Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Todo o tempo do mundo» im Verlag Astral Cultural, São Paulo.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019
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«Todo o tempo do mundo» Copyright © 2018 by Maurício Gomyde
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ISBN Printausgabe 978-3-499-00048-5 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-00320-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00320-0
Glück
ist die Gewissheit,
dass die Menschen,
die wir lieben,
für immer bei uns sein werden.
Brasília, 7. Dezember 1997
Die letzte Nacht war die glücklichste und die traurigste meines Lebens.
Und die einzige Person, die den Grund für meine unübersehbare Nervosität kannte, war meine Mutter. Denn wie alle Menschen auf der Welt war auch sie mindestens ein Mal in ihrem Leben unsterblich verliebt.
Auf der Party forderte Victor mich zum Tanzen auf. Es lief ein Lied von Cyndi Lauper. Meine Beine zitterten wie Wackelpudding, und ich tanzte noch schlechter als sonst. Zwei Schritte hierhin, zwei dorthin … Victor tanzte sehr gut. Aber eigentlich war das auch ganz egal – das Wichtigste war, dass wir zusammen waren und uns berührten. Ich war ja so was von aufgeregt! Als das Lied endete, zog Victor mich noch enger an sich und sah mir fest in die Augen. Dann küsste er mich. Endlich. Auf diesen Kuss hatte ich seit einem Jahr gewartet. Und ich war mir sicher, dass ich niemanden auf der Welt je toller finden könnte als ihn. Es war der glücklichste Moment meines Lebens. Aber auch der traurigste, denn wie sollte ich ihm sagen, dass wir wegziehen? In einen völlig anderen Teil der Welt.
Meine Mutter hat mich dann später gedrängt, noch mal zurückzugehen und ihm meine neue Adresse zu geben. Ich schrieb sie auf ein Stück Papier, aber ich konnte Victor nirgends mehr finden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich lief bestimmt dreimal durch den Saal und konnte ihn nicht finden.
Wie kann jemand einfach so verschwinden?
Es war bereits spät in der Nacht, und ich konnte noch immer nicht einschlafen. Das Kissen fühlte sich härter an als sonst, die Bettdecke schien kürzer zu sein, und der Deckenventilator bewegte sich gefühlt tausendmal langsamer als gewöhnlich. Mit trockenem Mund und unruhigen Beinen lag ich da, in meinem Kopf der immer wiederkehrende Refrain eines Songs, den ich lange nicht gehört hatte. Ich drehte mich zur Seite und starrte den digitalen Radiowecker an. Er brauchte ungewöhnlich lange, um die Minutenanzeige zu ändern. Ich versuchte die Sekunden mitzuzählen, von 1 bis 59, und war jedes Mal früher fertig. Schon zweimal in dieser Nacht war ich ins Schlafzimmer meiner Eltern geschlichen und hatte bewegungslos in die Dunkelheit gestarrt und beobachtet, wie die beiden wie immer Arm in Arm schliefen. Keine Frage, alles war in Ordnung. Sie waren unbesiegbar, meine Superhelden.
Gegen halb sechs, als der Morgen bereits durch die Fensterläden in den Raum sickerte, kam mir endlich eine Titelidee für mein Buch – die Erlösung aus der nächtlichen Unruhe. Ich schrieb den Titel auf den Rand eines vollgekritzelten Blattes. Dann griff ich nach meinem Tagebuch, mit dem Lesezeichen in Form eines roten Blumenorigamis und den Initialen V&A auf dem Deckblatt, und schrieb: «Ich bin ein Mensch ohne bestimmte Richtung, eine Weltenreisende. Heute hier. Morgen wo immer das Schicksal mich hinführt. Möge dies der erste Tag eines perfekten Lebens sein.» Die Sätze kamen einfach so, ohne Warnung, aus mir heraus.
Eine Weltenreisende, Weltreisende … auf einer Reise zu dir … Diese sich wiederholende Idee ließ mich schließlich in einen tiefen Schlaf fallen.
Ich hatte den Eindruck, dass nur der Bruchteil einer Sekunde vergangen war, als mein Vater den Raum betrat. Er öffnete die Fensterläden und rief: «Wach auf, BB! Schau dir das Vitamin D an, das hier reinkommt.»
«Ey!», protestierte ich mit heiserer Stimme. «Ich bin grad erst eingeschlafen.»
«Du musst raus in die Sonne, Amanda, denn ohne Vitamin D werden …»
«… die Knochen schwach, ja, ja.»
«Habe ich das schon mal erwähnt?»
«Mehrfach.»
Er streichelte mir über den Kopf. «Willst du nachher mitfahren oder nicht?»
«Hm. Ja, schon. Ich bin mit Niara verabredet, wir wollen ein Abschiedsgeschenk für unsere Lehrerin kaufen.»
Er nickte. «Deine Mutter und ich haben um elf einen Termin in der amerikanischen Botschaft und lassen dich unterwegs raus.»
«Danke.» Ich vergrub meinen Kopf unter dem Kissen und schloss die Augen wieder.
«Vitamin D!» Er zog am Laken und verließ dann lachend das Zimmer.
Der Gedanke an den Botschaftstermin meiner Eltern ließ mich unruhig werden. Ich würde wohl für immer eine Weltenreisende bleiben, dachte ich seufzend und stand auf.
Weltreisende war das Wort, das mein Leben am besten beschrieb und gerade wieder einmal, mit voller Wucht, einschlug. Die Leitung der brasilianischen Botschaft in Österreich war während seiner gesamten diplomatischen Karriere der Traum meines Vaters gewesen. Die unerwartete Berufung kam als Belohnung für seine exzellente diplomatische Arbeit. In weniger als einer Woche würde ein neuer Botschafter nach Nairobi kommen und seinen Platz hier übernehmen. Und wir würden nach Wien abreisen. Nach nur acht Monaten in Kenia hieß es also schon wieder Abschied nehmen. Was meine Eltern weitaus mehr erfreute als mich.
Wir frühstückten zwischen Umzugskartons und einer Menge Luftpolsterfolie, die auf dem Fußboden verteilt herumlag. Während mein Vater die internationalen Nachrichten las, kümmerte sich meine Mutter um den Toast.
Ich betrachtete das Gebirge, das auf dem Titelblatt der New York Times abgebildet war.
«Was machst du denn für ein Gesicht, Amanda?», fragte meine Mutter. Wir sprachen Portugiesisch in der Familie, und obwohl meine Mutter schon ewig nicht mehr in ihrem Heimatland Argentinien lebte, war ihr Akzent immer noch unüberhörbar.
Ich sah sie an. «Wahrscheinlich das Gesicht von jemandem, der keine abgebrochenen Projekte mag.»
«Von welchem Projekt sprichst du?»
«Na, vom Kilimandscharo.»
«Das Thema schon wieder? Wir haben es doch besprochen: Wir werden die Reise machen, wir müssen sie lediglich verschieben.»
«Aber das war unser Familienprojekt! Wozu haben wir denn das alles geplant?» Sie sollte meine Enttäuschung ruhig zu spüren bekommen. «Ich wette, wir werden nie wieder nach Afrika zurückkehren.»
Ihr Ausdruck wurde weicher. «Du solltest dich bereits an die Umzüge gewöhnt haben.»
«Ich werde mich nie daran gewöhnen, Mama. Jedes Mal, wenn ich anfange, mich an einen Ort oder an die Menschen dort zu gewöhnen, ziehen wir schon wieder um. Ich bin siebzehn Jahre alt und habe schon in drei Ländern gelebt. Findest du nicht, dass das ein bisschen zu viel des Guten ist?»
«Die nächste Station wird ganz bestimmt länger sein.» Sie kam mit den Toasts und setzte sich zu uns.
«Na toll. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich die ganzen Burgen und Schlösser zu sehen. Wien ist bestimmt grottenlangweilig und noch dazu arschkalt.»
«Darauf kannst du wetten», lachte meine Mutter. «Der Winter dauert sechs Monate und lässt den von Buenos Aires wie einen Sommer aussehen.»
Mein Vater sah mich über den Rand seiner Zeitung hinweg an. «Österreich ist das Land Mozarts, Amanda. Das allein sollte jedes Opfer wert sein.»
«Vergiss es. Ich habe in der Schulbibliothek nach österreichischen Musikern gesucht und bin zu dem Schluss gekommen, dass seit Mozart nicht mehr viel Interessantes entstanden ist.»
«Ich weiß nicht, ob ich es dir je gesagt habe, aber Mozart …»
«… schrieb seine erste Symphonie im Alter von acht Jahren», vervollständigte ich seinen Satz und lachte laut auf. «Erzähl mir mal was Neues!»
Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf einen Karton. «Du bist dran mit Erzählen. Was macht dein Buch über das Mädchen, das um die Welt reist?»
Ich richtete mich auf. «Heute Morgen hatte ich eine Idee für den Titel: Verschwende deine Träume nicht. Und ich habe auch darüber nachgedacht, dass meine Heldin die symbolträchtigen Bäume jedes von ihr besuchten Landes erforschen könnte. Das Mädchen pflanzt und bewässert sie mit den Tränen ihrer Sehnsucht, so wachsen die Bäume wie von Zauberhand.»
«Ich frage mich, wie so viele Ideen in einen so kleinen Kopf passen.» Mein Vater hob amüsiert die Augenbrauen. «Wie wäre es mit einer Literaturstunde heute nach dem Abendessen?»
«Abgemacht.» Ich lächelte.
Der schwarze Mercedes mit dem blauen Nummernschild des brasilianischen diplomatischen Korps fuhr durch die Stadt. Ich saß auf dem Beifahrersitz, neben dem Fahrer der Botschaft, meine Eltern auf der Rückbank.
«Es ist immer gut, den Tag mit dem großen Mozart zu beginnen. Symphonie Nummer …» Mein Vater las die Rückseite der CD. «… Nummer 40. Drittes Stück. Drück auf Play, Liebes.»
Bald kamen wir auf die belebte Haile Selassie Avenue, in der sich die US-amerikanische Botschaft befand. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte bereits halb elf an. Wie vereinbart, wartete Niara an der Bushaltestelle auf mich. Neben ihr stand ihre ältere Schwester Isabel.
Mein Vater ließ die Fensterscheibe herunter und grüßte auf Englisch: «Hallo, Mädels. Alle unterwegs zum Einkaufen heute?»
«Nur ich», antwortete Niara. «Isabel hat mich hergebracht und nimmt den Bus zurück.»
Ich drehte mich nach hinten. «Papa, kannst du Isabel nicht bis zum Ende der Straße mitnehmen?», fragte ich, auch auf Englisch. «Von dort aus fahren mehrere Buslinien.»
«Das ist doch nicht nötig», sagte Isabel.
«Aber das ist doch kein Problem», sagte ich. «Oder, Dad?»
«Kein bisschen. Steig ein, Isabel.»
«Danke.»
«Sehen wir uns zu Hause, Liebes?», fragte er, als ich aus dem Wagen kletterte. «Vergiss unseren Literaturabend nicht. Lasagne?»
«Oh ja. Mit extraviel Käse. Ich hab euch lieb.»
«Wir dich auch», antworteten meine Eltern fast gleichzeitig, und der Wagen fuhr los.
Niara und ich gingen in die andere Richtung und blieben stehen, um ein paar Schaufenster anzusehen. Dann bogen wir um die Ecke zu den Läden mit den traditionellen Kleidern und schlenderten an ihnen vorbei.
«Hey, Ni, ich habe überlegt, Miss Bertha ein …»
Plötzlich gab es eine mächtige Detonation, und meine Worte verhallten unter einem ohrenbetäubenden Knall. Eine Explosion, als ob die Erde selbst vor Schmerzen aufschrie. Es fühlte sich an, als verschluckte ein Monster alles um sich herum. Dann bebte plötzlich der Boden. Wir wurden zu Boden geschmissen und von umherfliegenden Gesteinsbrocken und Glassplittern getroffen. Zahlreiche Sirenen und Alarmanlagen kreischten los. Und mit einem Mal befanden wir uns in einer riesigen Staubwolke, die fast alles verdeckte. Innerhalb von Sekunden zog ein Film in Schwarz-Weiß vor meinem inneren Auge vorbei: Argentinien, Brasilien, Kenia und Österreich – Buenos Aires, Brasília, Nairobi und Wien – Kälte, Trockenheit, Hölle und Winter – Tango, Rock, Benga und Symphonie – Familie, Freunde, Chaos und Unsicherheit.
Ich rappelte mich auf, suchte Niara und fand sie ein paar Meter von mir entfernt. «Was war das, Ni?», schluchzte ich.
Sie sah mich panisch an. «Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Oh mein Gott, Amanda, dein Gesicht blutet.»
«Was? Wo denn? Ich …» Meine Worte überschlugen sich. Ich schwankte und griff mir instinktiv ans Ohr.
«Bleib stehen. Halt mal still.» Vorsichtig zog Niara an meiner rechten Schläfe eine dicke Scherbe heraus. Ein stechender Schmerz breitete sich aus, dann spürte ich, wie Blut über meine Wange triefte. Niara hielt mir ein Taschentuch hin, und ich drückte es mir ins Gesicht.
Um uns herum herrschte absolutes Chaos: Schutt, Glassplitter, weinende Kinder und Erwachsene. Niemand verstand, was vor sich ging. Niemand wusste, ob es weitere Explosionen geben würde, ob man sich unter das Vordach irgendeines Gebäudes flüchten oder mitten auf der Straße stehen bleiben sollte. Plötzlich breitete sich eine unendliche Leere in meinem Magen aus.
«PAPA! MAMA!»
Niara schrie fast gleichzeitig: «ISABEL!»
Wir rannten, so schnell wir konnten, zurück zur Haile Selassie Avenue. Als wir um die Ecke bogen, bot sich uns ein furchterregender Anblick: Ein Teil der breiten Straße war zerstört, etliche Gebäudeteile lagen in Trümmern, verletzte Menschen irrten umher. Ein Schlachtfeld. Aus der Ferne konnte man sehen, dass das vierstöckige Gebäude neben der US-amerikanischen Botschaft fast vollkommen eingestürzt war. Ich warf das Taschentuch weg, ließ das Blut einfach über mein Gesicht fließen und riss Niara hinter mir her. Wir liefen über den Schutt, der die Straße bedeckte, und versuchten, den blutenden Menschen aus dem Weg zu gehen, die uns entgegenkamen. Zwischen den Trümmern brannten Autos, Motorräder, Busse. Schwarzer Rauch stieg in den Himmel. Wir suchten hinter der Staubwolke nach dem schwarzen Mercedes und beteten, ihn nicht unter Betonblöcken und Ziegelresten begraben zu finden. Gleichzeitig versuchten wir, die leblosen Körper auszublenden, die unter dem Schutt begraben waren, aber es war unmöglich, den Schreien des Terrors zu entkommen.
«Papa, Mama!» Ich stöhnte, rannte weiter und weinte. «Papi, Mami.»
Wie an jedem ersten Samstag im Monat, sobald der Abend anbrach und Pater Bonatti in der Kapelle Santo Antônio de Pádua den Schlusssegen gesungen hatte, füllte sich der Treviso-Platz in dem kleinen Dörflein Nova Vêneto in der Nähe von Bento Gonçalves. Touristen und Einheimische kamen in diese hochgelegene Region, die umgeben war von den Bergen Velho, Sol und Lua, um die Köstlichkeiten der zwölf italienischstämmigen Familien der Gemeinde zu probieren und zu feiern. Das Holztor am Ortseingang ließ keinen Zweifel am gesunden Selbstbewusstsein der Novavenetenser: «Willkommen in der Heimat des besten Schaumweins der Welt.»
Auf dem runden Marktplatz waren zwölf Holzstände aufgebaut, deren gestreifte Markisen nicht nur Schatten spendeten, sondern auch die Farben der jeweiligen Produktionsstätte verkündeten. Es wurden hausgemachte Schaumweine, Süßwaren, Marmeladen, Säfte, Käse und Schinken verkauft und Grillhähnchen mit Polenta gereicht.
Wie auf dem Ziffernblatt einer Uhr symbolisierte jeder Stand eine der zwölf Stunden. Lampiongirlanden führten von den Holzmasten an jeder Hütte zum Dach des Pavillons in der Mitte des Platzes und verwandelten diesen in ein Zirkuszelt unter offenem Himmel. Um den Pavillon herum standen Dutzende Tische und Stühle, die bereits bis auf den letzten Platz besetzt waren.
Jeden Monat wanderten die Standinhaber um eine Stundenposition auf dem Platz weiter. Auf der Zwölf, gegenüber der Kirche, war der prominenteste Standplatz markiert, und die Familie, die ihn besetzte, fungierte jeweils als Gastgeberin des Festes. Jetzt, im November, gebührte diese Ehre dem Haus Gianti mit seinen Familienfarben Rot und Grün. Im Dezember würde Gianti auf die Eins weiterrücken, und die Familie Giorno, die an diesem Abend mit ihrer schwarz-gelb gestreiften Markise auf der Elf platziert war, würde auf die Zwölf vorrücken. Ein kleiner Flyer, der von Mädchen in italienischen Trachten an die Besucher verteilt wurde, stellte alle Gastgeber der kommenden zwölf Monate vor.
Der Tradition folgend, eröffnete das Oberhaupt der Gastgeberfamilie die Feier mit einem Toast von der Mitte des Pavillons aus, genau in dem Moment, als die Kirchenglocke acht Uhr schlug.
«Gianti Perola 2012 Extra Brut! Salute!», rief Francioli Gianti ins Mikrophon, erhob das Glas mit seiner edelsten Kreation und gab damit den Startschuss zu Marktverkauf und Livemusik.
Der Stand von Ferazza mit seiner türkis-orangefarbenen Markise war in letzter Zeit der bestbesuchte. Und Ferazza ist, wie ich stolz und ohne falsche Bescheidenheit verkünden darf, mein Weingut. In diesem Monat standen wir auf der Zehn. Der Grund für unseren momentanten Erfolg war ein kleiner Preisregen von internationalem Format für unseren Ferazza 2010 Gold Brut. Dieser Tropfen hatte in den vergangenen anderthalb Jahren Goldmedaillen in mehreren wichtigen Wettbewerben bekommen. Bei unserer ersten Teilnahme an einer dieser internationalen Ausschreibungen in Frankreich – ein Schuss ins Blaue, bei dem wir bedeutende Winzereien aus aller Welt schlugen – wurden wichtige Kritiker auf uns aufmerksam. Und in der Folge kamen viele Leute extra hier hinauf in die Serra, um unseren Schaumwein zu kaufen.
Zehn Jahre war es mittlerweile her, dass ich gegen den hartnäckigen Widerstand der Gemeinde das Ferazza-Gut gekauft hatte, nachdem der Winzer gestorben war und sein einziger Sohn das Geschäft nicht weiterführen wollte. Zunächst schlug mir Misstrauen entgegen, weil ich keine italienischen Wurzeln besaß und erst 27 Jahre alt war. Aber als ich bewiesen hatte, dass ich die lokalen Traditionen in der Schaumwein-Produktion respektierte und fortführen würde, änderte sich die Stimmung langsam.
Nachdem mein Sekt auch über die Region hinaus bekannt geworden war, hatte ich begonnen, zu jedem Monatsfest nur noch exakt einhundert Flaschen mitzubringen und nur eine Flasche pro Abnehmer zu verkaufen. Über den Verkauf am Stand hinaus bestanden Verträge mit zwei Restaurants in São Paulo, einem in Rio de Janeiro und einem in New York, die den Sekt auf ihrer Karte anboten. Die Flasche kostete zweihundert Reais, und der Vorrat von einhundert Stück pro Marktabend war in der Regel nach einer Stunde abverkauft. «Der 2010er Gold ist eben für besondere Anlässe», sagte ich gern.
«Der letzte 2010er ist raus, Dodo. Haben wir unseren Rekord gebrochen?», fragte ich Domenico, der meine rechte Hand auf dem Weingut war.
Er wischte sich beide Hände an seiner türkis-orangefarbenen Schürze ab und sah auf die kleine Plastikuhr in der Standecke. Dann rief er stolz in dem für diese Region so typischen Singsang: «Aber hallo, Senhor Victor! Siebenundvierzig Minuten. Das ist in der Tat ein neuer Rekord.»
Wir stießen unsere Fäuste aneinander, und ich nickte ihm dankbar zu. Er war mein Fels in der Brandung, er und seine Frau Giuseppa waren wie liebevolle Eltern für mich.
Beim Anblick der langen Schlange vor dem Stand rief ich den Wartenden zu: «Liebe Leute, der 2010er ist leider aus. Aber der 2011er ist auch sehr empfehlenswert. In der kommenden Stunde ist die Flasche für nur 35 Reais zu haben. Und probieren Sie unbedingt auch die neue Kreation der Familie Gianti. Man hört, sie sei ganz wunderbar. Ich gehe gleich selbst mal rüber, um mir eine Flasche zu sichern.»
Das Fest ging bis kurz vor Mitternacht und endete wie immer mit einer Tarantella, dem erschöpfenden süditalienischen Volkstanz. Ich ruhte mich an einem Tisch aus, weil wir gerade erst die Standmarkise zusammengelegt hatten, und schaute den letzten Gästen beim Tanzen zu. Dann holte ich den Gianti und füllte zwei Gläser.
«Dodo, komm, setz dich zu mir.» Ich klopfte neben mir auf den Tisch.
«Wirklich?» Die beeindruckenden Brauen des alten Mannes schossen in die Höhe.
«Warum nicht? Meinst du nicht, dass wir uns eine kleine Pause verdient haben?»
«Jetzt, wo Sie der Prinz des Schaumweins sind, Patrão, sollten Sie die Flasche für einen besonderen Anlass aufsparen. Ich muss hier noch zu Ende aufräumen.» Er stemmte die Hände in seine umfangreichen Hüften.
«Jetzt sei nicht albern.» Ich winkte ihn herbei. «Wir haben heute einen Rekord gebrochen und uns durchaus ein gemeinsames Schlückchen verdient. Nun komm schon.»
Er zuckte mit den Schultern, setzte sich aber doch und stieß endlich mit mir an. Eine Weile genossen wir den Sekt und betrachteten schweigend die immer wilderen Tänzer.
Dann räusperte ich mich und fragte: «Dodo, was ist wahres Glück für dich?»
«Wahres Glück?»
«Ja. Glück, das von tiefstem Herzen kommt.» Ich sah ihn aufmerksam an. «Was macht dich glücklich?»
«Ach, Senhor Victor … Mit Ihnen zu arbeiten, das macht mich glücklich.»
«Danke, mein Lieber.» Ich lächelte. «Aber ich meine wirkliches Glück.»
Domenico schürzte die Lippen und überlegte. «Ich brauche eigentlich nichts, was ich nicht schon hätte. Meine Giuseppa, unsere Tochter und meine Enkel sind das Beste der Welt für mich. Ja, ich denke: Kinderlärm im Haus macht mich glücklich.»
Ich hob mein Glas und versuchte zu verstehen, was er fühlte.
Domenico betrachtete den perlenden Wein und flüsterte: «Patrão, dieser Gianti ist ja ganz lecker, aber an Ihren kommt er nicht heran.»
«An unseren, Dodo», korrigierte ich ihn. «An unseren.»
Wir prosteten uns zu und leerten die Gläser. Dann entschuldigte sich Domenico und stand auf, um die restlichen Gläser zu spülen und alles einzupacken.
Kurz darauf hörte ich eine Stimme in meinem Rücken: «So allein am Ende der Party?»
Ich drehte mich um, und vor mir stand in weißem Rollkragenpulli, langem Rock und Lederstiefeln der brünette Traum vieler Männer der Region.
«Antonella Cornacchini …» Ich lächelte sie an.
«Darf ich?» Sie präsentierte ein Holzbrett, auf dem ein großes Stück Käse lag, und zeigte auf den Stuhl neben mir.
«Aber sicher.»
«Ich habe dir ein Stück Grana Stravecchione mitgebracht.» Sie stellte das Brettchen auf den Tisch und setzte sich.
«Ah, ja, euer berühmter Käse. Ich verlasse den Markt eigentlich nie, ohne mich an eurem Stand einzudecken.»
«Nicht ganz so berühmt wie dein Sekt … Gerade letzte Woche habe ich in einer Zeitschrift gelesen», sie hob die Hände und simulierte mit einer Geste einen Werbeschriftzug, «Victor Pickett Fernandes, der –»
«Der Schaumweinprinz, ja, ja. Mann, ich fand das schrecklich!»
«Ich fand’s super.»
Ich winkte ab. «Meine Ernte 2010 war einfach ein Glücksfall.»
«Es heißt, du hast dein Handwerk in Italien eben gut gelernt.»
«Dann war es wohl ein italienischer Glücksfall», erwiderte ich spöttisch.
Domenico unterbrach unser Gespräch, indem er an den Tisch trat und eine Flasche 2011er in meine Richtung hob. «Kann ich gehen, Patrão?»
«Na klar. Und die Flasche köpfst du mit Giuseppa, versprochen? Wir sehen uns dann am Montag. Aber pass auf, dass du nicht den Berg runterkugelst, du wirkst schon ein wenig duselig.»
Domenico lachte vergnügt und machte sich auf den Weg.
Ich drehte mich um und goss Antonella ein Glas Sekt ein. «Und du? Wie kommt’s, dass du am Ende des Abends allein bist?»
«Ich bin nie allein, da haben meine Eltern schon ein Auge drauf», stöhnte sie.
«Sie geben eben acht auf ihren größten Schatz.»
«Pah! Ein Schatz, der zwanzig Jahre alt ist und Lust hat, einen Haufen Dinge zu tun, den seine Eltern nicht gutheißen würden.»
«Ach ja? Was denn zum Beispiel?»
«Von hier abhauen, die Welt bereisen, dich küssen …»
Ich setzte mich aufrecht hin. So direkt war sie noch nie gewesen, bisher hatten wir einander nur Blicke zugeworfen und ein bisschen miteinander geflirtet.
«Antonella», sagte ich vorsichtig, «Antonella, ich glaube, es ist besser, wenn wir …»
Aber da beugte sie sich schon zu mir herüber und gab mir einen langen, feuchten Kuss. Mein Herz wurde weich, und ich schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, hörte ich mich erneut fragen: «Und du? Wie kommt’s, dass du am Ende des Abends allein bist?»
Und dann – erlebte ich den Moment noch einmal.
«Ich bin nie allein, da haben meine Eltern schon ein Auge drauf.»
«Sie geben eben acht auf ihren größten Schatz.»
«Pah! Ein Schatz, der zwanzig Jahre alt ist und Lust hat, einen Haufen Dinge zu tun, den seine Eltern nicht gutheißen würden.»
«Ach ja? Was denn zum Beispiel?»
«Von hier abhauen, die Welt bereisen, dich küssen …»
«Antonella … Antonella, ich glaube, es ist besser, wenn wir …»
Wieder beugte sie sich vor und gab mir einen langen, feuchten Kuss.
Ich gebe zu, dieser wiederholte Kuss hat mir durchaus gefallen, es war einfach schon sehr lange her, dass ich einen bekommen hatte. Der Kuss wirkte wie eine Krönung für diesen erfolgreichen Abend.
Antonella lehnte sich wieder zurück, und wir sahen einander einen Moment lang in die Augen. Dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Glas, stand auf und ging zurück zum Stand ihrer Familie. Auf halbem Wege drehte sie sich noch mal um und rief: «Jetzt muss der Schatz zurück in seinen Tresor. Denn wenn der alte Prospero Cornacchini mitkriegt, dass ich bei dir bin, liegt er mir wieder einen Monat lang in den Ohren damit.»
Ich winkte ihr lächelnd, sagte dazu aber lieber nichts. Um ehrlich zu sein, empfand ich über eine physische Anziehung hinaus nichts für Antonella. Und mit der Tochter eines der einflussreichsten Patriarchen der Region anzubandeln, würde sowieso nur Ärger bedeuten.
Ich blieb noch ein bisschen sitzen und schaute den anderen Ständen beim Schließen zu. Dann klappte ich auch unseren Tisch und die Stühle zusammen und zog den Stecker. Die Nummer Zehn erlosch, zusammen mit den Lampions, die den Stand mit dem Pavillon verbanden.
Auf dem Weg zu meinem Auto traf ich den Pfarrer, der von drei alten und offenbar ziemlich betrunkenen Männern umgeben war, die sich lebhaft unterhielten.
«Pater Bonatti», rief ich. «Haben Sie Lust, morgen zum Mittagessen rauszukommen?»
«Gerne.» Er lächelte mich an und rieb sich seinen beeindruckenden Bauch.
Ich hob eine Hand zum Gruß und ging weiter. Die Nacht schien sich jetzt bis zur Unendlichkeit zu strecken. Vom sternenklaren Himmel wehte ein kühler Wind herab. Das Rumoren des Festes war nur noch in der Ferne zu vernehmen. Ich war endlich allein.
Kaum hatte ich meinen Wagen erreicht, näherten sich jedoch schnelle Schritte, und ich wurde unsanft geschubst.
«He, was …?»
«Ups! Na, wenn das nicht der kleine Sektprinz ist!» Die Stimme von Enrico Balistiero troff vor Sarkasmus.
Ich rollte mit den Augen. «Der Abend war ja auch zu makellos verlaufen bisher.»
«Und? Hat dir der Strovecchione-Kuss geschmeckt?», fragte er und bohrte mir seinen Zeigefinger in die Brust. «Antonella ist meine Braut, du Waschlappen. Wenn du sie noch einmal anfasst, mach ich dich fertig.»
Ich atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn. «Gut, ist notiert. Und jetzt lass mich bitte durch, ich hab noch zu tun.»
Ich marschierte um den Wagen herum und hörte nicht mehr, was der angetrunkene Enrico noch von sich gab. Zum Glück entfernten sich seine Schritte und überließen mich wieder der Dunkelheit.
Auf der Motorhaube meines Pick-ups entdeckte ich Mister, meine kleine dicke Promenadenmischung, auf dem Bauch liegend und alle viere von sich gestreckt.
«Meine Güte, Mister! Zum Glück wird hier nicht geklaut, sonst wäre ich jetzt dich und das Auto los.»
Wie auf Befehl knurrte er mich an.
«Mach dich nicht lächerlich», sagte ich. «Gerade eben hätte ich deine Unterstützung gut gebrauchen können, aber du hast dich nicht mal gerührt.»
Ich öffnete die Fahrertür und schnipste mit den Fingern, woraufhin Mister von der Motorhaube sprang und dann ins Auto auf den Beifahrersitz. Ich ließ den Motor an und fuhr nach Hause.
Das Anwesen war gebaut aus Holz, Glas und Stein und zu allen Seiten umgeben von einer Veranda, von der aus man das gesamte Weingut Ferazza überblicken konnte. Es stand 150 Höhenmeter über dem Dorf Nova Vêneto am Hang des Berges Lua und lag am Ende eines Schotterwegs, der sich durch einen Wald von Araukarien und Bananenstauden schlängelte. Hier oben wehte stets ein kühler Wind, der von der anderen Seite des Tals durch den Wald den Berg hinaufkroch.
Als ich das Weingut kaufte, war der Keller zu warm gewesen, weshalb mir nichts anderes übrig geblieben war, als ihn in einen Lagerraum für allerlei Gerätschaften und leere Flaschen umzuwandeln und stattdessen eine Idee umzusetzen, die alle Welt für reinen Wahnsinn hielt: Ich ließ einen unterirdischen Lagerstollen in den Osthang des Berges graben und legte dort einen neuen Weinkeller an. Nach sechs Monaten Feilschen um die Baugenehmigung, einem Jahr Bauphase und einem sehr hohen Bankkredit zeigte sich, dass ich einen guten Riecher gehabt hatte. Mit fünf Metern Höhe, zwölf Metern Breite und dreißig Metern Länge hielt der Stollen die Feuchtigkeit konstant. Die Temperaturschwankung betrug nur ein Grad im Verlauf des Jahres – es war im Winter 8 °C kalt und im Sommer 9 °C, perfekt für das Lagern von Schaumwein. Eine massive Schiebetür führte in das Reich aus Beton und Stein, das von Stahlträgern gehalten wurde und mit Holz ausgekleidet worden war. Das Ungewöhnlichste des Reifungsprozesses der Casa Ferazza aber hallte mit Hilfe einer hypermodernen Musikanlage von den Wänden wider: Meine Flaschen ruhten zum Klang der besten Stücke aus der brasilianischen Musikgeschichte.
Aber das war noch nicht alles. An der Wand am Ende des Stollens, hinter der letzten Reihe Rüttelpulte, in denen die Sektflaschen kopfüber lagern, damit die Hefe sich absetzt, versteckte sich eine 1,20 m hohe Schiebetür aus Stahl, die man nur sah, wenn man sich bückte. Sie war verschlossen mit einem digitalen Code. In der Kammer dahinter lagerten die Flaschen eines Sekts, den ich für noch wertvoller hielt als den 2010er Gold – er war von einer Qualität, die die Casa Ferazza vielleicht eines Tages auf ein Niveau heben könnte, das noch kein brasilianisches Weingut erlangt hatte. Ein hinter sieben Siegeln verborgener Schatz, dessen Zeit noch nicht gekommen war.
Kaum dass ich die Autotür geöffnet hatte, war Mister schon durch die Klappe am Fuß der Tür in den Stollen geflitzt. Er war acht Jahre alt und hier zu Hause, seit er als Welpe zu mir gekommen war. Von Anfang an hatte Mister die Hundehütte verschmäht, die ich ihm gebaut hatte. Ich vermutete, dass er sich diesen dunklen Ort als sein Zuhause auserkoren hatte, weil er die Musik so sehr liebte.
«Gute Nacht, du Undankbarer. Wie wäre es mit etwas Höflichkeit?», murrte ich ihm hinterher, als ich die Haustür aufschloss, über der unter einer Uhr ein Sprichwort aufgemalt war: Das Glück ist Moll, die Traurigkeit Dur.
Trotz all des Guten an diesem Fleckchen Erde lebte ich allein in dieser Weite. Denn es war mir unmöglich, normale Beziehungen mit anderen Menschen zu führen. Der Grund dafür? Ich war ein Fisch auf dem Trockenen.
Das Thermometer zeigte 13 °C an. Ich machte mir eine Tasse heiße Schokolade und goss einen Schuss Brandy dazu. Dann nahm ich mein zerschlissenes grünes Notizbuch von der Holztruhe, die als Tisch auf dem Teppich in der Mitte des Wohnzimmers stand. Mit einem feinen Füller und einer dicken Wolldecke ging ich zurück auf die Veranda. Eine Zeitlang saß ich einfach nur da und blickte auf die wenigen Lichter, die auf den Nachbargrundstücken zu sehen waren. Die Frösche am Bach, der mein Land von dem der Familie Vanzetto trennte, unterhielten sich lebhaft, und der verwirrte Hahn der Gianti begann mal wieder weit vor Sonnenaufgang zu krähen. Der Vollmond wirkte wie ein Kronleuchter, bereit, eine weitere einsame Nacht mit mir zu teilen.
Ich nahm einen Schluck Kakao, öffnete das Notizbuch und blätterte vor bis zum letzten Eintrag, dem «Ereignis Nr. 413». Ich blätterte um und notierte:
Ereignis Nr. 414
Datum: Samstag, 4. November 2017
Intensität: 1 von 7
Zeitsprung: 30 Sekunden in die Vergangenheit
Schlüsselwörter: Treviso-Platz, Gianti-Markt, Antonella
Soundtrack: Tarantella
Beschreibung:
Ich beschrieb den Moment, in dem Antonellas Kuss, der Geschmack des Gianti-Sekts, das ganze Ambiente und der erfolgreiche Marktabend so zusammengekommen waren, dass ich an den Punkt gelangt war, den ich Schwelle zum Glück getauft hatte und der den Hebel umlegte, der mich in die Vergangenheit katapultierte.
Ich habe noch nie von irgendetwas Ähnlichem gehört wie dem, was mir seit jener verhängnisvollen Nacht vor fast 20 Jahren passierte. Es gab niemanden, mit dem ich hätte Erfahrungen austauschen können, der mir hätte helfen können, jenes Phänomen zu beherrschen, das ich nicht kontrollieren konnte. Es war eine Störung, ein Produktionsfehler, ein Defekt. Das waren jedenfalls die Begriffe, die mir am treffendsten schienen. Und die Entscheidung, mit niemandem darüber zu sprechen, diente schlussendlich dem Selbstschutz.
An der Uni wehrte ich alle Annäherungsversuche ab. Ich flüchtete vor allem Möglichen, trat keinem Sportverein, keinem Literaturkreis und keiner Theatergruppe bei. Ich studierte mal dieses Fach, mal jenes. Ich vermied Partys, Feiern, Empfänge und Verabschiedungen. Meine Kommilitonen hielten mich für sonderbar. Und das war ich wohl auch. Eines Tages verschwand ich vor den Augen einer Dozentin, und die Arme erlitt einen psychotischen Schub. Man diagnostizierte einen stressbedingten Erschöpfungszustand und suspendierte sie für sechs Monate vom Dienst. Sie nahm die Diagnose hin, aber ich wusste, dass sie kerngesund war. Bis ich verstand, was das Schicksal mir aufgebürdet hatte, dachte ich, dass ich verrückt geworden sei. Es war erschreckend und schmerzhaft, aber auch faszinierend und verlockend. Ich erlebte besonders schöne Momente immer gleich doppelt. Aber wenn ich traurig war, auf schmerzhafte Weise unglücklich, dann übersprang ich Sekunden, Minuten oder Stunden. Es war unmöglich zu verbergen, wie sehr mich das alles verwirrte. Meine Physiologie war anders als die vom Rest der Welt, so war es einfach. Aber warum? Ich litt unter den seltsamen Zeitsprüngen genauso wie unter den langen, ziellosen Streifzügen durch die Stadt, dem stillen Heimschleichen im Morgengrauen, den Tagen und Nächten, die ich eingesperrt in meinem Zimmer der Lektüre von H.G. Wells, Arthur C. Clarke und Isaac Asimov oder den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Einstein und Hawking widmete. Ständig fehlte mir die Luft zum Atmen, wie einem Fisch auf dem Trockenen eben.
Mein Vater schien sich nicht um meinen Rückzug zu sorgen, vielleicht tat er es als postpubertäre Nebenwirkung ab. Meine Mutter aber war umso beunruhigter. Doch je öfter sie nachhakte, desto mehr zog ich mich zurück. Bis sie mir eines Sonntags beim Essen unter dem nachsichtigen Schweigen meines Vaters einen wütenden Vortrag voller moralischer Vorhaltungen hielt. Sie endete mit den Worten: «Wir unterstützen, was immer du tun möchtest, welchen Weg du auch einschlagen möchtest, aber du musst deinem Leben endlich eine Richtung geben. Es kann nicht ewig so weiterplätschern. Finde deinen Weg, deine Leidenschaft. Such dir einen Beruf aus, und wir zahlen, was immer für die Ausbildung nötig ist. Aber es ist das letzte Mal, und wenn es nicht funktioniert, musst du alleine weitersehen.»
Das war wie ein Blankoscheck, der Traum eines jeden 20-Jährigen. Die Gelegenheit, den Dingen, die mir passierten, einen Sinn abzugewinnen.
Meine Eltern hätten sich die Entscheidung, die ich traf, niemals träumen lassen, aber das großmütige «Wir unterstützen, was immer du tun möchtest» mussten sie jetzt auch umsetzen. Nach einigen Tagen intensiver Recherche entschied ich mich für eine Ausbildung zum Winzer in Brescia in Norditalien. Es gab nicht sehr viele Gründe für diese Wahl, ich trank damals nicht einmal Wein. Meinen Eltern erzählte ich von Zeitschriftenartikeln über die vielversprechende Zukunft dieser Branche, die in Brasilien noch nicht so entwickelt war. Der wahre Grund aber war, dass ich einfach ganz weit wegwollte. Ein neues Land, eine andere Kultur und Sprache, mein bisheriges Leben hinter mir lassen. Es war eine als Lebensprojekt getarnte Flucht, die nach Wein duftete und schmeckte.
Kurze Zeit später, im Angesicht der italienischen Alpen und im Schatten der zweiten Satzhälfte meiner Mutter («Aber es ist das letzte Mal, und wenn es nicht funktioniert, musst du alleine weitersehen»), lernte ich die Geheimnisse des Rebenanbaus und der Weinreife. Und zwar konzentrierter und ehrgeiziger als alle anderen. Bald schon begann ich, Gefallen am Wein- und Sektuniversum zu finden, und ich wurde zu einem von Dozenten und Winzern gelobten Studenten und Praktikanten. «Un ragazzo brillante, un futuro luminoso», hieß es über mich in einem Artikel über aufstrebende Talente der Region in La Provincia di Varese.
Als ich die italienische Sprache sicher genug beherrschte, pilgerte ich schließlich doch zu den verschiedensten Ärzten, um herauszufinden, was mein Problem mit der Zeit war. Die Diagnosen waren nicht gerade vielversprechend. Es hieß, es handele sich um irgendeine psychiatrische Störung, die Halluzinationen hervorrufe. Niemand glaubte mir, das ist die traurige Wahrheit. Man verschrieb mir Pillen gegen Angstzustände, die ich bald wieder absetzte, weil sie absolut nichts bewirkten. Von dort war es nur ein Katzensprung in den Schoß der Religion, um herauszufinden, ob es sich um eine gottgegebene Gabe oder einen Fluch handelte. Ich war sogar in Rom und nahm an einem Gottesdienst des Papstes auf dem Petersplatz teil. Unter Tausenden von Menschen fragte ich die Heiligen, ob ich eine besondere Mission hätte. Aber ich fand keine Antworten, kein Heiliger sprach zu mir. Dann versuchte ich alternative Therapien mit Tees, Wurzeln, diversen Blättern und Kräutern, Yoga, Meditation, Isolation und dem Rückzug in eine Berghütte, allerlei Behandlungen für Körper und Geist – nichts half. Am Ende akzeptierte ich die Ordnung des Schicksals: So war ich eben, Ende und aus. Ich würde alle glücklichen Momente doppelt erleben und musste akzeptieren, dass die Last der traurigen Momente mich viel härter traf als jeden anderen.
Glück …
das ist reine Mathematik:
ein edles Lebensziel
plus denkwürdige Momente
plus Gesundheit –
multipliziert mit Weltreisen
und geteilt durch richtig gute Freunde.
Das Ergebnis hoch zwei,
das ist wahres Glück.
Ein paar Tage vor Weihnachten im Jahr 2007, während des Besuchs eines Pinot-blanc-Weinbergs, als ich gerade ein sehr attraktives Jobangebot von einer vielversprechenden italienischen Winzerei bekommen hatte, erhielt ich einen Anruf aus Brasilien. Meine Mutter, die geschätzte, ehrgeizige, unbesiegbare Lungenärztin, war soeben verstorben. Das städtische Krankenhaus, bei dem sie angestellt war, war nicht gerade bekannt für seine Sorgfalt im Umgang mit Infektionen, und der direkte Kontakt mit todkranken Patienten hatte für sie ein fatales Ende. Der multiresistente Erreger ließ ihr keine Chance. Kopfschmerz, Fieber, Einweisung, eine sich ausbreitende Infektion, Herzstillstand und schließlich der Tod. All das geschah in nur neunzehn Stunden.
Ich setzte mich an einen Weinstock und umschlang meine Knie. Ein unkontrollierbarer Heulkrampf überkam mich, ich konnte nicht mehr atmen, fühlte mich machtlos in dieser weiten Ferne, spürte einen furchtbaren Abgrund im Herzen. Ich wusste sofort, was kommen musste. Mein Herz beschleunigte sich rasend schnell: 75, 80, 100, 120, 140, 175, 180 … 184 Schläge pro Minute – das war die magische Grenze, die ich als Schwelle identifiziert hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde setzte mein Herz aus. Ich schloss meine Augen in Italien.
Als ich sie wieder öffnete, lag ich auf einer Bank auf dem Esperança-Friedhof in Brasília. Mein Puls ging normal. Und wie gewöhnlich spürte ich eine unsägliche Beklemmung in der Brust, in meinem staubtrockenen Mund den Geschmack verdorbener Früchte, ein Brennen in den Augen und furchtbaren Schmerz in allen Gliedern. Es dauerte, bis ich auch nur einen Muskel bewegen konnte. Ich trug die Kleidung, in der ich den Weinberg in Italien besucht hatte, Schürze und Lederstiefel. Als ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte, blickte ich mit verschleiertem Blick auf meine Armbanduhr und sah, dass achtundzwanzig Stunden vergangen waren. Es war der zweitgrößte Zeitsprung, den ich erlebt hatte, seit all das angefangen hatte.
Ich lehnte die Stelle in der Franciacorta in Italien ab. Stattdessen beschloss ich, mir ein neues Leben in Brasilien aufzubauen, die Sachen meiner Mutter zu ordnen und mich um die Erbschaft zu kümmern, die sie in dreißig Berufsjahren als eine der besten Medizinerinnen Brasiliens angehäuft hatte und die zu gleichen Teilen an meinen Vater, meine zwei Jahre jüngere Schwester Juliana und mich fiel. Ich nahm meinen Anteil, nutzte das günstige Kaufangebot aufgrund des heruntergekommenen Zustands und kaufte die Vinícola Ferazza.
Am Tag vor meinem Umzug von Brasília nach Nova Vêneto bat ich meine Schwester um einen Spaziergang im Stadtpark. Wir gingen lange quasi schweigend nebeneinanderher und setzten uns dann auf eine Bank in der Nähe eines Kiosks, um Kokoswasser zu trinken.
«Ich werde diesen Ort hier vermissen», sagte ich beim Blick auf den kleinen Vergnügungspark vor uns. «Ich hätte viel öfter herkommen sollen.»
«Findest du es nicht überhaupt etwas gewagt, dich mitten im Nirgendwo niederzulassen?», fragte Juliana.
«Wieso gewagt?»
«Na ja. Was, wenn du mir dort vereinsamst?»
«Einsamkeit bin ich längst gewöhnt. Und du sagst doch selbst, ich bin einfach sonderbar.»
«Allerdings.» Sie strich sich die langen, kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht und zeigte mit dem Finger auf mich. «Der seltsamste Typ unter der Sonne.»
Ich grinste und schaute einem Vater zu, der langsam auf einem Fahrrad mit Kindersitz an uns vorbeifuhr. Seine kleine Tochter und er trugen Helme im Partnerlook.
«Ju, was ist wahres Glück für dich?»
«Hä?» Sie runzelte die Stirn. «Was ist das denn für eine Frage, Pickett?»
Ich mochte es, wenn sie mich so nannte. «Überleg doch mal.»
Sie druckste herum. «Nun, also, Glück … das ist … reine Mathematik: ein edles Lebensziel plus denkwürdige Momente plus Gesundheit – multipliziert mit Weltreisen und geteilt durch richtig gute Freunde. Das Ergebnis hoch zwei, das ist wahres Glück.»
«Wow! Super Antwort. Etwas anderes hätte ich von einer Mathematikerin auch nicht erwartet.»
«Warum fragst du überhaupt?»
Ich räusperte mich. «Na ja … also … ich wollte dir was erzählen, und das geht so in die Richtung.» Der Knoten in meiner Zunge passte nicht gut zu dem Kloß im Hals, den ich lösen musste, um ihr zu erzählen, was mich seit meiner Jugend belastete. «Ich weiß nicht, wem ich es sonst sagen soll.»
«Du stirbst doch nicht etwa?»
«Nein.»
«Willst du heiraten?» Als ich amüsiert den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: «Single-Vater sein? Hast du entdeckt, dass du schwul bist? Keine Sorge, Victor, ich unterstütze dich, egal was es ist.»
«Nichts von alledem. Es ist ein bisschen … außergewöhnlicher. Schwer zu glauben, um genau zu sein.»
«Und wieso denkst du, dass ich es glauben werde?»
«Weil du mich liebst.» Ich strich über die Sommersprossen auf ihrer Wange. «Aber du musst mir versprechen, es für dich zu behalten. Das … das Ganze hat vor zehn Jahren angefangen. Niemand weiß davon.»
«Meine Güte! Jetzt sag schon.»
«Du musst es erst versprechen.»
Sie schlug sich mit der Faust auf die Brust und hob dann Zeige- und Mittelfinger. «Großes Pfadfinderehrenwort.»
«Ich …» Unsicher sah ich zum Riesenrad auf, atmete tief durch und sagte schnell, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte: «Ich erlebe Zeitsprünge.»
«Wie bitte?» Julianas Mund blieb offen stehen, sie sah mich etwas erschrocken an. Dann hob sie das Kinn an und fragte: «Was soll das heißen, Zeitsprünge?»
«Was ich gesagt habe.»
Sie legte einen Handrücken an meine Stirn. «Hast du Fieber, Brüderchen?», fragte sie und begann zu kichern.
«Lach ruhig, ich habe selbst ziemlich lange gebraucht, bis ich es glauben konnte.» Der Ton meiner Stimme war ganz ruhig, dahinter versteckte sich allerdings ein dramatisches inneres Flattern.
Sie lehnte sich zurück und trank aus dem Strohhalm ihrer Kokosnuss. «Ach komm. Verarsch mich nicht.»
«Ich weiß, es klingt seltsam. Und ich verstehe ja auch nicht, warum das passiert. Ich habe nur rausgefunden, dass es immer ein Muster und einen Auslöser gibt. Ich kann das nicht kontrollieren, es passiert nicht willentlich und …»
«Jetzt hör auf!», schrie Juliana plötzlich und sah mich entsetzt an. «Zeitreisen? Erzähl keinen Scheiß, Pickett. Bist du verrückt geworden?»
Ich hob einen dünnen Zweig vom Boden, zog einen Linie in den Sand und begann zu erklären. «Als sich die Sprünge wiederholten, begriff ich irgendwann, dass mich glückliche und traurige Momente in der Zeit transportieren. Wenn mein Glück bis zu einem gewissen Punkt gelangt, den ich Schwelle zum wahren Glück nenne …» Ich malte einen Pfeil nach links in den Sand. «… dann springe ich zurück. Und umgekehrt, wenn ich so traurig bin, dass ich die Schwelle zu größter Trauer erreiche», sagte ich und malte einen Pfeil nach rechts, «dann springe ich in die Zukunft.»
Juliana verschränkte die Arme vor der Brust und starrte vor sich hin. Eine halbe Ewigkeit lang blieb sie still, ein schwarzes Loch tat sich zwischen uns auf.
«Nein», sagte sie dann. «Nein, so was gibt es gar nicht.»
Ich seufzte. «Manchmal sind es nur ein paar Sekunden, aber wenn ich sehr glücklich bin, können es auch mal ein paar Stunden sein. Und wenn ich unfassbar traurig bin, passiert das Gleiche in die andere Richtung. Als Mama gestorben ist, war ich so traurig, dass ich die Augen in Italien geschlossen habe und erst in Brasilien wieder aufgewacht bin, achtundzwanzig Stunden später. Aber für mich ist nur ein Wimpernschlag vergangen.»
Meine Schwester runzelte die Stirn. «Ja, du warst wirklich wie vom Erdboden verschluckt damals. Keiner wusste, wo du bist, telefonisch konnten wir dich nicht erreichen. Und dann standest du nach der Beerdigung plötzlich auf dem Friedhof, mit dieser komischen Schürze, total verdreckten Stiefeln und umgeben von einem schrecklichen Gestank nach vergorenen Trauben.»
Ich nickte. «Und da hast du auch den Grund für meine ganzen unerklärlichen Abwesenheiten in unserer Jugend.»
«Mann … Du willst doch irgendwas von mir, oder? Brauchst du Geld?» Juliana packte mich an den Schultern und schüttelte mich. «Jetzt hab ich’s – du hast hier irgendwo eine Kamera versteckt.» Sie stand tatsächlich auf und schaute unter die Bank.
«Was für eine Kamera, Ju? Setz dich wieder hin. Ich schwöre dir, das ist die Wahrheit.»
«Okay. Dann lass mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe.» Sie kratzte sich am Kopf und setzte sich wieder neben mich. «Angenommen, es ist die Wahrheit, was natürlich nicht sein kann. Denn das wäre echt zu verrückt. Aber gehen wir einmal von der nicht bestehenden Hypothese aus, dass es stimmt. Also: Wenn du sehr glücklich bist, reist du in die Vergangenheit? Und wenn du sehr traurig bist, in die Zukunft?» Plötzlich musste sie lachen.
«Ich hab dir ja gesagt, dass es schwer zu glauben ist.»
«Dann beweis es mir», forderte sie wieder vollkommen ernst.
«Das kann ich nicht. Ich kontrolliere es ja nicht.»