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MICHAEL LEMSTER

DIE
MOZARTS

GESCHICHTE
EINER FAMILIE

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2019 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München ‒ Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Jonas Wegerer, Freiburg

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion, Trajan

Vor- und Nachsatz: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotive: akg-images/Erich Lessing

ISBN 978-3-7109-0073-0
eISBN 978-3-7109-5084-1

INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Überleben!

Die aus dem Morast kommen

Freiheit in Augsburg

Lebenskunst in einer Zeit des Sterbens

Kapitel 2: Vom Handwerker zum Künstler

Wie sich die Welt der Mozarts wandelte

»Leopold Mozart, Schwabe aus Augsburg«

Schauerbalsam und Opodeldok

Karriere in der Fremde

Fürsten und Bischöfe, Perücken und Pompadours

»Das schönste Paar Eheleuthe in Salzburg«

Geiger, Tod und Teufel

Kapitel 3: Die »Compagnie Mozart«

Kindheit in der Getreidegasse

Die Mission des Leopold Mozart

Familienbetrieb auf Reisen

Europa aus der mozartschen Familienkutsche gesehen

»Es muss gehen oder brechen«

Attraktionen und Katastrophen

Spekulationen, Erfolge und Misserfolge

Kapitel 4: Vom aufgeklärten Höfling zum Individuum

Von der Salzach an die Donau

»Stolz wie ein Pavian«

Imperium der Intrigen

»Mein andertes Ich«

Musikalische Erfolge, finanzielle Engpässe

»Und hat anstatt meiner den Profit davon«

Glasharmonika, Musikautomat, Totenmesse

Kapitel 5: Bürgerliche Existenzen mit bürgerlichen Zwecken

Verkannt, verleumdet und nie vergessen

»Dem Vater ähnlich an Gestalt und edlem Gemüthe«

Provinzbeamter statt Komponist

»Amadeus«, der Kult beginnt

Dank

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Personenregister

Bildnachweis

Allen liebenden Familien

VORWORT

Den Namen des Orts, an dem die Familiengeschichte der Mozarts beginnt, sucht man heute auch in den besten Atlanten vergebens. Ein kleiner Haufen Bauernhäuser, Scheunen und Futtersilos, in der Nähe ein Stück Fichtenwald, zu Fuß in einer Viertelstunde zu umrunden, ein mäßig klarer Bach, der sich durch Wiesen und Äcker schlängelt, eine alte Mühle. Das Leben pulsiert hier nicht gerade – es pulsiert einige Hundert Meter entfernt, wo Tag und Nacht schwere Lastwagen Rohstoffe in die Fabrikstadt einer Großmolkerei bringen.

Hieße nicht die einzige Straße des Orts »Mozartstraße« und stünde nicht eine Gedenktafel vor einem der bescheidenen Gebäude, so erinnerte nichts daran, dass in Heimberg der Ahnherr einer Familie lebte, deren ganze halbtausendjährige Geschichte es ganz besonders verdient, erzählt zu werden. Denn diese Familie hat der Menschheit ein großes Geschenk gemacht: den Pianisten, Organisten, Violinisten, Musikunternehmer und Komponisten Wolfgang Amadé Mozart.

Dieses Buch erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Erlöschen der Mozarts, von ihren Anfängen im 15. Jahrhundert bis zum Tod der letzten Mozartin in Augsburg 1965. Die Geschichte einer ambitionierten Familie, deren Geist vor allem in der Musik unsterblich wurde. Die Geschichte einer Familie, deren Drang nach oben, deren Zielbewusstsein, deren Mut und bewunderungswürdige Energie dazu beitrugen, sich aus äußerster Dürftigkeit hinauszuarbeiten, bis sie mit Königen, Kaisern und Päpsten gleichsam von einem Teller aßen. Bis sie von den Mächtigsten der Welt geachtet, bewundert, hofiert, beneidet wurden. Bis sie der Welt bewiesen hatten, dass niemand tiefer zu wirken vermag als der schöpferische Mensch.

Diese fünfhundertjährige Geschichte der Mozarts ist reich an Höhepunkten und Krisen, Rätseln und Geheimnissen, komplexen und berührenden Figuren. War Leopold Mozart wirklich nichts als der unnachgiebige Zuchtmeister des kindlich-unbekümmerten Wolfgang? War das »Bäsle« ein Spielzeug oder die große, aber unmögliche Liebe des berühmten Komponisten? Und war Wolfgangs Frau Constanze der Ruin der Familie oder doch die Mutter ihres Nachruhms? Doch wäre Amadé jemals das geworden, was er wurde, wenn seine Eltern Anna Maria und Leopold ihn nicht bis an den Rand der Selbstaufgabe und darüber hinaus unterstützt hätten? Und was hätte aus Amadés Söhnen Carl und Franz Xaver, genannt Wowi oder Wolfgang junior, werden können, wäre es Amadé und seiner Frau Constanze gegeben gewesen, ihren Kindern dieselbe Hingabe zu schenken, wie es Wolferls Eltern gegeben war?

Es hat in der unübersehbaren Literatur über die Mozarts – besonders über die drei musikalischen Generationen – nicht an Versuchen gefehlt, diese Figuren psychologisch zu ergründen und dabei Gut und Böse zu verteilen. Diese Versuche blieben manches schuldig, weil sie Menschen früherer Zeiten mit den Maßstäben ihrer eigenen Epoche maßen. In diesem Buch wird ihnen kein neuer Versuch folgen, die Menschen sollen vielmehr in ihrer Bedingtheit und in ihren Beziehungen zueinander gezeigt werden, ohne sie zu bewerten. Auch werde ich keine Versuche unternehmen, diesen oder jenen »traurigen« oder »dämonischen« Instrumentalsatz auf künstlerisch zu verarbeitende Eindrücke aus dem realen Leben zurückzuführen. Es gibt in jedem Leben Gründe genug, traurig oder verzweifelt zu sein, selbst dann, wenn es einem gerade keine Knüppel zwischen die Beine wirft – und Gründe genug, sich zu freuen, selbst dann, wenn die Schwierigkeiten sich türmen.

Ob man diese Menschen nun bewertet oder nicht – das Rätsel ihrer Schöpferkraft bleibt. Möglich ist allein der Versuch, sichtbar zu machen, wie faszinierend kreativ die Mozarts jederzeit die Herausforderungen ihrer Epoche meisterten.

Sind die Mozarts eine österreichische oder eine deutsche Familie? Nationen reklamieren berühmte Söhne und Töchter in Zweifelsfällen meist als die ihren. Die Mozarts waren beides, und es liegt in der historischen Perspektive, in ihnen Deutsche oder Österreicher zu sehen. Zu Zeiten Leopolds und Wolfgangs gab es politisch kein Deutschland, aber ein Österreich und ein Fürsterzbistum Salzburg, dessen Bürger die Mozarts waren. Sprachlich betrachtet dagegen war das Zentrum Österreichs deutsch. Der »politische« Österreicher Wolfgang Amadé Mozart sprach von sich als »Teutschem«, aber nicht etwa in der politischen Auseinandersetzung mit Österreich, sondern in der kulturellen mit der »welschen«, italienischen Musik.

Was deutsch war, das war schon damals nicht genau zu sagen. Ich bitte daher die Leserinnen und Leser um Vergebung, wenn ich der kulturell-sprachlichen Definition den Vorzug vor der politischen gebe und Mozart als Deutschen bezeichne.

Die Mozarts brachten Bauern hervor, Uhrmacher, Bildhauer, Buchdrucker, Buchbinder, Baumeister, Maurer, Priester und Lehrer – und drei Generationen an Musikern von europäischem Ruhm. Sie kamen aus dem Nichts und sie gingen ins Nichts. Dazwischen wuchsen sie zu einem kräftigen Familienstamm heran und erblühten zu schöpferischen Genies. Ihre unerschöpflichen, da immateriellen Früchte können empfindsame Menschen genießen, solange der Stamm der Menschen die Erde belebt. Denn kein verständiger Mensch wird leugnen, dass die Schöpfungen Mozarts uns Menschen in unserer Gesamtheit gehören.

KAPITEL 1
ÜBERLEBEN!

Die aus dem Morast kommen – Die Vorfahren der Mozarts und ihre Welt

1487: In England gehen mit der Schlacht von Stoke die Rosenkriege zwischen York und dem siegreichen Lancaster zu Ende. In Italien verherrlicht der Florentiner Sandro Botticelli mit seinem »Frühling« malerisch die Medici, und Mailands 17-jähriger Herzog Gian Galeazzo Sforza stoppt in der Schlacht bei Crevola den Expansionsdrang der Schweizer Eidgenossen. In Spanien entreißen die katholischen Könige Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien den granadinischen Emiren die Stadt Málaga. Johann der Strenge schickt von Lissabon aus seinen Admiral Bartolomeu Dias mit drei Schiffen die afrikanische Westküste hinunter – der entdeckt das Kap der Guten Hoffnung und damit den Seeweg nach Indien. Die Neue Welt ist noch unbekannt. In Russland regiert Iwan der Große seit 25 Jahren über das Großfürstentum Moskau und lässt hoch über der Moskwa den Großen Kremlpalast errichten.

Und in Deutschland? – Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sitzt der Feind – der Ungar Matthias Corvinus – in der Wiener Residenz Kaiser Friedrichs III. Der Kaiser selbst residiert stattdessen in der österreichischen Provinz, in Graz und Linz. Das Reich – besonders dessen Süden auf der Mittagsseite des Mains – ist ein chaotisches Mosaik von teilweise winzigen Grafschaften, Fürstentümern und Reichsstädten mit ihren kleinen Pflegschaften, den Dörfern und Weilern, über die sie Recht sprechen und die sie besteuern. Die katholische Kirche hält Seelen, Geist und Geldbeutel der Menschen fest im Griff, und ihre adeligen Fürsterzbischöfe, Fürstbischöfe und Fürstäbte gehören selbst zu den mächtigsten Lehnsherren. Drei erzbischöfliche Kurfürsten – in Mainz, Köln und Trier – sichern Roms Einfluss auf Deutschlands weltliche Gesetze und Entscheidungen – noch. Denn Friedrichs Sohn Maximilian I. soll bereits den Wind der Reformation spüren, der sich unter Friedrichs Enkel Karl V. zum Sturm auswachsen wird.

Ein Fürstbischof sitzt auch auf der Augsburger Kathedra, dem Bischofsthron im Hohen Dom Mariä Heimsuchung: Friedrich II. von Zollern, der Überlieferung nach bereits der vierundfünfzigste Augsburger Oberhirt. Das Bistum ist eines der ältesten in Deutschland, sein Beginn liegt im mythischen Dunkel der Spätantike. Bischof Friedrich ist ein frommer Mann – kein streitbarer. So urteilen die Zeitgenossen. Ungeachtet dessen reicht das Hochstift Augsburg – die politische Repräsentanz des Bistums – von der Donau tief bis ins heutige Tirol hinein. In seiner Residenzstadt selbst muss Friedrich die Macht jedoch mit dem mächtigen Stadtadel der Welser und Fugger, der Hainhofer, Hoser, Langenmantel und vieler anderer teilen – Namen, deren Aufstieg und Verschwinden die Geschichte der Stadt prägt.

Auf dem Land regiert der Fürstbischof durch seine Vögte die meist winzigen Pflegschaften und Güter, die oft nur wenige Dörfchen umfassen. Dort, wo die waldigen Hügel des Lechrains ansteigen, abseits des fruchtbaren Flusstales, sind Dürftigkeit und Schmutz zu Hause – in Haufen strohgedeckter Häuser mit Fußböden aus gestampftem Lehm. In Siedlungen, deren einzige gemauerte Gebäude die Kirchen und Kapellen sind, vielleicht hie und da der Ansitz eines fürstbischöflichen Ministerialen. Wo der Boden aus Sumpf und Schotter besteht. Wo die Leute neben dem Flachsanbau spinnen, weben, stricken oder schlicht betteln müssen, um zu überleben. Wo sie in einem Raum zusammen mit ihren Ziegen, Schweinen und kümmerlichen Rindern hausen, die die Kinder zum Weiden in den Wald treiben müssen, da die knappen Rodungen um die Dörfer zu kostbar für das Vieh sind. Wer ein Pferd hat, gehört zu den Besseren. Dort ernährt man sich von Wassersuppe, eingekochtem Schwarzbrot und groben, schmalzarmen Mehlspeisen und trinkt dazu Weißbier und Branntwein. »Die Stauden« heißt die Gegend noch heute nach dem Gestrüpp, das hier als einziges reichlich ins Kraut schoss.

Dies ist die Heimat der Mozarts. Eine wenig edle Heimat, deren Charakter sich noch in den Familiennamen eingeschrieben hat: »Mot« ist das mittelhochdeutsche Wort für schwarze Erde, Moder, Sumpf. Die Mozarts waren die, die im Morast wohnten. Die Schmutzfinken vielleicht. Und die Stauden sind die Gegend, aus der sie kamen – und aus der sie unbedingt wegwollten.

Hier also, in einem Nest namens Heimberg in den Stauden, drei Meilen oder gut zwanzig Kilometer westlich von Augsburg, lebte Andris (Andreas) Motzhart. Nur ein einziges Dokument erwähnt ihn und seine Herkunft: eine Urkunde aus Leitershofen, einem Dorf weniger als eine Meile von Augsburg entfernt, auf dem Höhenzug des westlichen Lechrains gelegen. Der Gründlichkeit eines Chronisten ist es also zu verdanken, dass wir wenigstens den Namen des Familienstammvaters kennen. Die Hofstelle in Heimberg wird noch heute gezeigt, das Haus, das darauf steht, ist jedoch das Werk eines viel späteren Mozart. Denn Andris’ Kindeskinder sollten sich über Generationen als tüchtige Maurer und Architekten hervortun.

In Leitershofen kauft Andris’ Sohn Hanns Motzhart im Jahr 1515 ein kleines Gut, bewirtschaftet es mit seinem Sohn Leonhard und seiner Familie und zahlt dem Grundherrn einen Zins für die Nutzung. Von Leitershofen reicht der Blick hinüber zu den Türmen und Mauern der Reichsstadt.

Wieso darf er das überhaupt? Muss er keinen Grundherrn um Erlaubnis zu einem solchen Umzug fragen? Und was eigentlich treibt Hanns an, auf familiäre Unterstützung in den vielen Schwierigkeiten des Alltags völlig zu verzichten und die elterliche Umgebung zu verlassen zugunsten eines Wohnsitzes, der einen halben Tagesmarsch entfernt ist, über Stock und Stein und durch den Morast der Stauden? – Nun, wir dürfen uns die spätmittelalterliche Gesellschaft nicht zu simpel und zu monolithisch vorstellen. Neben dem seinerseits recht durchlässigen Adelsstand gab es nicht einfach nur eine gesichtslose Masse an leibeigenen Bauern. Die Mozarts waren kleine Leute, aber keine Leibeigenen. Sie durften im Rahmen der materiellen Möglichkeiten ihren Ehepartner und ihren Wohnort nach Belieben wählen. Sie konnten sich selbst ihre Ziele setzen.

Und Hanns’ Ziel hieß vielleicht: in der Stadt gut zu leben und etwas zu gelten. Dann war der Umzug nach Leitershofen der erste Schritt. Es gab Familien, die ein solches Ziel verfolgten und die nötigen Talente und den erforderlichen Mut besaßen, diesen Weg einzuschlagen. Wenn die Mozarts zu ihnen gehörten – und sie gehörten dazu, wie wir später sehen werden –, dann hat Hanns der Ältere es gut gemacht. Er war der erste Mozart, der die Stadt Tag für Tag vor Augen hatte und im Rahmen seiner Möglichkeiten ihrer Faszinationskraft nachgeben konnte – zum Beispiel, wenn er dem Augustinerchorherrenstift St. Georg den ihm zustehenden Pachtzins brachte. »Unterm Krummstab ist gut leben«, sagte zu jener Zeit oft ein Bauer wehmütig oder neidvoll zum anderen – die Pfaffen drangsalierten ihre Untertanen weniger als die weltlichen Herren. Die Mozarts wussten dies so gut wie jeder.

Sie waren und blieben dennoch fürs Erste kleine Leute. »Söldner« waren die Mozarts, aber nicht im militärischen Sinn, sondern im zivilen. Das hieß: Zwar hatten sie Grundbesitz. Dessen Ertrag reichte indessen nicht zum Leben, und seine Bewirtschaftung lastete eine Familie nicht aus. Also waren sie genötigt, sich gegen »Sold«, also gegen Lohn, zu verdingen.

Aber wenigstens waren sie frei. Sie waren zwar zu Handdiensten und zur Zahlung von Steuern verpflichtet, aber sie waren wirtschaftlich selbstständig. Auf manchen Sölden lag traditionell eine Handwerksgerechtigkeit. Das bedeutete, wer eine solche Sölde erbte oder erwarb, der durfte sich als Bäcker, Schäffler, Schmied, Schneider, Wagner oder sonst ein Handwerker betätigen und wurde entsprechend besteuert. Demnach waren die Stände des freien Bauerntums und des Handwerks nicht klar voneinander abgegrenzt. Aber nicht jeder durfte alles anbieten, was er konnte. Die ständische Gesellschaft war strikt reglementiert, der Schuster hatte bei seinem Leisten zu bleiben.

Ein Handwerk war übrigens in den Stauden meist dringend notwendig, um eine Familie überhaupt durchzubringen. Der Ertrag der kiesigen Ackerscholle der Stauden war bereits in guten Erntejahren mager, in schlechten konnte er erbärmlich werden. Und die schlechten Jahre häuften sich im 16. Jahrhundert: verregnete Sommer, in denen das Getreide am Halm verfaulte, und überlange Schneewinter, in denen das Vieh im Stall verhungerte, markierten eine »kleine Eiszeit«. Dass im Januar die Mandelbäume blühten, kannte man in diesen Tagen nur noch aus Erzählungen und Legenden. Es gab keine Mandelbäume mehr im Hochstift von Fürstbischof Friedrich von Zollern. Und das dürftige Hügelland der Stauden ernährte seine Leute nicht länger.

Freiheit in Augsburg – Die Weltstadt am Lech

Augsburg dagegen leuchtete! Leuchtete im Glanz seiner Kirchen und Türme, im Glanz seiner Klöster und Patrizierhäuser, im Glanz seines reichlich sprudelnden, glasklaren Wassers, das komplizierte Leitungen in öffentliche Prachtbrunnen und in so manches wohlhabende Bürgerhaus hineinleiteten. Im Glanz seiner lang gestreckten Marktstraße, die seine weithin sichtbaren Landmarken verband: die Türme des romanischen Mariendoms und der gotischen Ulrichskirche. Im Glanz der Reichstage, die seit dem 10. Jahrhundert Kaiser und Krieger, Heilige und Huren in der Stadt zusammenführten. Im Glanz schließlich des Wohlstandes, den ein geschickter Kaufmanns- und Handwerkerstand über Jahrhunderte erarbeitet hatte: Juweliere, Gold- und Silberschmiede, Sattler, Färber und Gerber, Maler und Bildhauer, Glaser, Tischler, Stellmacher, Töpfer, Korbmacher, Seiler, Weber und Waffenschmiede. Hundert Kanäle durchrannen die Viertel unterhalb des Steilabbruches der Oberstadt und trieben die Mühlwerke der Werkstätten an, das war ein Gluckern und Sprudeln, ein Hämmern und Wetzen, ein Pochen und Dengeln vom ersten Tageslicht bis in die Nacht, sechs Tage die Woche, denn am Sonntag ruhten nach Gottes Vorbild gleichermaßen die erlauchtesten und die geringsten Hände. Da donnerten hundert Glocken, und Wohlgeruch aus tausend Weihrauchfässern und Gesang aus zehntausend Kehlen und Orgelklang aus hunderttausend Pfeifen zogen zum Himmel empor.

Die Kirchtürme schienen dann noch stolzer ins Land zu sehen, das sich im Grün seiner aufgehenden Saat wiegte. Frieden lag über dem Lechfeld, und die Heerzüge, die seit Jahrtausenden über das fruchtbare Schwemmland des Flusses gezogen waren – Kelten, Römer, Germanen, Ungarn –, waren einmal zum Stillstand gekommen.

Mit dem Frieden kam der Wohlstand. Das Essen. Das tägliche Stück Fleisch auf dem Tisch. Bis zu 7000 weiße Schlachtochsen mit riesigen Hörnern langten jährlich in Augsburg ein, hergetrieben aus Ungarn, aus Transsylvanien von abenteuerlich gekleideten Gesellen, die krumme Säbel und andere grausig aussehende Waffen führten und kaum Deutsch sprachen. Jedes Tier wog zwölf Zentner.

Das war es, was Menschen wie die Mozarts, aber auch Tausende anderer kleiner Leute in die aufblühenden Reichsstädte wie Augsburg zog. In Augsburg, da wehte die Stadtluft, die frei machte. Mit etwa 30 000 Einwohnern gehörte die Lechstadt im 16. Jahrhundert zu Mitteleuropas zehn größten Ansiedlungen. Zwar waren auch hier die Menschen keineswegs sicher vor Kriegen, Seuchen, Hungersnöten und den anderen Wechselfällen, die das Überleben schwierig machten. Die Straßen starrten vor Schmutz, aber es waren Straßen. Magistrat, Zünfte und Klerus regelten das Zusammenleben bis ins Kleinste. Aber niemand musste seinem Herrn unbezahlte Frondienste leisten wie so viele Menschen auf dem Land. Und ein dahergelaufener Leibeigener vom Land war »nach Jahr und Tag« – so der Rechtsgrundsatz – frei und konnte von seinem Grundherrn nicht mehr zurückgefordert werden. Zwar hieß es auch hier hart arbeiten für den Lebensunterhalt. Aber es blühten Handel und Gewerbe. Die Fugger standen als internationale Bankiers, Kaufleute und Großunternehmer auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Macht, von der sie bis heute ein Stück behaupten. Und Silber- und Waffenschmiede, Buchdrucker und Verleger brauchten nicht nur Leute, die fest zupacken konnten, sondern auch kluge Köpfe, die lesen, schreiben, redigieren und diskutieren konnten.

Vor allem konnte hier aufsteigen und sogar Geschichte schreiben, wer Talent, Mut und Glück hatte. Einer wie der Zimmermann Ulrich Schwarz etwa, der wenige Jahre zuvor als Stadtpfleger die politischen Verhältnisse zum Tanzen und sogar seinen Amtsvorgänger an den Galgen gebracht hatte, bevor er jedoch selbst am Galgen endete.

Kein Zweifel: Wer aus dem Morast der Armut herauskommen wollte, war in Augsburg gut aufgehoben. Dies gelang allerdings erst vier Generationen nach Hanns Motzhart im 17. Jahrhundert dem Maurer und Baumeister David Motzhardt dem Jüngeren. Den Weg in die Stadt bahnte ihm sein Vater, ebenfalls David gerufen.

Viel wissen wir nicht über David, den Vater, und seine Verhältnisse. Er bewirtschaftete zunächst die bekannte Sölde in Leitershofen, die sein Vater Peter – Hanns’ Sohn – ihm hinterlassen hatte. 1608 zog er nach Pfersee, einem Dorf auf halbem Weg zwischen Leitershofen und Augsburg. Auch sein Bruder Jerg (Georg) lebte in Pfersee und bekleidete dort – vom Grundherrn bestellt – das Amt des Schultheißen. Schultheißen hatten für die Grundherren Recht zu sprechen und vor allem Steuern einzutreiben – ebendie (Geld-)-»Schuldt« zu »heischen«. Grundherren in Pfersee – das waren das fürstbischöfliche Hochstift, aber auch Augsburger Patrizierfamilien: die Onsorg, Rehlinger, Vögelin, Kobold, Rebhun, Gossenbrot, Katzbück und Zobel und wie sie alle hießen. Auch das Haus Habsburg, dessen Lebenswege sich Jahrhunderte später wiederholt mit denen der Mozarts kreuzen sollten, war in Pfersee begütert.

Bauern, die ausschließlich von der Landwirtschaft lebten, gab es kaum in Pfersee. Die meisten Bewohner waren Söldner – so auch David Motzhart der Ältere, der Vater des ersten Augsburger Mozart. Wie sie alle dürfte er seinen Lebensunterhalt vor allen Dingen als Handwerker oder Tagelöhner verdient haben. Aufträge und Märkte bot den Pferseer Söldnern vor allem das nahe Augsburg. Ein gesunder Mensch konnte in einer halben Stunde zu Fuß hinüber- und herübergelangen. Am begehrtesten waren vermutlich Bauarbeiter, also Maurer, Zimmerleute, Tagwerker und »Mörtelbuben«. Denn die Renaissance als herrschender Baustil hatte sich Ende des 16. Jahrhunderts in Augsburg durchgesetzt und zahllose geistliche, öffentliche und bürgerliche Großprojekte hervorgebracht. Wahre Heerscharen von Maurern und Gehilfen müssen die hölzernen Baugerüste damals belebt haben, während am Boden die Architekten in ihrer zünftischen Kluft und mit ihren ständischen Herrschaftsinsignien – dem Zirkel des Konstrukteurs und dem Winkel des Kontrolleurs – mit ihren fürstlichen, geistlichen oder bürgerlichen Bauherren verhandelten.

Einen ersten Einzug in die Stadt hatte die Renaissance bereits gehalten. Jakob Fugger der Reiche – Stifter der Fuggerei – hatte mehrere Jahre in Venedig gelebt und den modernen Stil schätzen gelernt. Also beauftragen Jakob und seine Brüder erstrangige deutsche und italienische Architekten und Künstler – unter ihnen vermutlich Albrecht Dürer – mit dem Bau ihrer Grablege in der Klosterkirche der Karmeliter bei St. Anna. Diese Zusammenarbeit von Künstlern aus zwei Ländern brachte 1512 »das früheste und vollkommenste Denkmal der Renaissance auf deutschem Boden« hervor, wie es der Kunsthistoriker Bruno Bushart nannte.

1602, in der baufreudigen Aufbruchszeit vor dem Dreißigjährigen Krieg, macht sich der Architekt Elias Holl, selbst ein Augsburger, daran, als Werkmeister (Architekt) des Magistrats die Reichsstadt und deren Befestigungswerke komplett im italienischen Stil monumental umzugestalten. Und dazu braucht er Männer. Männer wie die Mozarts.

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Augsburg in seiner großen Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. Stich von Matthäus Merian.

Holl schafft mit seinen Männern bis zu seinem Tod 1646 – die Mozarts werden ihn noch persönlich kennengelernt haben – Dutzende von Bauwerken, von denen viele bis heute stehen und europäischen Ruhm genießen. Er führt sauber Buch über sein Leben und seine Schöpfungen, daher wissen wir um seine enorme Produktivität – und die seiner Mitarbeiter. Produktivität war nötig, denn Augsburg war zwar reich, aber auch sparsam, gemäß der Maxime, die man noch heute den Schwaben in den Mund legt: »Wir haben es nicht vom Ausgeben, sondern vom Behalten.« Denn Gott der Herr konnte jederzeit sein Antlitz abwenden, und für diesen Fall galt es vorzusorgen.

Lebenskunst in einer Zeit des Sterbens – Die Mozarts im Dreißigjährigen Krieg

Und tatsächlich trat Anfang des 17. Jahrhunderts dieser Fall ein. Konfessioneller Hader steckte die Augsburger an. Dabei hatten sie nach einer kurzen Phase religiöser Auseinandersetzungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die der Reformation folgte und entsetzliche Protestantenfresser wie den späteren Salzburger Fürsterzbischof Matthäus Lang von Wellenburg hervorbrachte, über Generationen hinweg musterhaft vorgelebt, wie fruchtbar es sein konnte, wenn die Menschen einander nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihren Eigenschaften bewerteten. Diese Augsburger Toleranz erlaubte es, dass innerhalb der Stadtmauern eine katholisch geprägte Bischofsstadt und eine evangelisch geprägte Reichsstadt neben- und miteinander aufblühten.

Diese Brüderlichkeit kristallisierte an vielen Orten zu Stein: bei der benediktinischen Basilika St. Ulrich und Afra oder bei Heilig Kreuz führten die Evangelischen ihre eigenen Bethäuser neben den katholischen. Noch heute steht also »Evangelisch Heilig Kreuz« neben seiner katholischen Schwester. Sogar einzelne Räume war man bereit zu teilen, wenn nur die finanziellen Bedingungen günstig waren: Die erwähnte Grablege der Fugger in der protestantischen St.-Anna-Kirche überstand als katholische Kapelle die Übernahme der Kirche durch die Lutherischen, das Wüten der Bilderstürme und die Aufhebung des angrenzenden Karmelitenklosters. Sie wird bis heute durch eine Stiftung der Fugger finanziert.

Vielleicht stand die Augsburger Toleranz Pate, als im Februar 1555 die Reichsstände (also die etwa 300 Männer, die direkt mit dem kaiserlichen Hof sprechen und verhandeln durften) mit dem Gesandten von Kaiser Karl V. zu einem Reichstag zusammentrafen. Es sollte endlich Friede werden im Reich und zwischen den Bekenntnissen. Der Kaiser ließ sich aus Gewissensnöten von seinem Bruder und späteren Nachfolger Ferdinand I. vertreten, der mit den Reichsständen bis zum 25. September desselben Jahres den »Augsburger Reichs- und Religionsfrieden« verhandelte.1

Gastgeber eines Reichstages zu sein war damals in etwa so, wie wenn heute eine Stadt ein sportliches Großereignis ausrichten darf. Jeder Delegierte brachte seinen Tross aus Dienern und persönlicher Leibgarde mit. So kamen schnell einige Tausend Menschen zusammen, die für Monate unterzubringen und mit dem Besten zu verköstigen auch bei guter Vorbereitung selbst in einer Stadt wie Augsburg eine Meisterleistung war.

Und die hohen Herren und mehr noch ihr kopfstarker, müßiger, zahlungskräftiger Tross zogen zusätzlich mancherlei fahrendes Volk an, das auf schnellen Gewinn aus war oder diesen schlicht zum Überleben brauchte: ambulante Garköche und Händler, Wahrsager, Magier und Taschenspieler, Musikanten und Schausteller, Bettler und Prostituierte. Aber auch für die sesshaften Kaufleute und Handwerker der Städte blieb sicherlich noch genug übrig von der Kaufkraft der zusammengelaufenen Menschenmenge.

Was im Augsburger Religionsfrieden Gesetz wurde, erinnert an den etablierten Augsburger Brauch: Jeder Bürger einer Reichsstadt durfte von jetzt an selbst wählen, welcher Konfession er angehören wollte. Wer in einem kaiserlichen Lehen, also im Territorium eines weltlichen oder geistlichen Fürsten, lebte, musste sich der Konfession seines Fürsten unterwerfen. Er erhielt aber das Recht, mit seinem gesamten Vermögen in ein Fürstentum seiner Konfession auszuwandern.

Der Augsburger Friede hielt zwei Generationen lang den zerstörerischen Kräften stand, die unter der Oberfläche wühlten und 1618 schließlich, befeuert durch widerstreitende politische Interessen der Stände und des Kaisers, zum kriegerischen Ausbruch drängten. Wer heute fassungslos den Kopf schüttelt über haarsträubende Gewalttaten in fernen Ländern, hat vergessen, dass die europäische Vergangenheit nicht minder gewalttätig war. Überall und jederzeit verstehen es Mächtige sehr gut, den Neid und den Hass auf angeblich besser Weggekommene oder schlicht Andersartige zu schüren und die Grausamkeit der Menge ihren selbstsüchtigen Zielen dienstbar zu machen.

Dieser Krieg, der Dreißigjährige genannt, war eine der gewalttätigsten Epochen der deutschen Geschichte. Deutschland stand im Mittelpunkt eines gesamteuropäischen Streits, der 1618 aus politischer Rivalität geboren wurde. Konfessionelle Rivalität ließ den Brand hoch aufschlagen, und eine verselbstständigte Militärmaschinerie hielt ihn fast ein halbes Menschenalter lang – bis 1648 – künstlich am Leben.

Der Große Krieg, wie ihn die Schriftstellerin Ricarda Huch betitelte, war keine Epoche, in der Deutschland Größe zeigte. Er kostete etwa ein Drittel der Bevölkerung das Leben: Sie starben auf dem Land – so in der Heimat der Mozarts in den Stauden. Sie starben in der Stadt, zu der David Mozart 1643 endgültig Zuflucht nehmen sollte. Sie starben bei den Belagerungen oder in Hinterhalten auf dem Marsch, sie fielen auf den Schlachtfeldern, sie erlagen in den Feldlazaretten dem Wundbrand, der fürchterlichen medizinischen Behandlung oder der Pest oder hundert anderen Epidemien, die sich auch in der Zivilbevölkerung ausbreiteten. Diese hatte den höchsten Blutzoll zu entrichten: geplündert, geschändet, gebrandschatzt, massakriert von halbverhungerten, verrohten, verzweifelten Landsknechten – von Menschen, die doch einst einmal zärtliche Väter ihrer Familien und hilfsbereite Nachbarn gewesen waren und sich nun von ihren Offizieren im Stich gelassen sahen, die ihre Regimenter zynisch als gewinnbringende Todesfabriken betrieben: Der Krieg ernährt den Krieg. Gehen Bauern drauf/ Ei, so gewinnt der Kaiser mehr Soldaten, lässt Schiller in seinem Kriegsdrama »Die Piccolomini« so treffend wie zynisch den Regimentsobersten Isolani sagen. Der Krieg hatte sich aus sich selbst zu ernähren. Und er entvölkerte ganze Landstriche, die verbuschten und verödeten und in einen nahezu prähistorischen Zustand zurückfielen. Deutschland verlor gegenüber seinen Nachbarländern volle hundert Jahre an wirtschaftlicher Entwicklung.

Der Dreißigjährige Krieg war auch deshalb so erbittert, weil die Zivilbevölkerung daran direkt teilhatte. Augsburg machte keine Ausnahme. Im Jahr 1632 hatten kroatische Söldner verwundete schwedische Soldaten massakriert, die im Lazarett im benachbarten wittelsbachisch-katholischen Friedberg jammernd dahinbluteten. Das Gerücht, dass Friedberger Bürger in die Gewalttat verwickelt waren, verbreitete sich. Augsburger Protestanten vereinigten sich daraufhin mit den schwedischen Besatzungssoldaten und marschierten über den Lech auf die befestigte Herzogsstadt. Nachdem Berg, Stadttor und Widerstand überwunden waren, zahlten Militär und Zivil den Friedbergern eine ganze Woche lang mit noch größerer Grausamkeit heim. Selbst aus dem Portal der Stadtkirche sei das Blut herausgeflossen, berichtet voll Entsetzen ein Chronist. Wer die Gewalt überlebte, wurde davongejagt. Was nicht niet- und nagelfest war, wurde davongeschleppt und in der Reichsstadt in einer Art bizarrer Dult, wie man hier einen Jahrmarkt nannte, an die ausgelassen feiernden Bürger verschleudert, während der östliche Nachthimmel von den Bränden der Nachbarstadt in düsterem Rot auflohte – eine ganze Woche lang, wie der Chronist weiß.

Die zerstörte Stadt blieb eine Wüstung – drei Jahre lang. Erst nach dem Abzug der Schweden trauten sich die Bürger langsam wieder zurück in die Ruinen, und es sollte fast 200 Jahre dauern, bis Friedberg die Einwohnerzahl wieder erreichte, die es an jenem Tag im Juli 1632 gehabt hatte.

Das entsetzliche Los von Plünderung und Mordwut blieb der Fuggerstadt und ihren Menschen erspart. Wohl aber wurde sie eingekesselt, belagert, besetzt und finanziell ausgepresst. Hunger und Seuchen forderten grausigen Tribut, so zwei Jahre nach den Friedberger Massakern während einer Belagerung diesmal durch kaiserliche und bayerische Truppen. Zwischen 5000 und 12 000 Augsburger sollen in einem Jahr ums Leben gekommen sein – vor allem waren es Katholiken, muss man annehmen. Denn die Bürgerschaft entschied auf dem Höhepunkt der Krise, nur noch Evangelische mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Schwere Entschädigungszahlungen in Höhe von 300 000 Gulden machten anschließend die Lage noch verzweifelter. War Friedberg 1632 zur Wüstung heruntergekommen, so war Augsburg drei Jahre später eine Geisterstadt. Fast zwei Drittel ihrer Bevölkerung waren ums Leben gekommen. Die verbliebenen Bewohner suchten sich in den verwaisten Straßen ihre Existenz neu zusammenzusetzen.

Dennoch blieb – die rasch wieder steigenden Bevölkerungszahlen beweisen es – die Reichsstadt ein Anziehungspunkt. Mauern, Tore und Türme schenkten wenigstens den Schatten eines Schutzes vor der Willkür und Brutalität der Soldateska. Und wenn jederzeit plündernde Heerhaufen den Bauern ihre Vorräte wegschleppen und ihre junge Saat den Pferden verfüttern konnten, hatte ohnehin das Leben auf dem Land den letzten Vorteil verloren, den es in Kriegszeiten gegenüber den Städten aufwies: dass die Bauern sich selbst mit dem Lebensnotwendigen versorgen konnten.

Vielleicht war diese Unsicherheit die letzte Ursache, warum David Mozart 1643, fünf Jahre vor dem Ende des Großen Krieges, Bürger der Stadt Augsburg wurde. Leicht gemacht wurde es ihm vermutlich nicht. Der Rat der Stadt war sehr sparsam in der Erteilung des Bürgerrechts. Daher ließen sich in den Dörfern in der Augsburger Nachbarschaft viele Handwerker in der Hoffnung nieder, bei günstiger Gelegenheit das begehrte Bürgerrecht zu erhalten. War das der Grund, warum seinerzeit schon David Mozart der Ältere Leitershofen verlassen hatte und nach Pfersee, ein wenig näher an die Reichsstadt heran, gezogen war?

Nicht bei jedem ging diese vorausschauende Rechnung auf. Nicht bei seinem Vater, David dem Älteren, dem selbst nicht viel Wartezeit blieb: Er starb bereits 1625 oder 1626, ohne je das Bürgerrecht erhalten zu haben – körperlich verbraucht vielleicht beim bitter anstrengenden Mörtelschleppen bei Wind und Wetter, unter freiem Himmel, auf schwankenden Baugerüsten in schwindelnder Höhe. Auch der Zimmermann Balthas Langeneck, der Großvater mütterlicherseits von David dem Jüngeren, wartete sein Lebtag lang vergebens auf das Glück des Bürgerrechts.

Aber dem 23-jährigen David junior gelang im Jahr 1643 wie auch einigen anderen entfernteren Familienmitgliedern der Sprung aus dem Morast der Äcker in die Augsburger Zunftrolle und Bürgerschaft. Wir stellen uns David vor, wie er im gebürsteten Sonntagsstaat mit bangen Gefühlen die Stufen zum Ratssaal nimmt, wo inmitten renaissancehafter Pracht die gestrengen Herren Kanzlisten mit unbeweglicher Miene und herablassend seinen Vortrag anhören: wo er herkommt, was sein Vater war, welches Vermögen er hat, was er kann, was er vorhat, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu bestreiten und nicht der Mildtätigkeit der Bürgerschaft zur Last zu fallen. Neben Carol Dietz, Elias Holls Nachfolger im Amt des städtischen Werkmeisters, bürgt sein Onkel mütterlicherseits, der Bauwart (Polier) Daniel Weller für ihn. Davids Weg die Rathaustreppen hinab dürfte ein wahrer Höhenflug des Glücks gewesen sein.

Und David enttäuscht die Bürgen nicht. Zielstrebig verankert er seine Familie in der Augsburger Bürgerschaft. Er muss allerdings nicht mehr als Mörtelbube schuften. Seines Vaters Jahre auf dem Gerüst, und was dieser dort erfahren hatte, zahlen sich bei ihm aus. Er darf bei Daniel Weller das Maurerhandwerk lernen. Weller selbst besitzt ein Haus in Pfersee, hatte es aber in den Wirren des Krieges aufgegeben, war nach Augsburg gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Man kennt einander schon aus Davids Kindertagen und weiß, was man voneinander erwarten kann – in einem Dorf von 700 Seelen war das selbstverständlich.

David weiß offenbar genau, was er will, und er verschafft es sich. Er heiratet nach nur einem Monat die Lechhauser Bürgerstochter Maria Negele – im bischöflichen Hohen Dom, versteht sich, und im Angesicht der »Ulrichs-Cathedra«, des bischöflichen Throns, nicht einfach in der Kirche seines Sprengels in der Jakobervorstadt wie jeder beliebige Augsburger Bürger. Er zeugt neun Kinder mit ihr und lässt sie im Dom taufen– die fünf Knaben sind namentlich bekannt, die Namen der Mädchen im Dunkel der Geschichte versunken. Sein Enkel schließlich, der Buchbinder Johann Georg Mozart, Wolfgang Amadé Mozarts Großvater, wird später vollends bei den Jesuiten einziehen. So bringt David junior die Familie glücklich und tüchtig durch die letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges. Die Mozarts müssen ein robuster Menschenschlag und wirtschaftlich nicht schlecht gestellt gewesen sein, denn welcher Arme rettete damals schon alle fünf Knaben durch die Kindheit mit ihren Infektionskrankheiten und den vielen Gefahren des Alltags?

David junior bringt es zum Meister, gar zum Obermeister der Maurerzunft. Für den Augsburger Bischof stellt er 1669 den Turm der Peterskirche in der bischöflichen Sommerresidenz Dillingen fertig, des zweitwichtigsten Sakralbaus in der Diözese. Und seinen Söhnen gibt er mit, was diese brauchen, um im Leben zu bestehen. Drei von ihnen bildet er ebenfalls zu Maurern aus: Daniel, Hans Georg, geboren im vorletzten Kriegsjahr 1647, und schließlich, für unsere Geschichte am wichtigsten, Franz den Älteren, den direkten Vorfahren von Leopold und Wolfgang. Franz wurde 1649 geboren, ein Jahr nach Ende des Dreißigjährigen Krieges. Wenn diese drei Meister ihrer Zunft zusammenstehen, mag David sich gedacht haben, wird sie so leicht keiner vom Gerüst stoßen. Hans-Georg erbt seine Meistergerechtigkeit – die »Lizenz zum Mauern«.

Der Westfälischen Friede, der 1648 dem Blutrausch ein Ende setzt, bringt die Menschen wieder zusammen. Auch Augsburg und Friedberg schließen 16 Jahre nach dem Blutbad wieder Frieden, die Menschen treiben Handel, tauschen sich aus. Eine gewisse Anna Maria Peter, geboren 1670 in Friedberg, verdingt sich mit 16 Jahren als Dienstmagd in der Reichsstadt. Sie ist vermutlich die Tochter eines Flüchtlings vor den Wirren um den Pfälzischen Erbfolgekrieg, den Frankreichs Ludwig XIV. angezettelt hatte. Kurze Zeit später verzeichnet die Chronik der Stadt Anna Marias Verlobung mit dem Augsburger Buchbinder Augustin Banegger. Banegger, seinerseits ebenfalls ein Fremder, beantragt für sich und seine Braut das Bürgerrecht der Freien Reichsstadt Augsburg. Sie erhält es von der reichsstädtischen Obrigkeit »aus Gnaden gratis«, also geschenkt, er muss für sein Bürgerrecht zahlen. Augustin stirbt nach nur acht Jahren, und Anna Maria entscheidet, sich neu zu verheiraten. Dies war für Handwerkerwitwen schon aus wirtschaftlichen Gründen opportun, denn sie verfügten über die ererbte Handwerksgerechtigkeit ihres Mannes. Ihre Wahl fällt auf den Buchbindergesellen Johann Georg Mozart – den Enkel Davids, des ersten Augsburger Mozarts. Diese Heirat sichert Johann Georg Mozart Einkommen und Stand.

So legt eine Friedbergerin einen neuen Grundstein für Vermögen und Ansehen der Familie Mozart und gibt ihr eine neue Richtung: Aus Hand-Werkern, die im Freien schuften, werden Menschen, die sich in ihrer Werkstatt mit Erzeugnissen des Geistes befassen. Als Anna Maria 1718 stirbt, wiederholt sich der Vorgang unter umgekehrten Vorzeichen: Johann Georg geht erneut auf Brautschau und findet Anna Maria Sulzer, die ihm neun Kinder schenkt. Unter diesen sind der 1719 geborene Stammhalter Leopold Mozart und, für unsere Familiengeschichte zusätzlich bedeutsam, der um acht Jahre jüngere Franz Alois. Dieser wird für Leopold Mozart und die Seinen eine wichtige Anlaufstelle innerhalb der Familie, wenn sie Augsburg besuchen. Leopolds Sohn Wolfgang Amadé wird später ein ganz besonderer Grund in das mozartsche Stammhaus Vor Unser Frauen Thor ziehen: Franz Alois’ einziges Kind, die knapp drei Jahre jüngere hübsche, freundliche, kluge, humorvolle und lebenslustige Maria Anna Thekla. Als »das Bäsle« wird sie in die mozartsche Lebens- und Liebensgeschichte eingehen.

KAPITEL 2
VOM HANDWERKER ZUM KÜNSTLER

Wie sich die Welt der Mozarts wandelte – und damit ihr Anspruch

Die Mozarts wollen nach oben. Und sie wissen, wie das geht. Sie heiraten die richtigen Partner. Sie bringen die erforderlichen Opfer. Gott hatte ihnen die notwendigen Gaben geschenkt und schenkte ihnen das Glück dazu – vorderhand. Doch auch in der Augsburger zünftisch-ständischen Gesellschaft war der Aufstieg nicht einfach, so frei war nicht einmal eine Freie Reichsstadt. Und es sollte noch immer Generationen dauern, bis sie auf dem Höhepunkt ihrer Blüte ankamen.

Aber sie folgen mit untrüglichem Instinkt einem Weg, der nicht allen vorgezeichnet war. Dem Weg der Intellektualisierung ihrer Berufe. Vom Bauern, der sich vor Anstrengung keuchend über seinen Pflug bückt, zum Kleinhandwerker. Vom Mörtelbuben, der abwechselnd von der feuchten Kälte friert und vom Schleppen schwitzt und sich dazu noch Grobheiten vom Werkmeister anhören muss, zum gelernten, »zünftigen« Maurer. Und schließlich vom Maurer zum Gestalter, Planer, Organisator und Kommandanten eines Baues – zum Architekten. Denn es galt nicht nur nach Gefühl draufloszubauen. Für Architekten galt es, vorhandene, ähnliche Bauwerke genau zu studieren und Theorie zu büffeln – etwa die »Werkmeisterbücher« wie »Von des Chores Maß und Gerechtigkeit«, die »Geometria Deutsch« von Matthäus Roritzer oder dessen »Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit«. Diese Bücher waren teuer und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Oder man kaufte sie in einer der vielen Augsburger Verlagsbuchhandlungen, die meist gleichzeitig Schriftsetzereien und Druckereien waren. Augsburg war seit Erfindung des Buchdrucks eine der wichtigsten Buchstädte des Reiches.

Wir erkennen diesen Weg der Intellektualisierung an David Mozart, dem ersten Augsburger: Auch ein Baumeister des 17. Jahrhunderts musste lesen und am besten auch schreiben können – keine Selbstverständlichkeit. Diese Künste waren weithin der Geistlichkeit vorbehalten, den Kaufleuten und in geringerem Ausmaß dem Adel. Wo David sie gelernt haben mag, liegt im Dunkeln. Es dürfte an einer der Ordensschulen geschehen sein, wo die Patres den Knaben eine elementare Bildung vermittelten und sie gleichzeitig auf ihre Eignung für den Klerikerstand prüften. Bei Weitem nicht jeder Junge genoss diese Bildung – zu Davids Zeit gab es keine allgemeine Schulpflicht. Handwerker schrieben in der Regel weder Briefe noch Memoiren. Daher zeichnet allein schon die Beherrschung der Schrift David Mozart dem Jüngeren und seinen Nachkommen den weiteren Weg nach oben vor.

Auch für gute Beziehungen zum Himmel sorgt David. Er lässt seinen vierten Sohn Michael zum Minoritenpriester weihen. Und sein jüngster Sohn Johann Michael bleibt auf seine besondere Weise dem Stoff treu, dessen Behandlung er zu Hause so gut gelernt hat. Er ist der erste Mozart, der dem Zug der Kunst folgt – er wird Bildhauer – und dem Zug der Ferne – er geht nach Wien, wie es 100 Jahre später sein Urgroßneffe, der Komponist Wolfgang Amadé Mozart, tun wird. Er heiratet eine Wirtstochter und lebt in der Rauhensteingasse südlich des Stephansdoms, in der 100 Jahre später Wolfgang Amadé Mozarts Leben enden sollte.

Bildhauerkunst und Architektur waren in der Zeit des Barocks als Künste anerkannt. Aber den Mozarts wäre es vermutlich nie eingefallen, eine von der übrigen Gesellschaft abgehobene Sonderexistenz als Künstler zu beanspruchen. Im Verständnis der Augsburger des 17. Jahrhunderts gab es keine frei umherschweifenden Genies. Bildhauer und Maler waren Handwerker wie Maurer, Bäcker oder Metzger, wenn auch Künstler wie die Mozarts sich aufgrund ihres Geschicks und ihrer Durchsetzungsfähigkeit sicherlich berechtigt fühlten, Forderungen an die Gesellschaft zu stellen: einen respektierten Status, auskömmliche Honorare und einen guten Platz in der Kirche und am Herrgottsacker. Aber es darf bezweifelt werden, dass sie jemals auch nur im Entferntesten den gottähnlichen Status im Sinn hatten, den etwa die Schriftsteller der »Geniezeit« des späten 18. Jahrhunderts für sich reklamierten – einer Epoche, die begann, als Wolfgang und Nannerl Mozart unter der Leitung ihres Vaters Europas Höfe und Klöster mit ihrer phantastischen Musikalität erstaunten und bezauberten.

Handwerker waren und blieben die Mozarts – fest eingebunden in die zünftisch-berufsständische Ordnung. Diese regelte, mit Hunderten Vorschriften bewehrt, bis ins Privatleben hinein alles bis ins Kleinste und machte jeden Versuch, dieses Regelkorsett zu sprengen, zum persönlichen Risiko. Zu diesen Regeln gehörte auch die rigorose Beschränkung des Zugangs zu einer selbstständigen Tätigkeit als Handwerker. Selbst der talentierteste Bildhauer unter der Sonne konnte eine Handwerksgerechtigkeit nicht einfach mit Geld kaufen. Am leichtesten war es, sie zu ererben – oder zu erheiraten, was fast unweigerlich zur Folge hatte, dass ein aufstrebender Handwerksgeselle sich – kaum hatte sein Meister das Zeitliche gesegnet – auf dessen Witwe stürzte und sie zu ehelichen suchte.

Von David Mozarts Söhnen machte der jüngere Franz in mehrfacher Hinsicht von sich reden. So sorgt er während seiner Lehrzeit, die er, wie schon seine älteren Brüder, vermutlich in der Werkstätte seines Vaters verbrachte, innerhalb der Maurerzunft für einen Skandal, als er zusammen mit seinem Bruder Hans Georg den Leichnam eines Scharfrichterknechtes zu begraben hilft. Aus der wenig mitleidigen Sicht der Zeitgenossen war ein Scharfrichter ehrlos, und selbst ein christlicher Liebesdienst wie die Bestattung eines Ehrlosen konnte schnell zum Verlust der Ehrbarkeit und in der Folge zum Ausbleiben von Aufträgen führen.

Der Liebesdienst schadet dem jungen Franz jedoch nicht weiter: Der Magistrat erlegt ihm eine Geldstrafe auf, und 1678, ein Jahr nach dem Vorfall, darf Franz Anna Haerrer heiraten, eine Bauerntochter aus dem oberbayerischen Oberbuch, fünf Meilen östlich von München gelegen. Vermutlich war er während seiner Gesellenwanderung ins Isental gelangt und hatte sich das Mädchen als »Heiratskandidatin« gemerkt. So weit also reichten die Verbindungen einfacher Augsburger Handwerker. Drei Jahre später legt Mozart die Meisterprüfung im Maurerhandwerk erfolgreich ab. Die Handwerkergerechtigkeit besitzt er bereits – sein einflussreicher Vater oder sein Bruder dürfte sie ihm gesichert haben. Im selben Jahr zieht er in die Fuggerei, die erste Sozialsiedlung der Welt. Als Stiftungsbaumeister besitzt er ein Wohnrecht zum günstigen Mietzins von einem rheinischen Gulden pro Jahr und zusätzlich einem Vaterunser, einem Ave Maria und einem Glaubensbekenntnis täglich für die Stifterfamilie und ist bis zu seinem Tod für Bauvorhaben in der Fuggerei verantwortlich – eine lebenslang sichere Auftragsgrundlage.

Anna Haerrer gebar Franz eine Tochter und zwei Söhne. Beide Söhne ergriffen Berufe, die sie der harten und gefährlichen körperlichen Arbeit im Freien enthoben: Der 1679 geborene Johann Georg – Leopold Mozarts Vater – wird mit 15 Jahren Buchbinder. In Augsburg ist dies, wie wir bereits sahen, ein wichtiges und keinesfalls seltenes Gewerbe. Die erste Augsburger Druckerei hatte der frühere Schreiber Johann Bämler im Jahr 1472 gegründet. Bei Bämler erschienen, typisch für Augsburg, volkstümliche Bücher in deutscher Sprache, etwa »Eine schöne Historia, wie Troja die