
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019
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Redaktion Heike Brillmann-Ede
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Coverabbildung «Am Strand von Skagen», 1891, Sotheby's/akg-images
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ISBN 978-3-644-40669-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40669-8
Für Hella
Eigentlich konnte Asta Marie nicht leiden. Aber sie fühlte sich gezwungen, sie zu lieben, denn sonst hätte sie ihre Arbeit nicht ausführen können. Nicht so, wie sie es tun musste. Sie fand Marie eigensinnig und verwöhnt, und sie neidete ihr das ganze Leben, das Marie hatte.
Astas Mutter war viele Jahrzehnte lang Haushälterin bei Maries Eltern gewesen, dem Webereidirektor Wilhelm Triepke und seiner Frau Minna. Dann aber war in der Küche der Herd explodiert, und die Haushälterin hatte so schwere Brandwunden davongetragen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Zum Glück hatten die Triepkes ein schlechtes Gewissen, sodass sie die sechzehnjährige Asta fortan zur Gesellschafterin ihrer gleichaltrigen Tochter gemacht hatten. Das war nicht nur großherzig, das war in erster Linie von Vorteil für die Triepkes selbst gewesen, denn Marie hatte keine Freunde. Die jungen Mädchen, die ihre Mutter für sie manchmal eingeladen hatte, die Töchter von Bekannten, fand Marie langweilig, weil sie sich nicht für das Malen interessierten.
Asta war außerdem der Ansicht, dass sie einfach zu schön für Freunde war, während Marie beteuerte, keine Freunde zu brauchen und auch keine zu vermissen. Asta jedenfalls würde sich niemals freiwillig mit einer schönen Frau befreunden. Himmel, was das für neidische Gefühle in ihr auslösen würde! Sie wusste selbst, dass sie weder schön war noch begabt oder klug. Und an Maries Seite fühlte sie sich hässlich, linkisch und schrecklich dumm, aber sie wurde dafür bezahlt, sich um Marie zu kümmern. Auch dafür, um mit Maries Eigenheiten klarzukommen – Eigenheiten, die sich nur schöne und reiche Mädchen leisten konnten.
Während Asta von einer Heirat und Kindern und vielleicht, wenn sie ganz viel Glück hatte, auch von einem eigenen Haus träumte, wollte Marie malen. Ja, Marie wollte Malerin werden!
Dabei war die Malerei eine brotlose Kunst, das wusste doch jeder. Reiche Fräuleins malten, um sich die Zeit bis zur Ehe zu vertreiben und um danach ein angesehenes Hobby zu pflegen, aber genau das wollte Marie nicht. Marie meinte es ernst. Sie wollte malen und von ihrer Kunst leben.
Nie hatte Asta etwas ähnlich Unsinniges gehört!
«Warum willst du in einem dreckigen Kittel vor einer wackeligen Staffelei stehen und Farbe aufs Holz schmieren, während du in einem schönen Salon sitzen und am Abend Empfänge geben kannst?», hatte Asta sie mehr als einmal gefragt, doch keine ihrer Antworten hatte sie befriedigen können.
Auch jetzt sah Marie sie nur mit ihren großen blauen Augen an, rümpfte das zierliche Näschen und pustete sich eine Strähne ihres wunderschön gelockten Haares aus der Stirn. «Es ist das, was mir am meisten Spaß macht», antwortete sie und betrachtete Astas Gesicht so intensiv, dass es Asta ganz heiß wurde und sie das Gefühl hatte, Marie würde jede Pore in ihrem Gesicht kennen.
Dann wandte sich Marie dem großen Skizzenblatt zu und zeichnete Astas Gesicht, ohne sie noch einmal anzusehen. Das Licht fiel von links auf das Papier, während der Wind die hellblauen Vorhänge zu luftigen Wolken bauschte. Hinter der Staffelei stand Maries Bett mit der himmelblauen Decke, und in einer Ecke saß noch immer der Steiff-Teddybär mit den Knopfaugen und dem Namen Brummel. Der Vater hatte ihn einmal aus Deutschland für sie mitgebracht, und Asta hätte wetten können, dass er der Erste war, dem Marie erzählt hatte, sie wollte Malerin werden. Unter dem Fenster, im rechten Winkel zur Staffelei, befand sich der Schreibtisch, übersät mit Graphit- und Buntstiften. In Maries Rücken stand ein polierter Holzschrank, in dem ihre Kleider hingen, daneben ein Regal mit Büchern und all den Kunstbänden, die Marie schon so oft gelesen hatte. Ganz abgegriffen sahen die Einbände aus, und in dem Band über die Maler der Renaissance waren viele Blätter eingeknickt und markierten so besondere Bilder, die in den Uffizien in Florenz hingen und die sich Marie für ihr Leben gern einmal anschauen wollte. Der Boden war mit einem roten Läufer belegt, und auch dessen Muster hatte Marie schon abgezeichnet.
Asta schüttelte unmerklich den Kopf, dann blickte sie aus dem Fenster im ersten Stock der Villa. Unten im Garten beschnitt ein Gärtner die Rosenbüsche, und das Hausmädchen trug einen großen Korb mit Wäsche zur Bleichwiese. Asta beobachtete durch das geschlossene Fenster, wie sie der Gärtner anlächelte. Ein Fuhrwerk rumpelte vor den Dienstboteneingang, und eine Männerstimme rief so laut, dass selbst Asta ihn hören konnte: «Hey, ich bringe Holz. Wo soll ich hin damit?»
Direkt vor dem Fenster streckten sich die Äste eines Lindenbaumes. Eine Elster saß dort und plusterte ihr Gefieder auf. Und aus dem Salon drang das leise Klavierspiel von Minna Triepke in den ersten Stock.
Im Hause Triepke war man den schönen Künsten innig zugeneigt. Es gab eine ganze Bibliothek, in der Marie sich oft die Kunstbände anschaute, während Asta sich lieber mit den Romanen vergnügte. Maries Mutter war Mitglied eines Lesekreises, und selbstverständlich hatten die Herrschaften ein Abonnement für die Oper. Und Asta hatte mit Marie schon häufig Theatervorstellungen besuchen dürfen. Außerdem liebten beide Mädchen die Märchen von Hans Christian Andersen. Sobald Marie in dem schön illustrierten Märchenbuch las, wurden die Bilder in ihrem Kopf lebendig – das hatte sie Asta schon oft beschrieben, während in Asta selbst die Bilder einfach nur Bilder blieben. Marie lebte und litt mit den Märchenfiguren, sie weinte und lachte mit ihnen, während in Asta keine so großen Gefühle geweckt wurden. Einzig Das Mädchen mit den Schwefelhölzern trieb auch Asta die Tränen in die Augen. Marie fertigte Zeichnungen zu den Märchen an, und eine vom Schwefelholzmädchen gefiel Asta so gut, dass sie sich diese für ihr Zimmer erbat.
Das Hausmädchen schlug den Essensgong, und gleich darauf saß die Familie Triepke samt Asta am Abendbrottisch. Heute war Montag, und die Triepkes erwarteten weder Besuch noch gingen sie aus. Es gab eine leichte Rindersuppe mit Grießklößchen darin, die Asta sehr mochte. Danach servierte das Hausmädchen einen gekochten Tafelspitz, dazu Kartoffeln und Bohnengemüse. Bei Asta zu Hause hatte es nur einmal in der Woche Fleisch gegeben, hier, bei Triepkes, gab es das jeden Abend. Die Triepkes tranken Wein dazu, der rot wie Blut in den geschliffenen Gläsern funkelte. Für Marie und Asta hatte die Köchin eine Minzlimonade zubereitet.
Die Gespräche bei Tisch waren ewig dieselben. Minna Triepke fragte ihren Mann nach seinem Tag, und wenn er dann aus der Weberei berichtete, hörte sie kaum zu. Sie ließ ihren Blick durch das Esszimmer wandern, immer auf der Suche nach Dingen, die es zu verbessern galt. Und kaum war ihr Mann fertig mit seinem Bericht, sprach Minna: «Die Holmstedts haben jetzt einen neuen Kamin im Speisezimmer. Ganz aus Marmor. Aus Italien haben sie sich den kommen lassen. Sehr elegant. Ich überlege, ob sich so ein Marmorkamin auch bei uns gut machen würde. Wir haben zwar die schöne Holzverkleidung, aber in Mode ist das nicht mehr.» Und dann brachte das Hausmädchen den Nachtisch. Asta mochte den Pudding am meisten, aber heute gab es eingemachte Birnen, an denen noch ein paar Nelken hingen.
«Die Nelken sehen aus wie kleine Bäume, nicht wahr?», fragte Marie, und Asta nickte, obgleich für sie Nelken nun einmal wie Nelken aussahen.
Nachdem das Essen beendet war, räumte das Hausmädchen das Geschirr ab und versprach, den Kaffee sogleich zu servieren. Asta verschränkte die Hände im Schoß und versuchte, nicht gelangweilt zu wirken, während Herr und Frau Triepke sich weiter über den Marmorkamin unterhielten und Marie hingebungsvoll das Lichtspiel der Kerzen an der Wand betrachtete.
Dabei dachte Asta an den Abend vor zwei Jahren zurück. Es war ihr erster Abend als Maries Gesellschafterin gewesen, und sie saß mit ihr und den Eltern genau wie jetzt an diesem Esstisch. Kurz zuvor hatte die Frau Webereidirektor ihr erklärt, dass man sie im Hause ab sofort «Asta» nennen würde, denn es ging wohl schlecht an, dass die Gesellschafterin denselben Namen trug wie die Hausherrin, nämlich Minna. Asta wollte sich weigern. Sie fand, Asta sei ein Name für Katzen, aber was konnte sie schon ausrichten? Die Mutter lag halb verbrannt zu Hause, brauchte Medikamente, welche die Triepkes zahlten. Also ließ sie sich Asta nennen, hasste den Namen aber vom ersten Augenblick an. Erst viele Jahre später erfuhr sie, dass Asta «schöne Göttin» bedeutete. Das hatte Minna Triepke bestimmt nicht gewusst, denn dann hätte sie wahrscheinlich Wilma oder Agnes geheißen.
Marie hatte sie strahlend bei der Hand genommen. «Endlich habe ich eine Schwester!», hatte sie ausgerufen und war sofort von ihrer Mutter zurechtgewiesen worden: «Marie, Asta ist nicht deine Schwester. Sie ist deine Gesellschafterin. Das ist ein gewaltiger Unterschied, den du niemals vergessen darfst.» Marie war errötet und hatte den Rest des Abends geschwiegen, und Asta hatte sich innerlich plötzlich ganz klein gefühlt.
Astas Mutter aber hatte Freudentränen in den Augen gehabt, als Minna Triepke sie zu Hause besucht und ihr das Angebot für ihre Tochter unterbreitet hatte. «Asta, meine liebe Frau Hansen, wird eine gute Ausbildung bekommen. Dieselbe wie Marie. Sie wird immer in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Ich glaube, mehr kann man ihr nicht wünschen.» Dabei hatte sie Asta von oben bis unten betrachtet wie etwas, das die Katze über Nacht mit nach Hause geschleppt hatte, und dann geseufzt. «Und auch für Sie, meine liebe, gute Frau Hansen, wird immer gesorgt sein.»
Dann hatte sie die Rechnung des Arztes, die mitten auf dem Tisch lag, mit spitzen Fingern gegriffen und in ihrem feinen, gestickten Beutel verstaut.
Und kurz darauf hatte Asta an dem langen Kirschholztisch gesessen, der unter einer riesigen, gestärkten weißen Tischdecke verborgen war, und nicht gewusst, mit welcher der drei Gabeln die Vorspeise zu meistern war.
«Das Besteck wird immer von außen nach innen benutzt», hatte Marie ihr zugeflüstert und gelächelt, und Asta nahm ihr übel, dass Marie das wusste und sie nicht.
Da seufzte auch schon Minna Triepke, legte ihr Messer auf einem silbernen Messerbänkchen ab und tupfte sich die Mundwinkel mit der Damastserviette. «Du wirst noch viel lernen müssen, Asta», erklärte sie, dann wandte sie sich an ihren Mann. «Wilhelm, mein Lieber, unsere Tochter möchte auf die Kunstakademiets Kunstskole for Kvinder, aber die nehmen keine Mädchen auf. Sag du ihr, dass sie sich diese Malerei aus dem Kopf schlagen soll.»
Wilhelm Triepke schaute auf. Sein Blick streifte die hohen Fenster, die von grünsamtenen Vorhängen umrahmt waren, glitt zum Kamin und von dort zu den gelben Sofas, die zwischen den Fenstern platziert waren. Er musste den Kopf ein wenig schief legen, um seiner Frau über die silbernen Leuchter und den üppigen Blumenstrauß hinweg, die mitten auf dem Tisch standen, ins Gesicht sehen zu können. «Ein nettes Steckenpferd für eine junge Frau. Warum nicht?»
«Kein Steckenpferd. Ein Beruf», widersprach Marie.
«Die Frauen, die wir kennen, haben keine Berufe. Sie müssen nicht arbeiten und können gottfroh darüber sein. Doch es gereicht einem Mann durchaus zur Zierde, wenn seine Ehefrau liebliche Blumenbilder zu zeichnen vermag», stellte Wilhelm Triepke klar.
«Ich will keine Blumenbilder malen, sondern Menschen und Landschaften. Große Gemälde auf großen Leinwänden, die in Museen und Ausstellungen hängen, die Preise und Stipendien bekommen werden», beharrte Marie trotzig.
Der Vater hob den rechten Zeigefinger und blickte Marie über den Rand seines Monokels streng an. «Vergiss nicht, was Pfarrer Holm letzten Sonntag von der Kanzel gepredigt hat: ‹Die Frauen haben eine große Schuld gegen den Mann abzutragen. Durch sie ist die Sünde in die Welt gekommen. Deshalb ist es die erste Pflicht einer jeden erwachsenen Frau, dass sie dem Mann das Paradies wieder erschafft. Sie tut es, indem sie eine schöne behagliche Wohnstätte herrichtet, in der der Mann Ruhe und Frieden findet.›»
«Aber das ist nichts für mich, Papa. Ich werde Malerin! Mit eigenem Atelier und eigenem Geld. Einen Mann brauche ich nicht dazu. Und ich habe auch keinem Mann etwas getan.»
Jetzt zeigte der Vater ein nachsichtiges, kleines Lächeln und kniff Marie zärtlich in die Wange. «Male du nur vorerst, wenn du es denn unbedingt willst. Alles andere findet sich. Du wirst irgendwann von ganz alleine heiraten und Kinder bekommen wollen.»
Er legte die Zeitung zusammen und erhob sich. Dann schaute er seine Frau über den Tisch hinweg an und sagte: «Liebes, sieh doch zu, ob du nicht jemanden findest, der ihr ein wenig Unterricht geben kann. Eine Zeichenlehrerin, die sonst nichts vom Leben hat, vielleicht.»
Minna nickte. «Wir werden sehen.» Sie spitzte das Mündchen und betrachtete Marie wie etwas, das sich nie und niemals ihren Wünschen beugen würde.
Dann überlegte Wilhelm Triepke kurz und schlug vor: «Wir könnten ihr privaten Unterricht erteilen lassen, wenn sie es will. Es gibt genug private Zeichenschulen in Kopenhagen.»
Minna Triepke spitzte das schmale Mündchen noch stärker, so, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas nicht passte. «Meinst du wirklich, mein Lieber, wir sollten sie darin noch unterstützen? Die Malerei, nun, wie soll ich sagen, sie birgt gewisse Gefahren für ein junges Mädchen aus gutem Hause.»
In Asta stieg ein Kichern auf, doch sie schluckte es weg. Sie war nicht so dumm, wie Madame Triepke meinte. Während Marie unschuldig wie ein Osterlamm schaute, ahnte Asta schon, dass die Frau Webereidirektor dabei an Nacktmodelle und sittenlose junge Künstler dachte.
«Nun, Zeichenunterricht, meine liebe Minna, ist eine weitaus weniger lärmende Angelegenheit als Klavier- oder Gesangsstunden. Von mir aus kann Marie von morgens bis abends zeichnen. Mit ihrem zukünftigen Mann wird sie sich dann arrangieren müssen.»
«Ich will mich aber nicht mit einem Ehemann arrangieren, ich will Malerin werden», warf Marie erneut trotzig ein, doch der Vater winkte ab.
«Jaja, mein Kind, wir haben dich gehört.»
«Also gut, Wilhelm! Dann soll Marie Zeichenunterricht bekommen. Aber Asta geht mit. Zu jeder einzelnen Stunde», sprach Frau Triepke und seufzte.
Als der Vater das Esszimmer verlassen hatte, um sich von seinem Kutscher in die Kopenhagener Weberei fahren zu lassen, blickte die Mutter zu Marie. «Und? Bist du jetzt zufrieden?»
Ich wäre es, dachte Asta, aber Marie schüttelte den Kopf. «Ich möchte keine Zeichenlehrerin, ‹die sonst nichts vom Leben hat›. Ich möchte als Malerin arbeiten und mein eigenes Geld verdienen. Es gibt durchaus Frauen, die arbeiten. Frida, die Köchin, Senta, die Wäscherin. Es gibt Lehrerinnen und Gouvernanten, Putzmacherinnen und Schneiderinnen.»
Minna Triepke seufzte. «Da hast du recht, Marie, aber diese Frauen sind arm. Entweder verdienen ihre Männer so wenig Geld, dass sie arbeiten müssen, oder sie haben gar keine Männer. Froh kannst du sein, dass es bei uns anders ist.»
Marie hätte der Mutter gern widersprochen, das konnte Asta an ihrem Gesicht ablesen, doch sie schien zu wissen, dass es sinnlos war.
Bei Triepkes verlief das Leben nach festen Regeln. Jeder wusste, was zu tun war und was von ihm erwartet wurde. Das hatte auch Asta verstanden.
Marie und sie würden in zwei Jahren die Höhere Töchterschule abschließen. Marie sollte lernen, wie man einen Haushalt führte, wie man die Dienstboten unterwies, ein Heim gemütlich gestaltete, wie man auf Französisch parlierte und feine Stickereien anfertigte. Asta sollte einmal als Hauslehrerin arbeiten können, so hatte es Minna Triepke erklärt. Und Asta strengte sich an in der Töchterschule, die von der Lehrerin Fräulein Dippel auch «Brautschule» genannt wurde. Marie hingegen tat, als würden sie die gelehrten Dinge allesamt nichts angehen, und Asta hatte ihre liebe Not, darauf zu achten, dass Marie lernte. Auch das gehörte zu ihren Aufgaben.
Nun hockte Asta auf ihrem Schemel in der Malschule und dachte wie am Abend zuvor am Esstisch der Triepkes über Marie nach, dachte an diesen Abend zurück, als Marie für ihre Malerei gekämpft hatte. Inzwischen besuchte sie zweimal in der Woche eine private Zeichenklasse – und Asta saß still in der Ecke und beobachtete, was die reichen Schülerinnen taten.
Heute führte der Lehrer Carl Thomsen seine Klasse nach draußen, um den Schülerinnen die verschiedenen Farben des Himmels zu erklären. Als Asta allein im Atelier war, nahm sie sich ein paar Blätter des grobkörnigen Skizzenpapiers aus dem Materialschrank, zwei Graphitstifte und ein Stück vom Radierer. Dann stellte sie sich ans offene Fenster, um zu hören, was Carl Thomsen zu seiner Klasse sagte.
«Zeichnen ist sehen», erklärte der Lehrer und forderte seine Schülerinnen auf, die Farben des Himmels zu benennen.
Stina Dörk, die etwas dickliche Tochter des bekannten Kopenhagener Notars Dörk, zuckte mit den Schultern. «Grau ist der Himmel. Was denn sonst?»
Thomsen nickte und sah die anderen jungen Damen an. Marie stand etwas abseits. Sie trug ein hellgelbes, knöchellanges Kleid, das unter der Brust leicht gerafft war, dazu hellbraune leichte Spangenschuhe aus Leder und einen Hut in der Farbe ihres Kleides. Auch die Handschuhe waren von hellem Gelb. Asta beobachtete, wie sie in den Himmel hinaufblickte, als wollte sie ihn auswendig lernen.
Lone Rasmussen meldete sich. «Es sind verschiedene Grautöne. Hell und dunkel und mittel.»
«Sehr gut», meinte Thomsen und schaute Marie Triepke an. «Nun, Marie, was siehst du?»
Asta hörte, wie Marie sagte: «Die Wolkenränder sind rosa, dazu kommt ein bisschen Gelb.» Und Asta ergänzte in Gedanken: … und ein wenig Lila und an einigen wenigen Stellen schimmert es grün.
«Bravo!» Carl Thomsen klatschte in die Hände. «Zeichnen ist sehen, denkt stets daran, meine Damen. Und nun schaut bitte noch einmal genau hin, vielleicht entdeckt ihr anderen auch das Rosa und Gelb und weitere Farben.»
Gelangweilt kehrte Asta zu ihrem Schemel zurück. Sie verstand nicht, wie die anderen da unten nur Grau sehen konnten. Lone und Stina würden als Malerinnen sicher niemals eine Zierde ihrer Ehemänner werden, das erkannte sie bereits an den Wolkenskizzen, die sie zu Papier gebracht hatten. Runde Gebilde waren das – mit Schafslöckchen! So malten Kinder. Kleine Kinder. Dann nahm sie sich noch ein Blatt und noch einen Stift, schob den Schemel ans Fenster und malte, was sie am Himmel sah.
Am Ende der Stunde, als die Schülerinnen längst ins im Klassenzimmer zurückgekehrt waren, trat Asta zu Marie. «Darf ich sehen, was du gezeichnet hast?», fragte sie.
Die Stühle der Schülerinnen standen in einem Halbkreis, eine jede hatte eine eigene Staffelei und dazu ein Tischlein für die Farben, die Palette, das Wasserglas mit den Pinseln und ein Fläschchen Terpentin, mit dem die Farben verdünnt wurden. Sein Geruch hing im ganzen Atelier, drang sogar in die Haare und die Kleider, und Asta bekam Kopfschmerzen davon, während sich Marie keinen schöneren Geruch auf der Welt vorstellen konnte.
«Natürlich!», rief Marie, trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf ihre Staffelei frei. Auf dem grundierten Lindenholz war der Himmel zu sehen. So, wie er war.
Asta staunte. «Das ist gut», sagte sie. «Du bist die Beste in der Klasse.»
Das hatte zwar Carl Thomsen auch schon gesagt, doch Asta hatte seiner Meinung kein Gewicht beigemessen, denn schließlich zahlten die Eltern eine Menge Geld für diesen Unterricht. Wahrscheinlich hatte er bereits jeder seiner Schülerinnen gesagt, dass sie die Beste wäre.
Marie schüttelte den Kopf. «In meinen Gedanken sehe ich die fertigen Bilder, aber noch gelingt es mir nicht, das, was ich sehe, genau so zu zeichnen.»
In diesem Augenblick fasste Asta einen Entschluss. Auch sie würde zeichnen und malen. Und zwar besser als Marie oder wenigstens anders. Sie würde beweisen, dass die Tochter einer Haushälterin nicht weniger begabt war als die Tochter eines Webereidirektors. Sie saß doch sowieso die ganze Zeit mit im Unterricht. Warum sollte sie die Gelegenheit nicht nutzen? Außerdem hatte sie schon so oft abends, wenn sie endlich in ihrem kleinen Zimmer war, Zeichenblätter und Stifte hervorgeholt und geübt. Bislang hatte sie niemandem ihre Zeichnungen gezeigt, aber das würde sich ändern, sobald sie mit ihrer Arbeit zufrieden war.
«Ich will nicht länger Klavier spielen.» Vibeke Weber verzog das Gesicht, und ihre Mutter wartete darauf, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte und die Unterlippe vorschob, wie sie es als kleines Kind getan hatte.
«Du spielst seit zehn Jahren Klavier. Soll das alles umsonst gewesen sein?», fragte die Mutter.
Die sechzehnjährige Vibeke lächelte ein grausames Lächeln. «Mein Klavierspiel hat dir bereits viele Komplimente eingebracht. Also hat es sich doch schon für dich gelohnt.»
Sie spielte damit auf den letzten Winterurlaub auf Schloss Elmau an. Das Schlosshotel war ein bekanntes und eigentlich unbezahlbares Refugium für die Reichen und Schönen dieser Welt. Doch in einem unterschied sich Schloss Elmau von allen anderen Grandhotels: Auf der Elmau reichte es nicht, reich und schön zu sein. Eine zwingende Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufenthalt war eine umfassende Bildung und ein stark ausgeprägter Sinn für die schönen Künste. Es war also keineswegs ungewöhnlich, dass man sich nach den Abendessen im Kaminzimmer einfand und Graf von Storbelwitz ein junges Mädchen mit den Worten «Spielen Sie uns doch eine Etüde von Chopin, meine Liebe» ans Klavier jagte. Und wehe, das Mädchen versagte. In einem solchen Fall konnten sich die Eltern unmöglich wieder auf der Elmau sehen lassen.
Aber Vibeke hatte ihren Part ohne Fehler runtergespielt, den Beifall mit einem eingeübten schüchternen Lächeln quittiert und sich in diesem Augenblick geschworen, sich niemals wieder von ihrer Mutter zum Affen machen zu lassen. Und sie hatte sich an diesen Schwur gehalten. Das war bislang nur noch nicht weiter aufgefallen, weil Frau Hindemith, die junge Klavierlehrerin, sich noch immer das Honorar für die monatlich geleisteten Stunden überweisen ließ und ansonsten schwieg, obschon Vibeke seit einem halben Jahr nicht mehr bei ihr gewesen war.
Doch nun musste Vibeke mit der Sprache herausrücken, weil sie die verbummelten Klavierstunden anders füllen wollte. «Ich möchte Zeichenunterricht nehmen, ich möchte Malerin werden.»
«Ha!», entfuhr es der Mutter, und die Gabel klirrte auf dem Porzellanteller. «Du willst was?»
«Malerin werden.»
«Kommt nicht in Frage», donnerte der Vater.
«Warum nicht?»
«Um Erfolg zu haben, musst du entweder so verrückt sein wie Jonathan Meese oder so begabt wie Neo Rauch. Du bist keins von beiden, Vibeke.»
«Wie bin ich denn?»
«Durchschnittlich. Mittelmäßig. Nicht gänzlich unbegabt, zumindest, was das Klavierspielen betrifft.»
Vibeke empfing diese Einschätzung wie Eiswasser, das sogar die aufsteigenden Tränen erstarren ließ.
«Du bist gemein, Papa», sagte sie leise.
«Ich bin Realist, eines Tages wirst du mir noch danken. Das Schlimmste, was es gibt, sind mittelmäßige Künstler. Sie hadern ihr ganzes Leben lang mit sich selbst, wenn sie ehrlich sind. Sind sie es nicht, hadern sie mit der Welt.»
Er blickte seine Tochter an, und Vibeke hatte ihn noch nie so streng und unnachgiebig erlebt. Herrgott, sie war das einzige Kind. Es war ihr noch immer gelungen, gerade den Vater um den Finger zu wickeln. Sie zog einen Schmollmund und sah ihn von unten her an.
Doch er sprach schon weiter: «Das mag dir jetzt grausam vorkommen, mein Kind, aber irgendwann wirst du verstehen, dass ich dich nur beschützen wollte. Studiere! Irgendwas, es ist mir ganz gleich. Als Betriebswirtschaftlerin winkt dir eine große Karriere. Als einigermaßen begabte Juristin hättest du dein Auskommen. Am liebsten wäre es mir jedoch, wenn du eines Tages die Farbenfabrik weiterführen würdest. Du bist unser einziges Kind. Wer soll es machen, wenn nicht du?»
Vibeke blickte zu ihrer Mutter. In ihren Augen sah sie einen Schmerz, der sie beinahe so verwirrte wie die Unnachgiebigkeit des Vaters. «Mama, jetzt sag du doch auch mal was!»
Die Mutter zuckte mit den Schultern, wich Vibekes Blick aus. «Zeichnen und Malen sind schöne Hobbys», erklärte sie, und Vibeke meinte, in ihrer Stimme ein leises Zittern zu hören.
«Auch ein Hobby sollte gut ausgeübt werden», antwortete Vibeke leise. Sie hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben. «Den Klavierunterricht habe ich ja auch bekommen, obgleich von Anfang an klar war, dass ich niemals Pianistin werden würde.»
«Zeichenunterricht kannst du meinetwegen bekommen, aber du wirst auf keinen Fall Kunst studieren. Das sage ich dir jetzt schon, damit du dir keine unnötigen Hoffnungen machen brauchst. BWL, Management, Jura, Volkswirtschaft. Such dir was aus.»
Der Vater erhob sich vom Frühstückstisch, küsste seiner Frau die Wange, legte kurz eine Hand auf Vibekes Schulter und fragte: «Haben wir uns verstanden?»
Vibeke nickte und sah, dass der Vater nicht sie, sondern die Mutter anblickte. Der Vater verließ den Raum, und wenig später hörten sie, wie er seinen Wagen startete und wegfuhr.
Die Mutter lächelte. Sie wirkte jetzt weniger angespannt, was eigentlich immer so war, wenn sie alleine waren, ohne den Vater. Manchmal hatte Vibeke das Gefühl, ihre Mutter bestünde aus verschiedenen Frauen. Mit dem Vater war sie stolz und elegant. Sie zog Kleider oder Kostüme an, lächelte knapp, wählte ihre Worte mit Bedacht und hielt ihren Rücken so gerade wie einen Stock. War sie mit ihren Freundinnen zusammen, trug sie edle Jeans, weiße Blusen und hohe Schuhe, lachte mit weit nach hinten gelegtem Kopf und offenem Mund. Sie legte den Arm um die Freundinnen, spazierte eingehakt mit ihnen durch die Straßen. Vibeke fand die Mutter mit den Freundinnen schön, mit dem Vater ein wenig kühl. War die Mutter dagegen mit Vibeke allein im Haus, war sie eine dritte Frau – in ausgewaschenen Jeans und Sneakers. Eine junge, fröhliche Frau, die die Treppe hinauflief und zwei Stufen auf einmal nahm, unzählige Ideen hatte, die sie sofort in die Tat umsetzen musste. So liebte sie es, auf dem weitläufigen Grundstück Holz zu sammeln und Vibeke zu fragen: «Was ist das? Was siehst du darin?» Dann betrachtete Vibeke das Holzstück von allen Seiten mit großem Ernst. Einmal hatte sie ein Gespensterschloss darin entdeckt, und die Mutter hatte begeistert genickt. Sie waren in das Zimmer der Mutter gegangen, das sie selbst «mein Atelier» nannte und von dem der Vater liebevoll spottend stets nur als «dem Nähzimmer» sprach. Sie hatten das Holz mit silberner Farbe bemalt, und die Mutter hatte kleine Lichtschnüre auf die Rückseite gezogen, sodass das Stück tatsächlich wie ein Geisterschloss wirkte. Ein anderes Mal hatte die Mutter zu Beginn der Adventszeit einen alten Holzschlitten vom Dachboden geholt und eine Ecke des Esszimmers mit Kunstschnee bedeckt, den Schlitten zwischen zwei kleine Tannenbäume im Topf gestellt, und Vibeke durfte all ihre Kuscheltiere darum gruppieren. Dem Hasen hatte sie eine Möhre in die Hand gedrückt und dem Teddy ihre alten Schlittschuhe angezogen. Und zum Schluss hatte die Mutter für den Stoffhund eine schneebedeckte Hütte aus einem alten Schuhkarton gebaut, vierundzwanzig kleine Päckchen gebastelt und den Schlitten damit beladen.
«Wie findest du ihn?», wollte Marie von Asta wissen. Sie saßen nach dem Abendessen mit der Mutter im Salon, eine jede mit einer Stickarbeit vor sich. Während Asta bereits mit der Hälfte des Blumenbildes fertig war, arbeitete Marie lustlos noch am ersten Motiv, und Asta wartete nur darauf, dass Minna Triepke ihr wieder einmal befahl, die lustlose Arbeit aufzutrennen und neu zu beginnen. Doch Minna Triepke schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen und schenkte Marie keine Beachtung.
Asta wusste genau, wen Marie meinte. Sie schürzte die Lippen und hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Groß war er, der blonde Norweger, mit wildem Haar und Augen, die wie Brenngläser waren. Er war in Carl Thomsens Zeichenschule gekommen, aber nicht, um bei ihm Unterricht zu nehmen, sondern um nach Modellen zu schauen. Der Maler hätte überall Modelle finden können, groß und schön und geheimnisvoll und berühmt, wie er war. Aber das wäre wohl kompliziert geworden, vermutete Asta. Die Liebe der Frauen hätte alles kompliziert gemacht.
Keines der Mädchen in Maries Malklasse war älter als achtzehn. Backfische, die Krøyer viel zu alt fanden. Die verliebten sich, wenn überhaupt, kurz und heftig, weinten eine halbe Stunde dicke Tränen, aber dann war es vorbei. Der Backfische konnte sich der große Norweger erwehren, den richtigen Frauen wohl nicht – Asta hatte ihn genau beobachtet und ihre Schlüsse gezogen. Denn nach dem Unterricht hatte er auf dem Flur gestanden und mit einer jungen, schönen Frau geplaudert, die ihn so offensichtlich anhimmelte, dass Asta sich für sie geschämt hatte. Und Krøyer war regelrecht vor ihr zurückgewichen, und sein Kinn war ganz kantig geworden.
«Wie ich Krøyer finde?», fragte Asta zurück, obgleich sie Marie gut verstanden hatte. Dabei betrachtete sie ihre Stickarbeit, die so unendlich langsam voranging und die sie, wenn sie ehrlich war, hasste. Doch zum Glück interessierte sich in der Villa Triepke niemand für ihre Ehrlichkeit. Es reichte, nur so zu tun, als wäre die Wahrheit eine wichtige Tugend.
Asta blickte auf und nahm wahr, wie Minna Triepke ihre Tochter gespannt musterte. Beim Namen Krøyer war sie aus ihrer Versunkenheit geschreckt. «Nun», antwortete Asta, «er ist sehr groß. Und er kann toll zeichnen.»
Minna Triepke entspannte sich, und Asta lächelte. Maries Mutter hielt sie noch immer für dumm, und Asta war das recht so. Sie hatte kein Interesse daran, erkannt zu werden. Und schon gar nicht von Minna Triepke, die ohnehin keine allzu gute Meinung von ihr hatte.
Marie hatte schon gestern von Peder Severin Krøyer erzählt, und auch da war Minna Triepke ganz Ohr gewesen. Unbefangen hatte Marie seine Größe beschrieben, die Farbe seiner Haare, den durchdringenden Blick der hellen Augen. Doch als sie seine Bilder beschrieben hatte, war sie regelrecht begeistert gewesen. «Sein Himmelsblau ist so … so … so unheimlich blau, das blauste Blau, das ich je gesehen habe. Zu gern würde ich wissen, wie er es anmischt.»
Marie hatte ihn mit dem Malerinnenblick betrachtet. An andere Dinge dachte Marie sowieso nicht. Was sie aber nicht beschrieben hatte, das war seine Präsenz. Krøyer hatte das Atelier betreten, und sogleich war dieser Raum vom Fußboden bis zur Decke von ihm erfüllt gewesen. Seine Stimme drang bis in die letzte Ecke, seine Ausstrahlung brachte den Raum zum Leuchten. Krøyer war berühmt. Nicht nur in Skandinavien, sondern in ganz Europa. Die Zeitungen waren voll von ihm, in den Salons sprach man von keinem anderen. Eine Freundin von Minna Triepke hatte sich sogar ein Bild von ihm in den Salon gehängt, und Minna hatte gar nicht aufhören können, davon zu schwärmen.
Er war der Maler, um dessen Bilder sich alle in Kopenhagen rissen. Er war der Liebling der Bildungsbürger, in seine Ausstellungen drängten sich die Leute.
Asta hatte Minna Triepke gestern genau beobachtet, als Marie von Krøyer erzählte. Es schien ihr, als wäre Minna erschauert, sie war erst blass geworden, dann hatten sich die Wangen rosig verfärbt. Hatte Maries Mutter heimliche Träume?
«Er hat mich ausgesucht», sagte Marie in diesem Augenblick.
«Was hast du da gesagt?» Minna Triepke richtete sich kerzengerade auf und ließ den Stickrahmen sinken.
«Er will mich malen. Ich soll sein Modell sein.»
«Peder Severin Krøyer? DER Krøyer?»
Marie schürzte die Lippen. «Von wem sprechen wir denn die ganze Zeit?»
Minna räusperte sich. «Ich werde dabei sein», sagte sie.
Marie runzelte die Stirn. «Warum nicht Asta? Sie ist doch auch sonst meine stetige Begleiterin. Wirklich, Mama, es wäre mir lieber, wenn du nicht mitkämst. Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr.»
«Nun, in der Zeichenklasse kann dir nicht viel passieren. Aber wenn du Krøyer unbedingt Modell stehen und einfach nicht nachgeben willst, dann musst du dich mit meiner Anwesenheit zufriedengeben!»
Asta sah, wie Minna versuchte, streng zu gucken, doch es misslang, vor allem weil Marie die Schultern zuckte und sagte: «Eigentlich will ich ihm gar nicht Modell sitzen. Ich hasse es, mich nicht bewegen zu dürfen. Außerdem ist es todlangweilig. Ich werde ihm absagen.»
Jetzt meldete sich Asta selbst zu Wort. «Er hat auch gesagt, dass er mich vielleicht malen möchte. Und wenn Marie nicht will …»
«So?» Minna Triepke blickte Asta ungläubig an. «Das kann ich mir kaum vorstellen. Es sei denn, er braucht noch ein wenig Personal im Hintergrund eines großen Werkes.»
Asta senkte den Kopf. Die Bemerkung hatte sie getroffen.
«Ich werde also dabei sein, wenn er dich malt», bekräftigte Minna.
«Aber ich will mich gar nicht zeichnen lassen. Ich will selbst zeichnen.»
Astas Blicke huschten zwischen Mutter und Tochter hin und her.
«Schluss jetzt. Ich komme mit und basta.» Minna erhob sich und tat, als hätte sie Maries Einwände nicht gehört. «Wann will er malen?»
«Morgen nach dem Unterricht», brummte Marie.
«Nun, dann müssen wir zusehen, dass die Schneiderin dein neues Kleid bis dahin fertig hat. Und dann muss die Friseurin auch noch kommen.»
Marie schüttelte energisch den Kopf. «Nein, nein. Das will ich alles nicht. Und Krøyer will es auch nicht. Er will mich malen, wie ich bin.»
Minna Triepke spitzte das Mündchen. «Und ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass er dich so schön malt, wie es nur geht. Schließlich wird das Werk vielleicht in einer Ausstellung in Kopenhagen hängen, und alle unsere Verwandten und Bekannten werden es sich anschauen.»
Am nächsten Tag konnte Asta sehen, wie unwohl sich Marie fühlte. Sie zupfte in einer Tour an ihrem neuen Kleid herum, fuhr sich in die Haare, die zu Löckchen gedreht waren und ihr Gesicht umrahmten. Und am Nachmittag wurde Asta von Maries Mutter weggeschickt.
«Du solltest deine Mutter besuchen gehen», sagte Minna, und Asta sah betreten auf den Geldschein in ihrer Hand. «Kaufe ihr ein wenig Gebäck oder Schokolade. Wir warten dann mit dem Abendessen auf dich.»
Asta knickste und wusste, dass sie die Frau Webereidirektor nicht aus Gutherzigkeit zu ihrer Mutter geschickt hatte. Sie wollte einfach mit ihrer Tochter und dem Maler allein sein.
«Die Frau Triepke glaubt, ich sei dumm», erzählte Asta ihrer Mutter. «Dabei sehe ich ganz genau, dass Marie sich nur malen lassen muss, damit die Frau Webereidirektor in der Nähe des Norwegers sein kann.»
Irma Hansen tätschelte ihrer Tochter die Hand. «Du siehst zu viel, meine Kleine. Das ist nicht gut. Die Herrschaften mögen es nicht, wenn man sie durchschaut.»
Beim Abendessen fragte Wilhelm Triepke seine Frau nach dem Maler. «Wie ist er, dieser Krøyer?»
Er schlürfte seine Bouillon vom Löffel und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. Dann trank er einen Schluck aus seinem Weißweinglas.
Minna Triepke hatte die Suppe stehen gelassen, bekam wieder ihr spitzes Mündchen und zuckte mit den Achseln. «Wie soll er schon sein?», erwiderte sie knapp.
«Nun, er ist berühmt. Man trifft schließlich nicht alle Tage einen Prominenten.»
«Ich denke, mein lieber Wilhelm, Peder Severin Krøyer wird allgemein überschätzt. Ihm fehlt der Blick für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Und dieser Blick fehlt natürlich auch seinen Bildern, seiner Kunst.»
Nach dem Abendessen, als Asta und Marie allein waren, fragte Asta: «Wie fandest du sie denn?»
Marie runzelte die Stirn. «Was meinst du?»
«Die Modellsitzung bei Krøyer.»
«Langweilig. Krøyer fand weder mein Kleid noch meine Frisur schön. Er sagte, ich sähe aus wie eine Geburtstagstorte. Dann hat er ein wenig Wasser geholt und mir die Locken geglättet. Und ich musste einen Malerkittel anziehen, und dann musste ich stillsitzen und habe mich zu Tode gelangweilt, während meine Mutter ununterbrochen geschwätzt hat. Stell dir vor, Asta, sie wollte, dass er sie auch malt! Aber er wollte nicht. Na, jedenfalls wird sie bei der nächsten Sitzung nicht dabei sein, er hat es verboten. Du wirst mitgehen müssen. Und obendrein hat sie Carl Thomsen aufgetragen, die Tür zum Atelier in der Zeichenschule offen zu lassen, damit Krøyer nicht auf irgendwelche Gedanken kommt. Eigentlich hatte Krøyer vorgehabt, mich weiter in seinem Atelier zu malen, aber das hat meine Mutter nicht erlaubt. Es war peinlich.»
In der nächsten Modellsitzung, zu der Asta Marie begleitete, setzte sie sich so, dass ihr Blick auf Krøyers Leinwand fiel. Er hatte eine Skizze von Marie erstellt, eine Vorzeichnung auf der Leinwand, und nun mischte er Farben auf der Palette und war dabei ganz versunken. Hier ein wenig Chromgelb, dort ein bisschen Terra di Siena und dazu noch einen Tropfen Preußischblau.
Asta beobachtete, wie Marie auf ihrem Stuhl hin und her wackelte, und hörte, wie Krøyer sie barsch zurechtwies.
«Halt still! Beweg dich nicht. Wenn du unbedingt zappeln willst, dann höchstens mit dem Mund. Erzähl mir was.»
Marie schluckte. Asta wusste, dass Marie es nicht gewohnt war, so angefahren zu werden – und hatte fast Mitleid mit ihr.
«Was soll ich erzählen?», fragte Marie.
«Ist mir egal. Irgendwas. Warum du zeichnen lernst zum Beispiel.»
«Es macht mir Freude.»
«Das reicht nicht», erwiderte Krøyer. «Freude reicht nicht zum Malen. Du musst davon besessen sein. Bist du es nicht, solltest du es lieber lassen. Stick ein paar Blumen, das reicht.»
Asta musste sich ein Lächeln verkneifen. Krøyer würde Augen machen, wenn er eine Stickerei von Marie sehen würde.
Jede andere wäre jetzt beleidigt gewesen, aber nicht Marie. Stattdessen sagte sie: «Ich kann nicht besonders gut sticken, aber ich will malen. Ich will immer malen. Morgens, mittags, abends. Ob das Besessenheit ist, weiß ich nicht. Ich will malen und keine Worte schmieden oder Leinen besticken.»
Krøyer schien zurückzuprallen. Dann lächelte er, ließ Pinsel und Palette sinken und betrachtete Marie zum ersten Mal. Er sah nicht das Objekt in ihr, das Modell, durchzuckte es Asta. Er blickte Marie direkt an, aufmerksam und interessiert. «Wie heißt du?», fragte er.
Marie runzelte die Stirn. «Das haben Sie mich gestern schon gefragt. Marie heiße ich.»
Krøyer nickte. «Marie also. Und weiter?»
«Triepke. Hören Sie eigentlich zu, wenn man mit Ihnen redet?»
«Manchmal», erwiderte er. «Wenn es mich interessiert. Sonst nicht.»
Marie blickte zu Asta, die lächelnd den Kopf schüttelte, dann sagte sie beherzt: «Ich will von Ihnen lernen!»
Krøyer schwieg.
«Ich will von Ihnen lernen. Für jede Stunde, die ich Ihnen Modell sitze, möchte ich eine Unterrichtsstunde von Ihnen.»
Wieder schaute sie zu Asta – und Asta klappte ihren Mund vor Überraschung zu. So kannte sie Marie gar nicht.
«Also?»
Krøyer ließ wieder Pinsel und Palette sinken, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. «Einverstanden», sagte er schließlich. «Aber jetzt sitze still und halt den Mund.»
Asta war beeindruckt von Maries Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit. Sollte sie Marie etwa unterschätzt haben?
Am Ende der Sitzung rief Krøyer: «Wir fangen gleich mit dem Unterricht an. Wartet hier auf mich!»
Kaum war er weg, beugte sich Asta zu Marie vor und flüsterte: «Das wird deiner Mutter nicht gefallen.»
Doch Marie winkte ab. Ihre Augen funkelten, selbst ihre Haut schien von innen heraus zu leuchten. Das Haar hing ein wenig zerzaust um ihr Gesicht, und Asta fand, Marie habe nie schöner ausgesehen. Sie war so gespannt, wie das Porträt am Ende aussehen würde.
«Sie muss es ja nicht erfahren», sagte Marie trotzig.
«Und was willst du ihr sagen, wenn du eine Stunde später als üblich nach Hause kommst?», wollte Asta wissen.
«Ich werde einfach sagen, Carl Thomsen wollte mit mir über meine Fortschritte sprechen. Aber du musst das bestätigen, schließlich bist du meine Gesellschafterin.»
«Ich hasse es zu lügen, Marie», erklärte Asta und glaubte sich selbst nicht.
Marie musterte Asta von oben bis unten, dann lächelte sie fein und sagte den Satz, der Asta zeigte, dass sie Marie tatsächlich unterschätzt hatte.
«Was willst du für dein Schweigen haben?»
Überrascht wich Asta zurück.
«Willst du mein blassgelbes Kleid? Es ist mir allmählich zu kurz. Dir würde es bestimmt gut stehen.»
Asta schüttelte den Kopf.
«Willst du Geld? Ich habe Taschengeld gespart. Du kannst alles haben.»
«Nein, ich will dein Geld nicht.»
«Was willst du dann, Asta?»
«Ich will auch bei Krøyer lernen. Zusammen mit dir.»
Marie lachte auf. «Malen willst du?»
«Warum nicht? Ich glaube nicht, dass ich weniger gut bin als du.»
«Aber du hattest doch noch nie Unterricht.»
Asta schnaubte. «Ich sitze seit zwei Jahren zweimal wöchentlich in diesem Unterricht. Meinst du, das ist spurlos an mir vorübergegangen?»
Marie pustete sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. «Na gut, von mir aus. Ich sage Krøyer, er soll das Material mit auf Papas Rechnung setzen.»
Und dann kam Krøyer wieder und befestigte ein großes weißes Blatt auf Maries Staffelei.
Marie deutete auf ihre Begleiterin. «Asta möchte sich am Unterricht beteiligen.»
Krøyer fuhr herum und betrachtete Asta von Kopf bis Fuß, als würde er sie zum allerersten Mal wahrnehmen. «Wer bist du denn?», wollte er wissen.
Asta zuckte zusammen, doch noch ehe sie selbst antworten konnte, erklärte Marie mit fester Stimme: «Sie ist meine Gesellschafterin. Sie war die ganze Zeit hier.»
«Zeig mir deine Hände», verlangte Krøyer, und Asta hielt sie ihm hin. Er nahm die rechte Hand, drehte sie so, dass die Handfläche nach oben zeigte, und strich über ihren rechten Mittelfinger. «Du hast noch nicht viel gezeichnet», stellte er fest.
«Woher wollen Sie das wissen?», fragte Asta ein wenig gekränkt.
«Bei Malern ist das obere Fingerglied des Mittelfingers verhornt. Das kommt vom Pinselhalten. Bei dir ist diese Stelle glatt wie ein Kinderpopo. Also zeichnest du nicht.»
«Aber ich weiß, wie es geht», beharrte Asta.
«Das musst du erst noch beweisen.»
Er spannte ein Blatt Papier auf ein Holzbrett, befestigte es auf einer zweiten Staffelei, blätterte dann in seiner Zeichenmappe und holte eine Skizze hervor.
«Ich möchte, dass ihr eine Zeichnung von mir kopiert.» Dann stellte er eine dritte Staffelei zwischen die Arbeitsplätze der Mädchen und befestigte die Skizze darauf. Sie zeigte einen jungen nackten Mann.
Asta holte tief Luft. «Das dürfte der Frau Webereidirektor Triepke nicht gefallen», warf sie ein.
«Es interessiert mich nicht, was der Frau Webereidirektor gefällt und was nicht!» Dann wandte er sich an Marie und sagte knapp: «Du willst doch zeichnen lernen. Also wird das gemacht, was ich sage.»
Marie schaute kurz rüber zu Asta, bevor sie mit ihrer Zunge die Lippen befeuchtete, sich einen Bleistift von mittlerer Stärke nahm und begann die Linien abzuzeichnen.
Asta beobachtete, wie Maries Augen konzentriert jeder Linie folgten, um dann den ersten Strich zu setzen. Sie selbst wartete. Sie dachte an Carl Thomsen, bei dem nie kopiert wurde. Stattdessen ermunterte er seine Schülerinnen stets, eigene Gedanken in die Arbeit einfließen zu lassen. Krøyer schien jedoch nicht das geringste Interesse an eigenen Gedanken, an einer eigenen Sicht zu haben.
«Warum sollen wir eine Skizze abzeichnen? Warum sollen wir Sie kopieren?», wollte sie schließlich wissen.
«Bevor ihr anfangt, eigene Zeichnungen zu erstellen, müsst ihr das Handwerk lernen. Das Handwerk ist die Grundlage aller Kunst.» Dann wandte er sich direkt an Asta: «Fragst du immer so viel?» Und ohne ihre Antwort abzuwarten, stellte er klar: «Auch in der Kunst geht es immer darum, Fragen zu stellen, und nicht darum, sie zu beantworten.»
Asta wurde ein wenig rot, doch dann nahm auch sie einen Bleistift und begann zu zeichnen.
Vibeke erinnerte sich an das Gespräch noch vor dem Abitur mit dem Studienberater vom Jobcenter. Sie war die Letzte in der Klasse 12 des Frankfurter Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums gewesen, denn der Lehrer hatte die Schüler nach dem Alphabet eingeteilt, und sie hieß nun einmal Weber. Auch zu ihr hatte er gesagt: «Ich rate dir, dich gut auf den Termin vorzubereiten. Es geht schließlich um deine Zukunft.» Dann hatte er geseufzt und sie mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen.
Sie wusste, was dieser Blick zu bedeuten hatte, zu oft hatte Herr Herrmann auch ihr schon mitgeteilt, dass ihre Leistungen zwar im Normbereich lagen, er aber keinerlei Neigungen feststellen konnte. Und ganz konkret hatte er sogar einmal gesagt: «Fräulein Weber, wenn alles nichts hilft, dann studieren Sie eben auf Lehramt. Als Lehrer haben wir schließlich noch alle untergebracht.»
Damals hatte Vibeke den Kopf geschüttelt und selbstbewusst erwidert: «Ich brauche den Studienberater nicht. Ich werde Kunst studieren, und zwar an der Kunsthochschule in Mainz.»
Herr Herrmann hatte sie lange angesehen und nach dem Beruf ihres Vaters gefragt.
«Mein Vater ist der Geschäftsführer von Weber-Farben», hatte Vibeke gesagt. «Er beliefert die Läden für Künstlerbedarf sowie Museen und Restaurationswerkstätten.»
«Weber-Farben? Davon habe ich noch nie gehört», räumte Oberstudienrat Herrmann ein.
Woraufhin Vibeke fein gelächelt und geantwortet hatte: «Es ist keine große Firma. Mein Vater stellt nur Farben auf Bestellung her, allerdings Farben, die man nicht im normalen Laden bekommt. Dafür beliefert Weber-Farben die ganze Welt. Wenn im Madrider Prado ein altes Bild restauriert werden soll, aus dem 18. Jahrhundert zum Beispiel, dann wird in der Fabrik meines Vaters die entsprechende Farbe mit Zutaten wie im 18. Jahrhundert gemischt. Nach alten Rezepten.»
Da hatte Herr Herrmann wieder genickt und gesagt: «Dein Vater wird dir den Weg schon ebnen.»
Erst später hatte Vibeke die Geringschätzung seiner Worte verstanden. Es war nicht das erste Mal, dass sie Unverständnis für ihren Berufswunsch geerntet hatte. Künstlerin! Das war in den Augen der meisten jemand, der zu faul zum Arbeiten war und auf Staatskosten seinem Hobby nachging. Jemand, der sich für besser hielt als der Durchschnitt. Was dem Durchschnitt ja noch nie gefallen hatte.