Shortest Stories Vol. 1
#LBMGuerillas
Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim
Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autoren.
Copyright © 2019 Art Skript Phantastik Verlag
Art Skript Phantastik Verlag | Salach
Lektorat » Simona Turini
Komplette Gestaltung & eBook-Erstellung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag
Unter Verwendung von Bildmaterial von Unsplash
Der Verlag im Internet
» www.artskriptphantastik.de
Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
ISBN: 978-3-945045-44-2
Mit dem Kauf dieses Buches unterstützt du den Bundesverband verwaiste Eltern und trauernde Geschwister Deutschland e. V. – www.veid.de
Liebe Leserebellinnen und Leserebellen!
Da war doch noch was.
Da war doch diese Sache mit der Idee.
Ich soll vorweg kurz was dazu sagen. Dann mach ich das doch einfach!
Manche Idee hat man unter der Dusche. Manche in der überfüllten Straßenbahn. Manche genau dann, wenn man endlich einschlafen will. Die wenigsten Ideen sind wirklich brandneu. Was sie aber oftmals auszeichnet, ist die brennende Begeisterung.
Es kommt mir vor wie gestern. Ich mach das, was ihr alle so gern macht: Ich durchforste meine Facebook-Startseite. Katzen, Fledermäuse, noch mehr Katzen … was mir halt so gefällt. Und da ist es plötzlich, dieses eingehäkelte Fahrrad! Knallbunt steht es da und mir geht das Herz auf. Häkel-Guerillas lese ich und wundere mich. Also lese ich weiter. Verdammt! Das sind Häkel-Guerillas! Die gehen auf die Straße und häkeln alles ein. Alles!
Das sollte echt mal jemand mit Büchern machen, denke ich. Also, nicht einhäkeln, sondern einfach auf die Straße gehen und lesen. Am besten im Rahmen der Leipziger Buchmesse.
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das sollte nicht jemand machen, das sollten wir machen! Meine liebenswerten Autorenfreunde und ich.
Gedacht, gepostet, getan.
2019 spazieren die LBM Guerillas das dritte Mal quer durch die Leipziger Innenstadt. Und diesmal hat sogar jeder von uns eine eigens für diesen Anlass geschriebene Kurzgeschichte im Reisegepäck. All diese wundervollen Geschichten (und noch etwas mehr) findet ihr in diesem Buch.
Und ihr, die ihr dieses Buch gekauft habt … die ihr uns durch Leipzig begleitet … ihr alle seid Teil dieses leserebellischen WIR! Mit dem Kauf dieses Buches unterstützt ihr den wundervollen VEID e. V., denn der gesamte Erlös geht ausschließlich dorthin.
Und wir gehen gemeinsam durch die Stadt.
2019 und das Jahr darauf und das Jahr darauf …
Denkt groß!
Denkt gemeinschaftlich!
Von Herzen
Faye Hell
Wenn Schreiberlinge auf den Straßen Leipzigs in den Guerillakrieg ziehen, dann kämpfen sie dabei mit der wohl mächtigsten aller Waffen. Denn was besitzt schon mehr Sprengkraft, als der unbändige Drang, anderen Menschen eine gute Geschichte mit auf den Weg zu geben? Einfach so. Dort, wo sie am meisten gebraucht wird.
An der Bushaltestelle im morgendlichen Alltagsfrust, in der Ladenpassage inmitten von Hektik und Konsumzwang, im winterlich-öden Stadtpark, den man eigentlich nur schleunigst wegen einer Abkürzung durchqueren möchte. Weil gute Geschichten nun einmal jeden noch so öden Ort verzaubern und strahlen lassen können – und die Menschen dort gleich mit.
Langeweile, Trübsal, Dünkel, Gleichmacherei und Ignoranz auf diese Weise den Kampf anzusagen, auch noch zu den unmöglichsten Zeiten, bei den frostigsten Temperaturen und unerhörterweise sogar ganz ohne vorher den Segen eines honorigen Literaturbetriebes einzuholen – was für ein edles Unterfangen!
Schade nur für alle, die nicht das Glück hatten, sich in den vergangenen drei Jahren während der Leipziger Buchmesse von einer Guerilla-Lesung überraschen und verzaubern lassen zu dürfen.
Aber zum Glück gibt es ja jetzt dieses Buch mit Guerilla-Lesungs-Geschichten. Immer wunderbar und wundersam, ebenso knackig-kurz wie hochunterhaltsam, die wir nicht nur selbst lesen, sondern einander vielleicht sogar in bester Guerilla-Lesungs-Tradition vortragen können. Um uns damit gegenseitig etwas Gutes zu tun. Immer dann, wenn gute Geschichten gebraucht werden – also eigentlich bei jeder Gelegenheit.
– Luci van Org
Mario Steinmetz
Ein Bahnsteig in Gluthitze und Staub.
Ausgetrocknete Bohlen knarren unter meinen Stiefeln. Irgendwo schnaubt ein Pferd. Die Bahnhofsuhr tickt. Die Gleise, ein schwarzer Pfad unter sengender Sonne. Schnurgerade ins Nirgendwo. Ein lauer Wind weht Tumbleweeds über das ausgetrocknete Land.
Aus dem Fenster des Telegrafenbüros klappert ein Morsecode. Die Fahrkarte in meiner Hand klebt vom Schweiß. Der Speichel in meinem Mund schmeckt nach Angst.
Niemand will heute zum Zug.
Niemand traut sich hinaus auf die Straße.
Sie sitzen im Saloon und starren auf warme Gläser. Auf meine Frage, ob nicht bereits schwarzer Rauch über der endlosen Ebene stehen sollte, zuckt der Schaffner mit den dürren Schultern.
»Verspätung«, sagt er und kriecht wie eine lichtscheue Echse in das schattige Loch zurück, in dem er auf den Zug wartet.
Hufgetrappel auf der Main Street. Pferdegewieher. Eine raue Männerstimme gibt Befehle.
Sie sind da, schwärmen aus, ein Insektenstaat auf Nahrungssuche. Am Horizont ein schwacher Hauch von Grau. Ein Hoffnungsschimmer.
Die Zeit auf meiner Taschenuhr verrinnt wie zäher Leim. Schweiß brennt in meinen Augen, wird zu Tränen auf meinem Gesicht. Neben mir die Reisetasche aus verblichenem, geblümtem Stoff. Das Messer zwischen den eilig gepackten Habseligkeiten. Sein Kehlenblut noch an der Klinge. Ein Symbol verkaufter und doch nicht verlorener Unschuld.
Er übertrat die Grenze meines Schmerzes. Ich bat ihn, innezuhalten, doch er lachte. Die Klinge schnitt halbmondförmig in seinen Hals. Sein Leben tauchte mein Kleid in leuchtendes Rot.
Ich trage es noch immer. Jetzt ist es klebrig und von Fliegen umschwirrt, aber die Feuchtigkeit kühlt angenehm meine Haut.
Das Grau wird zu Schwarz. Eine senkrechte Wolke, die den Horizont infrage stellt. Mich ängstigt ein anschwellender Tumult vor dem Saloon, wo in dem blauen Zimmer die rote Leiche liegt.
Der Schaffner schließt die Tür seines Verschlags. Der Postbeamte das Fenster des Telegrafenbüros.
Auf den Gleisen nähert sich ein vielgliedriges Insekt. Sein heißer Atem ist schwarz wie sein Körper. Ich trete vor, bis meine Stiefelspitzen über den Bahnsteig hinausragen.
Was, wenn der Schaffner die Fahne nicht schwingt?
Wird es vorbeikriechen, mich zurücklassen?
Hinter mir klirren Sporen, Stiefel schaben über hölzerne Planken. Ein Geruch nach Pferdeschweiß und Tabak stülpt sich wie eine Glocke über mich. Reglos schwitze ich zitternd mein Leben aus. Schließe die Augen, als ein schaler Hauch meinen Nacken streift.
Das Geräusch von Metall, das aus Leder gleitet, lässt meinen Atem stocken.
»Du hast ihm die Kehle durchgeschnitten«, raunt der harte Mann hinter mir.
»Er zerriss meinen Leib!«
Ich flehe das schwarze Insekt um Beistand an. Es faucht, stößt schwarzen und weißen Atem aus, droht.
Ein Klicken hinter meinem Rücken. Ich weine, aber flehe nicht.
»Ich habe Recht getan!«
Der harte Mann riecht nach süßlichem Tabak. »Kopf oder Zahl?«
Ich zögere nicht. »Kopf!«
Stille. Banges Warten.
Geöltes, tödliches Metall. Silber klimpert auf Holz. Ein trauriges Schnaufen als Antwort. Der harte Mann geht davon und überlässt mich dem stampfenden Tausendfüßler.
Ein Schaffner teilt meine Fahrkarte in zwei Hälften.
Vincent Voss
»Das ist schon krass. Jeden Abend sind da Grablichter an dem Kreuz aufgestellt«, sagt Jonas.
»Welches Kreuz?«, fragt seine Frau.
»Das da am Rittergehölz. Wo es die Böschung runter geht und der Fahrradweg daneben herführt. Derjenige, der da die Kerze anzündet, muss da immer vom Fahrradweg aus durch den Graben und dann wieder hochklettern. An der Straße kannst du nicht einfach halten.«
»Am Rittergehölz steht ein Kreuz?«, fragt sie nach.
»Ja, wenn du von Torfstedt kommst auf der rechten Seite. Das musst du doch gesehen haben?«
Er wundert sich und sie verneint. Sie hat dort kein Kreuz und keine Grablichter gesehen.
Er fährt die Anhöhe auf der Landstraße hinunter und sieht dort wieder die Grablichter. Blick in den Rückspiegel, kein Autofahrer folgt ihm. Er wird langsamer und späht zu seiner rechten Seite aus dem Beifahrerfenster.
Wegen des Regens und der Dunkelheit kann er wenig erkennen. Ein Holzkreuz im schmutzigen Schnee direkt vor einem Baum, ein schwarzer Schriftzug darauf, drei oder vier Grablichter, die rotes Licht verstrahlen. Jonas passiert die Trauerstelle, sucht nach einem Zugang zum Todesort.
Nichts. Entweder diejenige Person kommt von der Landstraße, was lebensgefährlich ist, oder sie nimmt einen beschwerlichen Weg durch den Graben und die Böschung.
Hinter ihm bricht Scheinwerferlicht Lanzen durch die Nacht und er beschleunigt wieder.
Zwei Tage später.
Jonas fährt abends die Strecke über das Rittergehölz. Eigentlich Feierabend, aber er telefoniert noch mit einem Kunden. Und bremst stark, hinter ihm hupt es und er wird überholt, weil kein Gegenverkehr kommt.
Jonas schmeißt, ohne das Gespräch zu beenden, sein Handy auf den Beifahrersitz. Das ist knapp gewesen, er hat nicht auf den Verkehr geachtet. Aber da ist jemand bei dem Kreuz gewesen, eine Frau.
Er will den Rückwärtsgang einlegen, fahndet die Böschung nach ihr ab, aber es kommen weitere Fahrzeuge die Anhöhe hinab.
Eine Frau. Sie hat getrauert.
Jonas fährt weiter.
Irgendwann später.
Jonas fährt abends nach Hause. Leonie, seine Frau, und auch seine beiden Kinder Marten und Svea haben die Grabstelle immer noch nicht gesehen. Passt zu ihnen. Als er daran denkt, fährt er langsamer, ein Blick in den Rückspiegel, niemand ist hinter ihm.
Er nimmt sein Handy in die Hand, will ein Foto schießen. Es ist etwas nebelig, aber er kann die Grablichter schon durch das karge Wintergehölz schimmern sehen. Er streckt die Hand aus, versucht, das Motiv einzufangen. Blick auf die Straße, Blick in die Kamera.
Fuck! Da stehen drei Leute bei dem Kreuz, er kann nur ihre Rücken sehen. Jetzt und vorher nicht. Sie erinnern ihn an … dann lösen sie sich auf, Blick auf die Straße, Licht, LICHT!, er reißt das Steuer herum.
Eigentlich nicht schnell, aber hier und jetzt schon, wo er die Kontrolle verliert und der Baum auf ihn zurast. Der Baum und die Grabstelle. Und das Kreuz.
Jetzt kann er einen Namen auf dem Kreuz lesen.
JONAS.
Jana Oltersdorff
»Blaukraut bleibt Blaukraut«, murmelte Doris, als sie die Gruppe zerlumpter Gestalten durchs Zielfernrohr beobachtete. Sie schwankten wie Betrunkene, rempelten sich hin und wieder an und nahmen dennoch keine Notiz voneinander.
»Meine Güte«, kommentierte Mario den Anblick angewidert.
Doris lächelte grimmig. Er hatte ja recht. Wahrscheinlich machten sie und ihr Partner auch keinen besonders gepflegten Eindruck, aber wenigstens waren sie am Leben. Etwas, das man dieser Tage nicht von jedem behaupten konnte.
»Welchen zuerst?« Mario legte sein Gewehr zurecht und kniff ein Auge zu.
Er war ein guter Schütze, er hätte sicher jeden mit einem einzigen Schuss abknallen können, selbst aus dieser Entfernung. Doch wie so oft überließ er ihr die Entscheidung.
»Den Brautvater«, bestimmte Doris.
»Welcher ist der Brautvater?«
»Der Typ mit dem Hängebauch, todsicher.«
Mario grinste. »Mann, den hat’s echt übel erwischt. Sind das seine Gedärme, oder was schleift der da hinter sich her?«
Er wartete nicht auf ihre Antwort. Zielte, drückte ab. Der Kopf des Brautvaters zerplatzte wie eine überreife Wassermelone, sein Körper sank in sich zusammen und blieb liegen.
Den Rest der Hochzeitsgesellschaft beeindruckte das nicht im Geringsten. Sie setzten ihren sinnlosen Marsch fort. Eine Brautjungfer, zu erkennen an dem geschmacklosen rosafarbenen Puffärmelkleid, aus dessen linkem Ärmel ein zerfaserter Armstumpf hing, stolperte über ihn, fiel der Länge nach hin, rappelte sich auf und schlurfte weiter.
Ihr Anblick versetzte Doris einen Stich und erinnerte sie daran, welcher Tag heute war: der 19. September.
Heute hätte sie heiraten sollen.
Stattdessen hatte sie an jenem sonnigen Tag im April ihrem Verlobten den Schädel eingeschlagen, als dieser versuchte, sie zu beißen. Und es war nicht bei diesem einen zertrümmerten Schädel geblieben.
Alle waren tot: Familie, Freunde, jeder, den sie kannte.
Auf Mario war sie getroffen, als die Scheiße bereits kochend heiß dampfte. Er war Soldat gewesen, hatte die Lage früh genug korrekt eingeschätzt und sich aus dem Staub gemacht, statt mit seiner Einheit nach Leipzig einzumarschieren, als die völlig überforderte Regierung (oder was davon übrig war) den Ausnahmezustand für das gesamte Bundesgebiet ausgerufen hatte.
Doris war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. Auf Mario war Verlass. Seit er sie auf ihrer Reise durch das untote Land begleitete, war wieder ein wenig Hoffnung in ihr aufgekommen, dass dieser Irrsinn vielleicht irgendwann ein Ende finden würde.
Doch im Moment steckten sie mittendrin. An Durchatmen war noch lange nicht zu denken.
Doris schüttelte die Erinnerungen ab und konzentrierte sich auf die Hochzeitsgesellschaft. Sie hatte die Braut entdeckt. In den von Blut und Dreck verklumpten Haaren steckte noch immer der Schleier, der jetzt grau und zerfetzt im Wind des spätsommerlichen Morgens hinter ihr flatterte.
Ihr Gesicht hingegen existierte nur noch zur Hälfte. Ein Auge und das linke Ohr fehlten und die Reste ihrer zerfleischten Wange hingen lose herab, als drohten sie jeden Moment ganz abzufallen. Durch das Zielfernrohr konnte Doris den goldenen Ring am Finger der Braut erkennen. Diese Frau hatte ihn noch erleben dürfen, den glücklichsten Tag, dachte sie eifersüchtig.
»Welcher jetzt?«, fragte Mario.
»Die Braut. Ich erledige das.«
Doris legte an.
Simona Turini
Die Frau neben mir stinkt. Nicht ungewaschen-fettig oder Zwiebelfrühstück-übelkeitserregend, sondern schlimmer: Parfumfetischistin-chemisch.
Der Geruch ihres Lieblingsparfums ist so stark, dass er mir regelrecht in den Augen brennt. Ich wende mich ab, aber die Wolke hat sich längst ausgebreitet und erstickt uns alle.
Der Zug ist nicht sehr voll, also kapituliere ich vorzeitig, dränge mich an ihr vorbei und suche einen anderen Platz, einen ohne allzu heftige Geruchsbelästigung.
Im nächsten Wagen sitzt eine Gruppe älterer Damen, die unter Einsatz zahlreicher Piccolo-Fläschchen lärmend ihre mit der Witwenschaft einhergehende Freiheit feiern.
Sie bringen mich zum Lächeln. Vielleicht nehme ich hier Platz.
Aber nein: Daneben führen Studenten mit Hipsterfrisuren und dämlichen Bärten die üblichen prätentiösen Backpacker-Gespräche. Das tun sie laut. Zu laut. Und zum Sterben langweilig.
Hier ist kein Trost; ich wandere weiter.
Fußballfans sind mir unerträglich, ebenso nervige Junggesellenabschiede – ich kaufe trotzdem zwei Mini-Fläschlein Schnaps, denn meine Verzweiflung nimmt zu: Der Zug hat nicht mehr viele Wagen zu bieten.
Weinende Kinder sind bei Zugreisen im Grunde unvermeidlich, aber die Fahrt soll noch mehrere Stunden dauern, das würde ich nicht ertragen. Spielende Kinder sind da angenehmer, aber heute spielt niemand.
Alle weinen nur. Der Zug der Tränen.
Fast ganz vorne. Es bleibt nur der Zwischengang kurz hinterm Fahrer.
Ich lasse mich auf dem dreckigen Teppich nieder, zugegebenermaßen ein wenig frustriert. Frustriert ob meiner eigenen Überempfindlichkeit, die verhindert, dass ich einfach irgendwo sitzen und meine Mitreisenden ignorieren kann.
Frustriert, weil es so viel schöner wäre, wenn fremde Menschen nicht nerven, sondern Rücksicht nehmen könnten. Frustriert, weil Bahnfahrten so anstrengend sein müssen. Frustriert, weil ich ja eigentlich einen guten Platz hatte, bis die Parfumfrau einsteigen musste.
Als ein halbes Dutzend Fußballfans auf der betrunkenen Suche nach einer Toilette mein Zwischenraum-Refugium heimsucht und nach verwirrtem Umherirren und mehrfach wiederholten Schenkelklopfer-Witzen über das Pinkeln aus dem gekippten Zugfenster beziehungsweise in leere Bierflaschen wieder verschwindet – eine Wolke von Bieratem-Dunst und altem Schweiß hinterlassend –, nur um sofort von einer Business-Schnalle gefolgt zu werden, die nicht minder stark parfümiert ist als meine erste Nemesis, laut telefoniert und keine Anstalten macht, zeitnah wieder zu verschwinden, wünsche ich mir inbrünstig, der Zug möge entgleisen.
Mit einem Mal wackelt und rattert es noch extremer. Die Telefonfrau und ich werden gegen die Tür geworfen. Sie verliert dabei ihr Handy. Als sie es fluchend aus der Lücke zwischen Tür und Treppchen fischen will, erstarrt sie, den Blick aus dem kleinen Fenster gerichtet.
Ich sehe ebenfalls hin. Und beschließe beim Anblick der viel zu schnell näherkommenden Böschung kurz vor dem nächsten Tunnel, dass ich mir nie wieder etwas wünsche.
Thomas Karg
Auf dem Kärtchen, das sie mir umgebunden haben, steht mein Name. Karl-Heinz Maier.
Alle von uns tragen ein solches, trotzdem nennen wir uns nicht beim Namen; schweigen uns an, versunken in den vielen Erinnerungen und der wenigen Hoffnung, die wir in uns tragen.
Es ist dunkel hier. Nur manchmal geht das Licht an und einer meiner Kollegen wird aus dem Raum gebracht und darf eine wunderschöne Reise antreten.
Ich hoffe schon so lange darauf, der Auserwählte zu sein, der durch diese Tür verschwindet. Hinaus aus der Trostlosigkeit des Altenheimkellers, hinein in das warme, wohlige Zuhause einer sich kümmernden, liebenden Familie.
Doch ich warte und warte. Sehe Kollegen kommen, sie gehen und vor allem warten – darauf, dass nichts passiert. Warten und in der Ecke des Zimmers zusammensacken.
Ich selbst warte schon zu lange. Die Hoffnung stirbt und beginnt zu verwesen, sodass es im ganzen Keller stinkt.
Nach Abfall.
Allmählich weicht die Hoffnung der Angst, diesen Raum zu verlassen. Angst, nicht in den Armen einer Familie zu landen, sondern im Müll.
Dabei habe ich die, die mich von dem Leid erlösen könnten, hier schon einmal gehört, wenn auch nicht gesehen. Kein Platz im Auto, sagten sie, und keine Zeit, um noch in den Keller zu gehen. Nächste Woche würden sie dann kommen, sagten sie. Sie kamen nie, doch das sagten sie nicht.
Stattdessen kommen die, vor denen wir alle solche Angst haben.
Irmgard Percht, Franz-Josef Ächter, Roswitha Neustädter und ich werden abtransportiert. Es sind nicht unsere Familien, nicht unsere Freunde, noch nicht einmal unsere entferntesten Bekannten, die uns mitnehmen. Es sind zwei Pflegerinnen, die uns die Treppe hochschleppen. Uns an den Straßenrand stellen. Uns wieder warten lassen.
Warten auf das Unvermeidliche, auf das Vergessen, auf das Ende.
Der Laster hält vor uns. Ein Mann in orangefarbener Kleidung packt mich, als wolle er mich mit seinen vor Dreck triefenden Arbeitshandschuhen erwürgen. Er schleudert mich in die Presse des Müllwagens. Die letzte Reise, bevor mein Weg endet. Ich und all die Erinnerungen, die ich in mir trage, verschwinden für immer.
Für Erinnerungen ist keine Zeit, kein Platz, kein Interesse.
Die letzten Erinnerungen an Karl-Heinz Maier, dessen letzte Habseligkeiten, dessen Erbe, das er nach 80 Jahren, in denen er alles erlebt hatte, an diese Welt hinterließ. Diese Erinnerungen verschwinden mit mir. Einem einfachen, grünen Plastiksack, der in einer Müllpresse zerquetscht wird.
Es ist, als hätte Karl-Heinz Maier, Sohn, Bruder, Onkel, Vater, Großvater, Freund und Ehemann nie gelebt.
Simona Turini
für Stefan
Es war an dem Tag, als die Ghoule ihre Gräber verließen und zotige Lieder singend durch die Straßen marodierten. Da staunten wir alle nicht schlecht. Und nach dem Staunen machten wir, dass wir ihnen aus dem Weg gingen, den garstigen Kerlen.
Der Tag, an dem ein Yeti – ausgerechnet! – alle Zootiere befreite und auf einem Eisbären reitend die Giraffen in einen Krieg führte, von dem niemand so recht Notiz nahm. Vielleicht sind Giraffen eben doch zu gut für diese Welt. Die Pinguine, hieß es, wären durchaus bereit gewesen, ein wenig Ungemach zu verbreiten.
Es war der Tag der ewigen Dunkelheit, an dem die Sonne sich, kurz bevor sie den Horizont überstiegen hätte, wieder schamhaft versteckte und die Vampire sofort eine Party auf der Straße ausriefen.
Auch die Werwölfe kamen. Sie erklärten den Halbmond eigenmächtig für voll und sich selbst ebenfalls nach ein paar Flaschen Bier in schlechten Wortwitzeleien. Es war der gruseligste Tag in einem gruseligen Jahr und wer konnte, verließ rasch die Stadt. Die Forscher rätselten, wo all die Wesen plötzlich herkamen; das Fernsehen und das Radio rieten zu Geduld und guten Verstecken, die Geister in den Fernsehern und Radios dagegen zu Selbstkasteiung und Suizid. Aber da sie leicht als Hochstapler zu erkennen waren, ging niemand darauf ein.
Der Tag war’s, der den Elfen und Zwergen gehörte, die – nun weiß ich’s aus Erfahrung – gar nicht nett und lieblich sind. Oh nein! Gewiefte kleine Einbrecher sind sie, machen Unordnung, kneifen Leute und drohen mit unbrechbaren Flüchen. Ihnen zu entkommen ist schwieriger, als man annehmen würde.
An diesem Tag landeten überall UFOs, wie in diesem Gedicht von Neil Gaiman. Die Straßen quollen über vor Aliens, die versuchten, die Vampire zu entführen, die wiederum keine Lust aufs Entführtwerden hatten und sich lautstark zur Wehr setzten. Den Werwölfen gefiel das, sie feuerten die Aliens an.
Es war der Tag, an dem Nixen und Wassermänner sich in Toiletten tummelten, bis man sich nicht mehr drauf traute. Der Tag der messerschwingenden Riesen und fliegenden Ungetüme und garstigen Gnome und wandelnden Fackeln und zähnefletschender Irrer und ich schwöre: An einer Ecke sah ich Frankensteins Monster stehen.
Er schien auf den Bus zu warten.
Es war ein Tag, der in die Geschichte der Menschheit einging, als der Tag, an dem alle verstanden, dass es diese Wesen wirklich gibt, dass sie bei uns und unter uns leben und sich nicht verjagen lassen und schon gar nicht freiwillig wieder gehen. Ein Tag, ein einziger Tag, an dem die Menschheit die Wahrheit zu sehen bekam, die volle, ungeschminkte Wahrheit. Wahrhaftigkeit in Form von Leichenfressern und Riesenschlangen.
Es war ein ganz besonderer Tag. Der Tag, an dem du mich fragtest und ich Ja sagte.
Melanie Schneider
Ich recke meine Nase in die Luft und ziehe die Gerüche ein. Mit einem Atemzug erfasse ich meine Umgebung, öffne dann meine Augen.
Langsam strömen Erinnerungen in meinen Kopf, füllen ihn aus. Bilder von einer Straße, leer, verstaubt, am Rand liegen Kieselsteine und Glassplitter – Müll, der für die empfindsame Haut meiner Pfoten zum Hindernisparcours wird.
Eine Erkenntnis sickert zwischen die Blitze der Vergangenheit. Die Gerüche haben sich verändert. Doch kein Schaden ist an meiner Schnauze zu erkennen. Auch sonst fühle ich mich regelrecht geborgen. Sicher. Stark.
Ein weiterer Atemzug trägt den nächsten Gedanken: Ich rieche Licht … Licht?
Kann man Licht riechen? Oder schmecken?
Noch mehr Bilder ziehen an meinen Augen vorbei. Getriggert durch die letzten Sekunden sehe ich eine untergehende Sonne und Lichter, die sich auf und ab bewegen.
Ein tiefes Brummen erfüllt die Luft, vibriert in meinen Knochen nach, aber meine Gedanken sind noch zu verstreut, um es zuzuordnen.
Ich tappe am Waldrand entlang und lasse mich von meinem Hunger treiben, dann höre ich ein sanftes Plätschern und spüre meine raue Zunge. Ein vertrauter Geschmack erfüllt meine Schnauze.
Blut? Ich bin doch unverletzt, wo kommt das her?
Mit der Pfote fahre ich über meinen Kopf und zucke zusammen, als sich der Schmerz wie ein spitzer Ast in meinen Körper bohrt. Wärme breitet sich wie ein Mantel aus Panik um mich herum aus, hüllt mich ein wie die Hitze eines Sommertages.
Heiß, viel zu heiß, wo ist dieser Bach?
Blind renne ich los, finde nur durch Zufall einen kleinen Teich. Kurz bevor ich mich ins kühle Nass werfe, sehe ich die gestreute Reflexion einer Lichtquelle. Ich rase auf das Wasser zu, wie die zwei Scheinwerfer, die mir näherkamen.
Plötzlich ist das Brummen wieder da, wird zum Dröhnen, und bevor ich die Geräusche im Wasser vor mir ertränken kann, trifft mich die Erkenntnis, so wie mich das Auto traf.
Innerhalb einer Sekunde wandelt sich die Hitze in Kälte und ich beobachte in meinem Spiegelbild, wie eine Flamme über meinem Schwanz erlischt.
Ich zucke zurück, drehe mich im Kreis, vergleiche immer und immer wieder meine Duftspur mit meiner Erinnerung. Etwas ist anders und ich zwinge mich letztendlich dazu, sitzen zu bleiben.
Mein Innerstes vibriert immer noch. Ein Kribbeln überzieht meine Haut, macht mich empfindlich für meine Umwelt. Eine Energie durchströmt mich, das Kribbeln konzentriert sich in meiner Nase und ich niese. Dabei flackert ein Licht an meiner Schwanzspitze. Ich schüttele das Bild wie eine lästige Fliege weg, aber wieder flammt etwas auf. Ich denke an die alten Geschichten von Füchsen, die magische Kräfte erhielten. Aber warum sollte ich dafür auserwählt werden?
Ich atme tief durch, versuche, meine Konzentration auf die verlorene Hitze zu lenken und erneut eine Flamme entstehen zu lassen. Wie ein Husten meiner Seele fühlen sich die ersten Versuche an, doch schließlich flackert eine Flamme über meinem Schwanz, unsicher wie ein Neugeborenes.
Dann bin ich mir sicher: Ich starb. Und kam wieder.
Ich bin ein Fuchsgeist.
Ich bin ein Kitsune.
Marie H. Mittmann
Die Wildblumen am Waldboden drehten sich zu ihr und folgten ihren Bewegungen, als sie an ihnen vorbei ging. Über ihr raschelten Blätter, obwohl kein Wind wehte, und sie blieb stehen und lauschte. Ihr Herz schlug schnell.
Sei vorsichtig.
Sei immer wachsam.
Habe immer Angst, aber niemals zu viel.
Das war das Paradox, das Claires Leben bestimmte.
Nur wenige Schritte vor ihr, am Fuße eines alten Baumes, lag ein sauberes Stoffbündel, das wahrscheinlich Lebensmittel enthielt, aber sie näherte sich ihm nicht. Die weißen Bündel waren meistens Brot oder Kartoffeln; nur selten eine Falle. Schwarze Päckchen, die oft Fleisch enthielten, bargen ein weit größeres Risiko. Trotzdem horchte sie angespannt in den Wald hinein, ob sich im Rauschen der Blätter vielleicht ein Hinweis verbarg.
Sie hörte nichts Verdächtiges.
Blitzschnell sprang sie vor, schnappte sich das weiße Bündel und rannte, bis ihr Blut in den Ohren rauschte und ihr Atem in der Kehle brannte.
Geschafft.
Da fiel ihr auf, dass die Blüten und Knospen der Waldblumen noch immer alle in ihre Richtung zeigten. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter – Nur keine Angst! –, aber sie konnte ihn nicht ganz unterdrücken. Flackerte dort etwas zwischen den Baumstämmen? Wuchs diese Wurzel dort auf sie zu?