Für Robert, cher ami pour beaucoup d’années,
für so viele Dinge.
Et aussi pour sa Claudine
Um kurz vor neun versank die Sonne in einer rauchig violetten Wolkenbank, und ich hatte mich verfahren. Ich wendete in einer Einfahrt und fuhr die letzte halbe Meile zum Wegweiser zurück.
Die vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte ich bei einem Kunden nahe der Küste verbracht und war auf dem Rückweg nach London, doch es war zweifellos keine gute Idee gewesen, die Hauptstraße zu verlassen und querfeldein zu fahren.
Die Landstraße führte durch die Downs, mit kargen Erdwällen zu beiden Seiten, und dann auf einem geraden, von Bäumen gesäumten Straßenstück zur Kreuzung. Die Angaben auf dem Wegweiser waren verblichen, neuere waren nicht vorhanden. Als ich zur richtigen Abzweigung kam, schoss ich fast daran vorbei, denn hier gab es überhaupt kein Schild, nur eine Nebenstraße mit hohen Böschungen, in denen Baumwurzeln so tief verankert waren wie uralte Zähne. Aber ich hatte die Hoffnung, auf diesem Weg zur Hauptstraße zurückzufinden.
Das Sträßchen wurde schmaler. Die Sonne stand hinter mir, blendete mich im Rückspiegel. Dann kam eine scharfe Kurve, das Sträßchen wurde einspurig, und der Blick nach vorn war mir durch dunkle, tief hängende Äste versperrt.
Ich bremste ab. Das konnte keinesfalls der richtige Weg sein.
Stand da ein Haus? War dort jemand, der mir den Weg erklären konnte?
Ich stieg aus. Mir gegenüber stand ein Schild, schon grün vor Alter: DAS WEISSE HAUS. Darunter hatte jemand ein Stück Pappe geheftet. Es hing lose herab, doch ich konnte gerade noch die in ungelenken Buchstaben aufgemalten Wörter GARTEN GESCHLOSSEN entziffern.
Nun ja, ein Haus ist ein Haus. Dort würde es Menschen geben. Langsam fuhr ich den Weg entlang. Die Böschungen waren sogar noch steiler, die Bäume riesig, geradezu gigantisch.
Dann, am Ende des Weges, kam ich auf eine große Lichtung und stellte fest, dass es tatsächlich immer noch hell war, der Himmel von einem blassen, wie emaillierten Silberblau. Eine Durchfahrt gab es nicht. Weiter vorne war ein hölzernes Tor zu sehen und eine hohe, von Dornen und Gestrüpp überwucherte Hecke.
Ich hörte nichts außer den Vögeln, eine Drossel, die hoch oben auf den Ästen eines Walnussbaums sang, und Amseln, die tixend durchs Gestrüpp trippelten. Als ich aus dem Auto stieg, verstummte das Vogelgezwitscher allmählich; eine außergewöhnliche Stille trat ein, eine seltsame Stille, die mir das Gefühl gab, ein unwillkommener Eindringling zu sein.
Ich hätte umkehren sollen, hätte zum Wegweiser zurückfahren und erneut versuchen sollen, die Hauptstraße zu finden. Doch ich tat es nicht. Ich wurde weiter angezogen von dem Tor zwischen den wuchernden Büschen.
Vorsichtig trat ich näher und bemühte mich aus irgendeinem Grund, keinen Lärm zu machen, während ich die niedrigen Äste und das Dornengestrüpp beiseiteschob. Das Tor ließ sich nur halb öffnen, war auf den Scharnieren herabgesunken, sodass ich es nicht weiter aufstoßen konnte und mich durch den Spalt zwängen musste.
Weiteres Dickicht, Rhododendronbüsche, Dornenhecken zwischen Buchen. Der Pfad war vermoost und grasbedeckt, doch hier und da spürte ich Steine unter meinen Sohlen.
Nach etwa hundert Metern kam ich zu einer verfallenen Hütte, die wie die Überreste eines alten Kassenhäuschens aussah. Das Gitter war herabgelassen. Das Dach war vermodert. Ein Kaninchen, seine Blume strahlend weiß in der Düsterheit zwischen den Büschen, hoppelte rasch davon.
Ich ging weiter. Der Pfad wurde breiter und führte nach rechts. Und da war das Haus.
Ein massives Haus im Edwardianischen Stil, breit und mit einer tiefen Veranda. Eine Reihe flacher Stufen führte zur Eingangstür. Ich musste auf dem Vorhof stehen, einst groß und gut gepflegt – zwischen Unkraut und Gras waren immer noch Überreste von Kies zu erkennen. Zur Rechten des Hauses befand sich ein durch Rosengestrüpp halb verdeckter Rundbogen, in den ein schmiedeeisernes Tor eingelassen war. Ich sah mich um. Das Auto tickte leise, während der Motor abkühlte.
Ich hätte umkehren sollen. Ich musste dringend zurück nach London. Das Haus war verlassen und verfallen. Hier würde ich niemanden finden, der mir den Weg erklären konnte.
Ich trat zum Tor im Rundbogen und spähte hindurch. Außer einem Urwald aus Büschen und Sträuchern, tief hängenden Ästen und der Andeutung eines weiteren Pfades, der im dunkler werdenden Grün verschwand, konnte ich nichts erkennen.
Ich griff nach dem kalten eisernen Riegel. Er ließ sich anheben. Ich drückte. Das Tor klemmte. Als ich mich mit der Schulter dagegenlehnte, gab es ein wenig nach, und von den Scharnieren blätterte Rost ab. Ich drückte fester, und das Tor bewegte sich langsam, schleifte über den Boden, öffnete sich mehr und mehr. Ich zwängte mich hindurch und war drinnen. In einem riesigen, zugewucherten verlassenen Garten. Auf der einen Seite führten Stufen zu der Terrasse und zum Haus.
Ein Ort, den man der Luft und der Witterung, dem Wind, der Sonne, den Kaninchen und den Vögeln überlassen hatte, dem sanften und traurigen Verfall, bis die Steine porös wurden, die Pfade absackten und schließlich verschwanden, die Fensterläden den Regen hereinließen und Vögel im Dach nisteten. Nach und nach würde es in sich zusammenfallen und schließlich im Boden versinken. Wie alt war das Haus? Hundert Jahre? In weiteren hundert Jahren würde nichts mehr von ihm übrig sein.
Ich drehte mich um. Vor mir konnte ich nun kaum noch etwas erkennen. Was auch immer der inzwischen »geschlossene« Garten gewesen sein mochte, hatte sich die Natur zurückgeholt, ihn mit Decken aus Efeu und den langen Ranken der Schlingpflanzen bedeckt, mit Unkraut überwuchert, das Licht und die Luft herausgesogen, sodass nur noch die zähesten Pflanzen wachsen und ihn so erobern und besetzen konnten.
Ich sollte umkehren.
Doch ich wollte mehr herausfinden, wollte mehr sehen. Ohne zu wissen, warum, wollte ich bei vollem Tageslicht wiederkommen, um alles zu sehen, das Verhüllte freizulegen, aufzudecken, was im Verborgenen lag. Den Grund dafür herausfinden.
Vermutlich wäre ich nicht wieder hergekommen. Sobald ich den Weg zur Hauptstraße gefunden hätte, was mir sicherlich gelungen wäre, und schließlich London und meine gemütliche Wohnung erreicht hätte, wäre das Weiße Haus und das, was ich in der Dämmerung dieses späten Abends gefunden hatte, höchstwahrscheinlich in den Hintergrund meiner Gedanken geraten und über kurz oder lang vergessen worden. Selbst wenn ich noch einmal diesen Weg nahm, hätte ich womöglich nicht wieder hergefunden.
Und dann, als ich in der sich ausbreitenden Stille der einbrechenden Frühlingsdämmerung stand, geschah etwas. Mir ist es ziemlich gleichgültig, ob man mir glaubt oder nicht. Das spielt keine Rolle. Ich weiß es. Das ist was zählt. Ich weiß es, genauso wie ich weiß, dass es am Morgen zuvor auf das Fensterbrett meines Schlafzimmers geregnet hat, da ich vergessen hatte, das Fenster zu schließen. Ich weiß es, genauso wie ich weiß, dass ich am letzten Donnerstag eine Wurzelkanalfüllung bekommen habe und nachts mit starken Schmerzen aufgewacht bin. Ich weiß, dass es geschehen ist, genauso wie ich weiß, dass ich zum Frühstück schwarzen Kaffee getrunken habe.
Ich weiß es, denn wenn ich jetzt meine Augen schließe, spüre ich, wie es wieder geschieht, die Erinnerung daran ist lebendig, und es ist eine körperliche Erinnerung. Mein Körper spürt es, das ist nichts, was sich nur in meiner Phantasie abspielt.
Ich stand auf der dämmrigen, grün erleuchteten Lichtung, und über meinem Kopf wiegte die silberne Mondsichel den Abendstern. Die Vögel waren verstummt. Nicht der geringste Lufthauch war zu spüren.
Und während ich dort stand, spürte ich, wie sich eine kleine Hand in meine Rechte schob, als wäre ein Kind in der Dämmerung zu mir gekommen und hätte sie ergriffen. Die Hand war kühl, die Finger krümmten sich vertrauensvoll in meiner Handfläche und verharrten dort, der kleine Daumen und der Zeigefinger umschlossen meinen Daumen. Reflexhaft beugte ich mich vor, und wir standen dort für einen Augenblick, der aus der Zeit gefallen war, meine Männerhand und die sehr kleine Hand hielten einander so eng umschlossen wie die Hand eines Vaters und die seines Kindes. Aber ich bin kein Vater, und das kleine Kind war unsichtbar.
Erst nach Mitternacht erreichte ich London und war sehr müde, doch weil ich das, was geschehen war, so deutlich vor Augen hatte, ging ich nicht ins Bett, bevor ich einige Karten herausgeholt und nachzuvollziehen versucht hatte, welche Straße ich irrtümlich genommen und wo die Nebenstraße war, die zu dem verlassenen Haus und Garten führte. Aber ich konnte nichts entdecken, und meine Karten waren nicht detailliert genug. Ich brauchte verschiedene großformatige amtliche Landvermessungskarten, um auch nur die Hoffnung hegen zu können, ein einzelnes Haus zu lokalisieren.
Kurz vor Tagesanbruch wachte ich aus einem traumlosen Schlaf auf und erinnerte mich an das Gefühl der kleinen Hand, welche die meine ergriffen hatte. Doch das war eine Erinnerung. Die Hand war nicht da, wie sie es im Dämmerlicht jenes seltsamen Gartens gewesen war, dessen war ich mir nun recht sicher. Es war ein himmelweiter Unterschied, wie jedes Mal, wenn ich davon träumte, was ich im Laufe der nächsten Wochen oft tat.
Ich handle mit antiquarischen Büchern und Manuskripten. Im Wesentlichen suche ich im Auftrag von Kunden nach bestimmten Ausgaben, auf Auktionen, bei Privatverkäufen und auch bei anderen Büchermenschen, wenngleich ich von Zeit zu Zeit auch auf Spekulation kaufe, meist mit jemandem im Sinn. Ich besitze kein Ladengeschäft, sondern arbeite von zu Hause aus. Nur selten behalte ich die Ware für längere Zeit und verfüge auch über keinen größeren Lagerbestand von Büchern, die ich irgendwann verkaufen will, denn ich handle im oberen Marktsegment mit Ausgaben im Wert von vielen tausend Pfund. Ich sammle zwar Bücher aus eigenem Interesse und zu meinem Vergnügen, allerdings in viel bescheidenerem Maße und auf eher unorganisierte Art und Weise. Meine Wohnung in Chelsea ist voll davon. Jedes Jahr nehme ich mir vor, die Anzahl meiner Bücher zu halbieren, und jedes Jahr scheitere ich. Für jedes Dutzend, das ich verkaufe oder verschenke, kaufe ich zwanzig neue.
In der Woche nach meiner Entdeckung des Weißen Hauses war ich in New York und Los Angeles. Danach reiste ich nach Berlin, Toronto und zurück nach New York. Ich hatte mehrere wichtige Aufträge und war komplett davon in Anspruch genommen. Doch immer, selbst mitten in einem vollbesetzten Auktionshaus, wenn ich bei einem Kunden war, im Flugzeug oder in einem ausländischen Hotel, immer – egal wie voll mein Kopf auch mit der Angelegenheit war, der ich mich gerade widmete – blieb in einem gewissen Teil von mir die Erinnerung an die kleine Hand gegenwärtig und unmittelbar. Beinahe wie ein Zimmer, in das ich während des Tages für ein oder zwei Augenblicke treten konnte. Darüber war ich keineswegs erschrocken oder beunruhigt. Im Gegenteil, ich fand es seltsam tröstlich.
Sobald meine Reisen und Verpflichtungen erledigt waren, würde ich mich erneut damit befassen, würde zu begreifen versuchen, was mit mir geschehen war, und möglicherweise zu dem Haus zurückkehren, um es zu erkunden und mehr darüber herauszufinden – wer dort gelebt hatte, warum es leer stand. Und ob, falls ich zurückkehrte und dort still stehen blieb, die kleine Hand meine erneut suchen würde.
Auf einem Flughafen, beim Kauf einer Zeitung, hatte ich ein befremdliches Erlebnis. Um mich herum ging es sehr hektisch zu, und während ich in der Schlange stand, schubste mich jemand in Eile von hinten, was mich fast umwarf, und dann, während ich mich noch berappelte, spürte ich, wie eine Kinderhand nach der meinen griff. Doch als ich hinuntersah, erkannte ich, dass es eine echte Hand war, von einem echten kleinen Jungen, der voller Panik nach meiner gegriffen hatte, weil er selbst fast von dem kopflosen Reisenden umgeworfen worden wäre. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sich von mir losgemacht und war wieder mit seiner Mutter vereint. Das Gefühl seiner Hand war in gewisser Weise dasselbe gewesen wie das des anderen Kindes, aber auch ganz anders – eher warm als kalt, eher klebrig als seidig. Ich konnte mich nicht erinnern, wann zuletzt ein echtes Kind meine Hand genommen hatte, das musste Jahre zurückliegen. Und doch konnte ich recht deutlich zwischen beidem unterscheiden.
Erst Mitte Juni trat eine Pause zwischen meinen Reisen ein. Ich hatte einige erfolgreiche Wochen hinter mir und unter anderem zwei seltene Bücher aus der Kelmscott Press für meinen Kunden in Sussex erworben, zusammen mit signierten Erstausgaben sämtlicher Romane von Virginia Woolf in einwandfreiem Zustand, fast wie neu und mit Schutzumschlägen. Ich war begeistert, sie gefunden zu haben, und erpicht darauf, sie möglichst bald an ihn zu übergeben. Zwar bin ich gut versichert, doch kein noch so hoher Geldbetrag kann den Verlust oder die Beschädigung solcher Bände ersetzen.
Daher vereinbarte ich, mit den Büchern zu ihm zu fahren.
Im Hinterkopf hatte ich die Idee, mir genug Zeit zu lassen, um mich erneut auf die Suche nach dem Weißen Haus zu machen.
Hatte es je einen so herrlichen Juni gegeben wie diesen? Ich hatte schon zu viel vom späten Frühjahr verpasst, doch jetzt befanden wir uns in den berauschenden Tagen lauer Lüfte und frisch erblühter Rosen. Die Bauern waren bei der Heuernte, als ich hinunterfuhr, und der Garten meines Kunden war sattgrün und üppig, die Beete übersät mit Blumen in voller Blüte, Bienen summten, und in der Luft lag der Duft von Geißblatt und frisch gemähtem Gras.
Ich war eingeladen worden, über Nacht zu bleiben, und wir nahmen das Abendessen auf der Terrasse ein, von der aus man in der Ferne das Meer sehen konnte. Sir Edgar Merriman war ein älterer Herr, bescheiden im Auftreten und unermesslich reich. Er hatte eine Schwäche für Bücher und altertümliche wissenschaftliche Instrumente, außerdem besaß er eine Sammlung seltener Spieldosen, die, einmal aufgezogen und in Gang gesetzt, die Abendluft mit ihrem Klang erfüllten.
Wir verweilten im Freien, und die blaugrauen Rauchringe von Sir Edgars Zigarre stiegen auf, hielten die Insekten fern, während sich der würzige Geruch mit dem der Lilien und Levkojen in den umliegenden Beeten mischte. Seine Frau Alice saß bei uns, eine kleine, grauhaarige Frau mit sanfter Stimme und einer Schüchternheit, die ich höchst anziehend fand.
Irgendwann kam der Diener, um Sir Edgar ans Telefon zu bitten, und während seine Frau und ich in der einbrechenden Dämmerung beieinandersaßen und die Nachtfalter um die Lampe schwirrten, kam mir die Idee, sie nach dem Weißen Haus zu fragen. Kannte sie es? Könnte sie mir den Weg dorthin beschreiben?
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie davon gehört. Wie weit ist es denn von hier entfernt?«
»Das ist schwer zu sagen … Ich hatte mich hoffnungslos verfahren. Vielleicht eine Fahrt von fünfundvierzig Minuten? Könnte auch ein bisschen länger gewesen sein. Ich habe eine Nebenstraße genommen, die ich zu kennen glaubte, doch das war nicht der Fall.«
»Auf dem Land gibt es so viele Straßen, die nicht beschriftet sind. Wir kennen uns in der Umgebung gut aus, aber für die Unachtsamen werden sie zur Falle. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Warum möchten Sie denn noch einmal dorthin, Mr Snow?«
Ich kannte die beiden seit vier oder fünf Jahren und hatte bereits ein oder zwei Mal bei ihnen übernachtet, aber für mich blieben sie immer Sir Edgar und Lady Merriman, und ich war immer Mr Snow, nie Adam. Das gefiel mir.
Ich zögerte. Was sollte ich auch sagen? Dass ein verlassenes und halb verfallenes Haus und ein verwildeter Garten auf mich eine Anziehung ausgeübt, mich beinahe verzaubert hatten und ich sie daher genauer erforschen wollte? Dass es mich wieder dorthin zog, weil … wie hätte ich ihr von der kleinen Hand erzählen sollen?
»Oh – Sie wissen ja, welch seltsame Anziehung von manchen alten Häusern ausgeht. Und ich könnte mir vorstellen, mich eines Tages auf dem Land zur Ruhe zu setzen.«
Sie schwieg, und nach einem Moment kehrte ihr Mann zurück, worauf sich das Gespräch wieder um Bücher drehte und um die Frage, was er als Nächstes zu erwerben gedachte. Sein Geschmack war breit gefächert, und er machte die ungewöhnlichsten Vorschläge. Ich fühlte mich von ihm stets herausgefordert, immer in Trab gehalten. Er war ein spannender Kunde, weil ich nie vorausahnen konnte, worauf er es abgesehen hatte.
»Wissen Sie«, fragte er jetzt und reichte mir den Dekanter, »ob jemals wieder eine First Folio von Shakespeare zum Verkauf angeboten wird?«
Ich stieß beinahe mein Weinglas um.
Eine halbe Stunde später erhoben wir uns, um hineinzugehen, wenngleich die Luft immer noch warm war. Ich war voller Enthusiasmus, nur gebremst durch die Gewissheit, dass ich keine First Folio für Sir Edgar finden würde. Doch allein die spekulative Unterhaltung ließ mich sein Vermögen neu überdenken.
Als ich den beiden eine gute Nacht wünschte, sagte Lady Merriman plötzlich: »Ich glaube, ich weiß es, Mr Snow. Ich glaube, ich habe die Antwort. Geben Sie mir bitte einen kurzen Moment.« Sie verließ den Raum, und ich hörte ihre Schritte auf der Treppe nach oben und weiter in den Tiefen des Hauses.
Ich setzte mich auf einen niedrigen Sessel nahe der geöffneten Terrassentür. Die Lampe war gelöscht, und ein leichter Ölgeruch ging von ihr aus. Der Himmel war übersät mit Sternen.
Ich fragte mit leiser Stimme: »Wer bist du?« Denn ich hatte das seltsame Gefühl, dass jemand in meiner Nähe war. Aber natürlich war da niemand. Ich war allein, und es war friedvoll und ruhig.
Schließlich kehrte Lady Merriman zurück und hielt etwas in der Hand.
»Entschuldigen Sie, Mr Snow. Das, wonach wir suchen, ist immer gerade irgendwo anders hingelegt worden. Doch das hier könnte Ihnen vielleicht helfen. Mir fiel es ein, als wir nach dem Dinner dort draußen saßen – das Haus. Der Name, den Sie mir nannten, das Weiße Haus, sagte mir nichts, weil es bei allen Ortsansässigen stets nur als Denny’s Haus bekannt war – es steht etwa zwanzig Meilen von hier, aber auf dem Land ist das keine Entfernung, wie Sie wissen.«
Sie nahm Platz.
»Sie hätten sich nicht so viel Mühe machen sollen. Das war nur eine vorübergehende Laune. Ich weiß jetzt schon nicht mehr, warum es mich so beschäftigt hat.«
»Hier ist ein Artikel darüber. Die Zeitschrift ist ziemlich alt. Wir heben viel zu viel auf, und ich habe noch einen ganzen Stapel davon. Das Haus wurde als Denny’s Haus bekannt, weil es Denny Parsons gehörte. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie schnell man Dinge vergisst«, sagte sie. »Hier drin werden Sie alles über Denny Parsons und den Garten finden.« Sie reichte mir eine wohl vierzig Jahre alte Ausgabe von Country Life. »Irgendetwas ist dort vorgefallen, doch alles wurde vertuscht. Mehr weiß ich leider nicht. Bleiben Sie so lange, wie Sie möchten, Mr Snow, aber mich müssen Sie entschuldigen, ich werde zu Bett gehen.«
Ich trat für einen kurzen Moment hinaus auf die Terrasse. Alles hatte sich zur Ruhe begeben, die Sterne funkelten, und ich meinte, ein schwaches Rauschen von Meereswellen zu hören, die sich auf dem Kies brachen.