereignis.« Lebendig unterstützt wurde die freundliche Mann-Verkörperung im Film durch die eingestreuten Erinnerungen von Elisabeth Mann Borgese, der (in einem Wort des Vaters) »Letztausharrenden« der sechs Dichterkinder: Sie wusste als Kronzeugin und hellwache Gesprächspartnerin Breloers Liebevolles, ja geradezu Zärtliches über ihren Vater zu berichten.
Thomas Manns Heimkehr als Fernsehstar war das TV-Ereignis der Vorweihnachtszeit 2001: Allein die erste Folge auf Arte sahen rund anderthalb Millionen Zuschauer, für den elitären Kulturkanal das drittbeste Ergebnis seiner Geschichte. Und für die ARD war es ein gutes Zeichen: Dort lief der Film wenig später an drei Abenden zur besten Sendezeit, insgesamt mehr als fünf Stunden. Die Geschichte einer Schriftstellerfamilie wurde zelebriert als kulturelles Großereignis.
Thomas Mann, der 1955 bald nach seinem 80. Geburtstag in der Schweiz gestorben ist und dessen »unbezweifelbare Sehnsucht« es war, »den Lebenskreis zu runden«, wäre entzückt gewesen. Sein Roman Buddenbrooks hatte sich inzwischen allein in deutscher Sprache mehr als vier Millionen Mal verkauft, die Weltauflage wird auf rund zehn Millionen geschätzt. Im Jubiläumsjahr 2001 hatte sich der Verkauf laut Auskunft des Verlags S. Fischer gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.
Die Buchhandlungen waren pünktlich zum TV-Event gut gerüstet, die Schaufenster voll mit Werken aus der literarischen Werkstatt der Familie Mann und über sie. Denn nicht nur Thomas Mann, auch seine Mutter, seine Brüder (Heinrich und Viktor) und seine Kinder hatten geschrieben. Und über sie alle ist ebenfalls jede Menge geschrieben worden. Er aber, Thomas Mann, war und ist es in erster Linie, der einer ehemaligen Lübecker Kaufmannsfamilie zum glänzenden Comeback verhalf, zu einer Erfolgsstory, die das 20. Jahrhundert auf beispiellose Weise gespiegelt und geprägt hat. Und so drehte sich am Ende doch wieder einmal alles hauptsächlich um ihn, den bedeutenden deutschen Schriftsteller.
Der Aufstieg der Manns zur großen deutschen Dichterdynastie begann mit drei Fehleinschätzungen. Die erste betrifft den Vater von Thomas und Heinrich Mann, den erfolgreichen Kaufmann und Senator, der 1891 überraschend im Alter von 51 Jahren gestorben war und ein Testament hinterlassen hatte, in dem er seinen beiden Ältesten jegliche literarische Begabung absprach: Heinrich, dem Erstgeborenen, sagte er »träumerisches Sichgehenlassen« nach. Von Thomas glaubte er, dass der sich in einen »praktischen Beruf« hineinfinden werde. Nur dem jüngsten Sohn, Viktor, gerade ein Jahr alt, traute er offenbar einiges zu (»Das Kind hat so gute Augen«).
Der junge Thomas dachte gar nicht daran, sich der väterlichen Einschätzung zu beugen, ging vielmehr vorzeitig von der Schule ab und zog, die Firma in Lübeck war inzwischen verkauft worden, Richtung Süden: nach München, wo die Mutter fortan lebte, weiter nach Rom, wo auch sein Bruder Heinrich sich als Schriftsteller übte. Er schrieb nun ebenfalls, kürzere Prosastücke zunächst, und er plante vieles, darunter eine kürzere Knabennovelle, die Geschichte eines »sensitiven Spätlings« namens Hanno.
Das war die zweite Fehleinschätzung. Die Arbeit am Manuskript, begonnen im Oktober 1897, Thomas war 22 Jahre alt, nahm überraschende Form und Dimension an: Aus einer knappen Vorgeschichte, in der der Autor kurz auf Hannos Ahnenreihe eingehen wollte, erwuchs eine komplette Generationensaga – gespeist aus vielerlei Informationen über die eigene, seit 1775 in Lübeck ansässige Kaufmannsfamilie.
Knapp drei Jahre später, es war im Sommer 1900, hatte er den Roman abgeschlossen. Thomas Mann nannte ihn Buddenbrooks und schickte das dicke, beidseitig mit violetter Tinte beschriebene Konvolut nach Berlin, zum Verlag von Samuel Fischer: das einzige Exemplar, das er hatte, per Post – immerhin als Wertpaket.
Die Antwort des Verlegers war die dritte Fehleinschätzung: Er glaube nicht, schrieb Fischer, dass sich viele Menschen finden würden, die Zeit und »Concentrationslust« hätten, einen Roman dieses Umfangs zu lesen. Seine Empfehlung: um die Hälfte kürzen! Dem aber widersetzte sich der Autor entschieden und ohne sich lange zu bedenken.
Und so erschien 1901 tatsächlich, zunächst in zwei Bänden, jener Roman, in dem der »Verfall einer Familie« (wie der Untertitel lautet), die Krise des Bürgertums am Beispiel der fiktiven Lübecker Familie Buddenbrook erzählt wird – für Thomas Mann die Keimzelle seines eigenen märchenhaften Aufstiegs, Fundament einer neuen, am Ende weitaus bedeutenderen Großfamilie, weit entfernt vom Kaufmännischen, dennoch als paradoxe Neuauflage gutbürgerlicher Lebensform inszeniert.
Es wäre falsch, den Abstieg der Romanfamilie mit dem Schicksal der realen Lübecker Kaufmannsfamilie Mann gleichzusetzen: Während die Firma der Buddenbrooks unter Wert liquidiert wird und der letzte Buddenbrook, Hanno, romanwirksam in jungen Jahren an Typhus stirbt, blieb der Mutter der beiden Schriftstellersöhne nach dem testamentarisch verfügten Verkauf des Mannschen Familienunternehmens genug Vermögen, um als Witwe in München nicht zu darben und ihre fünf Kinder gut zu versorgen: Neben den drei Söhnen waren da noch die Töchter Julia, Lula genannt, und Carla.
Sohn Thomas aber wollte, bewusst oder unbewusst, höher hinaus, wollte die Geborgenheit im Bürgertum für sich selbst ins Leben zurückholen – nicht bloß im Roman rückblickend als gefährdete, scheinbar verlorene Welt rekonstruieren. Und er war sich über die eigenen Impulse durchaus im Klaren, als er selbstbewusst, den wachsenden Erfolg der Buddenbrooks im Rücken, um die wunderschöne, acht Jahre jüngere Mathematikstudentin Katia Pringsheim warb, seine »Märchenbraut« und eine der besten Partien Münchens. Über das fürstliche Anwesen der Familie Pringsheim in der Arcisstraße wusste er sich einzugestehen: »Die Atmosphäre des großen Familienhauses, die mir die Umstände meiner Kindheit vergegenwärtigte, bezauberte mich« – dort fand er auch das »im Geiste kaufmännischer Kultureleganz Vertraute« wieder.
Und entsprechend richtete er sich das Leben zusammen mit seiner Ehefrau Katia ein (die Heirat fand 1905 statt), seiner lebenslangen Gefährtin und intimsten Vertrauten. Sie war, wie es der gemeinsame Sohn Golo 1986 formulierte, »die größte Liebe seines Lebens und jene, die bei weitem am längsten dauerte«. Die Dichtersgattin – auf ihrem Briefkopf stand später »Frau Thomas Mann« – unterstützte ihren Ehemann in seinen großbürgerlichen Träumen nach Kräften. »Die Buddenbrooks, das sind doch keine Herrschaften!«, so soll sie mehr als einmal gesagt haben. Für sie waren die Romanfiguren aus dem baldigen Bestseller lediglich (laut Golo Mann) »gute Bürgersleute in einer kleinen Stadt«, und das war zugleich ein Urteil über die Vorfahren ihres Mannes. Sie war anderes gewohnt und hatte anderes vor. Thomas Mann war es nur recht.
Ein Poet mit Personal: Er speise schon zum Morgentee Zuckerbrötchen und trage fast ausschließlich Lackstiefel, behauptete Thomas Mann 1907 von sich, ein wenig selbstspöttisch zwar, doch auch mit Selbstbehagen: »Mein Hausstand ist reich bestellt, ich befehle drei stattlichen Dienstmädchen und einem schottischen Schäferhund.« Und da wohnten die Manns noch lange nicht in der nach ihren Wünschen gebauten Villa in der Poschingerstraße, die 1914 bezogen wurde.
Beide Eheleute stammten aus kinderreichen Familien; Katia hatte vier Geschwister wie ihr Mann, lauter Brüder. Sie selbst brachte sechs Kinder zur Welt (außerdem gab es zwei Fehlgeburten) – jeweils als »Pärchen«, wie die Mutter sagte, in aufeinanderfolgenden Jahren: 1905 /06 Erika und Klaus, 1909 /10 Golo und Monika, 1918 /19 schließlich Elisabeth und Michael. Sechs Kinder – und das bei diesem »ichwärts gekehrten väterlichen Wesen« (Monika Mann), bei einem Schriftsteller, dem die Arbeit nicht eben leicht von der Hand ging (Thomas Mann: »Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten«): Das ist nur einer der Widersprüche dieses an inneren Gegensätzen, Spannungen, Irritationen so reichen Dichterlebens.
Noch erstaunlicher war vielleicht die von den Kindern später immer wieder hervorgehobene Liberalität in Thomas Manns Haus, ein Gewährenlassen, das in schrillem Gegensatz zu jeder bürgerlichen Wohlanständigkeit stand. Die Kinder kehrten zwar noch als Erwachsene immer wieder gern für kürzere oder längere Zeit ins Elternhaus zurück, aber niemand wurde festgehalten, eigentlich auch niemand erzogen. Ob sie, die Kinder, »letzte, verwöhnte Sprösslinge einer hoch intellektualisierten Bourgeoisie« seien, fragte sich der junge Klaus Mann Anfang der dreißiger Jahre. Er fand seine Kindheit, obwohl »nach außen noch ziemlich behütet«, »fragwürdiger, gefährdeter«, als man sich eine »bürgerliche Kindheit« gemeinhin vorstelle.
Die Geschichte der Manns ist nicht bloß eine von gewaltigen literarischen Leistungen und hoher Arbeitsdisziplin, sondern auch von Drogenmissbrauch, Selbstmorden und sexueller Not – und eine, um die sich zahlreiche Legenden ranken. Behauptungen einzelner Forscher allerdings, dass es zum Geschwister-Inzest kam oder der junge Thomas Mann in Italien sich eines Tier- oder gar Menschen-Blutopfers schuldig machte, sind nie schlüssig belegt worden. Dennoch: »Was für eine sonderbare Familie sind wir!«, notierte Klaus Mann 1936 im Tagebuch. »Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.« Im selben Jahr offenbarte er auch, immerhin schon ein beachteter junger Schriftsteller: »Ich bejahe jede Verschwendung, die ich mit meinen Kräften getrieben habe, und treibe. Hierher gehört sowohl die wahllose Unzucht, als auch die Neigung zum Gift.«
Was sollte Thomas Mann dem entgegensetzen? Hatte nicht schon ein Pastor in Lübeck nach dem Tod des Senators die ehemals so wohlgelittenen Manns eine »verrottete Familie« genannt? Die Mutter war als Witwe in München nicht unbedingt durch züchtigen Lebenswandel aufgefallen, ebenso wenig deren Töchter.
Beide Schwestern von Thomas Mann nahmen sich später das Leben: Carla, die wenig erfolgreiche Schauspielerin, 1910, mit 28 Jahren; Lula, Mutter dreier Töchter und morphiumsüchtig, 1927. Carlas Freitod war – nach dem frühen Tod des Vaters – ein schwerer Schock, der Thomas Manns bürgerliche Sicherheit ins Wanken zu bringen drohte; ihm schien durch die Tat »unsere Verankerung gelockert«. Zugleich beklagte er Carlas »stolzen und spöttischen Charakter«, nannte sie »entbürgerlicht« und »ins unselig Bohemehafte gedrängt«. Es gab eben doch Grenzen, und weder der Selbstmord (für den Dichter kein so fremder Gedanke, früh schon bekannte er »Sympathie mit dem Tode«) noch die Einnahme von Rauschgift ließen sich mit Manns durchaus liberaler Vorstellung von Bürgerlichkeit in Einklang bringen.
So auch bei Ehefrau Katia: Ihr galt die Drogensucht von Klaus als das »Kleinbürgerliche«, für dessen offen zur Schau gestellte Homosexualität galt das nicht, Freunde von Klaus wurden daheim willkommen geheißen. Es hat nichts genützt: Auch er, Klaus Mann, nahm sich 1949 das Leben – als erstes der Kinder Thomas Manns; viele Jahre später, in der Silvesternacht 1976 /77, folgte ihm der jüngste Sohn, Michael, der sich zunächst als Musiker hervortat und in den USA spät noch zur Germanistik wechselte.
Eine erstaunliche Familie in jeder Hinsicht – das Wort von der »amazing family«, 1939 von dem britischen Diplomaten und Schriftsteller Harold Nicolson in die Welt gesetzt, machte bald die Runde und wurde später von den Manns selbst gern aufgegriffen; auch die Eltern verwendeten es in Briefen an die Kinder. »Jeder Zoll ein bürgerlicher Dichterfürst« sei Thomas Mann schon in der Weimarer Republik gewesen, befand Marcel Reich-Ranicki, und: »Was den Briten ihre Windsors, das sind den Deutschen, jedenfalls den Intellektuellen, die Manns.«
Gewiss hat die Faszination, die diese Familie bis heute umgibt, auch mit Voyeurismus zu tun: Wo sonst lassen sich derartige Einblicke hinter die Fassade einer Familie tun? Kaum von seinen besten Freunden wisse man so viel wie von Thomas Mann, schrieb Hermann Kurzke, einer der zahlreichen Mann-Biografen. Und das gilt keineswegs nur für die zentrale Figur dieser Familie, den fleißigen Tagebuch-Schreiber Thomas Mann. Vielmehr war das Motto der Manns insgesamt: jeder über sich, jeder über jeden – und keineswegs immer freundlich. Klaus Harpprecht, ein anderer Mann-Biograf, nannte das »die eingeborene Taktlosigkeit der Familie Mann«.
Das begann schon früh mit den Brüdern Heinrich und Thomas Mann, den bedeutendsten Schriftstellern der Familie, aber viele Jahre lang auch erbitterten Konkurrenten. So schrieb 1904 Thomas in einem Brief über den vier Jahre Älteren, dessen »künstlerische Persönlichkeit« provoziere bei ihm Hass, seine Bücher seien in so außerordentlicher Weise schlecht, »dass sie zu leidenschaftlichem Widerstand herausfordern«. Und wenn sein Bruder Heinrich 1915 in einem Essay über Zola schrieb, es sei »Sache derer, die früh vertrocknen sollen, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewusst und weltgerecht hinzutreten«, so sah sich der erfolgreiche Buddenbrooks-Autor wohl nicht ganz zu Unrecht gemeint.
Noch 1938 hielt Thomas Manns Sohn Klaus in seinem Tagebuch fest, der Vater sei gegenüber Heinrich (den er sehr schätzte) oft »gedankenlos-grausam« – und setzte die Frage hinzu: »Wem gegenüber nicht?« Es war nicht leicht, ein Sohn Thomas Manns zu sein. Den Töchtern fiel es bei Weitem nicht so schwer, an ihn heranzukommen, ihn liebevoll, ja zärtlich zu erleben: Erika, der Ältesten, und mehr sogar noch Elisabeth, der Jüngsten und ihm erklärtermaßen Liebsten (»Das Kindchen unendlich rührend, wie immer«).
Wenn die Gefahr drohte, dass der junge Golo allein mit dem Vater, vor dem er in Jugendjahren »große Scheu« hatte, zu Abend essen musste, dann notierte er sich vorher ein paar Punkte, »damit das Gespräch nicht stockt und ein schreckliches Schweigen entsteht«. Als er das einmal seinem Bruder Michael beichtete, lachte der nur: »Ich mache es genauso!« Michael Mann erinnerte sich später an die lange Familientafel in dem großen Haus, die der Vater wie selbstverständlich dominierte: Die Jüngeren »saßen am andern Ende der Tafel mit unserem Kinderfräulein und durften nicht mitreden, außer wenn wir gefragt wurden«. Nur ein einziges Mal in der Münchner Zeit ist es offenbar vorgekommen, dass dort, »wo sonst nur der lübische Hausherr und Familienvorstand saß« (Golo), ein anderer Platz nehmen durfte: Es war der von Thomas Mann geschätzte Kollege Hugo von Hofmannsthal – eine Auszeichnung für den Gast.
Auch das Schlafzimmer des Vaters wagte der kleine Michael nur ein einziges Mal zu betreten, nämlich 1929, als die Mutter ihn und Elisabeth vorschickte, um dem Ruhenden die Nachricht vom Nobelpreis zu überbringen. Da gab es dann keine Probleme, keinen Protest. Sonst aber: Fürchterlich war »das Donnerwetter, wenn wir ihn gestört hatten«, wie Sohn Golo später in seinen Erinnerungen schrieb. »Wir mussten uns nahezu immer ruhig verhalten; am Vormittag, weil der Vater arbeitete, am Nachmittag, weil er da erst las, dann schlief, gegen Abend, weil er sich wieder ernsthaft beschäftigte.« Doch er erwähnte zugleich, und nicht ohne Neid, dass es kein von seinem Bruder Klaus verfasstes Buch gegeben habe, »das der Vater nicht genau gelesen, auf das er ihm nicht auf das Eingehendste, Verständnisvollste geschrieben hätte«. Erst nach Lektüre der väterlichen Tagebücher stellte Golo Mann fest, dass der Schein wohl getrogen hatte: »Ich schäme mich manchmal, wie nett er da über die Söhne schreibt. Ich wusste das nicht.«
Freilich hatte sich Thomas Mann gern über den Knaben lustig gemacht. So etwa am Tag des eigenen 44. Geburtstags, der Junge war damals zehn: Aus diesem Anlass gab es ein familiäres Ratespiel daheim. Im Tagebuch heißt es dazu: »Golo hatte nach allgemeiner Überzeugung an der Thür gehorcht; er verriet sich durch merklich erheuchelte Combinationen. Seine Falschheit sehr komisch.« Aber spätestens von 1933 an war der zweitgeborene Sohn, damals frisch bei Karl Jaspers promoviert (er hatte Philosophie und Geschichte studiert), neben Ehefrau Katia und Tochter Erika zum wichtigsten Gesprächspartner im Schweizer Exil geworden, wobei Thomas Mann sich allerdings noch im September des Jahres darüber »erregt und verstimmt« zeigte, dass auch Golo »eine Äußerung von mir gegen das Hitler-Deutschland« herbeisehne.
Doch schon bald häufen sich Eintragungen wie: »Mit ihm manches über die Politik.« Offenbar war der »gute Golo« auch als Anreger, Zuhörer und Beiträger, was die Mannsche Produktion anlangt, gern willkommen. So diktierte der Vater 1936 »nach einem Entwurf Golos« einen »Beitrag über den Frieden«, und später setzte der Dichter einfach seinen Namen unter vom Sohn Verfasstes, wie 1949 unter eine Buchkritik für die »New York Times« – die hundert Dollar Honorar reichte er brav weiter: »Übergab Golo dankbar den Check. Freute sich sehr.« Und doch: an tieferen Signalen der Herzlichkeit seitens des Vaters mangelte es in all den Jahren, im Tagebuch und wohl auch sonst. Thomas Mann mag die nach dem Zweiten Weltkrieg wachsende Rivalität der Geschwister Erika und Golo bedauert haben – ein wenig dürfte er sich auch in der Gewissheit gesonnt haben, dass dabei nicht zuletzt um seine Gunst gerungen wurde. Als die Tochter sich im September 1949 über die »völlige Herzlosigkeit« ihres Bruders beklagte, widersprach die Mutter Katia »mit Recht«, wie der Vater zwar einräumte und notierte, um dann doch etwas wenig Schmeichelhaftes über den Sohn folgen zu lassen: »Ich verberge mir etwas Defekthaftes auch in diesem respektablen Falle natürlich nicht.«
Den »Zauberer« nannten ihn, halb bewundernd, halb neckend, die Älteren, »Tommy« wurde er von den Jüngsten genannt, bis die Mutter einschritt und eines der Kinder den dann praktizierten Vorschlag machte, einfach »Herr Papale« zu sagen. Thomas Mann, ein Monstrum? So nannte ihn wohl gelegentlich die Ehefrau, sprach auch gern vom »verrückten Mann«, jedoch: Die Legende vom gefühlskalten Familienvater, der die Seinen dazu missbrauchte, um hinter bürgerlicher Fassade ungestört literarischen und homoerotischen Träumen nachzuhängen, ja, andere zu Drogen und in den Selbstmord trieb, hat sich mittlerweile weitgehend erledigt – nicht zuletzt durch die Zeugenschaft der Tochter Elisabeth.
Die Familie war für Thomas Mann auch für das eigene Schaffen von nicht geringer Bedeutung: als stets bereite Zuhörer häuslicher Lesungen aus dem Entstehenden, auch als Mitarbeiter wie Ehefrau Katia, die Briefe für ihn formulierte und in frühen Jahren seine Manuskripte tippte, oder wie Tochter Erika, die als regelrechte Lektorin eine, so der Vater, »geschickte Dämpferin alles pedantischen Zuviels« war – vor allem aber waren die Familienangehörigen auch Stofflieferanten, Quelle der Inspiration. So hat er auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Buddenbrooks, sein ruhmreicher Debütroman, sich nicht zuletzt geschickter Plünderung der familiären Umgebung und Ahnenschaft verdankt – wie ähnlich übrigens die beiden Frühwerke des Bruders Heinrich: In einer Familie (1894) und Im Schlaraffenland (1900). In Hinblick auf Thomas Manns Novelle Unordnung und frühes Leid (1925) bezeugen gleich mehrere Mann-Kinder, dass die Wiedergabe der Wirklichkeit – im Mittelpunkt steht ein häusliches Tanzfest in den Wirren der Inflationszeit – »an Genauigkeit kaum zu überbieten ist« (Michael Mann).
Vor allem Tochter Elisabeth konnte sich in Lorchen wiedererkennen, der fünfjährigen Professorentochter, die sich beim Tanz in einen Studenten verliebt und so das frühe Leid der Sehnsucht spürt, das auch der hilflose Vater, dessen Lieblingskind die Kleine ist, nicht lindern kann. Noch im Schlaf des Kindes, so muss er erleben, zittert »ein verspätetes Schluchzen« nach. War es so? »Das will ich meinen. Ich kann mich genau erinnern«, sagte die geistesgegenwärtige alte Dame gleich in der ersten Folge des Films Die Manns über ihr viele Jahrzehnte zurückliegendes Erlebnis mit einem Freund des Hauses. »Die Geschichte war genau so. Er hat mich dann auf den Arm genommen und mit mir getanzt, und das war über die Maßen herrlich. Und mein Vater war ein bisschen eifersüchtig.« Dann lachte Elisabeth Mann Borgese, noch immer ganz beglückt: über die eigene Erinnerung vielleicht oder aber das liebevolle Bild, das der Vater von ihr in seiner Novelle gezeichnet hatte – eine ganz zauberhafte Szene in Breloers Film.
Es sei nicht die Gabe der Erfindung, »welche den Dichter macht«, hat Thomas Mann sein Verfahren verteidigt, sondern die der »Beseelung«. Und wenn Ehefrau Katia einmal vorsichtig Protest gegen »die Darstellung des Intimsten« anmeldete (auch in diesem Fall ging es um die Familie und die Kinder), so wurde im Tagebuch dazu gleich angemerkt: »Dieses Intimste ist jedoch zugleich das Allgemeinste und Menschlichste, und übrigens kenne ich solche Bedenken gar nicht.«
Denn alles wurde ihm Stil, wurde Form. Er wollte ein Werk schaffen, nicht Autobiografie betreiben – das sah nur gelegentlich so aus. Thomas Mann wusste viel zu viel über die untergründigen Spannungen zwischen Realität und Fiktion, als dass er naiv glaubte, die Wirklichkeit sei einfach in Literatur umzusetzen – und das Literarische habe umgekehrt nichts Wirkliches an sich. Die Literatur wurde sein Leben, aber er sah sein Leben auch als Roman. Und alles, was dazugehörte, wie die Familie, ebenso. Konnte er sich dabei nicht auf ein großes Vorbild berufen, jenen Goethe, an dem er alles maß, vor allem sich selbst? Hatte der nicht die Verlobte eines Freundes als unerreichbare Lotte in seinem Werther zu Literatur gemacht? Diese Charlotte Kestner nun ließ Thomas Mann 1939 als Heldin seines ersten Romans auferstehen, den er aus dem amerikanischen Exil heraus veröffentlichte: eine alte Dame, die den großen Goethe wiedersehen möchte.
So fern von Deutschland – und dann Lotte in Weimar! Das muss ihm großes Vergnügen bereitet haben: etwa wie er den Sekretär Goethes der Besucherin, die doch längst stolz darauf ist, im weltberühmten Frühwerk vorzukommen, eine scheinheilige Entschuldigung für die »Indiscretion des Genius« aufsagen lässt. Die Frau Hofrätin müsse gelitten haben, so redet der Mann langatmig weiter, unter Goethes »bürgerlich schwer zu rechtfertigender Art, mit Ihren Personen, Ihren Verhältnissen dichterisch umzuspringen, sie vor der Welt, buchstäblich vor dem Erdenkreise unbedenklich bloßzustellen und« – noch immer ist Thomas Mann mit seinem Satz nicht am Ende – »dabei Wirklichkeit und Erfindung mit jener gefährlichen Kunst zu vermischen, die sich darauf versteht, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben und dem Erfundenen den Stempel des Wirklichen zu verleihen«.
Es ist ihm mehr als einmal gelungen, auch aus dem Schreibprozess Stoff für spannende Erzählung zu gewinnen, Einblicke in seine Werkstatt zu gewähren: so etwa in dem Buch Die Entstehung des Doktor Faustus (1949), dem er konsequent den Untertitel »Roman eines Romans« gab. Darin beschreibt er auch die Störungen und Ablenkungen, die ins »Hauptbetreiben«, ins »laufende Werk« hineinspielen, »dem ja immer nur drei, vier beste, hermetisch abgesonderte Tagesstunden eigentlich angehören«.
Im Roman selbst, dessen Stocken und Werden hier so minuziös nachgezeichnet ist, im Doktor Faustus, wird als Ziel und Absicht des Künstlers (des Komponisten, aber im Grunde auch des Schriftstellers) genannt: das Handwerkliche unauffällig zu machen und »alle Künste des Kontrapunktes und der Instrumentation verschwinden und verschmelzen zu lassen zu einer Einfachheitswirkung … einer intellektuell federnden Schlichtheit«.
Diese Schlichtheit (»sehr fern von Einfalt«) vermisste Thomas Mann in vielen literarischen Erzeugnissen, wie überhaupt das Bemühen um das Kunstwerk. Schon Mitte der dreißiger Jahre empfand er die eigene Existenz als etwas »einsam Ragendes«, sich selbst als »Überlebenden einer höheren Epoche«. Einem der vielen Möchtegernautoren, die ihm ihre Manuskripte zuschickten und denen er gewöhnlich höfliche Antworten erteilte, schrieb er einmal recht klar zurück: Die ihm eingeschickten Blätter seien keine Schöpfung, sondern »angehäufte Bekenntnisse, Klagen, Verzweiflungen«, allenfalls Rohstoff, »aber nicht Werk und Tat«. Und noch deutlicher: »Wollen Sie ein Künstler sein, so müssen Sie aus dieser Tagebuch-Selbstgenügsamkeit hinausfinden zur Freiheit und zur Form.« Doch solche Deutlichkeit war die Ausnahme, selbst wenn es sich um unbekannte Autoren handelte.
Einer schickte ihm gleich ein dreibändiges Manuskript zu. Da musste er passen, wenn auch mit wohlgesetzten Worten. »Zu meinem aufrichtigen Bedauern bin ich gezwungen, Ihnen Ihre Manuskripteinsendung unverrichteter Dinge wieder zugehen zu lassen«, schrieb der überforderte Empfänger. »Das geschieht ungern, weil es eigentlich nicht in meiner Natur liegt, Wünsche nach künstlerischer Teilnahme und literarischer Beratung abzuweisen, zumal wenn sie brieflich auf so eindrucksvolle Weise unterstützt werden, wie es hier der Fall ist.« Ein wenig mag bei dieser aufwendigen Absage aus dem Jahr 1931 (wie auch in anderen Fällen) die Überlegung mitgespielt haben, der Unbekannte könnte eines Tages bedeutend und wichtig werden. Dieser hieß Elias Canetti, das Manuskript erschien vier Jahre später unter dem Titel Die Blendung – und der Nobelpreisträger hatte es prompt wieder auf seinem Schreibtisch. »Ich möchte Ihnen, hochverehrter Herr Thomas Mann, nicht des näheren schildern, mit welcher Verzweiflung mich damals ihre Absage erfüllte«, kommentierte Canetti im Oktober 1935 den neuen Anlauf. »Heute wundere ich mich über die Naivität, mit der ich ein solches Ansinnen an Sie stellen konnte, umso mehr als ich ja, vom größten Respekt für ihr Werk erfüllt, den Wert Ihrer Zeit sehr wohl zu schätzen wusste.« Aber es habe sich damit eben »eine Geschichte angesponnen, die noch nicht zu Ende ist, und sie will zu Ende geführt sein«, hieß es forsch. Und dieses Mal entzog sich der Meister nicht. Schon zwei Monate später schilderte er seine Eindrücke von Canettis Roman, »nachdem ich ihn mir in guten, sehr gefesselten Stunden zu eigen gemacht«, bat sogar für die Verspätung um Nachsicht (»der Bücherzudrang war in diesen Wochen zu groß«) und entschuldigte sich für das Versäumnis der ersten Stunde. »Das hätte ich früher haben können, werden Sie sagen, – nun ja, ich habe damals zu dem riesigen Manuskript nicht Mut zu fassen vermocht, – als ob ich das Recht hätte, von riesigen Manuskripten zu reden! Aber das ist es eben. Man hat solche Unvernünftigkeiten im eigenen Haus, man ist belastet, nervös, gereizt, wenigstens manchmal, und man wehrt ab.«
Auch ihm lag an diesem Austausch, an der Möglichkeit, sich mit anderen zu vergleichen, sich in ihnen zu spiegeln. Er lockte und stieß ab, wenn die Bindung zu eng wurde, er ließ sich bitten und konnte mit Nichtachtung strafen, wenn er sich verraten fühlte: ganz normale Liebesgeschichten gewissermaßen, die nicht selten abrupt endeten oder sich einfach verliefen. Der Schriftwechsel erlaubte einen Dialog in Abständen und mit Abstand, einen Dialog, der zudem einen Brief lang ein ungestörter, herrlicher Monolog sein konnte. Den künstlerischen Rang seiner Briefpartner schien Thomas Mann gelegentlich zu überschätzen – oder sollte es so sein, dass er den Ebenbürtigen intuitiv auswich? Es fällt auf, dass der Schriftverkehr mit Brecht, Döblin oder Musil eher karg ist – was freilich auch an der Unlust dieser Größen gelegen haben mag, dem erfolgreichen und wohlhabenden Kollegen viel Beachtung zu schenken.
Dabei konnte er durchaus uneitel, ja bescheiden sein. Gegen die pure Autobiografie hegte er eine »Abneigung«, also dagegen, »mein Leben direkt zum Gegenstand meines Schreibens und Redens zu machen«. So schrieb er auch im Alter nie das Gegenstück zu Dichtung und Wahrheit – vielleicht aus Respekt vor dem anderen, vor Goethe. Doch auf mangelndes Interesse an der eigenen Person war daraus nicht unbedingt zu schließen. Der Trieb eines Menschen, »sein Schicksal literarisch zu feiern und die Teilnahme der Mit- und Nachwelt leidenschaftlich dafür in Anspruch zu nehmen«, habe eine »ungewöhnliche Lebhaftigkeit des Ichgefühls« zur Voraussetzung, war seine Überzeugung – und dieses spezielle »Ichgefühl« sei es auch, das »ein Leben nicht nur subjektiv zum Roman stempeln, sondern auch objektiv ins Interessante und Bedeutende zu erheben vermag«.
Für den Schriftsteller Thomas Mann war das Bürgerliche, an dem er so vehement festhielt, mehr als eine Stilfrage. Die bürgerliche Lebensweise war ihm Form, gab ihm Rückhalt – und die Kraft, im entscheidenden Moment auf den gewohnten Rahmen auch zu verzichten (um ihn dann andernorts wieder in Kraft zu setzen). Bürgerlichkeit bedeutete ihm geradezu ein Synonym für Humanität. Dem »Ethos bürgerlicher Humanität« fühlte er sich verpflichtet – gerade im Politischen. Die moderne Demokratie, so begann er 1939 seinen Vortrag Das Problem der Freiheit, sei historisch nichts weiter als die »Herrschaftsform des Bürgertums«.
Seit jenem Tag im Februar 1936, da er aus der Schweiz heraus in aller Öffentlichkeit gespottet hatte, die Nazis hätten drei Jahre lang geschwankt, »ob sie es wagen sollen, mir vor aller Welt mein Deutschtum abzusprechen«, war ihm bewusst, dass seine geliebte Villa in München verloren war (er sollte sie auch nach 1945 nie mehr betreten). Übrigens war das ein raffinierter rhetorischer Schachzug gewesen, denn gezögert hatte auch er, Thomas Mann, seit Anfang 1933, seit er von einer internationalen Vortragstournee nicht nach Deutschland zurückgekehrt war. Der Abschied von seinem Land, seinem Publikum fiel ihm schwer. Und es fiel ihm auch nicht leicht, die Villa in der Poschingerstraße, einst Treffpunkt der intellektuellen Elite Deutschlands, aufzugeben; das prächtige Haus barg nicht nur das gewohnte Arbeitszimmer, sondern war zugleich Heim und Heimat seiner sechs Kinder gewesen.