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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Thoth_Adan/iStock

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ISBN 978-3-644-00323-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00323-1

Fußnoten

Übersicht über die Aussprache der Pinyin-Umschrift im Anhang, S. 178.

Ein Kombinationsbeispiel befindet sich im Anhang, S. 180.

Das gilt für Rechtshänder, bei denen die linke Gehirnhälfte in der Regel dominant ist. Bei Linkshändern kann auch die rechte Gehirnhälfte dominant sein, dann ist das Sprachzentrum rechts lokalisiert. An der Studie waren nur Rechtshänder beteiligt.

Probieren Sie, chinesische Begriffe zu erraten. Anhang, S. 181.

In manchen deutschen Dialekten wie Bairisch und Schwäbisch heißt es wie im Chinesischen «Da hat’s».

«Xiaozi» (wörtlich: kleiner Kapitalist) entspricht dem Ausdruck «Yuppie».

1-2-3-Struktur: Buddha springen Mauer.

Knorpelschildkröte entspricht Weichschildkröte, Samli-Fisch entspricht Abalone.

1-k, 2-d, 3-b, 4-h, 5-c, 6-l, 7-f, 8-e, 9-a, 10-i, 11-g, 12-j

Anmerkungen

Kapitel 1 Mit der Sprache durch die Geschichte

Lu Xun, Band I, 1994, S. 13.

Konfuzius, 2007, S. 183f.

Mong Dsï, 1982, S. 58.

Konfuzius, 1983, S. 94.

Leibniz, Gottfried Wilhelm, 2006, S. 37.

ebd., S. 477.

Konfuzius, 1983, S. 49.

ebd., S. 66.

Chinesisch in lateinischen Buchstaben

DeFrancis, John, 2011, S. 275.

Wortspiele mit dem Gleichklang und Subversion

Übersetzung: Klöpsch, Volker, 2009, S. 108.

Chinesische Namen und ihre Fallstricke

Dschuang Dsï, 1972, S. 123.

Von Orakelbefragungen zur chinesischen Schrift

Chang Tsung-Tung, 1970, S. 82.

ebd., S. 97.

ebd., S. 224.

ebd., S. 36.

ebd., S. 221.

5 Schriftzeichengruppen

Leibniz, Gottfried Wilhelm, 2006, S. 423ff.

Kurze Schriftzeichen: Erleichterung mit einem Wehmutstropfen

Waley, Arthur, 1957, S. 63f.

ebd., S. 29.

Konfuzius, 2007, S. 213.

Zeichen werden Wörter: Ressourcen für die Ewigkeit

Widmaier, Rita, 1983, S. 93.

Verben, die keine Zeitwörter sind

Quine, Willard Van Orman, 1980, S. 296.

Augustinus, 2010, S. 312.

ebd., S. 316.

Das Umfeld ist alles: Er isst Nudeln, ich esse Reis

Henningsen, Lena, 2012, S. 209f. Nur die Auslassungen (…) wurden von mir hinzugefügt.

Eberhard, Wolfram, 1940, S. 194.

ebd., S. 192.

Sprache und Erfahrung

Frege, Gottlob, 1989, S. 22.

Kapitel 5 Macht

Roetz, Heiner, 2018, S. 16f.

 

Der Sperling fragt:

Warum sehen alle Menschen

gleich aus

und nicht jeder anders

– wie unsereiner?

Liu Huiru

Die Wut über den Westen entlud sich in China vor hundert Jahren am 4. Mai 1919. Es war ein Ereignis, das der Entstehung der Volksrepublik den Boden bereitete und als Beginn der chinesischen Moderne gilt. Zum ersten Mal keimte in einer breiten Masse der Chinesen ein Nationalgefühl auf. Was als politische Empörung – auch gegen die Machtlosigkeit der eigenen Regierung – begann, weitete sich bald zu einer Massenkulturbewegung aus. Landesweit stritten die Menschen für eine bessere Zukunft in allen Lebensbereichen und riefen nach einer gemeinsamen Sprache fürs ganze Volk. Zwei Jahre später wurde die Kommunistische Partei gegründet. Unter ihr wuchs China zur zweitgrößten Volkswirtschaft heran, nimmt selbstbewusst seinen Platz in der Welt ein, im Begriff, einen Handelsgürtel quer über den Globus zu spannen, investiert kräftig in Osteuropa und Afrika und bietet den USA im Handelskampf die Stirn.

Heute ist die Volksrepublik das bevölkerungsreichste und drittgrößte Land der Erde mit nahezu 1,4 Milliarden Einwohnern. Das chinesische Territorium erstreckt sich über fast zehn Millionen Quadratkilometer – das ist knapp siebenundzwanzigmal die Fläche der Bundesrepublik –, umfasst fünf Zeitzonen und teilt sich Landesgrenzen mit vierzehn Staaten. Die Nationalsprache dieses Landes, die landläufig Mandarin genannt wird, hat die längste ununterbrochene Schrifttradition der Welt. Sie ist auch die Amtssprache Taiwans und Singapurs, die

Die Kraft der Sprache ist im Bewusstsein der Chinesen tief verankert. Seit alters geht ein Machtanspruch mit hohem Sprachvermögen einher. Aber auch für das Identitätsgefühl der Menschen und ihre Beziehung zum Staat ist die Sprache von zentraler Bedeutung. Denn innenpolitisch diente sie den Herrschern schon immer als Instrument, um in dem riesigen, kulturell disparaten Reich die Allgegenwart ihrer Macht aufscheinen zu lassen. Gleichzeitig unterwandert das Volk mit Hilfe dieses sensiblen Mittels die Anordnungen der Staatsgewalt.

Auch im Westen ist die chinesische Sprache seit Jahrhunderten Gegenstand des Interesses, doch nur selten befreite sich die Betrachtung aus dem Rahmen des eigenen Weltbildes. Jesuitenmissionare strebten danach, im Chinesischen die christliche Ursprache wiederzufinden, Gelehrte suchten im Vergleich mit europäischen Sprachen, Unterschiede und Mängel aufzuspüren. Die Schlüsse, die sie daraus zogen, dass Chinesisch nicht als christliche Ursprache taugt und sich einem formalen Vergleich mit europäischen Sprachen verweigert, wirken bis heute auf unser Chinabild. Die eurozentristische Überlegenheitshaltung ließ kein günstiges Urteil zu. Missionare bescheinigten den Chinesen eine dümmliche Versonnenheit, weil ihnen das Bewusstsein für ihren christlichen Ursprung fehle, die Gelehrten schlossen aus der Grammatik auf Charaktereigenschaften der Menschen: So erklärte das fehlende Subjekt im Satz die fehlende Subjektivität und den Kollektivismus, auch die Massennomen unterstrichen einen Mangel an Individualität; das Fehlen von

Von Chinesen ist häufig zu hören, Ausländern sei es nicht möglich, China und seine Sprache zu begreifen, dafür sei beides zu schwierig und zu rätselhaft. Außer Zweifel steht für sie hingegen, dass Lerneifer genüge, um sich westliche Sprachen anzueignen und die Kultur des Abendlandes zu verstehen. Und in der Tat zeigen Chinesen seit Jahrhunderten ein vielfach regeres Interesse am Westen als umgekehrt. Von den Missionaren im 17. und 18. Jahrhundert über die Imperialisten im 19. bis hin zu den Geschäftsleuten seit Ende des 20. Jahrhunderts stand für westliche Ausländer meist der Zweck, der sie nach China führte, im Vordergrund und ließ sie angesichts ihrer machtpolitischen Überlegenheit kaum eine Notwendigkeit verspüren, sich darüber hinaus mit dem Land zu beschäftigen. Inzwischen haben sich die Verhältnisse gewandelt. Heute spielt China weltpolitisch eine gewichtige Rolle, die es sich nicht mehr streitig machen lässt. Diese Entwicklung wäre ohne die grenzenlose, aus der konfuzianischen Tradition hervorgegangene Lern- und Bildungsbereitschaft der Chinesen nicht möglich gewesen. Heute reicht es nicht mehr, China auf der Oberfläche zu begegnen, es wie früher zu missionieren, zu erobern oder als reinen Wirtschaftsstandort zu betrachten und ansonsten verächtlich auf die Nation

Das gesprochene Chinesisch und die Schrift sind zwei auskunftsfreudige Systeme, voneinander unabhängig und eng verwoben zugleich. Die gesprochene Sprache ist Musik, ist ein auf Zusammenhänge angewiesenes Klangsystem. Die Schrift ist Malerei, ein auf die bildhafte Veranschaulichung von Gedanken und Ideen zurückgehendes Zeichensystem ohne eindeutige Lautinformation, das seit über zweitausend Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Die Unerschöpflichkeit der Zeichen und der erzählerische Reichtum der Bilder sind Schönheit und Schwierigkeit zugleich. Die Tücken des Klangsystems verbergen sich in seiner Einfachheit, seine Schönheit in den melodischen Möglichkeiten des Ausdrucks. Die chinesische Sprache ist also eine Einladung an die Ohren und an die Augen, sich in eine Welt zu begeben, in der Vergangenheit und Gegenwart stärker miteinander verbunden sind als im Westen.

Dieses Buch will die Sprache als Erzählerin und als Mittlerin zu Wort kommen lassen. Es will das historische Kontinuum betrachten, ohne das Chinas Siegeszug, die Erfahrungszusammenhänge der Chinesen und der Umgang mit westlichen Staaten nicht begreifbar sind. Es will ein Verständnis für die begrifflichen und strukturellen Möglichkeiten der Sprache erschließen, das Chinesische erklären und auf die Beziehung der Chinesen zu ihrer Muttersprache blicken. Weil die Sprache die Kontinuität der Geschichte mit ihren Geschichten lebendig hält, ist der Bezug auf bedeutende historische Persönlichkeiten nicht wie hierzulande vor allem intellektuelle Referenz. In China haben sie Eingang gefunden in den Alltagsgebrauch der Sprache. Darüber hinaus will dieses Buch die Sprache als politisches Instrument für die Selbstdarstellung des Staates in der Welt, für

Und nach der Lektüre dieses Buches soll niemand den Namen des chinesischen Telekommunikationsriesen Huawei je wieder falsch aussprechen müssen.

Mit der Sprache durch die Geschichte

Die ganze Kunst der Sprache bestehe darin, verstanden zu werden, soll Konfuzius gesagt haben, der große chinesische Weise des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, der China bis heute prägt, obwohl er selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat. Und Goethe sagte zu Eckermann, als er diesem nicht ohne Stolz berichtete, er habe am selben Morgen im Weimarer Fürstenhaus die dort beschäftigten Mailänder Maler sogleich auf Italienisch angeredet: «Die Sprache bringt doch eine Art von Atmosphäre des Landes mit.» Denn, so Goethe an anderer Stelle: «Beim Übersetzen muß man bis ans Unübersetzliche herangehen; alsdann wird man aber erst die fremde Nation und die fremde Sprache gewahr.» Die Sprache schöpft aus Erfahrung, erschafft über eine Abbildung der Wirklichkeit hinausreichende Bilder, transportiert Tradition und ist zugleich lebendiger Ausdruck des Zeitgeistes. Sie beschränkt sich nicht auf Sprechgewohnheiten, die aus der kulturellen Prägung eines Volkes entstehen. Auch sie selbst verfügt über Wirkmächtigkeit.

 

Die Vierte-Mai-Bewegung von 1919 bestätigt die politische und gesellschaftliche Kraft der Sprache. Sie gilt als eines der bedeutendsten Ereignisse der Geschichte Chinas, dessen wichtigste Ziele, um China zu einer starken Nation zu machen, demokratische Rechte nach westlichem Vorbild und, als Voraussetzung dafür, ein neuer Umgang mit der Sprache waren. Chinas

Ihre Tragweite verdankt die Vierte-Mai-Bewegung nicht nur den revolutionären Inhalten und den Folgen des Protests, sondern vor allem ihrer gesellschaftlichen und weltanschaulichen Vielschichtigkeit. In dieser Bewegung gipfelten die politischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte als Aufschrei der Massen. Nie trafen Tradition und Aufbruch umfassender aufeinander als an diesem Wendepunkt, der die Wechselwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen China und der westlichen Welt verdichtet. Zum ersten und einzigen Mal stritten sämtliche gesellschaftliche Gruppen – Intellektuelle, Geschäftsleute und Arbeiter – vereint für eine bessere

Während die gesprochene Sprache einen Wandel durchlaufen hatte, der sich natürlicherweise vollzieht, war für schriftlich verfasste Texte die klassische Literatursprache bestimmend geblieben. Das klassische Chinesisch geht zurück auf die Sprache, in der die Texte zu Konfuzius’ Lebzeiten geschrieben wurden. Schon damals waren Literatursprache und die Sprache des Alltags nicht identisch – zumal der mündlichen Verständigung vor allem unterschiedliche Regionalsprachen dienten –, im Lauf der Zeit entfernten sie sich immer weiter voneinander. Vor Beginn unserer Zeitrechnung war das klassische Chinesisch bereits eine tote Sprache ähnlich wie Latein später in Europa. Als Kunstsprache musste es mühevoll erlernt werden, um die chinesische Tradition zu studieren und aristokratischen Ansprüchen genügende Schriften zu verfassen. Dem Volk blieb dadurch der Zugang zu Literatur, Geschichtsschreibung und politischen Erlassen verwehrt, die Macht über Chinas Textreichtum war den Herrschern und der Oberschicht vorbehalten. Gegen diese Hoheit wandten sich die Aktivisten der Vierten-Mai-Bewegung, indem sie forderten, fortan nur noch in der Umgangssprache zu schreiben, die klassische Literatursprache zu eliminieren und das Volk aus seiner Unmündigkeit zu befreien.

 

Dass die Sprache in China bis heute eine gesellschaftlich weittragende Bedeutung hat, ist dem politischen Ringen um die Einheit des Staates zu verdanken. Denn die ethnische Vielfalt prägt China seit seiner Gründung im Jahr 221 vor Christus, dem Beginn des chinesischen Kaiserreichs. Zuvor, in der so genannten Zeit der Streitenden Reiche, hatten sich auf einem vorwiegend

Auf ihn gehen nicht nur zwei bedeutende Bauwerke zurück, die Große Mauer und sein Mausoleum mit den geschätzten achttausend Terrakottafiguren. Auch der westliche Name Chinas leitet sich mit großer Wahrscheinlichkeit von einer Transliteration des Namens der ersten Dynastie ab. Im Sanskrit wurde das chinesische Reich Cina genannt, und es scheint, dass das Land, aus dem die begehrte Seide kam, vor unserer Zeitrechnung im gesamten zentralasiatischen Raum unter der Bezeichnung Cin geläufig war. Daraus entstand der im 17. Jahrhundert im Lateinischen und Altgriechischen gebräuchliche Name Sina, der in den Begriffen «sinitisch», China betreffend, und «Sinologie» für Chinawissenschaft erkennbar ist. Der erste Kaiser einte nicht nur das Reich unter seinem Verwaltungssystem, auch die Schrift und die Sprachen der einst unabhängigen Staaten wollte er als Zeichen der Unanfechtbarkeit seiner Herrschaft über das gesamte Land vereinheitlichen. Er brachte eine gemeinsame Schrift für mehrere der damals verwendeten Regionalsprachen auf den Weg. Diese Kleine Siegelschrift blieb bestimmend für die Weiterentwicklung der Zeichen und ist bis heute lesbar. Seine Bemühungen, auch die zahlreichen gesprochenen Sprachen zu einer zusammenzubringen, sind jedoch gescheitert.

 

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zu der Erkenntnis, dass es Japan gelungen war, eine Nationalsprache einzuführen, beschränkten sich die chinesischen Bemühungen um eine gemeinsame Volkssprache auf vereinzelte, halbherzige Versuche. Für die Bewältigung administrativer, diplomatischer, kommerzieller und militärischer Belange gab es bereits seit dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend eine Lingua franca, hervorgegangen aus einem Dialekt der zentralchinesischen Provinz Henan. Darauf basierend entwickelte sich im ersten vorchristlichen Jahrtausend eine elaboriertere Form mit einer standardisierten Aussprache, die in den Schulen gelehrt und von den kaiserlichen Beamtenanwärtern beherrscht werden musste. Doch da China nicht nur seine Grenzen laufend verschob und unterschiedliche Volksgruppen in das Reich integrierte, sondern auch wiederholt die Hauptstadt verlegte, flossen in die Aussprache dieser Lingua franca mehr und mehr Besonderheiten anderer Regionalsprachen ein. Ab Ende des 14. Jahrhunderts, als die Ming-Dynastie den Kaiserthron übernahm, zunächst das südchinesische Nanjing zur Hauptstadt bestimmte und zu Beginn des 15. Jahrhunderts in den Norden nach Peking übersiedelte, wurde die Lingua franca Beamtensprache genannt. Chinesische Gelehrte beschäftigten sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kaum mit ihr. Auskünfte über diese am Kaiserhof und von den Gelehrten gesprochene Sprache lieferten vor allem westliche Missionare. Zurückgehend auf das malaiische Wort mantari, nannten sie einen hohen chinesischen Beamten Mandarin und dessen Sprache «Mandarinensprache». Damit prägten sie die landläufige Bezeichnung Mandarin für das standardisierte Chinesisch. Ihren Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass sich die Beamtensprache bis zum Ende des Kaiserreichs Anfang des 20. Jahrhunderts

 

Über den langen Weg bis zu einer mündlichen Verständigung ohne regionale und gesellschaftliche Schranken trägt sprachlich eine gewaltige Menge schriftlicher Werke. Mündlich könnten sich die alten Chinesen ihren heutigen Nachfahren nicht mehr verständlich machen, doch ihre schriftlich festgehaltenen Gedanken sind für jeden der klassischen Schriftsprache Kundigen noch immer lesbar. Der im Laufe der Jahrhunderte angewachsene Textbestand hat Gewicht und prägt das kollektive Bewusstsein der Chinesen für ihre lange Kulturtradition. Obgleich die klassischen Texte nur einen Teil des gesellschaftlich, ethnisch und kulturell vielschichtigen Landes widerspiegeln, übertönt ihre Stimme das Orchester der Mehrheit und dominiert die Wahrnehmung von der chinesischen Kultur. Die Herrscher und Angehörigen der feudalen Oberschicht instrumentalisierten die literarischen, philosophischen und historiographischen Publikationen für ihre Zwecke. Die Sprache verlieh ihnen die Deutungshoheit über den Tod hinaus.

 

Laut rief die Neue Jugend zum Widerstand gegen die alte Gesellschaft auf, gegen ihre Werte und ihre Moral, zu Mündigkeit, Frauenemanzipation, wissenschaftlichem Denken, einer neuen chinesischen Literatur und Kultur, zu Demokratie. Viele der Intellektuellen, die in der Neuen Jugend ihre Stimme erhoben, hatten in Russland, Japan, den USA oder Europa studiert und waren mit demokratischen und marxistischen Ideen zurückgekehrt. Um aus China eine weltweit anerkannte und respektierte Nation zu machen und das Land von seinem Selbstverständnis als konfuzianische Kultur zu befreien, müsse man vom Westen lernen. «Herr Konfuzius» solle, schrieb Chen Duxiu, durch «Herrn Wissenschaft und Herrn Demokratie» ersetzt werden. Da es der Kulturwende widersprach, sie in tote Worte zu kleiden, musste vor allem eine neue Sprache gefunden werden. Es kam zu hitzigen Debatten darüber, ob es der Bruch mit der Vergangenheit erfordere, die Schriftzeichen abzuschaffen und durch eine alphabetische Schrift zu ersetzen, auch Esperanto wurde als Nationalsprache erwogen, und vorauseilend wurden einige Esperanto-Schulen gegründet. Aber eine Übereinkunft erwies sich in intellektuellen Kreisen als ebenso schwierig wie in politischen. Einhelligkeit herrschte unter den Intellektuellen indes darin, dass China eine neue Literatur brauche, die formal und inhaltlich von traditionellen Vorgaben entbunden in einer einfachen Sprache die Wirklichkeit beschrieb. Anders als die Romane, die schon früher in der Alltagssprache verfasst und vor allem im 16. und 17. Jahrhundert vom Volk verschlungen worden waren, sollten es die neue Literatur und die neuen

 

Die erste Veröffentlichung der «Neuen Literatur» ist die im Mai 1918 in der Neuen Jugend erschienene Kurzgeschichte Tagebuch eines Verrückten von Lu Xun, dem wohl bedeutendsten chinesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und einem der radikalsten Verfechter einer neuen Sprache. Er war ein ausgezeichneter Kenner der westlichen Literatur, sein Werk ist eng mit ihr verwoben. Nicht nur der Titel seiner Kurzgeschichte ist an Nikolai Gogols Erzählung Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen