
Wolfgang Brosche
Andy Claus
Marc Förster
Peter Förster
Hans van der Geest
Matt Grey
J. Miller / J. Mechler
Marc H. Muelle
Gilbert R. Pawel
Udo Rauchfleisch
Sabine Reifenstahl
Manuel Sandrino
Yui Spallek
Jan Springstein
Kai Steiner
PINK CHRISTMAS 9
Etwas andere Weihnachtsgeschichten

Bisher erschienen im Himmelstürmer Verlag:
Pink Christmas
ISBN print 978-3-86361-076-0 Herbst 2011
Pink Christmas 2
ISBN print 978-3-86361-184-2 Herbst 2012
Pink Christmas 3
ISBN print 978-3-86361-343-3 Herbst 2013
Pink Christmas 4
ISBN print 978-3-86361-421-8 Herbst 2014
Pink Christmas 5
ISBN print 978-3-86361-497-3 Herbst 2015
Pink Christmas 6
ISBN print 978-3-86361-588-8 Herbst 2016
Pink Christmas 7
ISBN print 978-3-86361-665-6 Herbst 2017
Pink Christmas 8
ISBN print 978-3-86361-729-5 Herbst 2018
Alle Bücher auch als E-book
Himmelstürmer Verlag, 31619 Binnen
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Oktober 2019
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Coverfoto: 123rf.com
Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus.
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-792-9
ISBN epub 978-3-86361-793-6
ISBN pdf: 978-3-86361-794-3
Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.
23. Dezember
Verflucht! Adrian hat mir noch immer keine Nachricht gesendet. Das Display meines Smartphones zeigt keine neue SMS an. Seit genau vier Tagen warte ich auf ein Lebenszeichen meines Schwarms. Dabei hat alles so toll angefangen.
Vor Wochen ist mir der hübsche Kerl erstmals in Zürichs Gayclub Heaven aufgefallen. Auf einmal war er da und wirbelte über die Tanzfläche, und ich war hin und weg. Blonde, kurze Haare, ein Kopf größer als ich und blaue Augen, in denen man ertrinken kann! Kurz gesagt, der Mann meiner Träume. Jeden Samstag erschien er genau wie ich im Tanztempel und ich konnte meine Augen kaum von ihm lassen. Aber wie immer stand mir meine Schüchternheit im Weg. Meine Augen verfolgten ihn ständig, mein Herz pochte wie verrückt, aber mein Mut ließ mich im Stich. Warum sollte ein so schöner Mann Interesse an mir zeigen? Er kann jeden haben, den er will, und das hat er bereits mehrmals bewiesen, wenn er am Ende des Abends mit einer neuen Eroberung das Lokal verlassen hat. Aber schließlich hatte ich Glück im Unglück. Es gelang mir letzten Samstag mich auf der Tanzfläche neben ihm zu positionieren und zu tanzen. In meinem Übermut aber stieß ich etwas zu heftig mit ihm zusammen und sein Glas prall gefüllt mit Gin Tonic, das er dummerweise während seiner Tanzdarbietung in den Händen hielt, wurde aus seiner Hand geschleudert und sein Inhalt floss über mein Shirt, während das Glas auf dem Boden in tausend Stücke zerbarst. Aber dadurch wurde Adrian auf mich aufmerksam, wir kamen ins Gespräch und ich bezahlte ihm an der Bar ein neues Getränk. Den Rest des Abends quatschten wir miteinander und tauschten schließlich unsere Telefonnummern aus, denn ich wagte es nicht, ihn nach Hause zu begleiten, trotz seiner eindeutigen Avancen. Aber wir versprachen uns in Kontakt zu bleiben und uns in sieben Tagen wieder im Heaven zu treffen. Also morgen Abend an der jährlichen Weihnachtsparty.
Seither habe ich ihn täglich mit Nachrichten bombardiert, aber keine einzige von ihm erhalten. Dieser Zustand frustriert mich zusehends. Deshalb bin ich auch froh, dass ich morgen endlich wieder nach Hause reisen kann, um Weihnachten in unserem Haus in St. Gallen zu feiern und anschließend mit meinem kleinen Automobil, das ich mir im Herbst geleistet habe, nach Zürich zu düsen. Momentan befinde ich mich nämlich in der verschneiten Bergwelt des Engadins, genauer gesagt in der Ortschaft Scuol im Kanton Graubünden. Ich bin nicht allein hier. Meine Eltern, meine elfjährige Schwester Evi und ich verbringen jedes Jahr die Tage vor Weihnachten irgendwo in den Bergen, um Ski zu fahren. Natürlich wollen wir das auch heute machen. Nach dem Frühstück im Hotel haben wir unsere Bretter gepackt und fahren nun im Postauto zum Skilift, der uns zu den Pisten bringt. Wir sind nicht allein unterwegs. Das Postauto ist gut gefüllt mit Wintersportbegeisterten aus der ganzen Welt. Mir fällt vor allem eine Gruppe junger Engländer auf, die sich sehr laut und kindisch benehmen. Ich kenne die zwei Frauen und die drei Typen, denn sie sind im gleichen Hotel abgestiegen wie meine Familie und fallen auch dort regelmäßig negativ auf. Der Kerl mit der violetten Strickmütze ist besonders nervtötend. Immer küsst er seine Tussi, reißt seine Klappe auf, damit alle Gäste seine doofen Witze hören müssen, und trinkt ohne Unterlass Alkohol. Zu allem Übel sieht er wirklich toll aus. Schwarze, super kurze Haare, süße Rehaugen und schlank. Das pure Gegenteil von meinem Adrian, aber doch sehr niedlich, aber charakterlich nicht meine Liga.
Ich bin froh, als das Postauto endlich an der Talstation hält und ich fast fluchtartig das Gefährt verlassen kann. Ich warte weder auf meine Eltern, noch auf meine nervige, kleine Schwester. Ich zähle nun schon neunzehn Jahre und verbringe die Zeit auf den Pisten lieber allein als mit der Familie.
„Manuel, wart auf mich!“, schreit Evi und versucht mir zu folgen, wird aber von meinen Eltern zurückgehalten.
„Manuel, your little sister calls you! “
Überrascht werfe ich einen Blick zurück und schaue direkt in die braunen Augen des Engländers mit der violetten Strickmütze. Er grinst mich breit an, aber ich erwidere sein Lachen nicht, sondern ignoriere ihn absichtlich. So rasch wie möglich begebe ich mich zum Skilift und lasse mich in die Bergwelt entführen. Ich wechsle noch zweimal den Lift, dann befinde ich mich endlich fast allein in der weißen Winterwelt und genieße die Ruhe, bevor ich meine Abfahrt starte.
Ich bin ein ziemlich guter Skifahrer und sause wie ein Pfeil die schwierige Piste runter. Kaum unten angekommen stürze ich mich wieder zum Skilift und lasse mich nach oben transportieren. Dabei fällt mir auf, dass in der Zwischenzeit die Sonne hinter schwarzen Wolken verschwunden ist. Erste Schneeflocken tanzen in der Luft. Das gefällt mir. Denn sobald es schneit, leeren sich die Skipisten und die Touristen verschanzen sich in den Restaurants. Dann brauche ich nicht mehr Rücksicht auf andere Fahrer zu nehmen und kann mich auf den Skipisten austoben.
Als ich endlich wieder ganz oben angekommen bin, hat das Schneetreiben deutlich zugenommen. Man sieht nur noch wenige Meter weit. Aber davon lasse ich mich nicht abschrecken und starte erneut mit der Abfahrt. Ich fühle mich so richtig frei und fliege die Piste hinunter. Es ist bitterkalt und die Schneeflocken kleben an meiner Skibrille, sodass meine Sicht eingeschränkt wird.
In diesem Augenblick passiert es. Aus dem Nichts taucht eine Gestalt auf und versperrt mir den Weg. Im letzten Moment kann ich gerade noch eine scharfe Rechtskurve mit meinen Skiern machen und danach hart abbremsen. Trotzdem kann ich das Gleichgewicht nicht mehr halten, stürze auf den harten Schnee und gleite ein paar Meter die Piste hinunter, bevor es mir gelingt, meine Rutschfahrt zu stoppen.
Zuerst bleibe ich regungslos liegen. Dann bewege ich meine Beine und schließlich meine Arme. Keine Schmerzen! Außerdem haben sich die Skier nicht von meinen Schuhen gelöst. Da habe ich nochmals Glück gehabt. Nichts gebrochen und keine Skier, die ich nun im Tal suchen müsste! Vorsichtig erhebe ich mich mit Hilfe der Skistöcke, als der Unfallverursacher neben mir auftaucht. Aus den Augenwinkeln erkenne ich eine violette Skimütze. Nicht schon wieder der Kerl!
„I’m sorry. I didn’t see you“, erklärt mir der Engländer außer Atem. Da Englisch in der Schule mein Lieblingsfach gewesen ist, antworte ich ihm in seiner Sprache.
„Kannst du nicht aufpassen? Das hätte ins Auge gehen können. Vollidiot!“, schreie ich ihn an und ich sehe, dass ihn meine Worte richtig einschüchtern, sodass er nochmals zu einer Entschuldigung ansetzt. Natürlich weiß ich, dass wir beide an diesem Zwischenfall schuld sind. Ich hätte viel besser aufpassen sollen und weniger schnell fahren dürfen. Aber das mag ich diesem Engländer nicht sagen, sondern werfe ihm einen weiteren bösen Blick zu, bevor ich mich abwende und deutlich langsamer Richtung Tal fahre. Dabei bemerke ich, dass der Kerl neben mir über die Piste gleitet und mich nicht aus den Augen lässt. Er hat wohl ein schlechtes Gewissen und will sicher sein, dass ich das Tal lebendig erreiche. Ich werde deshalb etwas schneller, um ihn abzuhängen. Aber der Typ kann tatsächlich ganz gut mit seinen Skiern umgehen. Das hätte ich nicht gedacht. Kennen Engländer überhaupt Schnee? Und gibt es dort Berge? Das alles weiß ich nicht, denn ich war noch nie dort, obwohl mich London schon interessieren würde. Aber wenn alle Leute dort so sind wie diese Fünfergruppe hier in Scuol, dann kann ich mir die Reise dorthin sparen.
Endlich erreichen wir die Talstation. Jetzt wage auch ich keinen weiteren Ausflug mehr in die Berge, denn der Schneefall ist so heftig geworden, dass man rein nichts mehr erkennen kann.
„Gehst du auch zurück ins Hotel?“
Schon wieder der Typ. Ich brumme ein Yes und löse die Skier von meinen Füßen und marschiere zum Parkplatz, wo die Postautos warten. Der Engländer tut es mir gleich und folgt mir wie ein Hündchen. Ich werde schneller, kann ihn aber nicht abschütteln. Gleichzeitig erreichen wir das Postauto, das noch ziemlich leer ist. Ich platziere meine Skier und setzte mich auf einen Sitz. Mein Spanner tut es mir gleich und schnappt sich den Platz neben mir.
„Es tut mir wirklich leid“, wiederholt er sich. „Hast du dir nichts gebrochen?“
Ich schüttle den Kopf. Hätte ich mir etwas gebrochen, säße ich wohl nicht hier im Postauto, sondern läge noch immer auf der Piste. Er schaut mich abwartend an. Versteht er die Bedeutung eines Kopfschüttelns denn nicht? Also antworte ich in meinem Schulenglisch, dass alles okay sei und ich keine Blessuren davongetragen habe. Er ist erleichtert und schenkt mir ein schüchternes Lächeln. Himmel, jetzt sieht er wirklich süß aus! Aber natürlich mag ich diesen Kerl trotzdem nicht.
„Bist du Schweizer?“
Sehe ich aus wie ein Afrikaner oder Japaner? Dennoch bejahe ich freundlich seine Frage.
„Bist du mit deiner Familie hier?“
Sind wir hier in einer Fragestunde? Ich nicke brav.
„Du heißt Manuel, nicht wahr?“
Will er, dass ich ihn nun nach seinem Namen frage? Kann er haben!
„Ich heiße Josh und komme aus London“, stellt er sich vor und ich entgegne: „Ich wohne in St. Gallen.“ Natürlich weiß er nicht, wo diese schöne Stadt liegt und ich muss es ihm erklären. Schließlich wage ich ihn nach seinen Freunden zu fragen und erfahre, dass sie sich bereits seit Jahren kennen und zurzeit in der englischen Hauptstadt studieren. Außerdem erfahre ich, dass ihre Eltern ihnen diese Reise ermöglicht haben. Wie vermutet sind sie reiche, verwöhnte Kids. Wir nähern uns unserem Hotel, als ich eine letzte Frage stelle.
„Ist das braunhaarige Girl deine Freundin?“
Es dauert ein paar Sekunden, bis Josh eine Antwort gibt. Es ist nur ein Nicken, aber sein Blick scheint mir etwas schuldbewusst. Seltsam! Aber in diesem Augenblick stoppt das Postauto und wir springen auf, holen unsere Skier und verlassen schnell das Fahrzeug. Bevor er weitere Worte an mich richten kann, sage ich: „Goodbye!“, und eile in Richtung Hotel. Diesmal bleibt er nicht an meiner Seite kleben und ich bin beinahe etwas enttäuscht darüber.
Den ganzen Tag schneit es weiter. Straßen und Häuser verschwinden unter einer dicken Schneedecke. Ich verbringe die Zeit in meinem Zimmer und versuche mich in das neue Buch von Matt Grey zu vertiefen, was mir aber nicht gelingen will, denn ich muss das Zimmer mit meiner Schwester teilen.
„Wenn wir schon die ganze Reise bezahlen, kannst du wohl ein Zimmer mit deiner Schwester teilen“, hatte mein Vater gebrummt, als ich ihn beinahe angefleht habe, ob ich nicht ein Einzelzimmer haben könnte.
„Spielen wir etwas zusammen?“ Meine Schwester setzt ihren Hundeblick auf und hofft, mich für eine Runde Scrabble begeistern zu können. Ich schüttle den Kopf.
„Was liest du da?“, will sie jetzt wieder wissen. Meine knappe Antwortet lautet: „Ein Buch.“ „Das sehe ich ja selber. Aber worum geht es?“ Ich habe keine Lust meiner Schwester zu erzählen, dass ich ein Buch über schwule Jungs und ihre Liebschaften lese. Sie ist noch zu jung dafür. Sie muss nicht alles wissen.
„Geht es um hübsche Jungs, die andere Jungs mögen?“ Diese Frage bringt mich aus dem Konzept. Ich habe Evi noch nie etwas über meine Gefühlswelt erzählt. Während ich auf mein Buch starre und ihre Frage nicht beantworte, plaudert sie munter weiter: „Es ist doch kein Geheimnis, dass du schwul bist. In deinem Zimmer liegen genug Zeitschriften mit nackten Männern herum.“
Das Blut schießt mir in den Kopf. Wann hat Evi meine Zeitschriften entdeckt? Ich habe sie doch wirklich gut versteckt. „Was treibst du dich in meinem Zimmer herum“, knurre ich missmutig, aber Evi lässt sich davon nicht einschüchtern und erklärt, dass sie auf der Suche nach der CD von Taylor Swift zufällig über die Hefte gestolpert sei. „Außerdem“, ergänzt sie, „ist es doch nicht schlimm, dass du schwul bist. Ich finde das irgendwie cool. Als ich es Hanna, meiner besten Freundin, erzählt habe, fand die das auch nicht schlimm.“
„Du erzählst überall herum, dass ich auf Männer stehe?“ Ich werde bleich vor Entsetzen.
„Nur Hanna weiß es“, versucht Evi sofort die Situation zu entschärfen.
„Und was ist mit unseren Eltern?“, forsche ich zaghaft nach, denn zuhause hatte ich noch kein Coming-out.
„Das ist deine Angelegenheit. Du musst selber wissen, wann du es Mama und Papa erzählen willst. Wobei ich aber glaube, dass es Mama schon weiß, denn …“
Jetzt reicht es mir und ich klappe das Buch zu und blicke meine kleine Schwester scharf an. Aber sie plappert munter weiter:
„In den Sommerferien am Gardasee warst du ständig mit diesem Belgier zusammen. Vincent hieß er, nicht wahr? Als wir abreisten, hast du geweint und warst tagelang traurig. Mama hat mir erklärt, dass du Liebeskummer hättest.“
„Mit mir hat sie nicht darüber geredet. Aber mit dir tratscht sie über mein Liebesleben“, entgegne ich entsetzt, worauf mich Evi zu beschwichtigen versucht und erklärt: „Mama hat gemeint, dass wir dich in Ruhe lassen sollen. Wenn du bereit wärst darüber zu reden, würdest du von selbst zu ihr kommen.“
Dieses Gespräch mit Evi bringt mich völlig durcheinander und ich bin froh, dass unser Gespräch durch lautes Klopfen an unsere Zimmertür unterbrochen wird. Schon wird die Tür geöffnet und mein Vater blickt ins Zimmer.
„Kommt ihr ins Restaurant? Es ist schon nach achtzehn Uhr. Das Abendessen wartet.“
Evi und ich springen auf und folgen ihm. Der kleine Speisesaal ist schon gut besetzt und wir steuern unseren Tisch an, an welchem bereits Mutter sitzt. Rechts von uns haben sich die fünf Engländer um einen Tisch versammelt und löffeln bereits ihre Suppe. In diesem Augenblick treffen sich unsere Augen. Joshs braune Augen bleiben lange an mir haften, dann winkt er zaghaft und ruft auf Schweizerdeutsch: „En Guete, Manuel!“
Meine Familie starrt mich an. „Ihr kennt euch?“, fragt meine Mutter überrascht und ich komme nicht umhin, ihnen von meinem Abenteuer auf der Skipiste zu berichten.
Evi stößt mir ihren Ellbogen in die Seite und flüstert mir verschwörerisch zu: „Wow! Du hast aber einen guten Geschmack! Nur schade, dass er eine Freundin hat.“
Ich erröte und schweige. Stattdessen widme ich mich lieber meinem Smartphone. Aber dass noch immer keine Nachricht von Adrian angekommen ist, macht meine Laune nicht besser.
„Meine Herrschaften, erlauben Sie mir, dass ich Sie für einen kurzen Augenblick störe!“ Es ist Herr Tanner, der Hoteldirektor, der uns um unsere Aufmerksamkeit bittet. Was hat das wohl zu bedeuten? Augenblicklich wird es ruhig im Saal und alle Augen richten sich auf den Direktor.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Wetterbericht für die nächsten vierundzwanzig Stunden weitere große Schneefälle verspricht. Die Bahnlinie und auch die Autostraßen ins Engadin mussten kurzfristig geschlossen werden. Wie es scheint, werden wir für mindestens zwei Tage vom Rest der Welt abgeschnitten sein. Für diejenigen unter Ihnen, die morgen abreisen wollten, bedeutet das, dass Sie bei uns Weihnachten feiern müssen. Das ist aber kein Problem, denn wir erwarten ja auch keine neuen Gäste, solange wir von der Umwelt abgeschnitten sind. Somit dürfen Sie natürlich auch weiterhin Ihre Räumlichkeiten nutzen, und zwar auf Kosten des Hauses.“
Das Gemurmel, das während Herrn Tanners Rede eingesetzt hat, wird nun von einem herzlichen Applaus abgelöst. Ich bin wohl die einzige Person, die das Gehörte erst einmal verdauen muss. Es wird mir schnell klar, dass ich morgen Abend Adrian nicht im Heaven sehen werde. Ich sitze hier in Scuol fest. Während für mich gerade die Welt zusammenbricht, lächelt mich Josh vom Nachbartisch glücklich an, als Herr Tanner in holprigem Englisch den übrigen Gästen erklärt, was für Auswirkungen der Schneesturm hat.
„Und was ist mit meinen Geschenken?“, schimpft Evi, die sich scheinbar auch nicht mit den verlängerten Winterferien anfreunden kann. „Die Geschenke warten auch nach Weihnachten auf dich. Keine Angst, junge Dame, deine Barbie-Puppe kriegst du schon“, beruhigt Mama meine Schwester, für die die Welt nach diesen mütterlichen Worten wieder völlig okay ist. Schnell tippe ich eine Nachricht für Adrian auf mein Smartphone.
„Hallo Adrian! Ich bin im Engadin eingeschneit und kann deshalb nicht zum Weihnachtsfest im Heaven erscheinen. Ein riesengroßes Sorry dafür! Wollen wir uns dafür an Silvester treffen? Ich würde mich freuen. Dein Manuel!“ Die letzten zwei Wörter lösche ich noch einmal und schreibe stattdessen: „Lieber Gruß von Manuel!“ Hoffentlich schreibt mir Adrian bald zurück. Ich vermisse ihn.
24. Dezember
Was macht man im Winter in Scuol, wenn es draußen unentwegt schneit und man weder Ski noch Snowboard fahren kann? Man geht ins Bogn Engiadina, einer Wellness-Oase mitten im Dorfkern mit Innen-und Außenbädern und einer Saunaanlage. Nur dumm, dass alle Touristen dieselbe Idee haben und die Bäderlandschaft hoffnungslos überfüllt ist. Meinen Eltern ist der Trubel schon bald zu viel und sie ziehen sich ins Hotel zurück. Als großer Bruder bin ich nun für die Sicherheit meiner kleinen Schwester zuständig. Evi genießt, dass ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenken muss. Sie ist ständig in Bewegung und ich eile ihr hinterher. Irgendwann erhaschen wir zwei freie Liegen und ruhen uns aus. Ich schließe die Augen und versuche trotz des Lärms ein bisschen zu dösen.
„Manuel, Manuel! Schau mal, wer dort im Pool ist!“, reißt mich Evis schrilles Organ aus meinem Halbschlaf. Schlagartig öffne ich meine Augen und entdecke Josh, der sich mit seiner Clique im Wasser vergnügt und dabei manch ältere Badegäste aus dem Becken vertreibt. Denn die fünf Engländer bespritzen sich mit dem warmen Nass oder versuchen einander unter Wasser zu ziehen. Nebenbei kann Josh die Hände nicht von seiner Freundin lassen, greift ihr an den Hintern, küsst ihren Rücken und flirtet wie ein verliebter Gockel. Ich weiß auch nicht, warum mich das aufregt. Aber irgendwie fühle ich eine gewisse Eifersucht, die in mir aufsteigt. Da ist dieser schöne, junge Mann in seiner knappen, schwarzen Badehose und hat nichts anderes zu tun, als der ganzen Welt zu zeigen, dass er frisch verliebt ist, und zwar in eine Tussi. Trotzdem kann ich meine Blicke nicht von ihm lassen. Genau in diesem Moment wendet er sich kurz von seiner Freundin ab und entdeckt mich. Er erstarrt und blickt zu mir herüber. Schon umfasst sein Girl ihn von hinten mit ihren Armen, aber Josh befreit sich rasch von ihrem Griff und kommt auf mich zu.
„Oh, dein Prinz hat dich entdeckt und sucht deine Nähe“, gibt Evi ihren blöden Kommentar ab, worauf ich rasch entgegne, ob sie denn blind sei, Josh sei hetero und stecke in einer Beziehung.
„Also wenn ich dieser Josh wäre, würde ich dieses Girl gegen dich austauschen“, flüstert Evi, denn Josh ist nur noch wenige Schritte von uns entfernt.
Schnell erwidere ich: „War das ein Kompliment aus deinem Mund?“, und meine Schwester nickt lächelnd und meint:
„Ich gehe kurz in den Whirlpool, damit du ungestört mit deinem Prinzen plaudern kannst.“ Bevor ich etwas erwidern kann, ist sie bereits abmarschiert.
„Ist hier noch frei?“, will Josh auch schon wissen und legt sich auf Evis Liege, ohne meine Antwort abzuwarten. „Viele Leute hier, nicht wahr?“, meint er und ich brumme eine Bestätigung. „Deine kleine Schwester ist süß“, stellt er fest und ich entgegne rasch, dass sein Girl auch sweet sei. Wie schon gestern im Postauto blickt mich Josh nach meiner Ansage seltsam an und erwidert nichts. Wir schweigen, bis ich den Faden wieder aufnehme und nochmals auf seine Freundin zu sprechen komme.
„Seid ihr schon lange zusammen?“
„Ein paar Tage“, lautet die kurze Antwort.
„Also noch völlig verknallt“, stelle ich fest. Aber Josh schüttelt den Kopf. Was soll denn das wieder bedeuten? Ich bin etwas verwirrt und warte auf eine Erklärung, die dann auch tatsächlich kommt und mich fast vom Hocker oder besser gesagt von der Liege haut.
„Belinda ist eigentlich gar nicht meine Freundin, sondern meine beste Kollegin. Wir spielen nur das Liebespaar.“
Josh blickt mir tief in die Augen. Aber als ich nichts erwidere, fährt er fort: „Meine drei Freunde wissen nicht, dass ich schwul bin, und ich kann es ihnen auch nicht sagen.“
Ich glaube mich verhört zu haben, dieser niedliche Engländer teilt dieselben Empfindungen wie ich. Aber warum dieses Versteckspiel? Nun ich erfahre es gleich, denn Josh erzählt weiter.
„Meine Freunde hatten schon viele Beziehungen mit Girls, nur ich war immer der ewige Single. Sie haben mich deswegen auch schon öfters aufgezogen. Paul machte sogar einmal eine blöde Anspielung, dass er hoffe, dass ich nicht gay sei, worauf ich sofort behauptete, nur auf Frauen zu stehen. Es war Belindas Idee, während unserer Reise das verliebte Paar zu spielen, damit ich diese blöden Sticheleien nicht mehr zu hören kriege. Haben wir es mit unserer Küsserei übertrieben?“
Ich schüttle den Kopf und erkläre, dass ich ihm und Belinda das Schauspiel abgenommen habe. Das freut den Engländer und er will wissen, ob ich denn eine Freundin oder einen Freund hätte, was ich verneine. Ich erwähne Adrian nicht, denn noch ist er nur ein Bekannter von mir.
„Und was hättest du denn lieber? Eine Freundin oder einen Freund?“, bohrt Josh weiter.
„Ich glaube“, erwidere ich kühn, „dass ich mit einem Mann, wie du es bist, glücklicher wäre.“ Meine Antwort schmeichelt Josh und seine Augen leuchten.
„Weißt du, dass du Nicholas Hoult gleichst?“, fragt er mich nun und ich muss gestehen, dass ich diesen Kerl nicht kenne. „Das ist ein Schauspieler, den ich sehr gerne mag. Außerdem finde ich ihn sexy“, erklärt der Engländer und zwinkert mir zu, worauf ich mich geschmeichelt fühle.
Bevor wir uns aber noch näherkommen, taucht Evi auf und erklärt, dass sie ins Hotel zurückwolle. Als sie aber meinen enttäuschten Blick bemerkt, meint sie, dass sie schon alt genug sei, diesen kurzen Weg alleine zurückzulegen. Nur widerwillig lasse ich meine Schwester ziehen, da ich ja meinen Eltern versprochen habe, auf sie aufzupassen. Aber ich möchte die Zweisamkeit mit Josh nicht aufgeben. Trotzdem frage ich ihn: „Was ist mit deiner Clique und Belinda? Kommen die ohne dich aus?“
„Müssen sie wohl! Ich will ein bisschen Zeit mit dir verbringen. Warst du schon in der Sauna?“
Ich schüttle den Kopf, denn mit Evi konnte ich diesen Teil der Anlage nicht aufsuchen.
„Worauf warten wir denn noch?“, sagt Josh, springt auf und holt sich sein Badetuch. Gemeinsam schlendern wir durch die Bäderlandschaft und betreten den Wellnessbereich. Wie alle Gäste deponieren wir unsere Badehosen in einem leeren Fach und bummeln durch den hellen Gang.
„Draußen gibt es auch Saunahütten, habe ich gelesen“, gebe ich mein Wissen an Josh weiter und er findet die Idee gut. Wir verlassen also das warme Gebäude. Sofort empfängt uns eine eisige Kälte und schon stehen wir mitten im Schneetreiben. Eilig waten wir durch die weiße Pracht und erreichen eine kleine Hütte, in die wir sofort eindringen, um dann überrascht festzustellen, dass wir hier ganz alleine sind. Ob es den anderen Badegästen zu kalt ist, um sich nach draußen zu begeben? Ich weiß es nicht, aber ich bin froh darüber, denn nun kann ich mich unbeschwert weiter mit Josh unterhalten. Wir setzen uns nebeneinander auf die Holzbank. Unsere Körper berühren sich. Mir wird heiß, aber das liegt nicht an den hohen Temperaturen in dieser Hütte. Josh hat einen fantastischen Körper, den er mir hier in seiner ganzen Pracht präsentiert. Zuerst tauschen wir noch ein paar Worte aus, dann aber spüre ich plötzlich seine Hand, die mir sanft übers Bein streicht und dabei meinem Schwanz immer näherkommt. Jetzt nur einen kühlen Kopf bewahren! Aber das ist leichter gesagt als getan! Ich merke, dass mich sein Streicheln erregt und er nach meinem Penis greifen will. Ich stöhne bei der Berührung auf. In diesem Augenblick hören wir, wie die Außentür geöffnet wird, und Joshs Hand fährt erschrocken zurück, während ich einen losen Teil meines Badetuchs über meinen kleinen, erregten Freund lege.
„Möchten Sie gerne einen Aufguss?“, fragt der dickliche Mann, der den Raum betritt, und wir nicken synchron, während sich der Eindringling sofort an die Arbeit macht und die Hitze, die zwischen mir und Josh herrscht, noch mehr entfacht. Als er nach getaner Arbeit unseren Dank entgegengenommen hat und uns verlässt, grinst mich Josh frech an und will sein Werk fortsetzen. Leider folgt bereits die nächste Störung. Joshs Clique stürzt in die Hütte und freut sich den verloren geglaubten Kumpel wieder gefunden zu haben. Belinda platziert sich rasch neben ihrem Freund, während mich Josh seinen Freunden vorstellt. Diese begrüßen mich herzlich in ihrer Mitte und plaudern munter drauflos. Nur Belinda nimmt mich etwas genauer unter die Lupe, lächelt mir dann aber aufmunternd zu.
Fünf Minuten später verlasse ich fluchtartig die Hütte, bevor noch das letzte Wassertröpfchen meinen Körper verlassen hat. Nur dreißig Sekunden später folgt mir der verschwitze Josh ins Freie. In der Kälte beginnen unsere Körper zu dampfen. Übermütig werfe ich Josh einen Schneeball zu und verfehle ihn nur haarscharf. Jetzt stürzt er sich auf mich und wir landen beide im tiefen Schnee und balgen uns wie kleine Kinder. Zum Glück können uns seine Freunde nicht beobachten. Der heftige Schneefall hat auch seine guten Seiten. Schließlich lassen wir ermattet voneinander ab, denn allmählich ist unser überhitzter Körper abgekühlt und wir beginnen zu frieren. Schnell suchen wir wieder das Hauptgebäude auf und ich erkläre Josh, dass ich ins Hotel zurückkehren muss, denn ich möchte mich vergewissern, dass Evi dort auch angekommen ist. Also verabschieden wir uns mit einem gegenseitigen, tiefen Blick, der mehr ausdrückt als tausend Worte.
„Bis später unter dem Weihnachtsbaum!“, ruft mir Josh nach und ich wende mich nochmals nach ihm um und lächle ihm schüchtern zu. Dieser Engländer hat es tatsächlich geschafft, mein Herz im Sturm zu erobern.
„Leise rieselt der Schnee …“, tönt es leise aus versteckten Lautsprechern. Die meisten Hotelgäste haben sich vor dem Abendessen im großen Foyer, wo eine riesige geschmückte Tanne steht, versammelt, um den vom Hotel offerierten Weihnachtsapéro zu sich zu nehmen. Evi ist zu tiefst gekränkt, dass sie mit Orangensaft und nicht mit Sekt anstoßen muss. Ziemlich laut versucht sie Mama zu erklären, dass sie mit elf Jahren kein Kleinkind mehr sei, während Papa eine angeregte Diskussion mit Herrn Tanner übers Wetter führt. Meine Augen hingegen suchen den Raum nach der einzig wirklich für mich interessanten Person ab. Aber noch ist von Josh und seiner Gruppe nichts zu sehen. Vielleicht erscheinen die fünf auch gar nicht. Obwohl, wenn es gratis Alkohol gibt, sind Engländer nie weit weg! Ich checke einmal mehr mein Smartphone, ob ein Lebenszeichen von Adrian eingetroffen ist. Wieder nichts! Große Enttäuschung macht sich bei mir breit. Warum meldet sich der Typ denn nicht? Ich lese alle meine Nachrichten durch, ob ich vielleicht irgendwo eine falsche Äußerung gemacht habe.
„Erwartest du eine himmlische Botschaft von deinem Lover?“
Ich zucke erschrocken zusammen und lasse mein Telefon beinahe fallen. Josh hat sich unbemerkt neben mich gestellt und guckt neugierig auf das Display meines Smartphones. Blitzschnell schalte ich es aus und stecke es zurück in meine Hosentasche. „Und? Du schuldest mir noch eine Antwort“, löchert mich der Engländer.
„Welche Antwort?“, hake ich nach.
„Na, ob du auf die Nachricht eines hübschen Boys wartest.“ Es kann wohl nicht an dem einen Glas Sekt liegen, dass ich eine für mich geradezu untypische Antwort gebe.
„Nein, mein hübscher Boy ist gerade höchst persönlich angekommen und steht direkt neben mir.“
Jetzt verschlägt es sogar Josh die Sprache, aber sein Lächeln spricht Bände. Dennoch macht er sich aus dem Staub, taucht aber Sekunden später mit zwei gefüllten Sektgläsern wieder auf und drückt mir eins davon in die Hand.
„Auf eine wunderschöne Weihnachtsnacht!“, lautet sein Toast, als wir uns zuprosten, und leise fügt er hinzu, welche Zimmernummer ich denn hätte. Frustriert schüttle ich den Kopf und erkläre ihm, dass ich mein Zimmer mit meiner Schwester teilen würde. „Auf diese kleine Zuschauerin können wir wohl verzichten. Also treffen wir uns im Zimmer 22“, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Und deine Freundin?“
„Belinda hat ihr eigenes Zimmer. Ich besitze mein eigenes Schlafgemach, wo ich heute Nacht wohl Prince Charming empfangen werde. Jedenfalls hoffe ich darauf!“
Was für ein Angebot! Eine Nacht mit Josh! Aber verflucht! Wie soll ich mein Fernbleiben Evi klarmachen? Aber irgendwie werde ich das geregelt kriegen.
„Meine lieben Gäste! Das Weihnachtsdinner wird im Speisesaal serviert. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit und ein schönes Weihnachtsfest.“
Die Worte vom Direktor beenden den Apéro und ich folge meinen Eltern und Evi, während sich Josh wieder zu seiner Clique gesellt und Belinda einen hastigen Kuss auf die Wange drückt. Ich selber spüre eine riesige Nervosität, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitet. Einerseits freue ich mich auf das nächtliche Treffen, aber andererseits habe ich auch schreckliche Angst davor.
„Stille Nacht, heilige Nacht …“, tönt es nun feierlich aus den Lautsprechern. Ich wollte es wäre schon Morgen.
„Nein, diese ausgebeulten Shorts ziehst du bestimmt nicht an, wenn du gleich zu deinem Date gehst!“
Hätte ich doch Evi nur nicht in mein nächtliches Vorhaben eingeweiht! Jetzt steht sie mir als Modeberaterin zur Seite und kommentiert jedes Kleidungsstück, das ich aus meinem Reisekoffer fische.
„Stell dir vor, du wärst ein Weihnachtsgeschenk! Wunderschön verpackt! Man reißt das bezaubernde Geschenkpapier weg und eine alte Kartonschachtel kommt zum Vorschein. Was für eine Enttäuschung! Hast du denn keine sexy Shorts dabei?“
Ist das wirklich meine elfjährige Schwester, die mit so viel Insiderwissen auftrumpft? Vielleicht hat sie doch vom Sekt getrunken.
„Gestreifte Unterhosen? Willst du Josh vertreiben? Und was soll denn das? Nein, weißer Stoff geht gar nicht. Stell dir vor, du musst zur Toilette gehen und danach …“
Allmählich hat sie meine ganze Unterwäsche durchgesehen und ist gar nicht glücklich mit meiner Auswahl.
„Vielleicht hat ja Papa eine brauchbare Unterhose. Ich könnte ja kurz zu den Eltern ins Zimmer gehen und mich ganz unauffällig umschauen.“
„Kommt nicht in Frage! Ich ziehe doch nicht Papas Shorts an“, sage ich entsetzt und zaubere das letzte Paar aus meiner Reisetasche.
„Das Beste kommt immer erst zum Schluss“, jubelt Evi begeistert, als ich ihr dunkelblaue, kurze Shorts präsentiere. Also verschwinde ich kurz im Bad, um mich umzuziehen. „Als ob ich meinen Bruder noch nie nackt gesehen hätte!“, höre ich die Stimme meiner Schwester hinter mir, bevor ich die Badezimmertür zu donnere.
Als ich wieder erscheine, ist Evi zufrieden mit ihrer Wahl und ich schlüpfe rasch in meine schwarzen Jeans und bedecke meinen Oberkörper mit einem weißen Hemd.
„Perfekt! Also wenn Josh jetzt nicht anbeißt, dann ist er vielleicht doch hetero“, kommentiert Evi mein Outfit und will mir noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben, wie ich Josh am besten verführen könne. Aber diese will ich nicht mehr hören, sondern wünsche ihr eine gute Nacht und stürme aus dem Zimmer.
Es ist kurz nach Mitternacht und im Hotel herrscht eine beinahe gespenstische Ruhe, als ich durch den Flur husche. Ob Josh schon auf seinem Zimmer ist oder noch mit seiner Clique an der Bar sitzt? Ich suche den zweiten Stock auf und schleiche wie ein Dieb von Zimmertür zu Zimmertür. Dann stehe ich vor der Nummer zweiundzwanzig und klopfe leise an, wobei das Pochen meines Herzens mir deutlich lauter erscheint. Schon wird die Tür aufgerissen und Josh steht vor mir. Auch er trägt eine schwarze Hose, aber ein enganliegendes graues Shirt. Sofort zerrt er mich in sein Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
„Ich hatte schon Angst, du kommst nicht“, sagt er und führt mich zu seinem Bett, wo wir uns hinsetzen. An seiner Stimme bemerke ich, dass auch er nervös ist, was mich etwas beruhigt. Wir tauschen ein paar Worte aus und ich erfahre, dass Josh gerade zwanzig geworden ist. Seine Eltern sind tatsächlich steinreich und verwöhnen ihren einzigen Sprössling, wo immer sie können. Ich erzähle ihm, dass ich in einer bekannten Schweizer Bank arbeite und gerade erfolgreich meine Lehre beendet habe. Nach dieser kurzen Informationsrunde beginnt Josh mein Hemd aufzuknöpfen und befreit mich anschließend davon. Bevor ich mich an seinem Shirt zu schaffen machen kann, hat er es sich schon selber ausgezogen. Unsere Lippen finden sich und wir küssen uns, während unsere Hände den Oberkörper des jeweiligen Objekts der Begierde erforschen. Dann werde ich meiner Hose beraubt und Josh drückt mich aufs Bett zurück und legt sich sanft auf mich. Unsere Küsse werden leidenschaftlicher. Ich spüre Joshs heißen Atem und bemerke, dass sein Schwanz gegen den Stoff seiner Hose drückt. Vorsichtig öffne ich den Reißverschluss und Josh streift sich das lästige Ding rasch von den Beinen. Er trägt einen feuerroten Slip, den er aber sofort abstreift und nun nackt auf mir liegt. Unsere Erregung steigt und nähert sich bereits dem Höhepunkt. Hungrig fallen wir über uns her, verteilen unsere Küsse über den ganzen Körper und wühlen mit der Hand durch das Haar des Partners, wobei ich bei Joshs Stoppeln nicht sehr viel zum Wühlen habe.
„Hast du Kondome dabei?“, fragt mich Josh in diesem Augenblick der Glückseligkeit und die Magie zwischen uns wird für einen kurzen Moment unterbrochen. Ich verneine und Josh gesteht, dass auch er keine dabei hat.
„Macht nichts“, meint Josh und flüstert: „Safer Sex ist auch schön!“ Ich bin glücklich über seine Worte und beginne ihn heftig zu küssen, damit unser Liebesspiel wieder auf Touren kommt. Schließlich wird Josh meiner Shorts überdrüssig und entfernt sie sachgerecht, damit er sich nun endlich meinem Schwanz zuwenden kann, ohne dass wir nochmals dabei gestört werden wie am Nachmittag. Die nächsten Minuten sind einfach nur wunderschön.
Irgendwann liegen wir erschöpft nebeneinander und starren zur Decke.
„Hattest du schon mit vielen Männern Sex?“, frage ich Josh und er beginnt mit seinen Fingern zu zählen. Bei der Zahl neun stoppt er und beginnt zu lachen, als er meine weit aufgerissenen Augen entdeckt, und gesteht, dass er erst mit einem etwa vier Jahre älteren Mann während einem Jahr eine Beziehung hatte. Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich erzähle ihm, dass er der erste Mann ist, mit dem ich Sex hatte.
„Das hätte ich nie gedacht“, meint er, „Ein so wunderbarer Mann wie du kann sich doch vor Angeboten kaum retten. Oder täusche ich mich?“
„Ich bin ziemlich schüchtern. Bisher habe ich mich kaum getraut einen Mann anzusprechen, der mir gefällt“, kläre ich ihn auf.
„Von deiner Schüchternheit habe ich gestern und auch heute gar nicht so viel mitbekommen“, grinst jetzt Josh frech und meine Antwort freut ihn, denn ich erkläre ihm, dass er mir trotz unseres ziemlich schwierigen Starts sehr gut gefalle.
„Hast du Lust auf eine weitere Runde?“, fragt mich der Engländer und ich weiß zuerst wieder einmal nicht, was er damit meint. Erst als er meinen Oberkörper mit Küssen bedeckt, verstehe ich ihn und habe wirklich nichts einzuwenden.
25. Dezember
Am Frühstückstisch erfahre ich die schlechte Nachricht. Der Schneefall hat in der Nacht nachgelassen und die Räumung der Straßen und Gleise von den weißen Massen hat bereits begonnen.
„Ab Mittag fahren die Züge wieder in alle Richtungen und am Nachmittag sollen auch die Straßen wieder befahrbar sein“, erklärt Herr Tanner heiter. Während sich meine Eltern und Evi über diese Worte freuen und bereits die Heimreise für den Nachmittag planen, bricht mir das Herz. Warum kann es nicht weiterschneien? Ich möchte doch noch in Scuol bei Josh bleiben. Er ist noch bis Dienstag hier, bevor auch er zurück nach England reist.
Bevor ich auf mein Zimmer zurückkehre, suche ich Joshs Clique auf, um mich von den jungen Leuten zu verabschieden. Aber eigentlich gelten meine Abschiedsworte nur meinem Josh. Wir schütteln uns die Hände, plaudern fröhlich, während sich in Joshs Augen eine große Traurigkeit breitmacht. Aber vor seinen Freunden darf und will er sich keine Blöße geben. Ein letzter Händedruck und unsere Wege trennen sich. Seufzend folge ich Evi, die am Eingang zum Frühstücksraum auf mich gewartet hat.
„Manchmal ist das Schicksal schon ein mieser Verräter“, zitiert Evi den Titel eines ihrer Lieblingsfilme, der genau zu meinem Gefühlschaos passt. In den letzten beiden Tagen habe ich erkannt, dass meine Schwester trotz ihres Alters eine wirklich gute Freundin ist. Als ich am frühen Morgen zurück ins Zimmer geschlichen kam, wollte sie mich natürlich sofort ausfragen. Aber sie konnte mir nur wenige Details entlocken. Schließlich beendete sie die Fragerei mit den Worten: „Du hast recht. Das ist deine Privatsphäre. Aber ich freue mich für dich, dass du eine so schöne Nacht hattest.“
Kaum sind wir in unserem Zimmer, beginne ich meine Reisetasche mit meinen Habseligkeiten zu füllen, als es plötzlich an der Türe klopft. Evi reißt sie auf und vor ihr steht Josh. Sie schaut ihn verwundert an, blickt dann aber kurz zu mir und sagt:
„Ich muss noch zu Mama und Papa aufs Zimmer. Ich habe gestern Mama mein Shampoo ausgeliehen. Ich hole es rasch.“
Und schon ist sie weg und ich bin mit Josh alleine im Zimmer. Wir brauchen keine Worte, um auszudrücken, was wir empfinden. Eine innige Umarmung, liebevolle Küsse und ein sanfter Händedruck genügen uns. Aber bevor Josh mein Leben verlässt, um zu seinen Freunden zu gehen, die vor dem Hotel bereits auf ihn warten, tauschen wir unsere Telefonnummern aus. Es folgt ein letzter Kuss, der von Tränen begleitet wird, und Josh verschwindet, während ich heulend aufs Bett falle.
Als Evi ein paar Minuten später wieder auftaucht, meint sie nur: „Liebe muss wunderschön sein, aber trotzdem habe ich jetzt schon Angst mich einmal zu verlieben, denn Liebe kann auch furchtbar wehtun.“ Große Worte von meiner kleinen Schwester!
Wir sitzen schweigend im Zug. Meine Eltern sind in ihre Bücher vertieft und Evi schläft. Ich hole mein Smartphone hervor und entdecke zwei Nachrichten. Adrian hat tatsächlich geschrieben.
„Hallo Manuel. Bin an Silvester bestimmt im Heaven. Wir sehen uns da. Gruß!“
Die zweite Nachricht kommt von Josh.
„Mein Manuel! Ich vermisse dich. Du fehlst mir so. Ich glaube an das Schicksal. Nicht umsonst haben sich unsere Wege hier im Engadin gekreuzt. Das war kein Zufall. Ich lade dich hiermit ein, mich in London zu besuchen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und ich werde nach St. Gallen kommen. Du weißt, meine Eltern unterstützen meine Reiselust. Wer weiß, vielleicht mache ich demnächst einen Deutschkurs in der Schweiz. Ich bin mir sicher, unsere Begegnung in Scuol war erst der Anfang unserer gemeinsamen Geschichte. Love Joshua!“
Zwei Nachrichten! Aber nur eine werde ich beantworten. Ich lösche die SMS, die für mich keinen Nutzen mehr hat, und beginne die andere zu beantworten.
„Dear Josh! …“
Der Autor veröffentlicht unter dem Pseudonym Matt Grey seinen ersten schwulen Roman, „American Boy & sein Prinz“, im Himmelstürmer Verlag. Er ist Schweizer und arbeitet als Pädagoge. In seiner Freizeit schreibt er vor allem Kurzgeschichten, wobei seine Themenwahl sehr vielfältig ist. Von Horrorgeschichten bis Märchen für Kinder ist alles dabei. Die Geschichte von Konstantin und Jeffrey liegt ihm dabei sehr am Herzen und er hat bereits drei Fortsetzungen geschrieben. Er möchte damit jungen Schwulen einen spannenden Lesestoff bieten.

Matt Grey
American Boy und sein Prinz
220 Seiten
ISBN 978-3-86361-783-7
Auch als E-book