Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019
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Zitatnachweis auf Seite 178: Robbie Williams, Angels, Text: Robbie Williams/Guy Chambers
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Covergestaltung Dani Muno und Dirk von Manteuffel
Coverabbildung Motiv: Jeannette Petri
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN 978-3-644-00370-5
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00370-5
Meine Frau Franziska ist der Meinung, dass ein Mann, der in meinem Alter unbedingt Tschacks an den Füßen tragen möchte, wenigstens wissen sollte, dass man Tschacks nicht Tschacks schreibt, sondern Chucks.
Das wusste ich nicht.
Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal im Entferntesten, was Chucks überhaupt sind. Natürlich habe ich diese sommerlichen Turnschuhe in den vergangenen Jahren schon häufiger an den Füßen von Melina gesehen, unserer inzwischen erwachsenen Tochter, die in der Großstadt Frankfurt lebt. Doch was interessierten mich schon bei jungen Leuten angesagte Schuhmarken? Ich habe mich in den letzten Jahren eher mit Outdoor-Allzweck-Regenjacken, Merino-Funktionsunterwäsche, Schuheinlagen und Nasenhaarschneidern beschäftigt.
Inzwischen ist das anders. Seit ich auch ein Instagram-Profil habe und Fotos von Sonnenuntergängen poste, fühle ich mich insgesamt einfach jünger. Und so trage ich nicht nur Chucks in der High-Sneakers-Ausführung, wie der Kenner sagt, sondern auch noch einen grauen Hoodie – für Ältere: das ist ein Kapuzenpullover – mit der unmissverständlichen Aufschrift «Player!».
Und zwar nicht irgendwann, sondern zu keinem geringeren Anlass als zu meiner Geburtstagsparty. Ich werde heute fünfzig Jahre alt.
«Du könntest dich langsam mal umziehen», ruft mir Franziska zu, während sie sich gelassen, aber nicht euphorisch im Flurspiegel betrachtet. «In einer halben Stunde kommen die Gäste.»
«Wieso?», frage ich und ziehe den Reißverschluss meines Hoodies weiter hoch. «Bin ich doch.»
Da lacht sie kurz auf, ehe ihr Gekicher abrupt abbricht. «Das ist jetzt nicht dein Ernst?»
Ich erwidere darauf nichts und trage stattdessen noch ein paar Bierflaschen zum Kühlen auf die Terrasse.
Ja, ich meine es ernst, denn dieser fünfzigste Geburtstag soll alles werden, nur kein gewöhnlicher fünfzigster Geburtstag. Es wird der unfünfzigste Geburtstag aller Zeiten werden. So jedenfalls ist der Plan.
«Warum bitte darf man in diesem Alter nicht mehr lässig sein?», rufe ich Franziska zu, die inzwischen in das Kinderzimmer unserer Zwillinge entschwunden ist.
«Weil du noch nie lässig warst», tönt es zurück.
Ich entscheide mich dafür, dass das wohl ein Scherz war, und lächle etwas gequält. Weil sie vermutlich recht hat.
Ich bin ein bisschen nervös und angespannt, die Achseln nässen und die Hände sind kalt. Dabei soll das heute doch alles ganz locker werden, lässig eben.
Zunächst lautete der Plan, nur im kleinen Kreis zu feiern. Dann fiel mir allerdings ein, dass ich gar keinen kleinen Kreis habe. So habe ich einfach alle eingeladen, die ich irgendwie kenne, ganz unabhängig davon, ob ich sie sonderlich mag oder nicht.
Sowieso eine uralte Menschheitsfrage: Soll man zu einem runden Geburtstag nur die Leute einladen, die man mag, oder auch die Verwandtschaft?
Franziska war von Anfang an dagegen, die Feier zu Hause auszurichten, aber ich habe mich durchgesetzt. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mich noch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Meinung Franziskas widerstandslos gefügt und sofort klein beigegeben. Doch das ist vorbei. Da hat sich seit einiger Zeit bei und mit mir etwas geändert. Ich will das jetzt nicht zu hoch hängen, aber ja: es gibt so etwas wie einen neuen Henning. Einen mutigen, einen toughen Henning, der Entscheidungen trifft, zack, und der auch einmal entspannt improvisiert, wenn für eine so große Gästeschar weder genügend Geschirr noch ausreichend Sitzgelegenheiten im Eigenheim zur Verfügung stehen. Da muss man dann eben lässig bleiben, die Dinge auf sich zukommen lassen. Und Chucks und Hoodie tragen.
Ich bekomme Kopfschmerzen.
Laurin kommt die Treppe heruntergepoltert und ruft mir irgendetwas zu, das ich nicht verstehe. Unser Sechzehnjähriger beherrscht die seltene Kunst, mit lauter Stimme nuscheln zu können.
«Wo sollen die denn alle sitzen?», wiederholt er seine Frage, als er mein fragendes Gesicht sieht.
«Na, auf den Matratzen», antworte ich.
«Auf den Matratzen?»
«Ja, auf den Matratzen. Soll so ein bisschen loungig sein.»
«Loungig? Auf Matratzen?»
«Ja, verdammt noch mal», fluche ich. «Das soll heute hier halt mal so …»
«Lässig sein, ich weiß», komplettiert Laurin breit grinsend meinen Satz.
Er trägt übrigens Chucks und einen Hoodie. Fast den gleichen wie ich. Nun werde ich doch nachdenklich.
Dann gehe ich rasch die Treppe hinauf, in unser Schlafzimmer, in dem der alternde Berlusconi schnarcht, und ziehe mich eben um. Ich entscheide mich dann doch für ganz unchuckige schwarze Schuhe und ein blaues Hemd. Ohne Kapuze. Ist besser so.
«Papapapapapapapapapapapapapapapapapapapapapapa» schreiend kommt Frida mit zwei ihrer unübertrefflich hässlichen rosa Kitschbarbie-«Traumpferde» herangestürmt. Sich aus pädagogischen Gründen gegen dieses üble Geschlechterklischees zementierende Schrottspielzeug zu wehren, das haben Franziska und ich inzwischen aufgegeben. Trotzdem schmerzen die rosa Schleifen in den topfrisierten Mähnen der Plastikpferde noch immer bei jedem Anblick.
Ihr Zwillingsbruder Nick spielt übrigens mit Autos und will Feuerwehrmann werden. Das dazu.
Frida ist, positiv ausgedrückt, eine sehr lebendige Achtjährige. Man könnte allerdings auch sagen: sie ist einfach laut. Sehr, sehr laut. «Guckmaguckmaguckma», schmettert sie, und ich sorge mich um meine Ohren. Gleichzeitig klingelt es an der Haustür Sturm.
Der DJ ist da. Jawohl, der DJ!
Eigentlich gehört es ja zur Bröhmann’schen Familientradition, an runden Geburtstagen Onkel Willi zu engagieren. Onkel Willi, irgendein entfernter Cousin meines verstorbenen Vaters, der seit seiner Pensionierung mit öliger Gesangsstimme und zeitloser Alleinunterhalterorgel im Gepäck unter dem Namen Orgel-Willi unaufhaltsam durch den Vogelsberg tingelt. Willis große Stärke ist, dass man ihn eigentlich den ganzen Abend kaum bemerkt. Er stört also nicht groß. Schon beim Aufbau seines Equipments wird er gerne übersehen. Er ist einfach nicht der Typ, der sich in den Vordergrund drängt. Gerne setzt er sich mit seinem Keyboard in die hinterste Ecke des Saals, und wenn er doch mal auf eine Bühne muss, dann schiebt er irgendwelche Pflanzenkübel vor sich, sodass er kaum zu sehen ist. Wenn er dann irgendwann zu spielen beginnt, hat man nach spätestens zwei Minuten vergessen, dass da jemand sitzt und so etwas Ähnliches wie Musik macht. Und einige Stunden später hört er dann selbständig auf und trottet von allen Gästen unbemerkt still und stumm vom Veranstaltungsort. Zudem klingen alle seine Liedbegleitungen durch die Bank gleich. Egal ob er «Fiesta Mexicana», «Let it Be», «Strangers in the Night», «Highway to Hell» oder «Atemlos» anstimmt, die Lieder sind kaum auseinanderzuhalten und gehen auch oft ineinander über.
«Mega-Hit-Medley» nennt er das dann kühn. Darüber hinaus besitzt Onkel Willi die seltene Gabe, diverse Walzer konsequent im 4/4-Takt zu spielen. Auch wechselt er nie die Tonlage und singt einfach stumpf alles in C-Dur. Das passe am besten zu seiner Stimmlage, sagte er mal. Und er könne weitestgehend auf die schwarzen Tasten am Piano verzichten, was die Sache einfacher mache.
Sehr zum Entsetzen meiner Mutter habe ich also für meine Feier dieses eherne Sippengesetz ignoriert, ja gebrochen und mich eiskalt gegen ein Engagement von Onkel Willi entschieden.
Stattdessen wird also ein DJ auflegen. So. Und zwar nicht irgend so ein Provinz-Party-Blödmann, sondern ein richtig lässiger DJ. Einer aus der großen Stadt, aus Gießen.
«Hallo, ich bin der Henning», begrüße ich DJ Nightfighter mal so ganz locker und führe ihn in unser Wohnzimmer, das noch immer nicht fertig renoviert ist – aber das ist eine andere Geschichte. Franziska ist seit Wochen komplett genervt, dass weder die Wände neu verputzt sind noch Türgriffe an den bodentiefen Fenstern angebracht wurden. Von den neuen Heizkörpern mal ganz abgesehen. Mich nervt diese Stagnation genauso, doch vor ein paar Tagen ist mir der tröstliche Gedanke gekommen, dass dieser halbfertige Zustand ein cooles Ambiente für meine Feier darstellen könnte.
«Industrial Style», habe ich Franziska heute Morgen erklärt. Sie schüttelte nur den Kopf, doch der neue Henning sieht die Dinge eben auch mal positiv.
«DJ Nightfighter», der laut eigener Homepage in den angesagtesten Clubs Mittelhessens und bei diversen Uni-Erstsemester-Feten schon «gebookt» wurde, richtet sich routiniert in der rechten Ecke unseres Industrial-Wohnzimmers ein. Er baut einen kleinen Tisch auf, schließt einen Laptop an ein kleines Mischpult an und verbindet dieses mit einer langen, schmalen Lautsprecherbox, die aussieht wie irgendwas aus «Star Wars». So habe ich mir das vorgestellt. Das Gegenteil von Onkel Willi.
«Wahnsinn», staune ich ihn an, «das geht ja jetzt alles digital, was?!»
Der Nachtkämpfer lächelt höflich, nickt und weiß nicht recht, was er darauf antworten soll.
«Da habt ihr gar keine CDs mehr dabei, wie?» Ich habe ihm als der knapp Ältere das Du angeboten, auch wenn er mich seit seiner Ankunft durchgängig siezt. DJ Nightfighter schüttelt den Kopf.
«Auch kein Vinyl?», frage ich und rücke noch ein Stück näher. «Ich dachte, Vinyl sei wieder in. Nein?»
«Doch, äh, ja schon», stammelt der junge Mann.
«Brauchst du das nicht, um da …?»
Dann fällt mir das passende Wort nicht ein, ich mache stattdessen etwas wirre Kreisbewegungen mit der Hand und gebe merkwürdige gutturale Laute von mir.
Hinter meinem Rücken spüre ich meinen pubertierenden Sohn sich für mich schämen. In dieser Disziplin knüpft er nahtlos an seine große Schwester Melina an. Ein allzu vertrautes Gefühl also.
«Scratchen», fällt es mir dann ein. «Jaa, Scratchen heißt das.»
DJ Nightfighter räuspert sich und sagt: «Ja, schon klar, aber ich hatte mir jetzt eher für Ihre Feier so Musik aus den 70ern und 80ern überlegt. Also, so Musik aus Ihrer Zeit.»
Kurz erstarre ich. Musik aus meiner Zeit.
«Nee, nee, nee», protestiere ich, «bitte alles, nur kein Retro. Du kannst ruhig so … äh … das spielen, was sonst so angesagt ist. Also, so das, was ihr so hört … so Airbnb … oder … Dance, House und, mh, Rap.»
Bei Dance, House und Rap ziehe ich die Vokale lang. Däääänz, Haaaaaaus, Räääääääp! Amerikanischer klingt es dadurch allerdings nicht, das fällt selbst mir auf.
Schweigen.
«Du machst das schon», sage ich nach einigen stillen Sekunden in jovialem Tonfall und lasse Nightfighter erst mal machen.
Dann klingelt es. 18.58 Uhr. Da kommen schon die ersten Gäste. Zwei Minuten zu früh. Es sind Rolf und Ralf. Oder auch Ralf und Rolf, wie andere sagen. Meine beiden Kollegen. Richtig, ich vergaß ganz zu erwähnen: Ich bin wieder zurück. Nicht nur in Bad Salzhausen, sondern auch bei der Polizei.
Mein alter Freund und neuer Chef Kriminaloberrat Markus Meirich stürmt in seinem unnachahmlichen Stechschritt durch den Gang der Polizeistation Alsfeld. Als er mich am Kaffeeautomaten herumstehen sieht, bremst er abrupt ab.
«Du hast doch schon längst Feierabend, Henning. Was machst du denn noch hier?»
«Ja, ich weiß», antworte ich und gucke gewichtig, «aber ich bin noch an was dran.»
Markus legt die Stirn in Falten. «Was ist denn noch so wichtig?»
«Mir lässt die Autogeschichte mit diesen Italienern keine Ruhe. Ich will da noch was checken.»
«Hmm», brummelt Markus dann nur noch, und im Weggehen ruft er mir zu: «Als Freund sag ich dir: Denk an Franziska und die Kinder.»
Was soll das denn jetzt? Leicht verärgert nehme ich meinen Kaffee und kehre in mein Büro zurück. Franziska und die Kinder. Ja, ich weiß, dass ich seit meinem Wiedereinstieg vor fast vier Jahren eher zu viel arbeite. Immer noch überraschend für alle, die mich von früher kennen, ich weiß.
Eigentlich war es das Letzte, was ich mir vorstellen konnte, wieder zur Polizei zu gehen. Mein Ausstieg schien endgültig. Zu richtig hatte sich das alles angefühlt damals. Sogar meinen kostbaren Beamtenstatus hatte ich dafür gern hingegeben. Doch nun, siehe da – das Leben geht mal wieder seine eigenen Wege –, bin ich wieder zurück bei der Kriminalpolizei. Und zwar mehr denn je. Der neue Henning eben.
Es ist gut, dass sich in den letzten Jahren in unserer Dienststelle strukturell so einiges geändert hat. Es weht ein frischer Wind mit Markus als Kriminalrat, und das ist gut so.
Meine Kollegen Ralf und Rolf, die mir beide gegenübersitzen, nehme ich so hin, wie sie sind, und ich lasse mir von ihnen meinen Eifer und die bisher nicht gekannte Freude an der Arbeit nicht vermiesen.
«Ralf, reichst du mir bitte noch mal den Unfallbericht rüber», rufe ich Ralf zu, der allerdings Rolf ist.
«Ich bin Rolf», sagt dementsprechend Rolf, während Ralf die Augen verdreht. Ich glaube, die beiden mögen mich nicht sonderlich, doch mir ist das egal. Ich bin hier, um meine Arbeit zu machen, und nicht, um Freundschaften zu schließen.
Vor zwei Wochen haben zwei Italiener hier einen schweren Autounfall miteinander gehabt. Einer der beiden Fahrer starb, der in dem anderen Wagen blieb nahezu unverletzt. Merkwürdig. Soll es wirklich ein Zufall sein, dass zwei Italiener in den Unfall verwickelt sind? Ich habe diesen Fall an mich gerissen, auch wenn wir von der Kripo pro forma gar nicht für Verkehrsdelikte zuständig sind.
«Haste nich schon längst frei?», mault mich Rolf, nein, Ralf an.
Ich antworte nicht und vertiefe mich in die Biographien der beiden Unfallfahrer.
«Warum verwundert es außer mir niemanden, dass beide Italiener in der Gastronomie arbeiten?», frage ich und nehme einen Schluck vom Kaffee, der leider schon wieder kalt ist.
«Weil alle Italiener hier in der Gastronomie schaffen», antworten die Ralfs und Rolfs unisono und erfreuen sich beide gleichermaßen über ihre originelle Antwort.
Viele halten Rolf und Ralf für Brüder, manche gar für Zwillinge, denn seit ihrer Kindheit tauchen sie meist im Doppelpack auf. Sie haben die komplette Schulzeit gemeinsam absolviert, sind anschließend zur Bundeswehr gegangen, haben kurz darauf im Team eine Polizeiausbildung begonnen, dann einige Jahre in Kassel gearbeitet und sind schlussendlich vor zwei Jahren nach Alsfeld gewechselt. Über ihre private Situation weiß ich kaum etwas, nur so viel: Ein Paar sind sie nicht, und immerhin haben sie getrennte Wohnungen.
Ralf und Rolf sind beide Anfang vierzig, kompakt gebaut, haben schütteres Haar, Brillen und dünne graue Kinnbärte.
«Wir verstehen nicht, was du willst, Henning. Alle Erkenntnisse, die wir bisher haben, deuten auf einen Unfall hin und auf kein Verbrechen. Punkt», sagt Ralf oder Rolf.
«Das wollen wir doch mal sehen, ob die sich wirklich nicht kannten», murmle ich.
Inszenierte Autounfälle sind ein gängiges Mordinstrument der italienischen Mafia, das habe ich vorhin recherchiert, im Internet. Ich sage das aber besser nicht laut, ich werde hier schon genug belächelt.
«Ich muss mal», murmelt Rolf und verlässt das Büro. Ralf bleibt alleine zurück. Toilettengänge bekommen sie anscheinend noch alleine hin.
Ja, es wäre wirklich schön, wenn hinter diesem Autounfall tatsächlich mehr stecken würde als ein schnöder, gewöhnlicher, langweiliger Unfall. Denn seit meinem Comeback hier in Alsfeld ist es mir schlicht zu langweilig. Es ist nicht so, dass nichts zu tun wäre, doch es fehlt so ein richtig großes Ding, wenigstens ein für Vogelsberger Verhältnisse großes. Ein Mafia-Mord, das wäre so etwas. So forsche ich weiter nach und schreibe Franziska eine Nachricht, dass es hier wohl noch etwas länger dauern wird.
Ich gebe zu, ich erkenne mich selbst oft nicht wieder. Aber ich bin ja nicht in den Dienst zurückgekehrt, um wie früher in Selbstmitleid und Trägheit zu versinken. Markus Meirich, der mich seit über zwanzig Jahren kennt, meinte kürzlich mit leicht hämischem Unterton, dass ich das, was ich früher zu wenig geleistet hätte, wohl jetzt mit Übereifer kompensieren wolle. Er lachte zwar dabei, aber mir ist klar, dass da viel Wahres drinsteckt.
Nach einer weiteren halben Stunde am Schreibtisch fällt mir trotz allen Übereifers kein stichhaltiger Grund mehr ein, noch länger zu bleiben. Es ist 21 Uhr, seit acht Uhr in der Früh bin ich im Dienst, höchste Zeit, mich auf die Heimfahrt nach Bad Salzhausen zu machen.
«So, dann pack ich’s mal», rufe ich. Ralf und Rolf sind sichtlich erleichtert. Dass mein Arbeitseifer sie nervt, ist nicht zu übersehen. Ich kenne ihre Perspektive nur allzu gut. Mich machte es früher immer nervös, wenn ich Markus Meirich dabei beobachten musste, wie er sich voller Verve in die polizeiliche Arbeit stürzte. Nun können Ralf und Rolf in Ruhe ihren Spätdienst ohne meine Geschäftigkeit schieben.
«Ach ja … äh», räuspere ich mich, schiebe zum Abschied meinen beiden Kollegen einen Zettel zu und sage: «Ihr seid auch eingeladen. Ist ein runder.»
«Aha», sagt einer der Ralf und Rolfs, und der andere ergänzt: «Da freuen wir uns. Ist ja schon in drei Wochen, supi. Da können wir doch, oder Ralf?»
«Ja, Rolf», antwortet Ralf.
Im Hinausgehen frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich nur einen der beiden eingeladen hätte.
Zehn Minuten später, als ich meinen geleasten, mindestens so gehobenen wie sportlichen Mittelklassewagen starte – nach jahrzehntelanger Gebrauchtwagenkombifamilienkutschen-Ära war nun endlich mal Zeit für etwas Würdevolleres, ja Männlicheres –, nimmt mein Arbeitstag dann urplötzlich doch noch Fahrt auf.
Ich möchte gerade, assistiert von meiner Mega-Full-Super-HD-Rückfahrkamera, den Parkplatz verlassen, da erkenne ich durch den automatisch abblendbaren High-End-Rückspiegel, wie Rolf und Ralf für ihre Verhältnisse zügig die Polizeistation verlassen und zielstrebig auf einen Dienstwagen zusteuern.
Rasch parke ich mein Auto wieder ein, schäle mich vom Fahrersitz, renne los und springe mit ausgebreiteten Armen vor Ralf und Rolfs Kühlerhaube.
«Was soll denn die Scheiße jetzt?», brüllt Ralf oder Rolf durch das geöffnete Beifahrerfenster.
«Was ist los? Wo fahrt ihr hin? Ich will mit.»
«Du hast keinen Dienst. Wir machen das.»
«Ich will mit. Punkt.»
Und so fahre ich mit. Nach Mücke. Zu diesem irrsinnig erfolgreichen Coaching-und-Beratungs-Institut, über das in den letzten Jahren immer wieder was in der Zeitung stand.
Ein 41-jähriger Mann, berichtet Rolf, tot aufgefunden im firmeneigenen Swimmingpool.
Na also. Das klingt doch mal nach einem richtigen Fall.
Wir sind in der Region Oberhessen und erst recht im Vogelsberg mit so einigen wunderschönen Ortsnamen gesegnet. Mücke gehört ganz sicherlich dazu. Genau wie: Bösgesäß, Busenborn, Büßfeld, Schlechtenwegen, Stumpertenrod, Kaulstoß, Metzlos-Gehaag, Preußisch Radmühl oder Wünschen-Moos.
Nun also ab nach Mücke.
Immer noch leicht angesäuert, weil der blöde Bröhmann mit im Auto sitzt, berichtet einer der beiden Ralfs und Rolfs über den Stand der Dinge: «Der Tote im Wasser war einer der beiden Inhaber dieses ‹Instituts›.»
Beim Wort «Institut» macht er tatsächlich affige Anführungszeichen in die Luft.
«Ist das nicht so ein Gehirnwäsche-Kram da?», fragt Rolf.
«Quatsch», antworte ich. «Das ist so ein Motivationsdingsbums. Die arbeiten, glaube ich, viel mit Firmen aus dem Rhein-Main-Gebiet.»
Ralf schnaubt verächtlich durch die Nase.
«Täte euch eigentlich auch mal gut», sage ich.
«Was?»
«Na, Motivation.»
«Tsss», machen beide, und schon sind wir da.
Wir fahren am Ortsrand von Mücke bei einem topsanierten Altbau mit geschmackvoll angelegtem Außenbereich vor. Die Größe des Anwesens macht ziemlich Eindruck auf mich. Der Rasen ist gepflegt, der Weg vom Parkplatz zum Eingang verläuft kurvig und ist von neckischen Steinarrangements umgeben. Ein Springbrunnen plätschert etwas albern zur Begrüßung, und eine lebensgroße Figur aus Holz umarmt mit festem Griff eine andere. Daneben steht eine Schiefertafel mit der Aufschrift: «Berühren und Führen.» Aha.
In zügigem Tempo, fast schon im Laufschritt, steuere ich den abgesperrten Eingangsbereich an, an dem die beiden Kollegen von der Streife uns schon erwarten.
«Bröhmann, mach doch mal langsam», meckern einige Meter hinter mir Ralf und Rolf. «Du hast doch echt einen Knall. Rennst hier wie ein Bekloppter.»
Ja, einen Knall habe ich wirklich, stimmt, doch bekloppt bin ich nicht.
«Oooh, die Herren von der Kripo kommen gleich in dreifacher Stärke», begrüßt uns Nobby oder besser Norbert von der Streife.
Nobby kenne ich schon seit Jahrzehnten. Er ist ein verlässlicher Beamter, aber auch ein unfassbarer Schwätzer. Seine jeweiligen Partner können ein Lied davon singen, wenn sie die eine oder andere Stunde oder, noch schlimmer, ganze Nächte neben ihm im Auto verbringen müssen.
«Da kommt ja das Dreigestirn aus Alsfeld», singt er uns zu. «Tadamm … die Troika der Kriminalpolizei, die Trinität …»
«Guten Abend, Norbert», falle ich ihm ins Wort. «Was ist …»
«Die Trinität der Osthessen-Polizei», labert er unbeirrt weiter.
Ich begrüße seine zu bedauernde Kollegin Maja, eine hier im Vogelsberg aufgewachsene junge Frau, die sich, wie ich weiß, gelegentlich mit Melina über ihre jeweiligen Erfahrungen im Polizeidienst austauscht. Ich werfe ihr einen mitfühlenden Blick zu, während Nobby unbeeindruckt weiter auf Ralf und Rolf einredet.
«Da ist sie also, die heilige Dreifaltigkeit des Vogelsberger Polizeilebens», quakt er. «So nach dem Motto: Aller guten Dinge sind drei, was?» Dann singt er: «Mein Hut, der hat drei Bullen.»
«Ach, halt doch einfach mal ’s Maul», rutscht es dem ohnehin schlecht gelaunten Rolf heraus.
Maja freut sich sichtbar über diesen kleinen Ausbruch und unterrichtet uns dann über die Fakten.
«Der Verstorbene heißt Philipp Cuntz, ist 41 Jahre alt und einer der beiden Inhaber dieses Dings hier. Aufgefunden hat ihn sein Kompagnon Dennis Frinkenberg. Der hat dann auch den Notarzt verständigt, nachdem er zuvor die Leiche aus dem Wasser gezogen und wiederzubeleben versucht hatte.»
«Ob Fremdverschulden oder nicht, sagt euch dann das Licht.» Nobby hat mal wieder einen Lauf. «Das ist dann ja mal euer Job, das rauszufinden …»
«Richtig», sage ich.
«Genug Leute dafür seid ihr ja.» Dann lacht er laut, bleibt allerdings damit alleine. «Aber, wenn ihr mich fragt, dann …»
«Tun wir das, Ralf?», fragt darauf Rolf.
«Nein, Rolf», antwortet Ralf.
Nun lachen alle außer Nobby.
«Ach ja, der Arzt ist auch gerade gekommen», gibt uns Maja noch mit auf den Weg, ehe wir alle drei in schicke weiße sexy Ganzkörperplastikanzüge schlüpfen und den Tatort betreten.
«Guten Tag, Herr Frinkenberg. Mein Name ist Henning Bröhmann, ich bin der ermittelnde Kommissar, und das sind meine Kollegen Ralf Bruck…»
«ROLF Bruckmann», korrigiert mich Rolf.
«Richtig … und Ralf Mintzlaff.»
Dennis Frinkenberg reicht uns die Hand und blickt uns mit klarem, offenem Blick an.
«Dennis», sagt er, dann schiebt er ein «Frinkenberg» noch hinterher. «Sorry, ich bin etwas durcheinander. Normalerweise duzen wir uns hier immer alle. Aber das hier alles ist natürlich etwas ganz anderes.» Er deutet auf den abgesperrten Swimmingpool und die Liege, auf der der abgedeckte Leichnam seines verstorbenen Kompagnons Philipp Cuntz liegt.
Frinkenberg, Ende dreißig, groß gewachsen, sportlich, mit ausgeprägt trainierten Oberarmen, trägt einen dieser modernen Jungmännervollbärte, die sich viel länger als trendig erwiesen, als ich es jemals vermutet hätte. Sein Haar ist kurz, ein ganz bisschen geheimratseckig, seine Gesichtszüge sind markant, und sein stechender Blick hinter hellblauen Augen hat etwas Einnehmendes.
«Es tut uns sehr leid um Ihren Kollegen, und trotzdem würden wir gerne …»
«Allesgutallesgut, aber: Phil war kein Kollege», unterbricht uns Frinkenberg, lächelt eine Weile, blickt in die Ferne und flüstert kaum hörbar: «Er war ein Freund. Ein Bruder.» Dabei drückt er beide Hände für meinen Geschmack etwas zu pathetisch an die Brust.
«Wir würden trotzdem schon jetzt gerne ein paar Fragen an Sie stellen. Ist das in Ordnung?», frage ich vorsichtig.
«Alles gut, ja, selbstverständlich», antwortet Frinkenberg.
Ralf, Rolf und ich lassen uns noch einmal detailliert erzählen, wie er Philipp Cuntz im Becken gefunden habe, dass er ihn danach an den Beckenrand gezogen und alles versucht habe, um ihn wiederzubeleben.
«Eigentlich war Phil so in seiner Kraft, aber er wollte einfach nicht auf die Signale seines Körpers hören.» Wieder lächelt Frinkenberg, was mich nun doch irritiert.
«Wie meinen Sie das?», fragt Rolf.
«Ich hab das schon dem Arzt gerade gesagt. Phil hatte massive Probleme mit seiner Herzklappe. Er sollte sich seit einem Jahr sehr schonen, auf sich aufpassen, sich zurücknehmen. Doch er brannte für all das so sehr, dass er seine Grenzen missachtet hat. BÄNG!»
Bei «BÄNG» streckt er seine Faust so zackig in die Luft, dass ich zusammenzucke.
«Phil war immer BÄNG», fügt Frinkenberg hinzu. Ralf und Rolf blicken sich etwas irritiert an.
Ich schiele mit einem Auge zu dem Notarzt, der mit den Formularen in der Luft herumwedelt und offenbar los möchte.
«Für den Moment reicht das, Herr Frinkenberg», sage ich. «Vielen Dank, wir kommen demnächst wieder auf Sie zu. Bis dahin, viel Kraft für das, was Sie nun zu organisieren haben.»
Wieder lächelt Frinkenberg. «Danke, ja, allesgutallesgut, ist kein Problem. Auch in der Trauer liegt Kraft. Auch da spüre ich Philipps BÄNG.»
Diesmal muss ich seiner Faust fast ausweichen. Ich stecke ihm noch eine Visitenkarte zu, reiche ihm meine Hand, die er zur Verabschiedung mit beiden Händen umfasst. «Du bist ein guter Typ», sagt er leise.
«Entweder hat der einen Schock oder eine Vollmeise», sagt Ralf.
«Oder beides», sagt Rolf.
Ich sage nichts und denke stattdessen darüber nach, ob ich tatsächlich so was wie ein guter Typ bin.
Der Arzt, der den Tod des Toten offiziell festzustellen hatte, gibt uns in kurzen präzisen Worten zu verstehen, dass er keine Aussage darüber treffen könne, ob es eventuell Fremdeinwirkung gegeben haben könnte und, wenn ja, in welcher Form. Auch die genaue Todesursache müsse von der Gerichtsmedizin abgeklärt werden. Dann ist er auch schon weg.
«Auch wenn es der Herr Bröhmann sicher gerne anders hätte, hier riecht es ja wohl eindeutig ebenfalls nach einem natürlichen Tod», sagt Rolf und grinst.
Ich ignoriere die Spitze und betrachte stumm den Toten. Dann sage ich: «Solange Fremdeinwirkung nicht hundertprozentig ausgeschlossen ist, riecht es hier nach gar nichts. «
Ralf verdreht die Augen. «Erstens, Bröhmann, brauchst du dich mal hier nicht so chefmäßig aufzuspielen. Du hast uns gar nichts zu sagen, und zweitens hast du ja sowieso gar kein Dienst mehr. Mal so nebenbei.»
Rolf pflichtet ihm sofort bei. Was auch sonst.
«Schön, dass es euch offenbar so egal ist, warum da einer im Pool landet», blaffe ich die beiden an. Dann lasse ich sie stehen, weil ich mit den beiden Kolleginnen von der Spurensicherung am Beckenrand noch ein paar Worte wechseln möchte, doch da verfängt sich mein Fuß im Hosenbein meines Schutzanzuges. Ich verliere das Gleichgewicht, und wie in einer Didi-Hallervorden-Komödie aus den Siebzigern kippe ich kopfüber ins Wasser.
Eine quälend lange Zeit sind die Kollegen Ralf und Rolf nun schon die einzigen Gäste. Der Fluch der Pünktlichkeit. Wir haben uns neben der Arbeit einfach wenig bis gar nichts zu sagen gehabt. Und auf der Arbeit eigentlich auch nicht.
«Ah, das ist also der Garten», ruft Rolf, der wie Ralf in Anzug und Krawatte erschienen ist, in eine dieser unzähligen zähen Gesprächspausen hinein und zeigt mit dem Finger Richtung Garten.
«Genau», antworte ich. Dann schweigen wir wieder.
«Schade, dass es schon so dunkel ist und man gar nichts sieht», wirft Ralf eine Minute darauf ein.
«Hmm, ja, stimmt, schade», sage ich.
Nach weiteren unangenehmen Sekunden des Schweigens klingelt es endlich, und ich renne erleichtert zu Tür.
Meine Mutter, meine Schwester.
«Alles Gute zu deinem Geburtstag, mein Junge», ruft meine Mutter und fällt mir gleich um den Hals.
«Nein, noch nicht», wehre ich ab. «Erst ab zwölf. Ich feier doch rein, Mutti.»
«Na, ich werde ja wohl am besten wissen, wann du Geburtstag hast», blafft sie mich an. Ich lache und sage: «Eben», doch Mutter hört nicht weiter zu. «Sind wir die Ersten?», ruft sie und stürmt gleich in Richtung Wohnzimmer.
Meine Mutter hat ihr dunkelblaues Mehrzweck-Abendkleid angezogen, das sie seit über zwanzig Jahren zu allen festlichen Anlässen trägt. Ich dachte lange, sie hätte mehrere Exemplare davon, doch es ist wirklich immer das eine. Wie so vieles im Leben sei Kleidung völlig überschätzt, das betont Mutter seit Jahren.
Ulrike begrüßt mich ungewohnt unterkühlt, denn wenn meine Schwester eines nicht ist, dann unterkühlt.
«Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich dich nicht herzlicher begrüße, oder?» Ulrike hat in ihren unzähligen, leider nicht immer gänzlich seriösen Selbsterfahrungs-Workshops gelernt, mit ihren Empfindungen und Gefühlen nicht hinter dem Berg zu halten.
«Passt schon», antworte ich.
«Weißt du, Henny, Ich menstruiere seit heute früh wie eine …»
«Schön jedenfalls, dass du da bist, Ulli», schmettere ich schnell dazwischen.
«… wie eine Schweinin», komplettiert Ulrike unbeirrt.
Ich lasse sie erst mal stehen und suche meine Mutter, die nun fasziniert vor dem DJ steht, und nehme ihr den Mantel ab.
«Den jungen Mann da, den kenne ich noch gar nicht, oder? Ist das ein Freund von Laurin?»
Mit Franziska hat Ulrike einen neuen, deutlich empathischeren Ablageplatz für ihre Menstruationsbeschwerden gefunden. Meine Frau mag Ulrike und trägt seit jeher ihre unterschiedlichen Launen mit Fassung. Ralf und Rolf stehen derweil in der Küche und begutachten mit Händen in den Taschen schweigend, aber bewundernd unseren herkömmlichen, eher unterpreisigen Kaffeevollautomaten, als wäre der ein Formel-1-Wagen.
Nightfighter spielt «Summer of 69», und ich beginne langsam zu bereuen, diesen DJ engagiert und meine blöden Kollegen eingeladen zu haben, zu Hause zu feiern, überhaupt zu feiern, überhaupt Geburtstag zu haben, überhaupt auf die Welt gekommen zu sein. Doch dann schneien innerhalb kürzester Zeit die unterschiedlichsten Gäste auf einmal ins Haus und lockern somit die Gesamtsituation spürbar auf.
Da stört es mich auch nicht mehr, dass der Nightfighter in diesem Moment einen der schlechtesten Songs der Musikgeschichte, «Rock ’n’ Roll over the World» von Status Quo, auflegt.
Nach einer längeren Begrüßungsprozedur fängt mich noch einmal meine Schwester Ulrike ab. «Sorry noch mal, dass ich heute nicht so gut drauf bin.»
Es ist ein typischer Charakterzug von ihr, dass sie ihr persönliches Empfinden in welcher Situation auch immer für das relevanteste hält. Ulrike ist sechs Jahre älter als ich, also satte 56, und eigentlich immer noch auf der Suche. Nach allem. Es gibt wenig, das sie noch nicht ausprobiert hat. Sie hat Islamwissenschaften und Sinologie studiert, danach einen einbeinigen solventen ägyptischen Urologen geheiratet, die baldige Scheidung sich gut ausbezahlen lassen, eine Heilpraktikerausbildung mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin absolviert, sich zur ayurvedischen Ernährungsberaterin, Chakra-Heilerin und Klangschalen-Designerin ausbilden lassen und schlussendlich eine Lehre als Maurerin abgebrochen.
Aktuell malt sie kubistische Kühe und möchte mittelfristig davon leben. Sie ist eine imposante Erscheinung, mit eins siebenundachtzig sogar zwei Zentimeter größer als ich, was mich in der Pubertät durchaus belastet hat. Mit den Männern läuft es, soweit ich auf dem neusten Stand bin, weiterhin nicht richtig rund. Ein Lebensthema. Dass sie vor einigen Jahren einmal ganz kurz mit Manni Kreutzer liiert war, habe ich erstens nicht ernst genommen und zweitens verdrängt. Aktuell lebt sie in Weimar. In der Stadt der Kunst und der Genies, wie sie sagt. Das inspiriere sie, da gehöre sie hin.
«Na, Henny-Boy», ruft sie plötzlich. «Macht das was mit dir?»
«Was meinst du?»
Nebenbei bemerkt: Den Spitznamen Henny mag ich nicht. Und Henny-Boy hasse ich. So etwas ignoriert Ulrike allerdings gerne. Und das seit bald fünfzig Jahren.
«Na, nun auch in den Club der Fünfziger aufgenommen zu werden.»
«Och, das sehe ich gelassen», lüge ich. «Wie isses bei Mutter?»
«Du weißt ja, ich kann mich gut zurücknehmen, daher kommen wir klar.» Meine Schwester ist und bleibt eine Meisterin der fatalen Fehlselbsteinschätzung. Ulrike kann vieles, doch sich zurücknehmen, das kann sie ganz bestimmt nicht.
Die Musik ist mir zu laut und zu Achtziger. Ich muss dringend mit DJ Nightfighter ein ernstes Wort reden. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Chilliger, loungiger.
«Ich habe das Gefühl, sie baut gerade ganz schön ab», fährt Ulrike fort.
«Das sagst du jedes Mal», erwidere ich. «Sie wird halt nicht jünger.»