ISBN: 978-3-903059-58-0
1. Auflage 2019, Krems an der Donau
© 2012 EDITION ROESNER
EDITION ROESNER - artesLiteratur
Titelbild:
Die Originalausgabe erschien 2007
im AAPTOS VERLAG, Matzen
Alle Rechte vorbehalten.
Sprache kann sich nur im Zusammenhang mit dem
Sozialleben der Menschen entwickelt haben.
Doris F. JONAS und
A. David JONAS1
Ganzheitlich betrachtet umfasst Gesundheit nicht nur Körperliches, sondern ebenso Seele und Geist. Dem trägt auch die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO2 Rechnung, wenn sie formuliert, Gesundheit sei nicht bloß Freisein von Krankheit und Behinderung, sondern vollkommenes körperliches, seelisches, soziales
und spirituelles Wohlergehen.
Seit dem Einsatz von Bild gebenden Methoden in der Hirnforschung (z. B. der Kernspintomographie)3 ist empirisch nachgewiesen, dass zwischen dem „Feuern“ der Wahrnehmungsneuronen und dem der Handlungsneuronen ein zeitlicher Abstand liegt4 – wenn auch ein sehr geringer, der im üblichen „automatischen“ Reagieren nicht wahrgenommen wird.
Sprechen ist auch eine Handlung.
Wenn also heute jemand sagt, „Ich konnte nicht anders“, dann ist diese Aussage unwahr. Wahr wäre hingegen, wenn er oder sie formulierte: „Ich wollte nicht anders“, oder: „Ich wusste nicht anders.“
Genau deswegen werden ja auch oft Erziehungspersonen ärgerlich, wenn sie diesen Standardsatz hören, und pfauchen dann: „Du hättest sehr wohl anders gekonnt!“ – weil sie ahnen, dass es „nur“ am Nachdenken gemangelt hat, ein anderes Verhalten zu wählen. Nachdenken heißt ja auch wirklich „nach“, nämlich „nachher“ denken, also nach dem Impuls, der uns nach der Reizwahrnehmung durchzuckt.
Wir nehmen durch unsere Sinnesorgane wahr, zuerst durch unseren Geruchs- und Geschmacksinn, denn der schützt uns davor, unseren Nahrungshunger mit Giftigem zu stillen. Deshalb sollte man Nahrungsverweigerung – und dazu dienendes Abwehrzappeln und -geschrei von Kleinkindern – gelassen hinnehmen (und sich nicht aus Enttäuschung, vergebens gekocht/gekauft zu haben, abmühen, den
eigenen Willen „mit Gewalt“ durchzusetzen!). Mit „Gehorsam um jeden Preis“ gewöhnt man den Kleinen sonst gleichzeitig den Wahrnehmungsverlust an. „Du sollst nicht merken“, hat die Schweizer Psychoanalytikerin Alice MILLER einen ihrer Bestseller betitelt5 und damit ein geheimes „schwarzpädagogisches“6 Erziehungsziel umschrieben.
Das Wort Gehorsam stammt aus der Wortfamilie rund um das Hören – ebenso wie horchen, gehorchen, gehören, verhören ... Das Hörvermögen Neugeborener ist genauso groß wie bei Erwachsenen7; mit zunehmendem Alter lernt das Kleinkind nur bewusster und präziser Laute zu unterscheiden, und zwar nicht nur nach dem sachlichen Inhalt – also worauf sie sich beziehen – sondern auch, und das sogar primär, nach dem emotionalen.
Botschaften wirken auch wortlos
Die französische Kinderpsychiaterin und Psychoanalytikerin Caroline ELIACHEFF zeigt in ihren Dokumentationen des „Besprechens“ von Säuglingen und Kleinstkindern, wie diese auf den Sinn ihrer Worte und ihre, durch ihre authentische Stimm-Modulation vermittelte seelischgeistige Einstellung reagieren. Wenn sie schreibt: „Es ist nicht die Aufgabe des Analytikers, Mitleid zu empfinden, zu trösten oder Wiedergutmachung zu leisten, er sollte vielmehr die Möglichkeit eröffnen, das Leiden zu symbolisieren“8, dann besteht ihre Arbeit großteils darin, das, was sie mitfühlend (was nicht gleich ist mit Mitleid empfinden!) an lebensgeschichtlichen Zusammenhängen und Ausdrucksformen erkennt bzw. intuiert, in Sprache zu symbolisieren. Wenn sie quasi homöopathisch Gleichklang herstellt, reagiert das Kind – und wenn sie ihm dann, sobald sie fühlt, was das Kind ihr in seiner wortlosen Organsprache anbietet, erklärt, es müsse keine Krankheitssymptome entwickeln, um wahrgenommen, respektiert und akzeptiert zu werden, verschwinden diese.
Jeder Gedanke ist ein chemisch-elektrischer Prozess im Gehirn und mit unserem bioelektrischen Sinn – dem so genannten „sechsten“ – wahrnehmbar und das oft sogar früher von anderen als von einem selbst (dann nämlich, wenn diese Wahrnehmung unbewusst abgewehrt wird). Auf der optischen oder akustischen Umsetzung dieser Wahrnehmungsmöglichkeiten beruhen ja auch die Biofeedback-Prozesse, wie sie etwa zum Nachweis von Stress (bekannt unter dem Namen „Lügendetektor“), zur Desensibilisierung oder zum Training von Körperfunktionen eingesetzt werden.
Das Geheimnis des „heilenden Wortes“ besteht darin, auf die eigene Selbstdarstellung als heilende ExpertInnen zu verzichten, sich nicht darauf zu konzentrieren, eine bestmögliche Leistung zu vollführen, quasi „einen Fall zu behandeln“, sondern authentisch, d. h. aus dem wahrhaften Bedürfnis heraus, sich zu bemühen, zu verstehen, was die leidende (oder – im Gegensatz – liebende) Person bewegt und was sie wie auszudrücken versucht. (Im Wort Emotion stecken ja die lateinischen Silben „e“ als Verkürzung für „ex“, „heraus“, und „motio“, „Bewegung“ drinnen. Im Gegensatz zum inneren, oft verhaltenen Gefühl ist die Emotion immer bereits äußerlich wahrnehmbar.)
In der Legende „heilt“ der ungebildete Parsifal – zwar erst bei der zweiten Gelegenheit, bei der ersten traut er sich nicht aus Furcht, dumm oder zudringlich zu erscheinen – den siech darnieder liegenden Gralskönig Amfortas durch die Frage nach dessen Leiden. „Durch Mitleid wissend – der reine Tor“ heißt es dazu gleich zu Beginn in der Oper „Parsifal“ von Richard WAGNER9.
In der Psychoanalyse sprechen wir von Abwehr, wenn die ungeschminkte Wahrheit in ihrer Klarheit nicht bewusstseinsfähig ist und daher unbewusst „bearbeitet“, quasi wie eine Fotografie „retuschiert“ wird. Die Motive dahinter finden sich entweder in eingelernten Verhaltensgeboten bzw. –verboten – oder in Ablehnung eigener aggressiver oder sexueller Impulse. Dann kommt es zu „inneren“ Wahrheitsverzerrungen wie Verleugnung, Verkehrung ins Gegenteil, Verschiebung, Objektspaltung, Projektion usf. (und bestenfalls zur Sublimation)10 und selbstschützendem Erstarren in „äußeren“ Positionen. Dazu zählt auch berufliche Überheblichkeit: Sie schützt vor Selbstkritik und damit leider auch vor Selbsterkenntnis und Selbst-Bewusstsein ...
Ent-Sorg-ung
Chronisch zurück gehaltene oder unterdrückte Empfindungen und Gefühle besitzen hohes Krankheitspotenzial. Sie gehören „ausgedrückt“ – bewusst in Sprache „symbolisiert“, in Tönen, in Körperbewegungen, in Kunstwerken. Ja sogar unbewusstes Ausagieren in sozial unschädlicher Form – wie etwa im Squash, das, wie gerne behauptet, im 19. Jahrhundert von gelangweilten, meist wegen Schulden inhaftierten Insassen britischer Gefängnisse (wie dem Fleet Prison) erfunden wurde – hilft, sich zu „reinigen“, auch wenn sich dadurch nicht die zu Grunde liegenden Probleme verändern bzw. auflösen lassen. Nur „runterschlucken“ oder „runterspülen“ hilft nicht, es vergiftet nur noch mehr.
Unser aller Grundproblem liegt in der Entsorgung – in der von materiellem Abfall ebenso wie in der von Seelenmüll. Alles, was zu lange „liegt“, verkümmert, verschimmelt, manchmal nährt sich wer anderer daran ... und bestenfalls verrottet es. Aber bis es zu Rost und Staub zerfallen ist – das dauert. Oft mehrere Generationen.
In der Psychotherapie, der klassischen Methode, alte Neurosignaturen durch neue, salutogene11 zu ersetzen, herrscht meist „Märchenzeit“: Abgelöst von Alltagsanforderungen können mit einer – je nach Methode unterschiedlichen – Sprach- und Beziehungsform in Winzigschritten neue Denk- und damit Gefühls- und Verhaltensmuster (Reihenfolge egal) gebildet werden.
Diese Entschleunigung ist im Alltag selten, außerdem braucht sie auch Geduld und (beiderseitiges) Vertrauen. Und: Selbst sie gibt keine Garantie, dass die „richtigen“ Worte gefunden werden. Und selbst wenn die richtigen Worte gefunden werden, können unbewusste Vorbehalte oder widersprüchliche Gefühle – verkörpert etwa durch Atemrhythmus, Artikulationsschärfe oder Stimmlage – den „Reinigungsversuch“ mit neuen Giftportionen ruinieren.
„Selbst wenn man von der Richtigkeit überzeugt ist, die Tatsachen offenzulegen, so bleiben sie doch oft schrecklich, und ihre Vermittlung erfordert großes Einfühlungsvermögen“, warnt Caroline ELIACHEFF hinsichtlich des Umgangs mit Kindern. Unter Erwachsenen ist es aber doch ebenso! Und vielfach auch dort, wo eine oder mehrere Personen es berufsbedingt eigentlich besser wissen sollten. „Unter dem Vorwand, das Kind zu ‚schützen‘ (auch wenn man nicht der Meinung ist, dass das sinnvoll ist), tendieren die meisten Leute dazu, entweder nichts zu sagen (sie sind noch zu jung, um verstehen zu können) oder aber die Tatsachen mehr oder weniger zu verändern oder zu bagatellisieren (Papa ist verreist, Mama wird zurück kommen, er oder sie haben es nicht mit Absicht getan), nur damit das Kind nicht erfährt, dass seine Eltern gegen das Gesetz verstoßen haben.“12
Ich ersetze „zu jung“ durch „zu ungebildet“ – oder, wie ich es in letzter Zeit von Ärzten (männlich) oft gehört habe, „halbgebildet“ – und „nicht mit Absicht“ durch „Sachzwänge“. Wie sich dann die Bilder gleichen!
Es ist möglich, auch unter großem Zeitdruck, in „unpassenden“ Situationen oder bei eigenem Unwillen dennoch korrekt und gesundheitsfördernd zu reden. Man muss nur
· von Respekt vor dem jeweiligen anderen Menschen erfüllt sein,
· zu sich selbst und zu anderen ehrlich sein, d. h. bei der – eigenen, eine andere hat man ja nicht – Wahrheit bleiben (also beispielsweise zu wissen, ob man den oder die andere gut behandeln oder nicht vielleicht doch insgeheim los werden will, egal wie)
· und einige bestimmte Formulierungsregeln einhalten.
Letzteres ist das Leichteste. Ich hoffe, dass dieses Buch zumindest dies in der Grundstruktur vermitteln kann.