Du bist genug

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Impressum

Die japanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «SHIAWASE NI NARU YUKI» bei Diamond, Inc., Tokio.

Die deutsche Erstausgabe wurde in Zusammenarbeit mit Diamond, Inc., Tokio, vertreten durch Tuttle-Mori-Agency Inc., Tokio, und Chandler Crawford Agency, Massachusetts, USA, veröffentlicht.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2020

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«SHIAWASE NI NARU YUKI» Copyright © 2016 by Ichiro Kishimi and Fumitake Koga

Redaktion Bernd Jost

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00377-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00377-4

Alfred Adler zählte neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu den Koryphäen in der Welt der Psychologie – und war doch viele Jahre in Vergessenheit geraten. Im für die griechische Philosophie traditionellen Format des Dialogs zwischen einem jungen Mann und einem Philosophen gibt dieses Buch eine Einführung in das Denken Adlers, von dem es heißt, es sei seiner Zeit um hundert Jahre voraus gewesen.

Die Figuren in diesem Buch sind ein Philosoph, der sich mit der griechischen Philosophie im Zusammenhang mit der Psychologie Adlers beschäftigt, und ein junger Mann, der sein Leben pessimistisch betrachtet. Im vorangegangenen Buch, Du musst nicht von allen gemocht werden, befragte der junge Mann den Philosophen eingehend nach seiner Überzeugung, dass «die Menschen sich verändern können. Und nicht nur das: Sie können auch das Glück finden.» Der Philosoph gab ihm folgende Antwort:

«So etwas wie innere Probleme gibt es gar nicht. Alle Probleme entstehen durch zwischenmenschliche Beziehungen.» – «Man darf keine Angst haben, nicht gemocht zu werden. Es bedeutet Freiheit, von anderen nicht gemocht zu werden.» – «Ihnen fehlen nicht die Fähigkeiten. Ihnen fehlt nur Mut.» – «Es gibt weder die Vergangenheit noch die Zukunft. Es gibt nur ‹hier und jetzt›.»

Der junge Mann widersetzte sich immer wieder diesem Strom radikaler Aussagen. Als er jedoch Adlers Vorstellung eines Gemeinschaftsgefühls kennenlernte, akzeptierte er am Ende die Worte des Philosophen und beschloss, sich zu verändern.

Auf welche Weise sollten wir dem Pfad zum Glück folgen, der im vorangegangenen Buch aufgezeigt wurde? Ist die Lehre Adlers, die sehr idealistisch klingt, wirklich eine Philosophie, die sich auch in die Praxis umsetzen lässt? Und zu welchem Schluss gelangt Adler über die «wichtigste Wahl im Leben»?

Dies ist der Abschluss eines zweiteiligen Werkes, in dem die Essenz Alfred Adlers und seiner Psychologie des Mutes untersucht wird. Bitte finden Sie für sich selbst heraus – zusammen mit dem jungen Mann, der an Adler zweifelte und gegen ihn rebellierte –, welche Art von Mut wir benötigen.

Es hätte ein unbeschwerter und freundlicher Besuch werden sollen. «Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie hier irgendwann einmal wieder besuche. Ja, als unersetzlicher Freund. Und ich werde nichts mehr über das Zerfetzen Ihrer Argumente sagen.» Der junge Mann hatte diese Worte bei seinem Abschied an diesem Tag tatsächlich geäußert. Jetzt waren allerdings drei Jahre vergangen, und er war mit völlig anderen Absichten zum Arbeitszimmer des Philosophen zurückgekommen. Der junge Mann zitterte, weil die Ungeheuerlichkeit dessen, was er vorbringen wollte, wie eine schwere Last auf ihm lag, und er wusste nicht, wo er anfangen sollte.

Philosoph: Nun, erzählen Sie mir, was los ist?

 

Junger Mann: Sie wollen wissen, warum ich wieder hierher zurückgekommen bin? Na ja, leider nicht einfach nur, um mit Ihnen ein bisschen Zeit zu verbringen und eine alte Freundschaft aufzufrischen. Ich bin sicher, Sie haben zu tun, und auch ich bin nicht in der Situation, dass ich viel Zeit für solche Dinge hätte. Es ist also etwas Dringendes, das mich hierhergeführt hat.

 

Philosoph: Ja, natürlich, das wird es wohl sein.

 

Junger Mann: Ich habe über alles nachgegrübelt. Ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht und war ganz davon besessen und habe alles komplett durchdacht. Dabei bin ich zu einem schwerwiegenden Entschluss gelangt und habe mich entschieden, hierherzukommen und Ihnen das mitzuteilen. Ich weiß, Sie haben viel zu tun, also schenken Sie mir nur für diesen einen Abend Ihre Zeit. Denn dies wird wahrscheinlich mein letzter Besuch sein.

 

Philosoph: Was ist passiert?

 

Junger Mann: Können Sie sich das nicht denken? Es ist das Problem, unter dem ich so lange gelitten habe: «Gebe ich Adler auf oder nicht?»

 

Philosoph: Ah. Ich verstehe.

 

 

Philosoph: Und hat es einen Auslöser dafür gegeben?

 

Junger Mann: Ich werde das der Reihe nach und in aller Ruhe durchgehen. Zuerst einmal: Erinnern Sie sich an diesen Tag vor drei Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen haben?

 

Philosoph: Natürlich erinnere ich mich. Es war ein Wintertag, und überall lag glitzernder weißer Schnee.

 

Junger Mann: Ja, genau. Der Abendhimmel hatte ein wundervolles Blau, und es war Vollmond. Von Adlers Ideen beeindruckt, machte ich an jenem Tag einen großen Schritt nach vorn. Ich gab meine Arbeit in der Universitätsbibliothek auf und fand eine Stelle als Lehrer in meiner alten Grundschule. Ich dachte, es wäre schön, eine Art Erziehung in die Praxis umzusetzen, die auf den Lehren Adlers beruht, und sie so vielen Kindern wie möglich nahezubringen.

 

Philosoph: Ist das nicht eine wundervolle Entscheidung?

 

Junger Mann: Sicher. Ich brannte damals vor Idealismus. Ich konnte doch solche großartigen, weltverändernden Ideen nicht

 

Philosoph: Ich verstehe. Sie können darüber nur in der Vergangenheit sprechen?

 

Junger Mann: So ist es. Das ist jetzt Geschichte. Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nicht die Hoffnung in meine Schüler verloren. Und auch bei der Erziehung habe ich nicht aufgegeben. Ich habe nur einfach bei Adler die Hoffnung verloren – was bedeutet, ich habe bei Ihnen die Hoffnung verloren.

 

Philosoph: Und warum?

 

Junger Mann: Nun, darüber sollten Sie einmal nachdenken und sich das selbst fragen! Adlers Vorstellungen sind in der realen Gesellschaft völlig nutzlos, sie sind nur abstrakte, leere Theorien. Vor allem das Erziehungsprinzip, das lautet: «Man darf nicht loben und nicht tadeln.» Und diesem Grundsatz bin ich treu gefolgt, wissen Sie. Ich habe niemanden gelobt und auch niemanden gerügt. Es gab kein Lob für die volle Punktzahl in Tests oder dafür, ordentlich aufgeräumt zu haben. Ich habe niemanden gerügt, der seine Hausaufgaben vergessen hatte oder in der Klasse laut war. Und was, glauben Sie, war das Ergebnis?

 

Philosoph: Die Klasse war nicht mehr zu bändigen?

 

 

Philosoph: Und was haben Sie dann gemacht?

 

Junger Mann: Für die Schüler, die schlimme Sachen machten, habe ich natürlich den Weg strenger Zurechtweisung gewählt. Ich weiß, Sie werden sich darüber lustig machen und mir sagen, das sei eine dumme Entscheidung gewesen. Aber sehen Sie, ich bin niemand, der sich viel mit Philosophie abgibt und in Tagträumen verliert. Ich bin Pädagoge, ich habe mit realen Situationen zu tun, ich bin für das Leben von Schülern und für ihr Schicksal mit verantwortlich. Denn die Realität vor uns steht nicht still – sie bewegt sich ständig, von einem Moment zum anderen. Man kann sich nicht einfach zurücklehnen und nichts tun!

 

Philosoph: Und welche Wirkung hat das?

 

Junger Mann: Wenn ich sie weiterhin zurechtweise, wird das natürlich nicht gut sein. Denn sie achten mich nicht mehr – ich bin nur ein Softie für sie. Ehrlich gesagt, manchmal beneide ich sogar die Lehrer vergangener Zeiten, als körperliche Züchtigung noch erlaubt war oder sogar die Regel.

 

Philosoph: Das ist keine einfache Situation.

 

Junger Mann: Wohl wahr. Nur damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich erwähnen, dass ich mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lasse oder wütend werde. Ich weise nur zurecht, auf eine vernünftige Weise, als letztes Mittel der Erziehung. Man könnte vielleicht sagen, ich verschreibe ein antibiotisches Mittel mit dem Namen «schwerer Tadel».

 

 

Junger Mann: Na ja, ich habe das nur erzählt, um Ihnen ein klares Beispiel zu geben. Adlers Ideen sind wirklich großartig. Sie erschüttern das eigene Wertesystem und geben einem das Gefühl, als würde sich der bewölkte Himmel über einem lichten; als hätte sich das eigene Leben verändert. Sie scheinen jenseits aller Kritik zu sein, sogar eine universelle Wahrheit. Doch der eigentliche Punkt ist: Sie gelten nur hier, in diesem Arbeitszimmer. Haben Sie erst einmal die Tür geöffnet und sind in die wahre Welt da draußen eingetaucht, dann sind Adlers Vorstellungen einfach zu naiv. Die Argumente, die er vorbringt, sind völlig unbrauchbar und rein idealistisch. Sie haben sich einfach Ihre eigene Welt zurechtgebastelt, die hier in Ihrem Arbeitszimmer Ihren eigenen Zwecken dient, und sich in Tagträumen verloren. Sie wissen überhaupt nichts von der richtigen Welt und den Massen von Menschen, die dort leben!

 

Philosoph: Ich verstehe … Und dann?

 

Junger Mann: Eine Erziehung, in der weder gelobt noch getadelt wird? Die die Autonomie befürwortet und die Schüler sich selbst überlässt? Das ist nichts anderes als die Aufgabe der beruflichen Pflichten als Lehrer und Erzieher. Von jetzt an werde ich den Kindern auf eine Weise begegnen, die sich völlig von der Sichtweise Adlers unterscheidet. Es geht mir nicht darum, ob es «richtig» ist oder nicht, denn ich habe keine andere Wahl. Ich werde loben und auch tadeln. Und natürlich werde ich auch hart bestrafen.

 

Philosoph: Nur zur Klarstellung: Sie werden Ihre Tätigkeit als Pädagoge nicht aufgeben, oder?

 

 

Philosoph: Es ist sehr beruhigend, das zu hören.

 

Junger Mann: Sie glauben also, das ist nicht Ihr Problem? Wenn ich weiterhin als Pädagoge arbeite, muss ich Adler hier und jetzt aufgeben! Wenn ich das nicht tue, verzichte ich auf meine erzieherische Verantwortung und lasse meine Schüler im Stich. Damit drücke ich sozusagen Ihnen das Messer an die Kehle. Was haben Sie nun dazu zu sagen?

• • •

Philosoph: Erlauben Sie mir zuerst eine Richtigstellung. Sie haben vorhin das Wort «Wahrheit» benutzt. Aber ich stelle Adler nicht als absolute, unveränderliche Wahrheit hin. Man könnte sagen, dass ich so etwas wie ein Rezept für Brillengläser verschreibe. Ich glaube, dass sich das Gesichtsfeld vieler Menschen durch diese Linsen erweitert hat. Auf der anderen Seite gibt es wahrscheinlich auch andere, die meinen, ihre Sicht sei sogar verschwommener geworden als zuvor. Ich habe nicht vor, diesen Menschen die Linsen von Adler aufzuzwingen.

 

Junger Mann: Dann laufen Sie also vor ihnen davon?

 

Philosoph: Nein. Sehen Sie es einmal so: Keine andere Denkform ist so leicht misszuverstehen und so schwer richtig zu begreifen wie die Psychologie Adlers. Die Mehrheit derjenigen, die behaupten, Adler zu kennen, verstehen seine Lehren falsch. Sie besitzen nicht den Mut, sich einem wirklichen Verständnis anzunähern, und sie versuchen erst gar nicht, auf die Landschaft zu schauen, die sich hinter seinen Gedankengängen entfaltet.

 

 

Philosoph: Ja, genau. Wenn jemand mit den Ideen Adlers in Kontakt kommt und sofort sehr tief berührt ist und sagt: «Das Leben ist jetzt einfacher», versteht er Adler grundlegend falsch. Denn wenn man wirklich versteht, was Adler von uns erwartet, ist man wahrscheinlich eher geschockt von der Radikalität.

 

Junger Mann: Sie wollen also sagen, dass auch ich Adler missverstanden habe?

 

Philosoph: Ja, nach allem, was Sie mir gesagt haben, scheint es mir so. Damit sind Sie jedoch keineswegs allein. Es gibt viele Adlerianer (Psychologen, die nach Adlers Lehren praktizieren), die ihn zu Beginn missverstehen und dann die Verstehensstufen erklimmen. Es scheint mir, als hätten Sie die Leiter noch nicht gefunden, auf der Sie diese Stufen hinaufsteigen können. Ich fand sie auch nicht gleich, als ich jung war.

 

Junger Mann: Hmm. Sie hatten also auch eine Zeit, in der Sie nicht mehr weiterwussten?

 

Philosoph: Ja, die hatte ich.

 

Junger Mann: Dann möchte ich, dass Sie mir den Weg zeigen. Wo ist diese Leiter des Verstehens, und was ist das eigentlich? Was meinen Sie überhaupt mit «Leiter»? Wo haben Sie sie gefunden?

 

Philosoph: Ich hatte Glück. Weil ich ein «Hausmann» war und mit der Erziehung eines Kindes beschäftigt, als ich Adler kennenlernte.

 

Junger Mann: Was meinen Sie damit?

 

 

Junger Mann: Und genau das möchte ich von Ihnen wissen! Was haben Sie verstanden? Und was ist das für ein sicherer Beweis, den Sie erhalten haben?

 

Philosoph: Mit einem Wort: Es war «Liebe».

 

Junger Mann: Was haben Sie gesagt?

 

Philosoph: Das muss ich sicher nicht wirklich noch einmal wiederholen, oder?

 

Junger Mann: Haha, das ist wirklich lustig! Liebe – das, worüber man nicht zu sprechen braucht? Sie sagen, wenn ich den wahren Adler kennenlernen will, muss ich die Liebe verstehen?

 

Philosoph: Wenn Sie über dieses Wort lachen können, verstehen Sie es noch nicht wirklich. Die Liebe, die Adler meint, ist die härteste Aufgabe überhaupt – und eine, die den meisten Mut erfordert.

 

Junger Mann: Also bitte! Sie wollen mir jetzt also wie ein Prediger etwas von Nächstenliebe erzählen. Das will ich mir nicht anhören.

 

Philosoph: Sie haben gerade erklärt, dass Sie im Bereich der Erziehung in einer Sackgasse sind und Adler misstrauen. Und dann beteuern Sie wortreich, dass Sie Adler verurteilen und nicht wollen, dass ich weiter über ihn rede. Was regt Sie denn so auf? Ich nehme an, Sie haben gedacht, die Lehren Adlers

 

Junger Mann: Nein, das stimmt nicht! Zuerst einmal habe ich nie erwartet, dass Adler ein Zauberer wäre oder irgendetwas in der Art. Und zweitens haben Sie, glaube ich, selbst einmal gesagt: «Jeder kann von diesem Moment an glücklich sein.»

 

Philosoph: Ja, das habe ich auf jeden Fall gesagt.

 

Junger Mann: Aber sind solche Worte nicht ein klares Beispiel für Zauberei? Sie warnen die Menschen: «Fallen Sie nicht auf dieses Falschgeld herein», und gleichzeitig teilen Sie anderes Falschgeld aus. Ein klassischer Betrügertrick!

 

Philosoph: Jeder kann von diesem Moment an glücklich sein. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, keine Zauberei oder irgendetwas in der Art. Sie können, wie jeder andere auch, Schritte auf das Glück zu unternehmen. Doch das Glück kann man nicht genießen, wenn man bleibt, wo man ist. Man muss auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehen. Das muss absolut klar sein!

 

Sie haben den ersten Schritt gemacht. Das war ein großer Schritt. Nun haben Sie allerdings nicht nur den Mut verloren und sind stehen geblieben, sondern versuchen auch noch umzukehren. Wissen Sie warum?

 

Junger Mann: Sie sagen immer, ich hätte keine Geduld.

 

 

Junger Mann: Die wichtigste Wahl im Leben? Was muss ich denn wählen?

 

Philosoph: Das habe ich vorhin gesagt. Es ist «Liebe».

 

Junger Mann: Ha! Das soll ich jetzt verstehen? Bitte, versuchen Sie nicht, sich in Abstraktionen zu retten!

 

Philosoph: Ich meine es ernst. Die Probleme, denen Sie jetzt begegnen, sind alle auf das eine Wort «Liebe» zurückzuführen. Die Probleme, die Sie mit der Erziehung Ihrer Schüler haben und auch das Problem damit, welches Leben Sie führen sollen.

 

Junger Mann: Das lohnt sich doch zu widerlegen. Bevor wir jetzt also in eine ausgewachsene Diskussion einsteigen, möchte ich noch etwas sagen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie ein Sokrates der modernen Zeiten sind. Doch ich beziehe mich dabei nicht auf sein Denken, sondern auf sein Verbrechen.

 

Philosoph: Sein Verbrechen?

 

Junger Mann: Sehen Sie, offensichtlich wurde Sokrates aufgrund des Verdachts, die Jugend des antiken griechischen Stadtstaates Athen verführt und verdorben zu haben, zum Tode verurteilt, richtig? Er wies seine Anhänger ab, die ihn anflehten, aus dem Gefängnis zu fliehen, trank dann den Becher mit Gift und nahm Abschied von dieser Welt. Das ist interessant, nicht? Wenn Sie mich fragen, sind Sie, der Sie für die Ideen Adlers hier in dieser alten Hauptstadt eintreten, genau desselben Verbrechens schuldig. Anders gesagt: Sie verführen und verderben die naive Jugend mit täuschenden Worten!

 

 

Junger Mann: Genau das ist der Grund, warum ich mich entschlossen habe, noch einmal hierherzukommen, um mich von Ihnen zu verabschieden. Ich möchte weitere Opfer verhindern. Philosophisch gesehen, muss ich Ihr Leben auslöschen.

 

Philosoph: Nun, dann wird es ein langer Abend werden.

 

Junger Mann: Aber lassen Sie uns dies bis zum Tagesanbruch klären. Danach wird es keinen Grund mehr für mich geben, Sie weiterhin zu besuchen. Werde ich die Leiter des Verstehens erklimmen? Oder werde ich diese Leiter zertrümmern und Adler aufgeben, ein für alle Mal? Das Eine oder das Andere; dazwischen gibt es nichts.

 

Philosoph: Gut. Das wird vielleicht unser letztes Gespräch sein … Nein, wir werden es wohl zu unserem letzten machen müssen, wie auch immer.

Der böse Andere und ich Armer

Junger Mann: Bevor ich mich dazu entschieden habe, Sie heute noch einmal zu besuchen, das heißt, bevor ich den festen Entschluss fasste, Adler aufzugeben, durchlitt ich tatsächlich Qualen. Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das alles belastete – so anziehend waren die Ideen Adlers für mich. Aber es ist auch richtig, dass ich gleichzeitig immer Zweifel hegte. Und diese Zweifel beziehen sich auf den Begriff der «Adler’schen Psychologie» selbst.

 

Philosoph: Hmm. Was meinen Sie damit?

 

Junger Mann: Wie der Name «Adler’sche Psychologie» zeigt, werden Adlers Ideen als Psychologie betrachtet. Und soweit mir bewusst ist, handelt es sich bei der Psychologie im Wesentlichen um eine Wissenschaft. Wenn es jedoch um die Meinungen geht, die Adler vorstellt, gibt es Aspekte, die mir ausgesprochen unwissenschaftlich vorkommen. Da es sich um einen Forschungsbereich handelt, der sich mit der Psyche beschäftigt, mag es natürlich sein, dass sich nicht alles in mathematischer Form ausdrücken lässt. Aber sehen Sie, das Problem ist, dass Adler, wenn er über die Menschen spricht, «Ideale» miteinbezieht. Er bietet uns dieselben süßlichen Predigten an wie die Christen, wenn sie von Nächstenliebe sprechen. Und das bringt mich zu meiner ersten Frage: Betrachten Sie die Adler’sche Psychologie als eine Wissenschaft?

 

Philosoph: Wenn Sie von einer strengen Definition von Wissenschaft ausgehen, also einer Wissenschaft, die falsifizierbar ist, dann ist sie es nicht, nein. Adler deklarierte seine

 

Junger Mann: Richtig. Das ist eine ganz natürliche Reaktion, wenn man an Psychologie als Wissenschaft interessiert ist.

 

Philosoph: Darüber gibt es immer noch verschiedene Meinungen. Sowohl die Psychoanalyse Freuds als auch die Analytische Psychologie Jungs und die Individualpsychologie Adlers beinhalten Aspekte, die mit einer falsifizierbaren Definition von Wissenschaft in Konflikt geraten. Das lässt sich nicht bestreiten.

 

Junger Mann: Okay, ich verstehe. Ich habe heute mein Notizbuch dabei, ich will das einmal schriftlich festhalten: dass es genau genommen … keine Wissenschaft ist! Nun zu meiner nächsten Frage: Vor drei Jahren haben Sie Adlers Ideen doch als «eine andere Philosophie» bezeichnet, oder?

 

Philosoph: Da haben Sie recht, das habe ich. Für mich ist Adlers Psychologie eine Art des Denkens, die der griechischen Philosophie sehr ähnlich ist – und selbst eine Philosophie. Genauso denke ich auch über Adler selbst. Mehr noch als Psychologen betrachte ich ihn als Philosophen. Er ist ein Philosoph, der sein Fachwissen in einem klinischen Rahmen auf die Praxis anwendet. So sehe ich es.

 

Junger Mann: Gut. Hier ist also mein Hauptpunkt. Ich habe intensiv über Adlers Vorstellungen nachgedacht, und ich habe sie wirklich praktiziert, ohne jede Skepsis. Es war eher so, als ob sie mich mit einer fieberhaften Leidenschaft erfüllt hätten, und ich habe mit ganzem Herzen an sie geglaubt. Doch immer

 

Philosoph: Nein, weiß ich nicht. Wen meinen Sie?

 

Junger Mann: Die katholischen Missionare, die im Zeitalter der Entdeckungen in die heidnischen Gebiete einfielen.

 

Philosoph: Aha.

 

Junger Mann: Denken Sie an Afrika, Asien sowie Nord- und Südamerika. Diese katholischen Missionare reisten in fremde Länder mit anderen Sprachen, Kulturen und selbst anderen Göttern, und sie traten dort überall für die Lehren ein, an die sie glaubten. Genau wie ich, der ich meinen Posten annahm, um die Vorstellungen Adlers zu verfechten. Wenn sie ihren Glauben auch erfolgreich verbreiten konnten, so erfuhren doch auch die Missionare Unterdrückung und wurden manchmal sogar mit barbarischen Methoden hingerichtet. Man hielt es für völlig natürlich, dass solche Menschen einfach abgelehnt wurden. Doch wie um alles in der Welt konnte es diesen Missionaren dann gelingen, den Bewohnern der Orte, die sie besuchten, von einem neuen «Gott» zu predigen und sie dazu zu bringen, ihren ursprünglichen Glauben aufzugeben? Das muss eine ziemlich schwierige Aufgabe gewesen sein. In dem Verlangen, mehr darüber zu erfahren, lief ich in die Bibliothek.

 

 

Junger Mann: Hey, ich bin noch nicht fertig, ja? Als ich mich also in die verschiedenen Schriften über die Missionare zur Zeit der großen Entdeckungsreisen vertiefte, kam mir ein interessanter Gedanke: Ist Adlers Philosophie letztendlich nicht eine Religion?

 

Philosoph: Interessant …

 

Junger Mann: Weil es stimmt, oder? Die Ideale, von denen Adler spricht, sind keine wissenschaftlichen Modelle. Und soweit sie das nicht sind, ist es am Ende nur eine Frage des Glaubens, ob man sie akzeptiert oder nicht. So geht es also wieder nur um Gefühle. Sicher mögen aus unserer Sicht Menschen, die Adler nicht kennen, wie primitive Wilde erscheinen, die an die falschen Götter glauben. Wir glauben, dass wir sie die richtige «Wahrheit» lehren müssten und sie erretten, so schnell wie möglich. Doch vielleicht sind von ihrem Standpunkt aus wir diejenigen, die auf primitive Weise böse Götter verehren. Vielleicht sind wir diejenigen, die errettet werden müssen. Ist das falsch?

 

Philosoph: Nein, Sie haben ganz recht.

 

Junger Mann: Dann sagen Sie mir: Was ist der Unterschied zwischen der Philosophie Adlers und einer Religion?

 

Philosoph: Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie – das ist ein gewichtiges Thema. Wenn Sie einfach die Existenz «Gottes» herausnehmen und darüber nachdenken, werden die Argumente verständlicher sein.

 

Junger Mann: Ah. Was meinen Sie?

 

 

Junger Mann: Gut, so war die Wissenschaft damals. Aber ich frage nach Philosophie und Religion. Was ist der Unterschied zwischen ihnen?

 

Philosoph: Es wäre sicherlich besser, zuerst ihre Gemeinsamkeiten zu klären. Anders als die Naturwissenschaft, die sich auf objektive Fakten beschränkt, beschäftigen sich Philosophie und Religion auch mit den Vorstellungen der Menschen von «Wahrheit», «Schönheit» und dem «Guten». Das ist ein äußerst wichtiger Punkt.

 

Junger Mann: Ich weiß. Philosophie und Religion befassen sich beide mit der menschlichen Seele. Aber wo sind die Grenzen und Unterschiede zwischen den beiden? Geht es dabei nur um die Frage danach, ob Gott existiert?

 

Philosoph: Nein. Der wichtigste Unterscheidungspunkt ist das Vorhandensein – oder Nichtvorhandensein – einer «Geschichte». Die Religion erklärt die Welt anhand von Geschichten. Man könnte sagen, dass die Götter die Hauptfiguren der großen Geschichten sind, mit denen die Religionen die Welt erklären wollen. Die Philosophie dagegen lehnt Geschichten ab. Sie versucht, die Welt durch abstrakte Konzepte zu erklären, in denen es keine Akteure gibt.

 

Junger Mann: Die Philosophie lehnt Geschichten ab?

 

 

Junger Mann: Aha.

 

Philosoph: Manche hören dann nicht mehr auf ihre innere Stimme und bleiben stehen. Sie springen von dem Steg herunter. Finden sie dort Wahrheit? Ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch in seinem Weg innezuhalten und in der Mitte des Steges herunterzuspringen – das nenne ich Religion. In der Philosophie geht man immer weiter. Es spielt keine Rolle, ob es dort Götter gibt oder nicht.

 

Junger Mann: Und hat dann diese Immer-weitergehen-Philosophie überhaupt keine Antworten?

 

Philosoph: Das griechische Wort philosophia bedeutet «Liebe zur Weisheit». Philosophie ist also, anders ausgedrückt, das «Studium der Liebe zur Weisheit», und Philosophen sind «Weisheitsliebende». Andersherum könnte man sagen, wenn jemand vollständig «weise» würde, jemand, der alles weiß, was man überhaupt wissen kann, dann wäre dieser Mensch kein Liebhaber des Wissens (Philosoph) mehr. Mit den Worten Kants gesagt, dem großen Kopf der neuzeitlichen Philosophie: «Wir können Philosophie nicht lernen. Wir können nur philosophieren.»

 

Junger Mann: Philosophieren?

 

Und jemand, der vorgibt, alles zu wissen, oder jemand, der auf seinem Weg des Wissenserwerbs und des Denkens einfach stehen geblieben ist, begibt sich, ungeachtet seines Glaubens an die Existenz oder Nichtexistenz Gottes oder selbst seines Glaubens oder Nichtglaubens generell, in die Religion hinein. So sehe ich die Sache.

 

Junger Mann: Anders ausgedrückt, Sie kennen die Antworten noch nicht?

 

Philosoph: Nein, ich kenne sie nicht. In dem Moment, in dem wir das Gefühl haben, alles über ein Thema zu wissen, wollen wir etwas dahinter erforschen. Ich werde immer über mich, andere Menschen und die Welt nachdenken. Deshalb werde ich ewig ein «Nichtwissender» sein.

 

Junger Mann: Hehe. Diese Antwort ist auch philosophisch.

 

Philosoph: Sokrates gelangte in seinen Dialogen mit den selbsternannten Weisen, den Sophisten, zu folgender Schlussfolgerung: Ich (Sokrates) weiß, dass «mein Wissen nicht vollständig ist». Ich kenne meine eigene Unwissenheit. Die Sophisten dagegen, diese «Möchtegernweisen», wollen alles verstehen und wissen nichts von ihrer eigenen Beschränktheit. In dieser Hinsicht – durch mein Wissen über meine eigene Unwissenheit – bin ich weiser als sie. Das ist der Hintergrund des berühmten Satzes von Sokrates: «Ich weiß, dass ich nichts weiß.»

 

 

Philosoph: Ich werde Ihnen nichts vermitteln. Lassen Sie uns zusammen nachdenken und laufen.

 

Junger Mann: Ah, bis zum Ende des Steges? Ohne herunterzuspringen?

 

Philosoph: Genau. Stellen wir weiter Fragen und laufen wir weiter, ohne uns Grenzen zu setzen.

 

Junger Mann: Sie sind so selbstsicher, obwohl Sie selbst sagen, dass Sophisterei zu nichts führt. Nun gut, ich werde Sie von diesem Steg stoßen!

Philosoph: Also, wo sollen wir anfangen?

 

Junger Mann: Das Problem, dem ich jetzt ganz dringend meine Aufmerksamkeit widmen muss, ist nach wie vor die Erziehung. Ich werde also die Widersprüche Adlers mit dem Fokus auf der Pädagogik vortragen. Denn es gibt sehr viele verschiedene Aspekte in den Vorstellungen Adlers, die in ihren Wurzeln mit Erziehung unvereinbar sind.

 

Philosoph: Aha. Das klingt interessant.

 

Junger Mann: In der Adler’schen Psychologie gibt es die Vorstellung von der «Trennung der Aufgaben», richtig? Alle möglichen Dinge und Ereignisse im Leben werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, um wessen Aufgabe es sich handelt, und in eigene Aufgaben und die Aufgaben anderer eingeteilt. Sagen wir zum Beispiel, mein Chef mag mich nicht. Das fühlt sich natürlich nicht gut an. Es wäre ganz normal, sich darum zu bemühen, irgendwie von ihm gemocht und anerkannt zu werden.

Aber Adler hält das für falsch. Welche Art von Urteil fällen andere Menschen (in diesem Fall mein Chef) über das, was ich sage, über mein Verhalten und über mich als Person? Das ist die Aufgabe des Chefs (die Aufgabe anderer), und ich kann es nicht kontrollieren. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, von ihm gemocht zu werden, kann es sein, dass er mich einfach weiterhin nicht mag.

An diesem Punkt sagt Adler: «Du bist nicht auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.» Und weiter: «Andere Menschen sind nicht auf der Welt, um deine Erwartungen zu

 

Philosoph: Stimmt. Wenn man in der Lage ist, die «Aufgabentrennung» durchzuführen, reduziert dies die zwischenmenschlichen Beziehungsprobleme enorm.

 

Junger Mann: Sie sagten auch, dass es einen einfachen Weg gebe zu bestimmen, wer welche Aufgabe hat. Ich sollte mich fragen: «Wer wird am Ende das Resultat aus dieser Entscheidung erhalten?» Das habe ich doch nicht falsch verstanden, oder?

 

Philosoph: Nein, das haben Sie nicht.

 

Junger Mann: Ihr Beispiel war damals das eines Kindes, das lernen sollte. Ein Kind, das nicht lernt. Seine Eltern machen sich Sorgen um seine Zukunft und brüllen es an, es solle sich in seine Bücher vertiefen. Doch wer bekommt am Ende das Resultat dieses Versäumnisses zu spüren – das bedeutet, dass es nicht die gewünschte Schule wird besuchen können, oder dass es schwieriger sein wird, eine Stelle zu finden? Wie man es auch betrachtet, es ist das Kind selbst, es sind nicht die Eltern. Anders gesagt, zu lernen ist die Aufgabe des Kindes und nichts, wobei die Eltern sich einmischen sollten. Ist das so weit richtig?

 

Philosoph: Das ist es.

 

 

Philosoph: Na ja, gut, das ist eine Frage, die gelegentlich auftaucht, wenn ich mit Pädagogen über Adler diskutiere. Das Lernen ist auf jeden Fall die Aufgabe des Kindes. Niemand darf sich dort einmischen, nicht einmal die Eltern. Wenn die «Aufgabentrennung», von der Adler spricht, auf eindimensionale Weise interpretiert wird, sind alle Formen von Erziehung Eingriffe in die Aufgaben anderer Menschen und insofern verwerflich. Zu Adlers Zeiten gab es jedoch keinen Psychologen, der sich mehr als er mit Fragen der Erziehung befasst hätte. Für Adler war Erziehung nicht nur eine Kernaufgabe – es war auch die größte Hoffnung.

 

Junger Mann: Hm. Können Sie etwas konkreter werden?

 

Philosoph: Zum Beispiel wird eine Therapie in der Psychologie Adlers nicht als «Behandlung» gesehen, sondern als eine Möglichkeit zur «Umerziehung».

 

Junger Mann: «Umerziehung»?

 

Philosoph: Genau. Therapie und Erziehung in der Kindheit sind im Wesentlichen gleich. Der Therapeut ist ein Erzieher, und der Erzieher ist ein Therapeut. So sollte man sich das vorstellen.

 

 

Philosoph: Das ist ein wichtiger Punkt. Lassen Sie uns das im Laufe der Diskussion genauer betrachten. Zuerst einmal: Was ist das erklärte Ziel der Erziehung, sowohl zu Hause als auch in der Schule? Wie sehen Sie das?

 

Junger Mann: Das kann ich nicht mit ein paar Worten ausdrücken. Der Aufbau von Wissen durch Lernprozesse, die Erlangung sozialer Kompetenzen, die Entwicklung eines Menschen, der das Gesetz anerkennt und gesund ist an Körper und Geist …

 

Philosoph: Ja. All das ist wichtig, aber sehen wir einmal das große Ganze. Was möchte man denn als Resultat der Erziehung, die man Kindern zukommen lässt, wozu sollen sie sich denn entwickeln?

 

Junger Mann: Man möchte, dass sie unabhängige Erwachsene werden?

 

Philosoph: Richtig. Das Ziel der Erziehung ist, mit einem Wort: Selbständigkeit.

 

Junger Mann: Selbständigkeit … Ja, so kann man es vielleicht nennen.

 

Philosoph: In der Adler’schen Psychologie werden alle Menschen als Wesen betrachtet, deren Leben von dem Wunsch bestimmt ist, sich aus ihrer hilflosen Position zu befreien und sich weiterzuentwickeln. Das heißt, sie verfolgen das Ziel der «Überlegenheit». Das Kleinkind lernt, auf zwei Beinen zu stehen, eignet sich die Sprache an und ist dann in der Lage, mit den Menschen um sich herum zu kommunizieren. Mit anderen

 

Junger Mann: Und die Erziehung fördert also diese Selbständigkeit?

 

Philosoph: Genau. Und damit Kinder sowohl körperlich wachsen können als auch selbständig in ihrer sozialen Umgebung werden, müssen sie alle möglichen Dinge lernen. Sie brauchen die sozialen Fertigkeiten und den Gerechtigkeitssinn, von dem Sie gesprochen haben, und sie brauchen wahrscheinlich auch Wissen und andere Dinge. Und das, was sie nicht wissen, müssen ihnen andere beibringen. Die Menschen um sie herum müssen sie unterstützen. Erziehung bedeutet nicht, sich einzumischen, sondern auf dem Weg zur Selbständigkeit Unterstützung zu leisten.

 

Junger Mann: Das klingt für mich, als ob Sie unbedingt alles immer wieder neu formulieren wollten.

 

Philosoph: Zum Beispiel, wie wäre es, wenn man von heute auf morgen in dieser Gesellschaft leben müsste, ohne irgendwelche Verkehrsregeln zu kennen; ohne zu wissen, was eine grüne oder rote Ampel bedeutet? Oder wenn man nicht fahren gelernt hat und sich plötzlich hinter einem Lenkrad findet? Natürlich gibt es Regeln, die man lernen, und Fähigkeiten, die man erwerben muss. Dabei geht es um Leben und Tod und darüber hinaus auch darum, ob man das Leben anderer in Gefahr bringt. Man könnte das umdrehen und sagen, wenn es keine anderen Menschen mehr auf der Welt gäbe und man selbst der einzig Lebende wäre, dann bräuchte man nichts zu wissen, und auch Erziehung wäre überflüssig. Man hätte kein Bedürfnis nach Wissen.

 

 

Philosoph: Ja! «Wissen» bezieht sich hier nicht nur auf das, was man in der Schule lernt, sondern auch auf das, was man wissen muss, um glücklich zu leben. Kurz gesagt, wie man in einer Gemeinschaft lebt, wie man mit anderen interagiert, wie man in dieser Gemeinschaft seinen Platz findet. Wie man wissen kann, wer man selbst ist und wer die anderen sind. Die wahre Natur eines Menschen zu kennen und zu verstehen, wie man leben sollte. Adler bezeichnete dieses Wissen als «Menschenkenntnis».

 

Junger Mann: Menschenkenntnis? Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört.

 

Philosoph: