Meinen Töchtern Ana und Josefine
Mein erster Schluck Bier war kein Schluck. Genau genommen. Eher ein Bissen Bier. Die feste Masse eines Stücks Schaum. Im Prinzip bestand es zur Hauptsache aus dem Gas Kohlendioxid. Was mein Vater mir, dem Zehnjährigen, von seinem Feierabendbier gönnte, war ein Anteil am CO2, das ihm die Kellnerin an den Tisch brachte. Nach dem Öffnen der Bierflasche perlte das Gas aus und verließ in Bläschenform die Flüssigkeit – eine Folge des Druckverlusts in der Flasche und des Umschüttens beim Einschenken. Der Schaum versammelte sich im oberen Drittel des Glases, und er reckte sich sogar neckisch darüber hinaus, wie der oberste Zipfel eines schneebedeckten Bergs. Der Vater schob mir das Bier hin: »Da, der Schaum gehört dir.«
Ich näherte mich vorsichtig dem watteartigen Haufen, dann füllte ich mir mutig den Mund. Das Gas allein hätte natürlich nach nichts geschmeckt. Es hätte auch nicht so stabil wie geschlagenes Eiweiß über dem Rand des Willibechers verharrt. Doch als Schaum war das Kohlendioxid ja nicht auf sich allein gestellt. Es hatte Verstärkung. Es war im Beisein von Proteinen und Hopfenrückständen. Diese fungierten als Lamellen zwischen den einzelnen Gaseinheiten, bildeten die Hüllen der Bläschen und sorgten so – aus physikalischer Sicht – erst einmal dafür, dass das Gas auf dem Bier nicht davonflog und sich im Gasgemisch der irdischen Atmosphäre auflöste.
Der erste Schluck Bier! Für mich: ein Stück Schaum. Für den französischen Schriftsteller Philippe Delerm aber: »der einzige, der zählt«. Die anderen Schlucke nämlich, die immer größeren, aber immer harmloseren, würden nur noch »laue Benommenheit« verusachen, sie seien »freudloser Überfluss«. Einzig der letzte Schluck, schreibt er, erlange eine ähnlich große Bedeutung: »Wegen der Enttäuschung, dass es vorbei ist.«
Bestimmt denken nun einige, mein erster Schluck Bier, jener trockene Mundvoll Schaum, wäre eine Enttäuschung gewesen – kein »prickelndes Gold« am Gaumen, keine »kalte Sonne« wie bei Schriftsteller Delerm oder einem anderen Romantiker des Biergenusses. Nüchtern betrachtet mag sich meine initiale Biererfahrung auf das Runterschlucken eines ungewöhnlich schmeckenden Arrangements aus Gas, Eiweiß, Hefe und Hopfenrückständen beschränkt haben. Trotzdem bestehe ich auf der Sinnlichkeit dieses ersten Mals.
Es reichte immerhin aus, mir eine der Kerneigenschaften des Getränks – seine Bitterkeit – in beeindruckender Intensität zu vermitteln. Manchmal glaube ich, die Schaumfetzen, die ich an einem späten sommerlichen Samstagnachmittag vom Haldengut Lager meines Vaters abgeleckt habe, noch immer auf meiner Zunge zu spüren. Aus sensorischer Warte betrachtet, bewirkten die zusätzlichen Inhaltsstoffe, dass dieser Bissen Bier zu einem frühen Intensiverlebnis wurde, vergleichbar mit dem Probieren des ersten selbstgemachten Karamells und dem Anbeißen der ersten Holzofenpizza in Italien. Sprich: Meine Geschmacksknospen hatten mit den Lamellen der Bläschen so ordentlich zu tun, dass ein späteres Vergessen ausgeschlossen war. Eilig versorgten sie mein Hirn mit einer Warnmeldung: »Sehr bitter!«
In der Zwischenzeit habe ich natürlich gelernt, von der »Bittere« zu sprechen. Ich habe mir diverse Kleinteile des Vokalbulars angeeignet, mit denen das Braugewerbe über seine Produkte fachsimpelt. Ich habe von International Bitterness Units, abgekürzt IBU, schon mal gehört. Ich kann Sorten namens Oktoberfestbier, Gruitbier und Milk Stout auseinanderhalten. Und ich weiß, dass ein Kölsch was Obergäriges ist (schon das reicht manchmal, um sich in Gesprächen über Hopfen und Malz ein bisschen wichtig zu machen). Aber kein Knowhow-Zuwachs, den ich mir mit harter Ausdauer an einem internationalen Tresen oder regionalen Biertisch erworben habe, führte dazu, dass ich jenen ersten Schluck hätte vergessen können. Dies gelang keiner der Abertausend kalten honiggelben Sonnen und keinem der nachtdunklen Teufel, die ich dem bitteren Bissen Schaum in all den Jahren hinterhergespült habe.
An den Namen der Winterthurer Gartenwirtschaft erinnere ich mich nicht. Aber an den Tag, das Wetter und den Grund, mit dem ich mir meinen ersten »Schluck« verdient hatte. Zuvor waren wir im Wald. In höllischer Hitze schlugen wir Holz. Mein Vater legte mit seiner Motorsäge Baumriesen flach, entastete sie, und ich durfte mit dem Reißmeter ablängen: Die dicken Teile der Stämme wurden zu Nutzholz, die Reste zu meterlangen Brennholzeinheiten. Ich schleppte Äste, zerkleinerte das Meterholz mit dem Spalthammer, wendete mit dem Handsappie die Stämme, und wenn Vaters Motorsäge verstummte, weil sie, wie er jeweils sagte, »Durst« habe, »wie sein Meister«, dann holte ich die Plastikkanister und füllte Benzingemisch in die heiß gewordene Maschine ein und Schmieröl für die Kette – während der Vater ein Bier trank. Haldengut Lager.
Ich war ja erst zehn und am frühen Abend fix und fertig. Aber ich lernte, bevor wir nach Hause fuhren, das »Einkehren« nach der Arbeit kennen. Und das Gefühl, ein Großer zu sein, zumindest ein bisschen. An den Händen klebte das Harz, im Gesicht Sägemehl und Schmutz, die Finger rochen nach Benzin, und wir saßen verschwitzt, zwischen Arbeit und Abendessen, in jener etwas schrabbeligen Winterthurer Gartenkneipe, als mein Vater mir den Schaum hinschob.
Seither weiß ich, wann Bier am besten schmeckt. Man muss etwas getan haben, körperliche Arbeit, harte geistige geht auch. Das beste Bier ist Belohnung, es folgt einer Anstrengung. So habe ich es gelernt, und bislang hat niemand das Gegenteil bewiesen. Unter solchen Umständen kommt jene Stimmung zustande, die einen sagen lässt: »Ach, jetzt ein Bier!« Wer diesen Wunsch ausspricht, will keine vornehme Witwe Cliquot aus Frankreich kredenzt bekommen. Er möchte nicht an einem elegant getorften Single Malt Whisky aus den schottischen Highlands schnuppern und nippen. Er will ein Bier.
Kein Wunder, ist der malochende, dehydrierte, dadurch maximal durstige Mann, der seinen körperlichen Wiederaufbau mit einem Bier bewerkstelligt, zu einem Klassiker der Werbegeschichte geworden. Vor Jahrzehnten schaute ich mir in London eine Ausstellung des Victoria & Albert Museums an. Ein einziges Bild daraus habe ich mir einprägen können: ein historisches Guinness-Plakat aus dem Jahr 1934. Es zeigt zwei Arbeiter. Der eine sitzt ermattet hinten auf einer Bank und stärkt sich mit einem Guinness. Im Vordergrund der zweite Arbeiter, er hat sein Stout bereits verputzt, umgehend die Pause beendet und trägt schon wieder locker lächelnd allein einen gigantischen Stahlträger auf Kopf und Arm: »Guinness for strength«.
Vermutlich hat mich der Anblick dieses Guinness trinkenden Kraftmeiers an meinen Premierenschluck nach der Holzfällerei erinnert. Auf jeden Fall hat er meinen frühen Eindruck zementiert, dass schwere körperliche Arbeit und Biertrinken gut zusammenpassen. Bis heute trinke ich gerne Guinness und glaube verklärt irgendwie daran, dass es mir Kräfte verleiht, auch wenn mein aufgeklärter Geist natürlich längst mit klugen Argumenten dagegenhält. Der weiß nämlich, dass der malzige Trunk weniger der Muskulatur im Bauch zu Wachstum verhilft als vielmehr den tangentialen Zonen dieser Körperregion. Und nach dem vierten Guinness ist es mit der Kraft sowieso vorbei.
Das Haldengut Lager hat in seiner Firmenhistorie keine spezifische Zielgruppe vermerkt. Die Faktenlage ergibt nicht mal die Möglichkeit, einen solchen Mythos zu konstruieren. Es ist daher meine individuelle Wahrnehmung, dass zur Marke ein Holzfäller gehört, der mit Harz an den Händen und Spänen im Haar das Motorsägemehl mit einem großen Bier aus den Zähnen spült. Und gleichzeitig lacht. Ja! Dieses Motiv würde ich aufs Plakat drucken!
Andere Verbindungen von Biersorte und Arbeiterschaft sind historisch verbrieft. Das Porter ist nach den Porters benannt, den Londoner Hafenarbeitern, die den ganzen Tag mit dem Be- und Entladen von Schiffen beschäftigt waren.
Der schwitzende Arbeiter jedoch ist in jüngerer Vergangenheit als Zielpublikum aus der Mode gekommen. Die Fernsehbier-Werbung bevorzugt andere Motive. Nassfrische Hopfendolden und Regenwälder erinnern heute während der Werbeunterbrechungen der Sportschau an den typischen Durst des Mannes. Dafür hat die Baumarkt-Werbung sich den Malocher geschnappt – zumindest in seiner Freizeitvariante: hämmernder Heimwerker.
Doch die modernen Craft Brewer holen sich den Arbeiter als Aushängeschild zurück. Dank ihres Fimmels für Traditionsbiere. Porter-Biere, in britischer oder baltischer Ausprägung, feiern in der Szene ein grandioses Comeback, natürlich mitsamt dazugehöriger Legende. Die Bergmann Brauerei (die ein großartiges herb-malziges Schwarzes braut und das legendäre Adam-Bier aus der Gruft geholt hat) setzt mit dem wiederbelebten Biernamen auf den Mythos einer Arbeiterschaft, die es in Europa quasi nicht mehr gibt: die Bergmänner. Erst recht tut sie es mit ihrem Motto, das sich in der Webadresse wiederfindet: www.harte-arbeit-ehrlicher-lohn.de
Kürzlich las ich auf dem Etikett eines neu lancierten Biers, dass die belgischen Kumpel im 19. Jahrhundert »müde, durstig, mit staubiger Kehle« aus den Steinkohleminen kamen und die lokalen Brauer sie mit der maßgeschneiderten Erfrischung namens Grisette versorgten – schon trank ich die Pulle Zeebrugge von Kehrwieder aus Hamburg mit überproportionalem Wohlwollen, auch wenn ich weder müde noch besonders durstig war und schon gar nicht einen Tag lang Kohle aus dem Erdinnern ans Licht gekarrt hatte. Mehrere kreative Brauer haben die leichte, trockene, säuerliche, alkoholarme Köstlichkeit aus der Vergessenheit geholt und sie anhand alter Rezepte rekonstruiert und modifiziert. Das Bier – erfrischend, wenig Umdrehungen – ist superb. Der Flaschenpreis allerdings weniger etwas für Malocher.
Der Wallonie, dem französischsprachigen Teil Belgiens, verdanken wir neben der Grisette das Saisonbier, auch bekannt als Farmhouse Ale. Fünf Liter standen einem Feldarbeiter einst täglich zu. Es war fruchtig, oft mit Orangenschalen oder Gewürzen angereichert und hatte ebenfalls wenig Alkohol. Dieses »Defizit« kompensierten die Brauer, indem sie mehr vom zweiten klassischen Bier-Konservierungsmittel beimischten: Dank Extraladung Hopfen hielt das niedertourige Bier trotzdem der Hitze des Sommers stand.
So gerne moderne, kreative Braumeister die Geschichte eines kräftigenden oder erfrischenden Trunks nacherzählen – an die alten Rezepte halten sich die wenigsten stur. Moderne Farmhouse Ales sind oft Mutanten. Statt belebende drei haben einige zermürbende acht Volumenprozent Alkohol. Insofern stimmen die aufgetischten alten Geschichten nicht immer mit den gelieferten Tatsachen der trendigen Retrobiere überein. Fünf Liter eines solchen Protzbiers hätten mit dem Feldarbeiter vor allem eines gemacht: ihn von der Arbeit abgehalten.
Allgemein sind Bier und Arbeit zwei auseinanderdividierte Angelegenheiten geworden. Daher sind auch die Zeiten des Haustrunks längst vorbei. Ähnlich wie im alten Ägypten, wo die Pyramidenbauer teilweise in Bier bezahlt wurden, gab es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hierzulande Alkoholika vielerorts direkt am Arbeitsplatz, und sie wurden außerdem als sogenannte »Lohnergänzung« ausgegeben. Noch 2010 gingen in Deutschland vier Millionen Liter Bier als Haustrunk an die Mitarbeiter von Brauereien. Aber die Gepflogenheit, Arbeiters Durst mit Bier zu löschen, kam unter die Räder des Zeitgeists. Längst arbeiten auch die Steuerbehörden gegen diese nette Geste der Arbeitgeber innerhalb der Getränkeindustrie an, indem sie den Haustrunk als »Lohnanteil« und »geldwerten Vorteil« dem Steuerrecht unterstellten.
Aber damals, in den Siebzigern, war das anders. Die Maurer auf dem Bau waren Säufer, von Ausnahmen abgesehen. Genauso wurde im Wald zwischen all den Bäumen gegen die Dehydrierung natürlich mit Bier angetrunken, so etwa ab mittags, spätestens ab 15 Uhr. Als Problem erkannte man dabei am ehesten: Wie halten wir die Flaschen kühl?
Unter diesen Gesichtspunkten müsste man natürlich längst fragen, wie es moralisch zu bewerten ist, dass mein Vater seinen zehnjährigen Sohn 1974 den Schaum hat ablecken lassen.
Heute gibt man Kindern keinen Schaum mehr zu trinken. Ich schon, aber das muss unter uns bleiben. Jeder Akt, der Minderjährige an die Droge Nummer eins, den gefährlichen Alkohol, heranführen könnte, bringt einem im mildesten Fall Kopfschütteln, im mittelscharfen Beschimpfung und im schlimmsten eine Anzeige ein.
Um meinen seligen Vater aus der Schusslinie heutiger hysterischer Zeitgenossen zu nehmen, muss ich erst einmal verraten, um was für ein Bier es sich bei dem damaligen Haldengut Lager handelte. Den nachhaltigen Eindruck hat mir damals der Hopfen beschert. Ganz simpel wegen der Stärke seines Geschmacks, nicht etwa seines Aromas wegen. Das Bier war garantiert nicht mit einem Aromahopfen gewürzt, über den heute Bierkenner weltweit fachsimpeln könnten. Das Bier war mit Bitterhopfen gekocht, die Aromaöle waren weitestgehend verdampft. Ich kann mich an keine Blumigkeit im Duft erinnern. Auch nicht bei späteren Schlucken in späteren Monaten und Jahren, die bald nicht mehr aus Schaum, sondern aus richtigem flüssigem, kaltem Bier bestanden, also Sonne. Nein, in meines Vaters Glas steckten keine filigranen Litschi-Aromen, kein Hauch von Kardamom, Himbeeren und Schokolade. Sein Glas war einfach voll mit Bier. Das Bier schmeckte bitter. Die Männer hatten Durst. Sie wollten Bier.
Und ich war ein Kind. Evolutionsmediziner können bestätigen, dass ich in jenem Alter darauf konditioniert war, das Bittere als Warnung zu interpretieren. Was bitter ist, könnte vergiftet sein. Denn dies war bereits für das Steinzeitkind ein wichtiger Überlebensvorteil, wenn es beim Beerennaschen in der Wildnis versuchte, möglichst viele süße Exemplare in sich hineinzustopfen. Biss der paläolithische Knirps auf die Beere einer bitteren Sorte, ließ er diese wohlweislich nach einer ersten Kostprobe am Strauch hängen – die Früchte waren ungenießbar. Die darauf fokussierten Rezeptoren sitzen mehrheitlich hinten auf der Zunge. Erwischen sie Ungenießbares, melden sie dies sofort ans Gehirn, und das Denkorgan löst einen Würgereflex aus, damit der Bitterstoff den Körper möglichst schnell wieder verlässt.
Dabei kann man den Pflanzen übrigens durchaus Absicht unterstellen. Nicht alle möchten von Tieren verspeist werden. Deshalb stellen viele von ihnen Gifte her, unter anderem Substanzen, die im Magen Blausäure freisetzen. Wir haben im Laufe der Evolution gelernt, dass wir diese gefährlichen Stoffe an ihrer Bitterkeit erkennen können. Entsprechend heftig reagieren die dafür zuständigen Rezeptoren – während die Kollegen, die auf Süßes reagieren, Signale verschicken, die im Hirn für Euphorie sorgen. Seit der Altsteinzeit sind wir mit diesen Mechanismen ausgestattet.
Bestimmt wusste mein Vater das. Er versuchte, mich auf diese Weise vom Alkoholkonsum abzuhalten. Ich sollte anhand der Schaumprobe schmecken, wie ungenießbar Bier schmeckt. Er warnte mich vor dem toxischen Trunk!
Für diese These spricht zumindest theoretisch eine weitere Erfahrung. Der Vater wollte mich und meinen Bruder womöglich auf dieselbe Weise vom Rauchen abhalten. Um uns die Glimmstängel madig zu machen, nutzte er den »Schulsilvester«, einen Zürcher Altjahresbrauch (der in Verruf geraten und mittlerweile vielerorts verboten ist). Es war üblich, dass die Kinder des Dorfs am frühen Morgen des letzten Schultags vor Weihnachten rauchend duch die Straßen zogen und derbe Streiche spielten (Sachbeschädigungen gab es damals noch relativ selten). Statt uns im Vorfeld Ratschläge zum Maßhalten zu geben, hatte mein Vater seine eigene Sonderpädagogik entwickelt. Er drückte uns am Vorabend dicke Stumpen – das niedrigpreisige schweizerische Pendant zur Zigarre – in die Hand und sprach: Raucht so viel ihr wollt! Die brillante Idee dahinter: Den Söhnen wird von der rustikalen Kost kotzübel; sie werden auf ewig die Finger vom Tabak lassen.
Gegen die These, dass er mich mit dem Bier ebenfalls präventiv vergiften wollte, damit ich auf den Weg zur Abstinenz finde, spricht allerdings auch einiges. Mein Vater rauchte nämlich seit Urzeiten nicht mehr, Rauchen gefiel ihm nicht – der Versuch, uns vom Paffen abzuhalten, war also glaubwürdig. Beim Bier allerdings erkenne ich (rückblickend) diese Absicht nicht. Man merkte meinem Vater an, dass er es immer gemocht hat. Sehr. Zeitweise zu sehr.
Mir schmeckte Bier auf Anhieb. Das ist keine bloße Behauptung. Ich habe nicht aus dem Grund Schaum geleckt und später meinem Vater mal das halbe Bier ausgetrunken, weil ich noch erwachsener sein und ein bisschen Sodom und Gomorrha schmecken wollte. Das Gefühl, am Verbotenen genascht zu haben, erlebte ich erst viel später. Als ich mich in Abwesenheit der Eltern an der Schnapsbar vergriff. Ein blöder Rausch kam dabei rum, aber keine Freude.
Rebellische erste Schlucke mögen manchen Biertrinker zu nostalgischen und philosophischen Gedanken in Übergröße verleiten. Da wird das vorpubertäre Ereignis schnell zu einer Art Mini-Initiation: erster Alkohol. Aber dafür hatte ich, viel früher schon, den Hustensirup – den es heute natürlich kindergerecht alkoholfrei gibt. Aber auch der Hustensirup hatte kein Gefühl erzeugt, das etwas mit persönlicher Reifung zu tun gehabt hätte. Vielleicht muss ich es tatsächlich lapidar ausdrücken, auch wenn ich in der Rückblende gerne mehr Bedeutung in jenen Moment interpretieren würde. Ich hatte damals einfach den Mund voll Schaum. Der Schaum hat sehr bitter geschmeckt. Aber er hat geschmeckt.
Seit sich der Biertrinker im Restaurant genauso wichtig machen kann, ist es mit dem Privileg des Weintrinkers vorbei. Dieser hatte lange genug exklusiv die Möglichkeit, seine Flüssigkeitszufuhr zum dominanten Thema einer Bestellung zu machen. Er legte den Blick über die Weinkarte, wählte die Farbe seines Getränks. Dann entschied er sich für einen Kontinent, ein Land, eine Region, eine Traubensorte, einen Winzer, einen speziellen Jahrgang. Er evaluierte die geografische Ausrichtung des Weinbergs, die Geologie des Untergrunds, unter Umständen das Alter der Weinstöcke. Zu klären hatte er die Frage nach Barrique. Und damit an den Nebentischen jeder mitbekam, mit wie viel zwingendem Wissen der fortgeschrittene Konsum von Wein einher gehen kann, stellten Gourmetrestaurants ihren Gästen einen Sommelier zur Verfügung. So ließen sich alle weiteren wichtigen Aspekte im Experten-Talk erläutern: Körper, Tannine, Textur.
An einem der Nebentische saß der gemeine Biertrinker und brütete über seinen Minderwertigkeitsgefühlen. War er dran, ein Getränk zu bestellen, ging es schnell. Ihm stand eine erschreckend kümmerliche Auswahl zur Verfügung: Pils oder Weizen, groß oder klein, Flasche oder Zapfhahn.
Doch seit Craftbier in Deutschland in relevanten Mengen getrunken wird, mutiert der Biertrinker zum Fachmann, denn auch er hat nun den Lockruf der Vielfalt vernommen und spürt die Herausforderung, sich auszukennen. Sarkastisch gesagt: Mit der Einfachheit ist’s vorbei; wir Biertrinker müssen heute dieselben Hürden nehmen wie der Weintrinker.
Früher habe ich einfach »ein Bier« bestellt, heute erkundige ich mich nach der Bierkarte. Und die hat mehrere Seiten. Darauf finden sich Kontinente, Länder, Erzeuger, Bierstile, Malzsorten, Hopfensorten. Mitunter Jahrgänge und lateinische Namen von Hefen. Auch die Preise sind nicht mehr, was sie mal waren. Und schon kommt der Biersommelier herbeigerannt, gleich werden wir übers Terroir reden.
Natürlich sind bessere Zeiten angebrochen, seit Gast und Kellner nicht mehr nur das gewünschte Fassungsvermögen von Krug oder Glas, sondern Marken, Zutaten und Brauarten zu besprechen haben. Die Qualität der Biere, die wir an gut sortierten Zapfstellen bekommen, ist im Vergleich zu früher atemberaubend. Astra, Beck’s oder Paulaner gibt es natürlich wie eh und je. Aber auf der Tafel neben dem Tresen steht jetzt oft noch eine verführerische Liste mit gänzlich Unbekanntem.
Es gibt einen jährlich durchgeführten Wettbewerb, der diese Entwicklung deutlich zeigt. Der European Beer Star ist die europäische Weltmeisterschaft der Biere. Es gibt auch eine amerikanische (den World Beer Cup), die ist natürlich größer. Aber längst ist die in München abgehaltene Veranstaltung genauso unüberschaubar geworden. Traten bei der Premiere 2005 erst 271 Biere an, so verkostete die Jury im Jahr 2018 bereits 2344 Biere aus 51 Ländern.
Für mich als Mitglied der Jury heißt das: 160 Biere in zwei Tagen trinken. Als mich vor Jahren das Glück ereilte, in dieses Gremium berufen zu werden, habe ich mich nicht dagegen gewehrt. Als einer von mittlerweile 144 Köpfen arbeite ich mich jährlich durch die Bierwelt hindurch, verkoste Sauerbiere, Honigbiere, Düsseldorf-Style Altbiere, Dry Stouts. Manchmal erwischt es mich, dass ich auch die ganze belgische Vielfalt bezwingen muss: die Dubbels und Tripels in jeweils eigenen Kategorien und die noch stärkeren Quadrupel, die unter den »Ultra Strong Beers« eingereiht sind.
Zwei Tage lang bekommen wir Bier in neutralen Gläsern vorgesetzt. Alles im Blindtestverfahren: Wir kennen weder die Namen der Biere, noch die der teilnehmenden Brauereien. Erst vergeben wir Punkte. Schließlich verleihen wir in den Finalrunden Gold, Silber und Bronze in 67 Kategorien. Diese große Auffächerung nach Sorten oder Bierstilen hängt damit zusammen, dass sich Flascheninhalte selbst dann schlecht vergleichen lassen, wenn sie mit identischen Zutaten gebraut sind; Starkbier und Lightbier gegeneinander antreten zu lassen, wäre sinnlos, selbst wenn Hopfen und Malz die gleichen sind.
Allein beim »Weizenbier nach süddeutscher Brauart« werden in sieben verschiedenen Kategorien die Weltbesten erkoren: leichtes Weizen, Hefeweizen hell, Hefeweizen bernsteinfarben, Hefeweizen dunkel, Kristallweizen, Weizenbock hell, Weizenbock dunkel. Es geht noch weiter: Weizenmalz findet sich in Belgian-Style Witbieren, in obergärigen Alkoholfreien, in der Kategorie der fassgereiften Starkbiere oder unter dem etwas sperrigen Oberbegriff »Traditional Belgian-Style Lambic, Geuze and Fruit Geuze«. Allein das Verkosten dieser letzten Kategorie ist immer ein Überraschungstrip. Die Lambics sind eine der ältesten Biersorten der Welt. Die Belgier machen daraus wahre Schätze, die man wie einen Bordeaux zwanzig Jahre im Keller aufbewahren kann. Sie reifen in Eichen- oder Kastanienfässern, und manche bekommen nach vielen Monaten zusätzlich Gesellschaft von frischen Sauerkirschen – wodurch sie zu einem Kriek werden. Sie vergären nämlich erneut, weil Mikroorganismen auf den Schalen der Kirschen mit jenen im Lambic zusammen eine zweite Phase der Fermentation anstoßen.
Andere Kategorien sind hierzulande bekannter: Bock, Lager, Kölsch. Die Einführung einer neuen Kategorie beschließen die Veranstalter, sobald ein alter Stil erfolgreich aus der Versenkung geholt wurde oder Kreativbrauer ihn überhaupt erst erfunden haben: Session Beer, Baltic-Style Porter, Fruit Beer, New Style India Pale Ale, New Style Lager.
Das Biertrinken ist so kompliziert geworden, dass schon allein das Saisonbier oder Farmhouse Ale, das vor wenigen Jahren in Deutschland kaum einer kannte, beim European Beer Star nicht mehr mit einer Kategorie zurechtkommt. Weil vor allem die amerikanischen Craft Brewer jede in Europa erspähte Sorte in ihrem schöpferischen Furor weiterentwickeln, mussten irgendwann die Biere aus dem Komplex »Traditional Belgian-Style Saison« von den alkoholisch und geschmacklich mit einem Turbo ausgerüsteten »New Style Saison« getrennt werden.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Braumeister. Sie möchten ein wenig ihren Ambitionen als Craft Brewer nachgehen. Sie haben erfahren, dass es einen interessanten Trend gibt: Zusätzliche Geschmacksnuancen lassen sich ins Bier bringen, ohne dass Sie gegen die Heilige Schrift der orthodoxen Brauwelt (das Reinheitsgebot) freveln müssen. Die Methode erinnert an Homöopathie: Whiskyaroma ins Bier, ohne dass Whisky im Bier ist. Sie müssen das Bier nur einem Holzfass anvertrauen, in dem zuvor Schnaps reifte. Möchten Sie einen Versuch starten? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten, haben Sie als Braumeister einen einzigen Punkt geklärt. Es kommen aber viele Punkte hinzu.
Zum Beispiel: Soll das finale Bieraroma von einem alten Irish Whiskey-, Scotch- oder Bourbonfass geprägt sein? Soll zuvor im Fass Cognac, Rum, Tequila, Gin, Sherry, Madeira, Weißwein oder Ultra Strong Bier gelegen haben? Die Frage, ob das Fass getoastet sein soll oder getoastete Holzchips zum Einsatz kommen dürfen (bis 2006 verboten), beschäftigte über Jahre fast nur die Winzer mit ihren Trauben. Längst ist diese Debatte im Sudhaus angekommen. Wie lange soll das Bier im Fass bleiben – zehn Tage oder drei Jahre? Nehme ich eins mit Hefen in den Fugen zwischen den Dauben, oder dürfen es Milchsäure- und Essigsäurebakterien sein?
Ich würde Sie jetzt gerne erlösen und inhaltlich weitergehen. Aber die Holzartfrage haben wir noch nicht geklärt. In der französischen Eiche sind mehr Tannine, das Aroma wird kräftiger. Amerikanische Eiche bringt Kokos- und Vanillearomen hervor. Russische Eiche macht das Bier cremiger. Überdies sind die Jahrringe nicht zu vernachlässigen! Sie geben Aufschluss über das Tempo des Baums beim Wachsen: Langsame Hölzer haben höheres Aromapotenzial. Und mit welcher Technik gleiche ich aus, dass das Bier im Fass einen Großteil seines Kohlendioxids verloren hat? Wieder drei Möglichkeiten. Erstens: Exakt so abfüllen – ergibt ein ziemlich schaumloses Getränk. Zweitens: In der Flasche nochmals gären lassen. Drittens: Zusätzlich CO2 in den Tank geben, im Fachjargon »aufkarbonisieren«.