BEGEGNUNGEN
UND ERINNERUNGEN
Gedichtauszug S. 199: Sahl, Hans: »Wir sind die Letzten«.
In: ders. Die Gedichte. Hrsg. von Nils Kern, Klaus Siblewski.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
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1. Auflage
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Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur
Lektorat: Barbara Köszegi
ISBN 978-3-7110-0159-7
eISBN 978-3-711-05224-7
Vorwort
Polen: Faszinierende Persönlichkeiten, schicksalhafte Erlebnisse
Albanische Abenteuer: Die Königin, der Diktator und die Freiheitskämpfer
Kiro Gligorov, der Retter Mazedoniens
Zwischen Palast und Gefängnis: Von Tito zu Sanader
Janez Janša, der unzerstörbare Stehaufmann der slowenischen Politik
Handke, Milošević und der Skandal
Die Metamorphose des Václav Klaus
Walter Laqueur, Wanderer zwischen Welten
Melvin Lasky, Bahnbrecher des Kalten Krieges
Lord Weidenfeld, der Brückenbauer
George Soros, der berühmteste, reichste und umstrittenste Auslandsungar
Das Orbán-Rätsel
Mythos Macht: Die Verführbarkeit der Herrschenden
Namensregister
»Die Welt ist nichts als eine ewige Schaukel. Alle Dinge schaukeln ohne Unterlass. Die Beständigkeit selbst ist nichts anderes als eine schwächer geschwungene Schaukel … Ich male nicht das Wesen; ich male seinen Übergang. Es ist ein Protokoll von verschiedenen und veränderlichen Zufällen, von unbestimmten und, wie es sich trifft, wohl gar von widersprechenden Einbildungen.«
Michel de Montaigne
Essais, Zweites Buch, Erstes Kapitel
Spannende Begegnungen mit erfolgreichen, umstrittenen und gestürzten Politikern, herausragenden Wissenschaftlern, einflussreichen Publizisten und großen Künstlern boten mir Gelegenheit, zurückzublicken und in diesem Buch eine breite Palette von Themen zu behandeln, die sich – wie könnte es anders sein – auf meine persönlichen Erlebnisse stützen. Zu diesen gehören auch Fragen und Ereignisse, die noch heute zum Teil einer befriedigenden Erklärung harren.
Hinzu kommen auch Reflexionen über die Rolle der Persönlichkeit in der Politik und die Sehnsucht nach den starken Führungspersönlichkeiten, welche die Grenzen des politisch Möglichen hinausschieben und eine radikal neue Politik gestalten. Anders ausgedrückt: Die Sehnsucht nach einem »starken Mann« ist besonders ausgeprägt in autoritären und totalitären Regimen, nicht selten mit katastrophalen Folgen.
Persönlichkeiten spielen aber auch in der Welt der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Medien eine große Rolle. Journalisten und Zeithistoriker kommen zuweilen in die Lage, Augenzeugen von etwas zu werden, was in der Fachsprache dann »historische Wende«, »Epochenende«, »Zäsur« heißt. Im Lauf meines langen Lebens habe ich solche Augenblicke manchmal unmittelbar, wie in Ungarn 1945 und 1956, manchmal aus einer Wiener »Loge«, wie die Wende 1989/90 in Mittel- und Osteuropa, erlebt. Angesichts der anhaltenden Krise der Europäischen Union bin ich mit dem Befund des bulgarischen Politologen Ivan Krăstev einverstanden, dass der Bruch in Europa nicht nur zwischen links und rechts, Nord und Süd, großen und kleinen Staaten stattfindet, sondern auch zwischen Menschen, »die Zerfall aus eigener Anschauung, und jenen, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen«, und dass »die Geschichte des Zerfalls politischer Gebilde zeigt, dass die Kunst des Überlebens eine Kunst ständiger Improvisation ist«. (Ivan Krăstev: Europadämmerung, 2017)
Als liberaler und unabhängiger Journalist und Zeithistoriker, der seit seiner Ankunft am 4. Februar 1957 als Flüchtling in Österreich keiner Partei und keiner ihrer Vorfeldorganisationen angehört hat, befand ich mich oft – und nicht nur in Österreich – zwischen den Stühlen. Ich kam nach Österreich als ein Mensch, der sich nach den eigenen jugendlichen Irrwegen für die Wahrheit und gegen die Lüge, für die unperfekte Demokratie und gegen den Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, entschied. Die hautnahe Bekanntschaft mit der braunen und der roten Diktatur, beide lebensgefährlich, hat für mich nicht nur die Zeit der Jugend, sondern auch mein Geschichtsverständnis geprägt.
In den folgenden Essays versuche ich, sozusagen von innen und von außen, Geschichten und Eindrücke aus der Nähe über manche prägende Persönlichkeiten, verbunden mit meinen Erlebnissen als Auslandskorrespondent, ORF-Intendant und Chefredakteur der Europäischen Rundschau, zu erzählen. Dieses Buch ist deshalb zugleich persönlich und unpersönlich. Es betrifft Persönlichkeiten und Ereignisse in Österreich und Ungarn, Serbien und Kroatien, Albanien und Mazedonien, die so viele so gerne der Vergessenheit anheimgeben wollen. Der deutsche Literat Hans Mayer schrieb einmal: »Es gibt eine wundersame Heilkraft der Natur, doch es gibt keine Heilkräfte der Geschichte. Es heißt zwar, darüber muss Gras wachsen, allein unter dem Gras liegen, nach wie vor, die Toten.« Deshalb habe ich auch das Bedürfnis gehabt, mich mit dem verdrängten, traurigen Kapitel des Verhältnisses zwischen dem großen österreichischen Schriftsteller Peter Handke und der serbischen Politik zu beschäftigen.
Der paradoxe Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen erfordert zum Beispiel, dass der Erinnerung an die Opfer der Jugoslawienkriege Raum gegeben wird. Sonst wird – leider allzu oft – Vergessen zur Verleugnung. Die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine Bedingung für das Vergessen und erst recht für die Vergebung.
Die persönlichen Porträts von George Soros, Lord Weidenfeld, Walter Laqueur und Melvin Lasky in diesem Buch zeigen die oft ignorierte oder unterschätzte Bedeutung von Menschen, die durch ihre Initiative und ohne politische Ambitionen grenzüberschreitend Weichen für die Zukunft gestellt haben. Zwei völlig gegensätzliche politische Karrieren werden in den Berichten über Kiro Gligorov, der als Retter Mazedoniens gilt, und über Václav Klaus, den zum rabiaten, rechtsextremen Freund Putins gewandelten tschechischen Ex-Präsidenten, dargestellt. Ohne die Rolle von umstrittenen Politikern kann man weder die kroatische noch die polnische Geschichte verstehen. Eine Mischung aus humoristischen und tragischen Elementen finden wir in der kaum bekannten Geschichte der Albaner. In Österreich und Ungarn beschreibe ich im Spiegel persönlicher Erfahrungen und Kenntnisse den Aufstieg und Sturz von Spitzenpolitikern wie Bruno Kreisky und Alfred Gusenbauer und analysiere die Faktoren, die die beispiellosen Erfolge von Viktor Orbán prägen.
Gerade die Erlebnisse und Wendungen des letzten Jahrzehnts, von der russischen Expansion in der Ukraine bis zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, von der kopflosen Abenteuerpolitik Donald Trumps im Weißen Haus bis zur Erfolgswelle der Rechtspopulisten in Brasilien und Italien, müssen uns vor kühnen Prognosen warnen. Im Lauf meines Lebens habe ich so viele gewagte Thesen gehört, dass ich eine gesunde Portion Skepsis gegenüber »großen Entwürfen« und waghalsigen Spekulationen über unsere Zukunft entwickelt habe. Dieses Buch will ohne Vorurteile und ohne Scheuklappen die Erinnerungen an spannende Erfahrungen und Begegnungen mit fesselnden Persönlichkeiten für die interessierten Leser resümieren. Mag die eine oder andere Geschichte kritischen Lesern, aus welchem Grund immer, missfallen, so hoffe ich doch, dass sich niemand langweilen wird.
Wien, im Frühjahr 2019
Paul Lendvai
Seit der Wahl von István Báthory, dem ungarischen Großfürsten von Siebenbürgen, zum König von Polen (1576–1586) ist die ungarisch-polnische Freundschaft ein wichtiges Kapitel in der Geschichte beider Länder. Der polnische General Józef Bem war ein legendärer Held im ungarischen Freiheitskampf 1848/49 gegen die Habsburger. In den Jahren 1939/40 fanden über 100 000 vor der deutsch-russischen Besatzung fliehende Polen Aufnahme in Ungarn. Die Posener Unruhen in Polen und die drohende Gefahr einer russischen Intervention waren die direkten Auslöser jener historischen Demonstration am 23. Oktober 1956 in Budapest, die als Vorspiel zum Ungarnaufstand in die Geschichte einging. Diese Traditionen und die gemeinsame Bedrohung der sich parallel entwickelnden Reformbewegungen, die in Warschau Władysław Gomułka und in Budapest Imre Nagy an die Macht brachten, bewirkten, dass die Solidarität mit Ungarn unter allen Ländern der Erde wahrscheinlich in Polen am stärksten war. Zehn polnische Journalisten hielten sich im Oktober und November 1956 zeitweilig in Ungarn auf und berichteten mit großer Sympathie über das dramatische Geschehen.
Dass es den Polen gelungen war, eine sowjetische Gewaltaktion abzuwehren und die Veränderung friedlich, durch Reformen zu erreichen, während die Ungarn eine blutige Tragödie erleben mussten, verlieh der alten Zuneigung eine neue und besondere Intensität. Zusammen mit vielen Freunden und Kollegen hoffte ich, dass der einheitliche Widerstand der Intelligenz und der Arbeiterklasse Ungarns, der Druck der Weltöffentlichkeit und der westlichen Mächte, aber auch die Sympathie Jugoslawiens und Polens noch den Weg zu einem erträglichen Kompromiss öffnen und eine Vergeltungskampagne des vom Kreml installierten Kádár-Regimes verhindern könnten.
Nach fünf verlorenen Jahren (Militärdienst, Internierung und amnestierter, aber politisch unzuverlässiger Ex-Häftling mit Berufsverbot für drei Jahre) war ich erst im Sommer 1956 politisch rehabilitiert worden. Als Ressortchef für Außenpolitik einer neuen, offiziell »unabhängigen« Tageszeitung, Esti Hírlap, erhielt ich im Januar 1957 eine durch polnische Kollegen organisierte Einladung des damals von Reformern geführten Parteiblatts Trybuna Ludu nach Warschau, um von dort über die Parlamentswahlen zu berichten, die auch als Test für den Erfolg des Reformflügels angesehen wurden (für Details siehe mein Buch Auf schwarzen Listen). Wie sich jedoch zeigen sollte, versiegten die polnischen Reformen bald in der Wüste eines blockweiten Neostalinismus.
Diese erste Auslandsreise überhaupt, als Journalist im Alter von 27 Jahren, am 12. Januar 1957 mit den folgenden 18 Tagen in Warschau wurden zum Wendepunkt in meinem Leben. Von der ersten bis zur letzten Minute spürte ich während meines Aufenthalts die Solidarität der polnischen Journalisten und Intellektuellen mit dem geknebelten Ungarn. Die Hinrichtungen von Aufständischen, die Verhaftungen von Schriftstellern und Journalisten und andere Hiobsbotschaften zeigten, dass sich das Kádár-Regime für einen unbarmherzigen Kurs der Rache entschieden hatte. Das war, zusammen mit der Wirkung von Begegnungen mit vielen westlichen Berichterstattern, nicht zuletzt mit Hugo Portisch, Adam Wandruszka und Erich Lessing aus Wien, die später zu meinen engen Freunden wurden, der Hauptgrund für meinen dann folgenden Absprung nach Österreich. Bereits vor meiner Reise nach Prag, der nächsten Station der von meiner Zeitung arrangierten Tour, war ich fest entschlossen, in Wien ein neues Leben in Freiheit anzufangen.
Diese dramatischen Tage in Warschau waren aber keineswegs das Ende meiner spannenden Erfahrungen in Polen. Am 29. September 1959 wurde ich stolzer Besitzer eines österreichischen Reisepasses und arbeitete ab Mitte 1960 als Wiener Korrespondent für die Londoner Financial Times. Im Juni 1961 fragte mich die Auslandsredaktion, ob ich für die Zeitung über die Posener Messe in Polen berichten könnte. Vorher hatte das Blatt schon erste größere Artikel von mir über die Wirtschaftslage in Ungarn und Jugoslawien gebracht.
Ich blieb einige Tage in Posen und berichtete über die nicht allzu aufregende Messe und die erwarteten Geschäftsabschlüsse der Aussteller aus dem Vereinigten Königreich. In den folgenden Jahrzehnten habe ich noch oft über die ebenso rituellen wie langweiligen, für die britische Exportwirtschaft aber wichtigen Vertragsverhandlungen bei Messen und Ausstellungen von Brünn bis Plowdiw und Bukarest geschrieben. Meine erste Auslandsreise für das britische Weltblatt war für mich aber mehr als eine Chance bei der FT, es war eine nostalgische Reise in das Land, von dem aus ich knapp vier Jahre zuvor meinen Weg in die Freiheit angetreten hatte.
Vor allem der Abstecher von Posen nach Warschau war ungeheuer aufregend. Ich traf einige alte Freunde, die gar nicht glauben wollten, dass der ehemalige Sonderkorrespondent eines kommunistischen Blattes aus Budapest so schnell im Gewand eines britischen Sonderkorrespondenten zurückkehrte. Die Kontraste zwischen Polen 1957 und Polen 1961 waren beklemmend. Ich war froh, dass ich mir damals das Angebot optimistischer Freunde, eine Zeit lang unter einem Vorwand in Polen zu bleiben, nicht einmal überlegt hatte.
Was aber alle Eindrücke überschattete, war ein banales Missverständnis auf dem Warschauer Flughafen. Nach dem Passieren der Pass- und Zollkontrolle wollte ich eben Souvenirs im Duty-free-Shop kaufen, als ich plötzlich meinen Namen aus dem Lautsprecher vernahm. »Mr Lendvai, kommen Sie bitte zur Zollkontrolle«, wurde da auf Englisch durchgesagt. Ein Schrecken durchfuhr mich; also ich war doch ein Idiot, eine Polenreise »aus Hetz« zu wagen. Mit heftigem Herzklopfen ging ich zum Schalter: »Wir haben Ihren Koffer irrtümlich nicht eingecheckt und wollten wissen, ob Sie noch Handgepäck haben.« Ein Stein fiel mir vom Herzen, und ich trank schnell einen polnischen Wodka darauf.
In den 1960er-Jahren besuchte ich Polen und Ungarn mehrmals. Die Kontraste zwischen den beiden Ländern wurden immer offensichtlicher. Deshalb begann ich mein Essay in der Zeitschrift Der Monat (Oktober 1966) anlässlich des zehnten Jahrestags des Ungarnaufstandes mit einem für die Stimmung charakteristischen Zitat eines polnischen Journalisten: »Ich verstehe nicht, dass meine ungarischen Kollegen so unzufrieden sind. Schau die reichen Auslagen an, die Preisschilder, frage, wer wie oft im Westen gewesen ist, achte auf den Ton und die Offenheit der Diskussionen in der Presse! Es ist fast alles so unvergleichlich besser als bei uns, ganz zu schweigen von der erstaunlichen Popularität, die Kádár im Vergleich mit Gomułka genießt. Wir gewannen im Oktober 1956, aber auf lange Sicht haben wir doch verloren. Die Ungarn verloren damals und haben letzten Endes doch gewonnen.« Der Autor hatte Ungarn erstmals seit dem Krisenherbst 1956 besucht, und viele Polen teilten damals seine Ansicht.
Die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen verliehen den Machtkämpfen innerhalb der herrschenden kommunistischen Partei in Polen einen besonderen Antrieb. Ein radikaler stalinistischer Flügel unter der Führung von Innenminister General Mieczysław Moczar versuchte in den 1960er-Jahren, Parteichef Władysław Gomułka zu entmachten. Diesem Zweck diente eine als »Antizionismus« kaschierte antisemitische Kampagne gegen Partei- und Staatsfunktionäre sowie Intellektuelle jüdischer Herkunft. Sie erreichte nach den Studentenunruhen im März 1968 ihren Höhepunkt und führte zur Auswanderung von mehr als 15 000 Juden.
Schon bei meinem ersten Besuch in Warschau im Januar 1957 hatte ich die Journalistin Edda Werfel kennengelernt. Ihr Mann Roman Werfel war ein prominenter Parteijournalist, zeitweilig sogar Chefredakteur der theoretischen Monatsschrift der Partei, Nowe Drogi. Bei den Studentenunruhen wurden ihre Tochter Katarzyna und andere Kinder jüdischer Funktionäre als »zionistische, der polnischen Nation fremde« Drahtzieher der regimefeindlichen Verschwörung angegriffen und vorübergehend verhaftet. Edda, mit ihren perfekten Deutschkenntnissen auch eine anerkannte Übersetzerin, emigrierte mit ihrer Tochter nach Wien, wo sie als Verlagslektorin tätig wurde. Mit ihrer Hilfe habe ich über vierzig bedeutende polnische Persönlichkeiten interviewen können, für die Wien meistens nur Transitstation auf dem Weg in die Emigration war. Sie hat für mich auch regelmäßig die wichtigsten Pressestimmen ausgewählt und übersetzt.
So konnte ich bereits in der September-Nummer 1968 der angesehenen jüdischen Monatsschrift Commentary in New York einen langen Aufsatz mit dem Titel »Polen – die Partei und die Juden« veröffentlichen. Später gab der Verlag Doubleday mein original auf Englisch geschriebenes Buch Antisemitismus ohne Juden über solche Entwicklungen und Tendenzen nicht nur in Polen, sondern im gesamten Ostblock heraus. Edda Werfel hat unter einem Pseudonym die deutsche Fassung (1972) erstellt. Später war sie nebenberuflich auch Textredakteurin meiner Vierteljahresschrift Europäische Rundschau.
Bereits vor der Veröffentlichung meiner Berichte über die antisemitische Kampagne hatte man meine Visagesuche in Polen, wie übrigens in allen Ostblockländern außer Rumänien, abgelehnt. Das war die Folge eines offiziellen Ansuchens des ungarischen Innenministers András Benkei vom 21. Oktober 1965 an seine Kollegen in den Bruderstaaten, eine Einreisegenehmigung für mich, »den besten Spezialisten für Fragen der sozialistischen Länder Osteuropas«, abzulehnen. Erst österreichische Interventionen nach dem Amtsantritt von Bundeskanzler Bruno Kreisky öffneten mir wieder den Weg auch nach Polen.
So kam ich erst 32 Jahre nach der Deportation meiner Großeltern und 29 anderer Verwandten aus Siebenbürgen auch nach Auschwitz. Mit einer kleinen österreichischen Journalistengruppe habe ich die Häftlingsblöcke, den Appellplatz, die Erschießungswand, die Gaskammer und das Krematorium besichtigt. Vor den Gebirgen von Menschenhaar stehend und an meine kleinen Verwandten, Vetter Hugo und Cousine Livia, denkend, bin ich plötzlich schluchzend zusammengebrochen. An diesem Sommertag im Todeslager habe ich mich als Überlebender, der kein Auschwitz-Häftling gewesen war, zutiefst geschämt. Wir haben dann das Lager verlassen, um mit dem Bus wieder nach Krakau zurückzufahren – aber Auschwitz hat mich nie mehr verlassen.
Durch persönliche Kontakte mit polnischen Journalisten und Wissenschaftlern hatte ich damals Zugang auch zu wichtigen gemäßigten Persönlichkeiten im reformkommunistischen und katholischen Umfeld. Zu diesen gehörte Mieczysław Rakowski (1926–2008), Chefredakteur der 1957 gegründeten Wochenzeitung Polityka. Gebildet, verbindlich und in gutem Deutsch vertrat er schon in den 1960er- und 1970er-Jahren das freundliche Gesicht der polnischen Außenpolitik. Die Tatsache, dass Polityka das einzige wichtige Blatt war, das sich nicht an der 1968 vom Apparat entfachten antisemitischen Hetze beteiligte, verschaffte ihm auch international einen guten Ruf. Es war kein Zufall, dass ich ihn zur allerersten »Oststudio«-Sendung des ORF am 30. März 1980 eingeladen habe.
Ich habe ihn auch davor in Warschau und in Wien immer wieder getroffen. Erst in seinem zehnbändigen Tagebuch, lange nach der Wende veröffentlicht, erfährt man freilich Details über seine bahnbrechende Rolle im deutsch-polnischen Dialog und auch seine wahre Meinung über verschiedene Krisensituationen. Wie so viele andere Beobachter war auch ich überrascht, als er im Februar 1981 in der Krisenregierung General Jaruzelskis den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten übernahm, zuständig für den Dialog mit der rebellischen Gewerkschaft Solidarność. Mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 scheiterte Rakowski als Unterhändler und verlor viel Sympathie im Ausland; in Polen wandten sich viele seiner Anhänger von ihm ab.
Als »Held des Rückzugs« (Adam Krzemiński) wurde Rakowski 1988 Ministerpräsident. In Warschau nahmen wir ein längeres Fernsehinterview auf, in dem er sein Konzept der »Reformen von oben« erörterte, einige Monate bevor er die am runden Tisch ausgehandelten Wahlen verlor.
Stärker als der Eindruck unseres TV-Gesprächs bleibt in meiner Erinnerung jedoch meine Begegnung mit ihm im Herbst 1989 als letzter Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, wie die KP offiziell hieß. Das früher wie eine Festung bewachte Parteihaus war verlassen und fast leer. Später beherbergte es übrigens die Börse. Mit Mühe fand ich das große Büro des Parteichefs. Rakowski erzählte mir vom Treffen der vom Sturz bedrohten Ostblockchefs in Moskau, das kurz zuvor stattgefunden hatte, und zitierte Michail Gorbatschow, der die Genossen sinngemäß mit den Worten getröstet hatte: »Was immer passiert, Genossen, der Sozialismus wird siegen.« Dazu bemerkte Rakowski angeblich vor den verdutzten Kollegen: »Schon möglich, nur wir werden nicht mehr dabei sein …«
Rakowski war für mich der scharfsinnigste und menschlich sympathischste kommunistische Journalist, der gefangen war in einem System, das er reformieren wollte. Sein Erinnerungsbuch Es begann in Polen wurde übrigens von derselben Lektorin, Anneliese Schumacher, lektoriert, die auch den Text meiner Memoiren Auf schwarzen Listen bearbeitet hat.
Als Politiker scheiterte er systembedingt, als Journalist und Chefredakteur der Polityka (1957–1982) war er aber in Deutschland und Österreich eine einzigartige Erscheinung in der grauen Eintönigkeit der kommunistischen Welt. Dank meines alten Freundes, dem im deutschen Sprachraum hochgeschätzten Publizisten Adam Krzemiński, konnte ich dessen biografisches Essay über Rakowski verwenden und die mich betreffenden Notizen aus Rakowskis Tagebüchern (aus den Jahren 1976, 1980, 1985 und 1987) lesen. Was mich damals übrigens überrascht hat, war die Tatsache, dass Rakowski für die Überweisung seines Honorars für einen Rundschau-Artikel ein Bankkonto in Hamburg angegeben hat. War das ein Zeichen des Vertrauens oder des Leichtsinns?
Ganz anders waren meine Beziehungen zum marxistischen Philosophen Adam Schaff (1913–2006), den ich in den frühen 1960er-Jahren als Chefideologen der Kommunistischen Partei Polens kennengelernt hatte. Er gehörte zwischen 1955 und 1969 dem Zentralkomitee der KP an und war Direktor des Instituts für Philosophie und Soziologie in Warschau. Schaff vertrat zwar relativ gemäßigte Ansichten und war ein Gegner des stalinistischen, orthodoxen Parteiflügels, aber erst nach seiner Entfernung aus führenden Positionen infolge der antisemitischen Säuberungen 1968 entwickelte er sich von seinem Bezugssystem weg. Je weiter die Zeit voranschritt, umso offener trat er als Vertreter eines humanistischen Sozialismus auf. Seine Stellung als Leiter des sozialphilosophischen europäischen Zentrums in Wien und seit 1972 Gastprofessor für Sozialphilosophie an der Universität Wien gaben ihm die Freiheit, das kommunistische System offen zu kritisieren: »Der Kommunismus ist eine Bewegung, die nicht nur ihre Feinde, sondern ihre eigenen Exponenten und ihre eigene Geschichte getötet hat. Zwischen Lenin und Breschnew klafft ein großes schwarzes Loch, in das alle hineingefallen sind oder hineingestoßen wurden.« (Norbert Leser: Skurrile Begegnungen, 2011, S. 151)
Unsere Beziehungen in Wien wurden enger, als er mich bat, seine nunmehr offene Abrechnung mit dem kommunistischen Regime in der von mir redigierten Europäischen Rundschau zu veröffentlichen. Die zwischen 1982 und 1987 in unserer Zeitschrift abgedruckten und für einen ehemaligen Chefideologen wahrlich erstaunlich scharf formulierten Feststellungen fanden internationale Beachtung und wurden als Vorwand genommen, um Schaff wegen »bourgeoisen und revisionistischen Gedankenguts« aus der Partei auszuschließen. Mein Verdacht, dass er trotz Kritik doch weiterhin Kontakte mit dem Apparat pflegte, wurde geweckt, als er mich Ende 1982 warnte, dass die Sowjets mich persönlich und die von mir geleitete Ostredaktion des ORF bald angreifen würden. Und in der Tat griff die sowjetische Regierungszeitung Iswestija mich und unsere Chefreporterin Barbara Coudenhove-Kalergi am 23. Januar 1983 unter dem Titel »Lügen auf dem Bildschirm« wegen »ideologischer Wühlarbeit« gegen den Ostblock scharf an.
Auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks blieb Schaff dabei, dass nicht die Theorie des Marxismus widerlegt worden sei, sondern nur dessen falsche Anwendung am falschen Ort und zur falschen Zeit. Er selbst hat sich jedenfalls anlässlich seines 85. Geburtstags als »Don Quijote des Sozialismus« bezeichnet. In diesem Sinne ist er tatsächlich zu einer tragikomischen Figur geworden.
Was für ein Kontrast zu jenem polnischen Freund, Władysław Bartoszewski (1922–2015), dem großen und mutigen katholischen Intellektuellen, dem einstigen Auschwitz-Häftling, der nach der kommunistischen Machtergreifung insgesamt sechs Jahre im Gefängnis verbringen musste und unter dem Ausnahmezustand im Dezember 1981 erneut verhaftet wurde. Kurz zuvor hatte ich mit ihm in einem Caféhaus in Wien ein Interview gemacht und illustrierte dann in einem »Zeit im Bild«-Kommentar des ORF anhand seiner Person und seines Schicksals die absurde Situation, in der die Bösen siegen und die Anständigen immer wieder – wie Bartoszewski 1944, 1948 und 1981 – von diesen verfolgt werden.
Es war eine glückliche Fügung, dass diese außergewöhnliche Persönlichkeit von 1990 bis 1995 als polnischer Botschafter nach Wien entsandt war. Mit ihm hatte ich von allen Polen die engsten persönlichen Beziehungen sowohl während seiner Zeit in Wien wie auch während seiner zwei Amtsperioden 1995 und 2000 als Außenminister. Kein Pole war in Deutschland und in Israel bekannter als er. Während der deutschen Besatzung war der junge Student Mitbegründer eines geheimen Komitees zur Rettung der Juden gewesen und musste deshalb sieben Monate in Auschwitz verbringen. Auch nach seiner Freilassung blieb er im Widerstand und bei der Judenhilfe aktiv. 1965 wurde er als »Gerechter unter den Völkern« von Yad Vashem in Jerusalem geehrt, und 1992 wurde ihm sogar die Ehrenbürgerschaft des Staates Israel verliehen. Bartoszewski begann seine bewegende Dankesrede bei einer Veranstaltung in Wien (10. Februar 1992) mit diesen Worten: »Es ist wahr, dass die Verleihung der Ehrenbürgerschaft eines Staates an einen Bürger eines anderen Staates, der noch dazu amtierender Botschafter in einem dritten Staat ist, ein äußerst seltener, wenn nicht einmaliger Fall ist. Es ist aber auch wahr, dass die historische Verbindung und Verflechtung des jüdischen und polnischen Elementes und die Rolle des Ostjudentums auf dem breiten Gebiet zwischen Deutschland und Russland von großer Bedeutung sowohl für die Geschichte des europäischen Judentums wie auch für die Geschichte meines Landes Polen war.«
Bartoszewskis Reden, Aufsätze und Bücher beschäftigten sich immer wieder mit der Verarbeitung der Vergangenheit im polnisch-deutschen und polnisch-jüdischen Verhältnis. Auch in seiner Eröffnungsrede bei der von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in Wien veranstalteten internationalen Konferenz über Antisemitismus hat Bartoszewski am 19. Juni 2003 vor dem »in die falsche Maske des Antizionismus gekleideten Antisemitismus« gewarnt. Zur Begründung des von ihm vorgelegten konkreten Maßnahmenkatalogs zitierte er ein eindrucksvolles und auch heute noch höchst aktuelles Essay des ersten nichtkommunistischen polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki über den »Antisemitismus der gutmütigen und anständigen Menschen«: »Der offene, aktive Antisemitismus ist vordergründig aus unserem Leben verschwunden […] aber da ist noch der Antisemitismus, der mit verdecktem Visier kämpft. Und vor allem gibt es in unserer Gesellschaft ein noch immer verbreitetes Phänomen: den sanften Antisemitismus, die tief im Herzen verborgene Verachtung oder ganz einfach den antijüdischen Mythos, den – wie einen nicht ganz erloschenen Funken – erneut anzufachen nicht allzu schwierig ist.« (Partei nehmen für die Hoffnung, 1990, S. 97–98)
Mazowiecki (1927–2013), Autor, Bürgerrechtsaktivist und einer der führenden Vertreter der Gewerkschaftsbewegung Solidarność, ging als der erste frei gewählte, nichtkommunistische Reformpremier 1989/90 in die polnische Geschichte ein. Im Gegensatz zum umtriebigen Bartoszewski, der bei Diskussionen und auch bei seinen Auftritten im ORF-»Europastudio« schnell wie ein Maschinengewehr sprach, wirkte Mazowiecki bei seinen Auftritten eher mit seinem Ernst und seiner Zurückhaltung.
Ich habe mich mit Lech Wałęsa, dem Helden des Widerstands 1980/81, dem legendären Gewerkschaftsführer und ersten Staatspräsidenten nach dem Umbruch (1990–1995), erst 2008 länger unterhalten, allerdings nicht im Fernsehen, sondern bei einer Livediskussion vor eingeladenem Publikum. Als Staatspräsident wurde Wałęsa allgemein als Versager betrachtet. Sprunghaft und unberechenbar, überwarf er sich nach kurzer Zeit mit Mazowiecki und anderen früheren Beratern. Als er im Jahr 2000 bei der Präsidentenwahl gegen den einstigen kommunistischen Jugendminister Aleksander Kwaśniewski kandidierte, bekam er nur mehr ein Prozent der Stimmen.
Als aber die rechtsnationalen Kaczyński-Zwillingsbrüder (Lech Kaczyński starb als Staatspräsident bei einem Flugzeugabsturz 2010, Jarosław Kaczyński gilt noch heute als der starke Mann Polens) Wałęsa mit der Anschuldigung, er sei in den 1970er-Jahren unter dem Decknamen »Bolek« ein Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes gewesen, diskreditieren wollten, standen auch seine ehemaligen Freunde an der Seite Wałęsas und wiesen die manipulierten Vorwürfe zurück.
Die angesehensten und überzeugendsten Verteidiger Wałęsas waren Bronisław Geremek (1932–2008) und Adam Michnik. Beide habe ich gut gekannt. Geremek habe ich bei einem Mittagessen im Woodrow-Wilson-Institut in Washington in den späten 1970er-Jahren kennengelernt. Der stille und zurückhaltend agierende Historiker hatte damals ein Forschungsstipendium. Später galt er als das eigentliche Gehirn der gesamten Solidarność-Bewegung. Ebenfalls nach der Verhängung des Kriegsrechts verhaftet, spielte Geremek eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen am runden Tisch, die zur friedlichen Ablöse des kommunistischen Machtapparats und zum Systemwechsel führten. Der perfekt Französisch und sehr gut Englisch sprechende Wissenschaftler war die Stimme Polens in der Welt, sowohl als Außenminister (1997–2000) als auch als Europapolitiker. Ich traf »Bronek«, wie sein Kosename hieß, immer wieder bei internationalen Konferenzen. Der Holocaust-Überlebende blieb auch als Träger des Karlspreises, der für Verdienste um Europa und die europäische Einigung vergeben wird, genauso bodenständig, offen, eigenständig und kritisch in seiner Haltung, wie ich ihn mehrere Jahrzehnte zuvor im Speisesaal des Wilson Centers erlebt hatte. Er starb völlig unerwartet im Sommer 2008 bei einem Verkehrsunfall in Polen. Das von ihm gelenkte Auto kollidierte mittags frontal mit einem Lastwagen, und man vermutete, dass der ständig reisende, 76-jährige Politiker am Lenkrad eingeschlafen war. Ich schrieb damals in meinem im Standard veröffentlichten Nachruf: »Geremek war ein unerschütterlicher Europäer, der mit seinem großen internationalen Ansehen den Weg Polens in die NATO und die EU geebnet hat. […] Geremek war ein zutiefst liberaler Mann, der die Kunst der geschmeidigen Lügen und den abrupten Frontwechsel der postkommunistischen Wendehälse stets verachtet hat. Ob Außenminister […], ob Vortragender oder Zuhörer, ist der polnische Historiker, in welcher Funktion immer, ein offener, freundlicher Brückenbauer, ein liberaler Europäer geblieben. […] Zur Zeit des großen Ausverkaufs der europäischen Werte und des Aufstiegs stromlinienförmiger Opportunisten fallen die Masken der Politiker von Berlin bis Warschau, von Wien bis Budapest. Bronisław Geremek trug nie eine Maske.«
Beim Staatsbegräbnis für Bronisław Geremek hielt ein anderer Freund, der Journalist Adam Michnik, die Hauptrede. Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal im März 1968 bei der Berichterstattung über die Studentendemonstrationen. Als aus einer jüdischen und kommunistischen Familie stammender Aktivist wurde er ebenfalls zur Zielscheibe der Angriffe während der »antizionistischen« Lügenkampagne. Im Gegensatz zu den meisten anderen namentlich angegriffenen Studenten ging er weder ins Ausland noch zog er sich aus der Politik zurück, sondern wurde einer der international bekanntesten Bürgerrechtskämpfer in der kommunistischen Welt. Mehrere Male wurde er verhaftet und verbrachte insgesamt mehr als sechs Jahre in Polen hinter Gittern. Wir haben beim ORF alles getan, um die Aufmerksamkeit der österreichischen und europäischen Öffentlichkeit zu wecken und den Fall Michnik auf der Tagesordnung zu halten.
Ich traf Adam Michnik erst nach der Wende persönlich, dann aber immer wieder bei internationalen Veranstaltungen. Dass er leicht stottert und Französisch und Russisch, aber kein Englisch, geschweige denn Deutsch spricht, hat seine persönliche Ausstrahlung nicht beeinträchtigt. Die zweifellos amüsanteste Begegnung fand Anfang der 1990er-Jahre in Moskau statt. Wir nahmen beide an einer internationalen Tagung teil, die in einem für die kommunistische Machtelite reservierten Hotel im Kreml abgehalten wurde. Dort erschien Adam Michnik mit einem gut sichtbaren Abzeichen an seinem Jackett: »I like KGB«. Die Vertreter des damals langsam zerfallenden Sowjetregimes zeigten keine vernehmbare Reaktion.
Nach der Wende hat Adam Michnik als Chefredakteur der neuen, liberalen und meistgelesenen Tageszeitung Gazeta Wyborcza und als Parlamentsabgeordneter eine wichtige, allerdings auch umstrittene Rolle gespielt. Vor allem seine Unterstützung für die von Ministerpräsident Mazowiecki vertretene Idee, unter die kommunistische Vergangenheit »einen dicken Strich« zu ziehen, wurde von vielen Kampfgenossen im liberalen Lager und erst recht in nationalkonservativen Kreisen scharf zurückgewiesen. Die rechtsradikalen und nationalistischen Antisemiten haben ihn oft als »jüdischen Bolschewiken« beschimpft.
Nach dem Erscheinen der polnischen Ausgabe meines Buches Die Ungarn traten wir zusammen bei einem Diskussionsabend im Versammlungssaal seiner Zeitung vor mehreren Hundert Interessierten auf. Adam Michnik nahm weder dort noch in Moskau ein Blatt vor den Mund, wenn er über die autoritären Regime in Polen oder in Ungarn sprach. Von Anfang an, seit 2010, war er einer der schärfsten öffentlichen Kritiker der Politik Viktor Orbáns gewesen. Über Putin sagte er, dieser sei kein »normaler« Politiker, sondern ein Abenteurer, der nur Kräfteverhältnisse verstehe: »Im historischen Vergleich, würde ich sagen, ähnelt Putin immer mehr Mussolini. Ein grotesker und gefährlicher Diktator« (FAZ, 4. März 2015).
Dass Polen seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2015 mit dem Sieg der von Jarosław Kaczyński geführten Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) auf den Kurs Orbáns umgeschwenkt hat, ändert nichts an meiner Zuneigung zu diesem wunderbaren Land, das in meinem Leben seit so vielen Jahren eine schicksalhafte Rolle gespielt hat. Eine besondere Freude ist für mich, dass meine Orbán-Biografie (nach Deutsch, Englisch, Rumänisch und Ungarisch) auch auf Polnisch erscheint.
Keine Nation auf dem Balkan hat mich so früh und so lange fasziniert wie die Albaner. Am Anfang waren da die Erinnerungen aus meiner Kindheit in Budapest. Es war eine romantische Geschichte: Der (selbst ernannte) König Zogu von Albanien (1895–1961) hatte sich in die ungarische Gräfin Geraldine Apponyi verliebt. Zuerst hatte er Fotos des um 20 Jahre jüngeren, bildhübschen Mädchens aus dem ungarischen Hochadel gesehen und sie dann zu Silvester 1937 nach Tirana eingeladen. Die glanzvolle Hochzeit fand im April 1938 in der albanischen Hauptstadt statt. Das kleine Land war de facto ein Protektorat des faschistischen Italiens, und Graf Ciano, Außenminister und Schwiegersohn Mussolinis, war einer von Zogus Trauzeugen. Der Stammeshäuptling Zogu aus dem gebirgigen Norden beherrschte das Land 15 Jahre lang, zuerst als Ministerpräsident, ab 1928 als »Zogu der Erste, König von Albanien«.
Über dessen abenteuerliches frühes Leben berichtete Fürst Ludwig Windisch-Grätz in seinen Memoiren. Er war vom österreichisch-ungarischen Generalstab 1915 zum jungen Beg Zogu geschickt worden, um ihm 100.000 Kronen in Gold zu überreichen und dadurch seine Unterstützung zu gewinnen.
Gleichzeitig hatten die Bulgaren ihren Generalstabschef mit einem ähnlichen Auftrag und 100.000 bulgarischen Lewa (allerdings nur Papiergeld) ebenfalls zu Zogu entsandt. Windisch-Grätz beschreibt die Begegnung so: »Wir trafen nach dreitägiger Wanderung durch die Schluchten des Balkans im Felsenschloss Zogus ein, der sich als damals ganz junger Mann in Pepitahose, gelben Schuhen und Smoking präsentierte, welche Adjustierung im krassen Gegensatz zu dem martialischen Aussehen seiner Männer stand, die das Felsenschloss mit ihren Lagern umgaben. Zogu steckte nachmittags die bulgarischen Papier-Lewa ein – empfing mich in der Nacht, versicherte mich seiner unbedingten Liebe und Treue zur Habsburgermonarchie, bekam meine Dukaten und versprach, nach Skutari zu marschieren. Er ist wenige Tage später mit allen seinen von den Serben erbeuteten Waffen zu den Griechen übergelaufen, die ihn nicht nur ebenfalls teuer bezahlt, sondern ihm später den Weg zum albanischen Thron geebnet haben. Zogu war ein kluger albanischer Gangster …«