Plädoyer für eine gesunde Gesellschaft
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2019 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Abril, Gilroy
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-7110-0247-1
eISBN 978-3-7110-5271-1
Für all jene Menschen, die bereit sind,
Prävention vor Krankheit zu stellen.
Konsequentes Gendern bewirkt aus meiner Sicht nichts
Positives für die Lesbarkeit eines Textes.
Personenbezogene Aussagen in meinem Buch beziehen
sich daher auf alle Geschlechter.
Die Lage ist ernst
Worum es mir geht
Die skelettale Prägung unserer Kleinsten
Manifestation und Festigung erster Bewegungs- und Haltungsmuster
Erste Fehler und Nährboden für spätere Gesundheitsschäden
Die Eltern trifft wenig Schuld
Tabuthema vergessene Väter
Bucklig in die Kita
Kinder ertrinken – aber noch mehr Erwachsene
Haltungsschäden – vor dem sechsten Lebensjahr
Top am Bildschirm, Flop am Schnürsenkel
Kopfschmerzen
Albtraum Schulsport
Krankmacher Digitalisierung
Nominiere E-»Sport« zum Unwort des Jahrzehnts
Zwischen Bemutterung und Überforderung
Morbus Scheuermann
Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Teenagern
Gefährlicher Körperkult
Arbeitsfähig, aber krank
Muskelverspannungen
Schulter-Arm-Syndrom
Ventrale Haltungsdefizite durch Verkürzungen
Managersyndrom Laufsport
Venen- und Gefäßleiden
Bluthochdruck
Blindgänger Betriebssport
Von wegen Lebensabend genießen
Diabetes
Übergewicht
Degeneration
Impfstoff Bewegung
Deshalb ist Sport von klein auf so wichtig
Rumpf und Hirn
Beschwerden-Management, Vorbeugung und Ausgleich
Gesellschaft der Extreme
By fair means – mit fairen Mitteln
Normal ist das neue Cool
Spitzensport ist ein 80-Stunden-Job
Wie bekommen Bewegung und Sport den Stellenwert, der ihnen gebührt?
Das System schließt
Dank
Glossar
Anmerkungen
Auf|klä|rung, die
Substantiv, feminin
Bedeutungen (4)
1.völlige Klärung
2. a) Darlegung, die über bisher unbekannte Zusammenhänge aufklärt, über etwas, jemanden den gewünschten Aufschluss gibt
b) Belehrung über geschlechtliche Vorgänge
c) Belehrung, Information über politische o. ä. Fragen
d) Agitation (Gebrauch: DDR)
3.von Rationalismus und Fortschrittsglauben bestimmte europäische geistige Strömung des 17. und besonders des 18. Jahrhunderts, die sich gegen Aberglauben, Vorurteile und Autoritätsdenken wendet
4.Erkundung der militärischen Situation des Feindes
Be|we|gung, die
Substantiv, feminin
Bedeutungen (3)
1. a) das [Sich]bewegen von jemandem durch Veränderung der Lage, Stellung, Haltung
b) das [Sich]bewegen von etwas
2.inneres Bewegtsein, innere Bewegtheit, Ergriffenheit, Rührung, Erregung
3. a) politisch, historisch bedeutendes gemeinsames (geistiges oder weltanschauliches) Bestreben einer großen Gruppe
b) größere Anzahl von Menschen, die sich zur Durchsetzung eines gemeinsamen [politischen] Zieles zusammengeschlossen haben
Reden wir nicht darum herum: Unsere Gesellschaft befindet sich in einer körperlichen Rückentwicklung, und unsere Lebenserwartung geht zurück.
Wohl nie zuvor wussten wir mehr über unseren Körper und darüber, wie er funktioniert, und die moderne Medizin in Europa befindet sich auf einem unglaublich hohen Niveau. Dennoch bringt eine Studie Beunruhigendes zutage: Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich seit 1950 weltweit um über 20 Jahre erhöht. Das ist erst einmal gut, Österreicher werden heute statistisch gesehen 79,4 Jahre alt, Österreicherinnen 84. In Deutschland und der Schweiz zeigt sich ein ähnliches Bild. Dies geht aus der neuen Studie1 »Global Burden of Disease« hervor, die am 9.11.2018 in der Medizin-Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht worden ist und deren Ergebnisse von ORF Science wie folgt vorgestellt worden sind: Im Vergleich zu 1950 ist die Lebenserwartung 2017 weltweit von 48,1 Jahren auf 70,5 Jahre bei Männern und von 52,9 auf 75,6 Jahre bei Frauen gestiegen. Österreich liegt mit 79,4 Jahren beziehungsweise 84 Jahren im westeuropäischen Durchschnitt. Dieser liegt für Männer bei 79,5 Jahren und für Frauen bei 84,2 Jahren. Weltweit schwankt die Lebenserwartung zwischen dem niedrigsten Wert bei den Männern in der Zentralafrikanischen Republik mit 49,1 Jahren und 87,6 Jahren bei den Frauen in Singapur als Spitzenreiterinnen. Der Trend der steigenden Lebenserwartung wird sich allerdings nicht fortsetzen, heißt es in dem Bericht.
Das ist doch merkwürdig, würde man meinen, denn Österreich beispielsweise gehört zu den Ländern mit dem meisten medizinischen Personal. Laut der Studie zählt Österreich neben Andorra, Kuba, Island und elf anderen Ländern zu jenen Staaten der Welt mit den meisten Ärzten, Krankenpflegern und Hebammen im Vergleich zur Einwohnerzahl. Auf dem letzten Platz liegt zum Vergleich demnach das westafrikanische Land Benin. Einen Rückschluss auf die Qualität der medizinischen Versorgung lasse die Studie mit Daten aus dem Jahr 2017 aber nicht zu, das betonen die Autoren ausdrücklich.
Der größte medizinische Fortschritt wurde laut Studie zwischen 1950 und 2017 bei der Kindersterblichkeit (bis zum Alter von fünf Jahren) gemacht. Sie konnte von 216 Todesfällen pro 1000 Lebendgeburten auf 38,9 pro 1000 weltweit gesenkt werden. Trotzdem starben 2017 noch immer 5,4 Millionen Kinder in dieser Altersgruppe. Allerdings hat sich die insgesamt positive Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten laut den Autoren um Christopher Murray, Direktor des Institute for Health Metrics and Evaluation an der Universität von Washington (USA), in jüngster Vergangenheit verlangsamt und ist für die Zukunft nicht vorgegeben. In dem Projekt analysieren Forscher bereits seit den 1990er-Jahren die wichtigsten Gesundheitsrisiken der Welt. Für alarmierend halten sie nun, dass mehr als die Hälfte der weltweit 56 Millionen Todesfälle im Jahr 2017 auf nur vier weitgehend vermeidbare Faktoren zurückging: hoher Blutdruck, Rauchen, hohe Blutzuckerwerte und Übergewicht. Alle vier Faktoren gewannen im Vergleich zu 1990 an Bedeutung. Insgesamt waren 2017 über 73 Prozent der Todesfälle auf nicht übertragbare Krankheiten zurückzuführen. An erster Stelle standen dabei Herz-Kreislauf-Erkrankungen (17,8 Millionen Opfer), gefolgt von Krebs (9,6 Millionen Tote) und chronischen Atemwegserkrankungen (3,9 Millionen Todesopfer). Übergewicht und Fettsucht sind weltweit überall auf dem Vormarsch: Mehr als eine Million Menschen sterben bereits an den Folgen von Typ-2-Diabetes. Unspezifische Kreuzschmerzen, Kopfschmerzen und Depressionen sind mittlerweile die häufigsten Ursachen von Invalidität. Während das bereits seit drei Jahrzehnten der Fall ist, rückte mittlerweile Diabetes auf den vierten Platz vor. Für 2017 wurde die Zahl der neuen Fälle von chronischen und schmerzhaften Rückenbeschwerden auf knapp 246 Millionen geschätzt. 995 Millionen Menschen entwickelten Probleme wegen Kopfschmerzen, 258 Millionen Personen erkrankten neu an Depressionen.
Insgesamt bezeichnen die Forscher die globale Gesundheitsentwicklung als beunruhigend. Über viele Jahre habe man sich an Statistiken gewöhnt, wonach die Welt immer gesünder würde. Die aktuelle Studie zeige hingegen, dass sich die Fortschritte verlangsamen und die Entwicklung sehr unausgewogen ablaufe. Es bedürfe großer internationaler Anstrengungen, um Gesundheitsrisiken in allen Teilen der Welt zu reduzieren und die medizinische Versorgung zu verbessern. Die Studie »Global Burden of Disease« wurde Anfang der 1990er-Jahre von der US-amerikanischen Harvard University, der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank ins Leben gerufen. Mittlerweile sind über 3500 Wissenschaftler aus mehr als 140 Ländern an dem Projekt beteiligt.
Trotz modernster Medizin ist die durchschnittliche Lebenserwartung also tendenziell rückläufig, und zwar weltweit. Die immer fortschrittlicher werdende Medizin macht die Menschen demnach nicht gesünder, und über diesen Widerspruch sollten wir einmal ernsthaft nachdenken. Ebenso wie über die Tatsache, dass die Hälfte von uns an weitgehend vermeidbaren Erkrankungen stirbt und mehr als eine Million von uns an den Folgen von Übergewicht und Fettsucht. Hochgerechnet 246 Millionen neue Fälle chronischer und schmerzhafter Rückenbeschwerden. Da frage ich mich doch sehr lautstark, was hier nicht stimmt, denn ich glaube nicht daran, dass da allein die Medizin versagt, sondern dass unser eigener Beitrag zu diesen beunruhigenden Zahlen ein nicht zu unterschätzender, der eines kranken und entrümpelungswürdigen Systems aber ein noch viel größerer ist. Es ist Zeit, darüber aufzuklären und einmal laut auszusprechen, was man nicht sagen darf. In meiner Praxis betreue ich unter anderem täglich Patienten, die übergewichtig sind, praktisch aufgehört haben, sich zu bewegen, und mit schweren körperlichen Schäden zu mir kommen. Aber auch solche, die aufgrund ineinander verkeilter und sich gegenseitig behindernder Systeme unverschuldet gesundheitliche Auswirkungen zu tragen haben – missglückte Rückbildung nach Geburten zieht im Verlauf der Monate und Jahre häufig körperliche Beschwerden nach sich, um nur ein Beispiel stellvertretend für viele zu nennen. Es ist das Vermeidbare daran, das mich so schmerzt.
Wenn ich in Statistiken »Rückenbeschwerden«, »Fettsucht«, »Übergewicht«, »chronische Haltungsschäden« und die dazugehörigen Zahlen lese, dann schreit alles in mir: Bewegung! Bewegt euch endlich und tut präventiv etwas für eure Gesundheit, denn das werden weder die Medizin noch das restliche System für euch erledigen!
Noch nie gab es so viele Debatten über alle möglichen Gifte, nie wurde die Ernährungsdiskussion leidenschaftlicher geführt, nie gab es so viele Allergien und Intoleranzen, nie so viele Haltungsschäden und chronische Rückenschmerzen, so viel Fettleibigkeit und so viele Übergewichtige. Wir spüren uns immer weniger und sind nicht mehr in der Lage, unseren Körper zu ordnen und zu fühlen: Wie ist meine Haltung, tue ich mir mit der Art zu sitzen gerade etwas Gutes, oder sollte ich sie verändern, und vor allem wie sollte ich sie verändern? Wo befindet sich mein Brustkorb, wo steht mein Becken – ist das alles in einer Linie, die gut für mich ist? Gibt es etwas an meinem Lebenswandel, von dem ich weiß, dass es meiner Gesundheit schadet? Was kann ich daran ändern? Wir leben in einer Hülle, die gefüttert wird wie ein Auto mit Benzin: immer schön den Tank vollmachen. Die einen schieben alles in sich hinein, ohne darüber nachzudenken, was sie essen und ob das, was sie essen, gut für sie ist. Die anderen übertreiben es völlig mit dem Nachdenken über Ernährung und sorgen mit einseitiger, diätischer und nicht menschengerechter Nahrungsweise höchstpersönlich für ihre gesundheitlichen Beschwerden. Viele versuchen, mithilfe von Pharmazie, Ernährung und allen möglichen anderen käuflichen Stützen, ihre Probleme zu lösen, und scheinen überhaupt nicht darauf zu kommen, aus eigener Kraft, aus eigener Motivation heraus ihren gesundheitlichen Zustand verbessern zu wollen. Abnehmpillen, Abnehmshakes, Appetitzügler, Salze, gegen das eine Gift nehmen wir anderes – wir sind fast genötigt, das alles auszuprobieren, die Werbung ist ja voll damit, und bequem ist es auch, denn in Bewegung kommen müssen wir immer noch nicht.
Die Eigenwahrnehmung und das Eigenbewusstsein sind die Grundlage, Verantwortung für sich und seinen Körper übernehmen zu können. Die mediale und digitale Beeinflussung und die Kurzlebigkeit unserer Wegwerfgesellschaft machen uns nur mehr zu einer Hülle, die nach außen agiert. Die Medizin ist auf die Reparatur dieser Hülle abgestellt, während wir selbst schon lange nicht mehr im eigenständigen Handeln sind. Ursachenforschung? Vorbeugung? Veränderung und Bewegung in das kranke System bringen? Fehlanzeige. Wir sind nicht mehr in der Situation, wo Prävention eine Rolle spielt.
Aber wir sind auch nicht in der Lage wiederherzustellen, was durch mangelnde Aufklärung, fehlende Prävention und ein festgefahrenes System kaputtgegangen ist. Die Folgen falscher, mangelnder oder überhaupt absenter postoperativer Rehabilitationsmaßnahmen sehe ich täglich in meiner Praxis, und es ist die pure Katastrophe, was aus Kostengründen und Bequemlichkeit an unseren Körpern verbockt und verbrochen wird. Notwendige Maßnahmen, deren Kostenübernahme vom System nicht gedeckt, die für Patienten nicht leistbar oder ihnen den Preis einfach nicht wert sind oder bei denen die Teilnahme verweigert wird – »mangelnde Mitwirkung« heißt das in unseren Sozialversicherungsanstalten –, sie kosten das Gesundheitssystem Unsummen.
Für mich war es interessant, beim Erarbeiten dieses Buchtextes, beim Nachdenken, Recherchieren und Diskutieren darüber immer deutlicher zu erkennen, wie substanziell das Thema Bewegung ist, und während der Text von einem Gedanken in den nächsten führt, ist es immer die Bewegung, die einer der wichtigsten Bestandteile meiner Überlegungen ist: Sie ist zugleich Ursache (wo sie fehlt) und Lösung.
Für jemanden wie mich, dessen berufliches und privates Leben sich um Bewegung dreht, ist es freilich selbstverständlicher, darüber nachzudenken, als für andere Menschen, denn aktuell wird unsere Aufmerksamkeit kaum auf dieses Thema gelenkt. Wir kommen eher nur dann darauf, wenn uns Bewegung vom Arzt oder Therapeuten ans Herz gelegt wird, wenn wir krank sind und uns nicht mehr bewegen können oder wenn wir gesundheitliche Probleme haben und uns bewegen müssen. Wem beim Aufstehen morgens nicht sofort der Schmerz einfährt, der kommt also eher nicht gleich in der Früh auf die Idee, sich über das Thema Bewegung Gedanken zu machen. Der aktuelle Modetrend, Bekleidung in Designs und Schnitten aus Sportarten wie Laufen (Jogginghosen), Turnen (Leggings mit transparenten Stellen) oder Skilanglauf (Steghosen) und so weiter zu tragen, ist noch so eine Verhöhnung der Bewegung. Sich bewegen, geschweige denn Sport betreiben, werden die wenigsten in diesen Sachen, die meisten flanieren damit höchstens von zu Hause ins Büro und wieder retour oder vom Taxi zur nächsten Eventlocation. Gekauft und getragen werden die Sachen, weil eine mächtige Industrie, die Modeindustrie, dahintersteht und kräftig dafür geworben wird. Die Bewegung müsste schon für sich selbst Werbung machen, aber das kann sie nicht. Wer sich einmal ernsthaft damit auseinandersetzt, in welchen Lebensbereichen tatsächlich der Wille von uns Menschen völlig unbeeinflusst und unmanipuliert ist, wird sich schwertun, einen zu finden. Die Manipulation ist brutal und allgegenwärtig, und bei der Auseinandersetzung mit dieser frustrierenden Tatsache kommt in mir augenblicklich der Wunsch auf, mich freizustrampeln. In Ihnen auch? Da könnten Sie jetzt Pech haben, denn genau das wird den meisten von uns von klein auf abtrainiert, und zwar im Wortsinn. Die dafür notwendigen Impulse und das selbstständige, instinktive Erlernen und Ausführen bestimmter Bewegungen werden uns häufig schon als Baby durch die modernen, sicheren Anschnallsitzmobiliare abgewöhnt und unsere natürlichen Bewegungs- und Verhaltensmuster beschränkt oder entfernt. Zum sicheren Transportieren der Kleinsten im Auto sind Maxi-Cosi und Co. eine unglaublich wichtige, sinnvolle Erfindung, aber leider werden diese Sitze längst nicht mehr nur zum Autofahren benutzt, sondern zum Parken der Kinder, wenn gerade keine Zeit ist, sie im Auge zu behalten.
Für die meisten von uns geht dieses Abtrainieren oder Nichterlernen bestimmter Bewegungen über weite Strecken des Lebens weiter, und erst wenn gesundheitliche Schäden auftreten, wird uns diese Tatsache bewusst. Die kindliche Grundentwicklung ist heute in Summe derart verpfuscht, dass unsere Sportflächen zu Krankengymnastiklokalitäten geworden sind: Von zehn Kindern können nur mehr drei rückwärtslaufen, von zehn Kindern schafft bloß knapp die Hälfte einen Purzelbaum, um nur zwei Beispiele zu nennen. Wie sollen unsere Trainer und Sportlehrer ein sinnvolles Fußballtraining durchführen, wenn sie eigentlich klassische Geh- oder Laufschule nachholen müssten? Damit ist der Fachtrainer erstens überfordert, und zweitens ist das überhaupt nicht seine Aufgabe. Wenn sich allerdings ein Kind mit so einer vermasselten Grundentwicklung – und sei es nur beim Vorwärtslaufen – verletzt, sind Lehrer, Trainer und so weiter auch noch in der Haftung. Es ist nicht der Job des Trainers oder Sportlehrers, Grundentwicklung zu betreiben, sondern die jeweilige Sportart zu trainieren. Fachtrainer, Kindergärtner und Lehrer werden haftungsrechtlich für Verletzungen und Haltungsprobleme zur Verantwortung gezogen, die von Versäumnissen unserer Gesellschaft herrühren und nicht etwa von einer Verletzung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht bei der Bewegung und beim Sport.
Wir sind in einer Gesellschaft angelangt, wo wir gar nicht mehr merken, wie uns die Manipulation der Industrie, der Wirtschaft und der gehirnwaschenden Digitalisierung zu reinen Marionetten macht: über Seile fremdgesteuert.
Ich will keine Marionette sein. Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Gesellschaft.
Während diese Zeilen entstehen, sitze ich auf meiner Terrasse. Was sich da in meinem Blickfeld befindet, sind Ausnahmen: einer meiner Söhne beim Sport, einer meiner Mitarbeiter gemeinsam mit einer Nachwuchsfahrerin des Alpinskikaders beim Training. Meine Tochter mit den drei Nachbarsbuben auf dem Trampolin. Gesunde junge Menschen in gesunden Körpern mit sichtbarer Freude an der Bewegung. Nichts Außergewöhnliches, mögen Sie vielleicht denken, aber die Statistiken sprechen eine andere Sprache.
»Die äußeren Bedingungen für die Kinder haben sich geändert: Der Anteil jener Kinder zwischen 6 und 13 Jahren, die regelmäßig draußen spielen, ging deutlich zurück: von 73 Prozent 1990 auf 46 Prozent 2004 und 21 Prozent 2009. 2018 gaben nur noch 18 Prozent der Schulkinder an, dass sie (fast) täglich im Freien spielen. Schule und die hohe Mediennutzung sind Zeitfresser der Kinder.«2
2018 hat die Weltgesundheitsorganisation wirklich alarmierende Zahlen herausgegeben. 1,4 Milliarden Menschen und damit mehr als ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung bewegen sich zu wenig, genauer gesagt erreichen sie nicht den Level an körperlicher Aktivität, der aus gesundheitlichen Gründen angeraten wäre. Für Deutschland ermittelten Forscher ebenso wenig schmeichelhafte Daten. Erstaunliche 42 Prozent der Erwachsenen bewegen sich zu wenig, in den USA sind es laut Studie der Weltgesundheitsorganisation 40 Prozent. In Schweden liegt der Anteil der Erwachsenen, die sich zu wenig bewegen, bei 23 Prozent, in Finnland sind es 17 Prozent, die Niederlande bringen es auf 27 Prozent, die Schweiz liegt bei 24 Prozent, und Österreich bringt es auf 30 Prozent.3 Bewegung im Alltag ist immer weniger selbstverständlich.
Wenn wir krank sind, gibt es viele Systeme, die uns auffangen. Die Verantwortung für unsere Reparatur und Wiederherstellung sehen deshalb nur mehr die allerwenigsten bei sich selbst – diese Kompetenz haben wir längst externalisiert. Wer Zahnschmerzen hat, geht zum Zahnarzt. Der Zahnarzt wird auf Putzfehler oder mangelnde Hygiene hinweisen, das sichtbare Übel beheben, und wenn derselbe Patient in einem halben Jahr mit einem Loch in einem anderen Zahn wiederkommt, geht das Spiel von vorn los. Die Vernachlässigung des eigenen Körpers wird keinerlei Nachspiel für den Patienten haben. Der Weg zu krank machenden Gewohnheiten wie Süchten (Drogen, Medien, Spiel und viele andere mehr) oder Nichtbewegung und Vernachlässigung des Körpers ist damit ein sehr direkter: Wer sich in allem auf andere oder anderes verlässt, ist kein in sich ruhender und stabiler Mensch und ist immens beeinflussbar.
Die »Global Burden of Disease«-Studie weist im Jahr 2017 vier Millionen Opiatabhängige und 110 000 Tote weltweit (mit deutlichem Überhang in den USA) aus. Wir sind dazu übergegangen, Schmerz an entsprechende Medikation auszulagern, und so, wie wir ohne Nachdenken anfangen, unsere Kleinsten in ihrer Bewegung einzuschränken, lassen wir den besonders lebhaften Kindern unwidersprochen ADHS (eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostizieren, um die Lösung des Ungemachs sogleich kampflos der entsprechenden Medikation zu überlassen. Ritalin ist zumeist das Medikament der Wahl und fixer Bestandteil vieler Therapien. Ein paar Jahre später, wenn längst austherapiert wurde, nun aber wichtige Abschlussprüfungen anstehen (beispielsweise das Abitur) und Konzentration und Leistungsfähigkeit gefragt sind, erinnern sich viele Eltern und junge Erwachsene an die Wirkungsweise von Ritalin: Es wirkt bei ADHS beruhigend, andernfalls hochgradig aufputschend, konzentrations- und leistungsfördernd.
Wir müssen gar nicht überheblich in den Westen, in die USA blicken, wo derzeit noch ein deutlicher Überhang der weltweit Opiatabhängigen und -toten herrscht, denn in Österreich ist die Verschreibung von Ritalin zwischen 2002 und 2014 um das Zehnfache gestiegen, in Deutschland zwischen 1993 und 2014 um das Fünfzigfache, das berichtete Ludwig Rauter vom Krankenhaus in Leoben bei einer Apotheker-Fortbildungstagung.4
»Heutzutage würde Pippi Langstrumpf mit Ritalin vollgepumpt und von der Supernanny zu Tode pädagogisiert werden.«
(User @alvobe auf Twitter)
Diese automatisierte Problemauslagerungssymptomatik und die daraus resultierende Abhängigkeit begünstigen die Finanzierung des Systems beziehungsweise halten dieses überhaupt aufrecht. Wir werden immer kränker, und während Arm und Reich, Jung und Alt erkrankt und finanziert werden will, verhält sich das System – die Versicherungen ebenso wie das Gesundheitswesen – ruhig. Weder werden Versicherungsmodelle adaptiert noch kommt das Gesundheitswesen seiner Aufgabe nach, den Menschen nicht nur zu zeigen, was sie besser und anders machen könnten, um wieder gesund zu werden oder gesund zu bleiben, sondern sie nötigenfalls auch druckvoll dazu zu motivieren. Es gibt Lobbys, die so stark sind, dass sie Zucker als gesund bezeichnen und bewerben dürfen – wo bleibt die Gesundheits- und Bewegungslobby, die Menschen verbietet, sich zuerst gehen und dann reparieren zu lassen, bis irgendwann selbst die Medizin nicht mehr weiterweiß?
Das Gesundheitssystem in unserer europäischen Gesellschaft ist nicht auf Prävention ausgerichtet, sondern zur Oberflächenmedizin verkommen. Der Kostendruck im Gesundheitswesen verurteilt die Medizin angefangen beim praktischen Arzt bis hin zu den Krankenhäusern dazu, »Menge« zu liefern: Die Patienten müssen Geld bringen, und um Prävention wird sich herumgedrückt, wo es nur geht.
Erst seit Mitte 2018 erhalten Kinder und Jugendliche von 10 bis 18 Jahren in Österreich einmal pro Jahr eine professionelle Zahnreinigung, damit soll der Anteil der von Karies betroffenen Minderjährigen von aktuell rund 50 Prozent auf unter 10 Prozent sinken, wie dies etwa in Schweden oder Finnland der Fall war.5
Als ein Beispiel von vielen im Bereich skelettaler Erkrankungen möchte ich meine Hüftpatienten anführen: Die meisten von ihnen kommen zu mir, ohne dass sie jemals barfuß und in Wäsche untersucht worden wären. Hüftprobleme können unterschiedliche statische Ursachen und ihren Ursprung beispielsweise in den Knien haben oder von Skoliose herrühren, durch die das Becken hochgezogen werden kann. Häufig führen auch diagnostische Versäumnisse im Säuglings- und Kleinkindalter zu späteren Erkrankungen, wie etwa eine falsch oder nicht diagnostizierte Hüftdysplasie, die später zu Hüftarthrose führen kann. So eine Diagnose durch Hose, Hemd und Socken hindurch zu erstellen, ist verantwortungslos. Aus- und Anziehen dauert, und deshalb wird von vielen Medizinern darauf verzichtet.
Viele Menschen trauen der Medizin nicht mehr, sie spüren ja, dass da etwas nicht stimmt. Aber wieder suchen sie die Hilfe woanders, denn in den Arztpraxen und Krankenhäusern hört ihnen kaum mehr jemand zu, weil keine Zeit mehr ist. Dadurch gewinnen Geistheiler, Seelenhebammen, Schamanen und zweifelhafte Heilpraktiker mit exotischen Methoden immer mehr an Bedeutung. Oft mit erschreckenden Resultaten. Ich frage mich, wann wir hören, dass die Sekten wieder auf dem Vormarsch sind.
Wir waren noch nie so viele, aber auch nie einsamer. Wann wird in der Medizin Zuhören wieder als Leistung angerechnet? Wann wird die ganzheitliche Diagnostik, für die sich der Arzt Zeit nimmt, wieder bezahlt? Wann sind wir wieder in der Lage, in der universitären Medizinausbildung angehenden Ärzten und medizinischem Fachpersonal Fühlen, Hören und differenziertes Diagnostizieren beizubringen, ein Gelenk zu spüren, einen Tonus zu erfassen und die psychische Komponente des Patienten in voller Aufmerksamkeit wahr- und ernst zu nehmen? Durch unsere derzeit vorherrschende Bestätigungs- und Absicherungsdiagnostik liegt in der Ausbildung besonderer Fokus auf Verfahren zur schriftlichen oder bildgebenden Diagnostik. Bestätigungs- und Dokumentationsdiagnostik schlägt ganzheitliche Diagnostik. Das ist die traurige Wahrheit. Da der Mediziner nach Zuhören, Fühlen und Spüren das System nicht mit direkter Dokumentation füttern kann, muss er aus versicherungsrechtlichen, betriebswirtschaftlichen und allen möglichen anderen Gründen gar nicht mehr diagnostizieren können. Er muss die Dokumentation mit beweisbaren Verfahren beherrschen. Beim Zuhören, Sehen, Fühlen oder Spüren können dem Arzt Symptome auffallen, die eine Differenzialdiagnostik erforderlich machen, aber die ist zeitaufwendig, aufwendig zu dokumentieren und wird daher total unterdrückt.