Ein Tag des Glücks für Danielle und Olivier, könnte man denken, an dem ihre Tochter Lou ein Kind zur Welt bringt. Die ganze Familie kommt in Bordeaux zusammen: Mathilde hat sich in Barcelona in den Nachtbus gesetzt, Edouard reist aus Cahors an. Allein, der älteste Bruder fehlt, und sein Schatten ist mächtig. Romain, einst verträumtes Kind, der sich rührend um seine Geschwister kümmerte, trank sich schon als Jugendlicher ins Koma. Alle verwickelte er sie in ein Lügennetz, bis er fortging und in Paris auf der Straße landete. Nun ist er wieder in der Gegend, beteuert, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen, als ein Anruf die aufkeimende Hoffnung zunichte macht.
Pascale Kramer legt in ihrem hochgelobten mehrstimmigen Roman die Gefühle jedes einzelnen für den so geliebten wie gehassten Sohn und Bruder frei. Im Moment der Geburt der kleinen Jeanne untergraben Schuldgefühle, Trauer, Wut und Sorge das Schweigen und das Nie-Gesagte. Das neuralgische Konstrukt einer Familie gerät ins Wanken.
Roman
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der Republik und des Kanton Genf. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, gefördert.
Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Une famille bei Flammarion erschienen.
© 2018 Editions Flammarion, Paris
© 2019 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
www.rotpunktverlag.ch
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Lektorat: Daniela Koch
Umschlagbild: suschaa/photocase.de
eISBN 978-3-85869-855-1
1. Auflage 2019
Olivier
Mathilde
Édouard
Danielle
Lou
Über die Autorin
Danielle hatte damals, als Olivier sie kennenlernte, einen vierjährigen Sohn. Auf dem Foto, das an dem Datum zwischen den Seiten seines Taschenkalenders steckte, sah man ihn auf dem dunklen Sand eines von der Ebbe freigelegten Strands laufen, blond, linkisch und verblüfft die Arme in die Luft reckend. Der Vater, ein Apotheker, war einige Monate vor seiner Geburt verschwunden und hatte sich erst nach ein paar Wochen wieder aus einer Klinik gemeldet, wo er eine abgründige Depression mit Chemie betäubte. Danielle war eine zuversichtliche, konventionelle Frau; sie hatte jung und ohne Bedenken geheiratet. In zwei Jahren gemeinsamen Lebens hatte sie hinter dem Schweigen, der Lethargie und Geistesabwesenheit nichts geahnt: ganze Tage, wie er ihr verriet, habe er in seinem Auto gelegen und nur zu atmen versucht. Diese Enthüllungen hatten, mehr noch als sein Verschwinden, etwas in ihr zerstört. Von diesem Tag an, sagte sie, habe sie die Zukunft ihres Sohnes mit Vorahnungen beladen, für die sie jetzt büße.
Olivier war damals ans Verwaltungsgericht von Bordeaux berufen worden. Er war gerade fünfunddreißig, vom hohen, leicht gebeugten Wuchs des Schüchternen, und er hatte eine sichere Laufbahn im öffentlichen Dienst vor sich. Nach einem Jahr hatte er sich dazu entschlossen, um Danielles Hand anzuhalten, überzeugt, er sei nun genügend gewappnet, um sowohl dem Sohn als auch der besorgten Mutter eine Stütze zu sein. Und in gewisser Weise war er es auch gewesen, sofern man überhaupt die anderen stützen kann, muss er sich in diesen schönen Apriltagen fast dreiunddreißig Jahre später wieder gesagt haben, als die gemeinsame Tochter Lou sie zum vierten Mal zu Großeltern machte.
Lou hatte um sechs eine Nachricht hinterlassen: Die Wehen hätten eingesetzt, Jean-Baptiste würde bald von der Arbeit kommen, sie müssten daran denken, die Kleine abzuholen. Danielle hatte sich direkt nach ihrem letzten Patienten auf den Weg gemacht, Olivier kam etwas später mit dem Auto nach. Bei der Geburt der Ältesten, Marie, war er nicht da gewesen, und er fühlte sich nicht wirklich berechtigt, solche intimen Augenblicke mitzuerleben.
Die Wohnung ging auf den Hinterhof eines Restaurants hinaus, dessen Gewürz- und Putzmitteldünste Lou in den ersten Monaten zu schaffen gemacht hatten, wie er sich erinnerte, als er die Treppe hinaufstieg. Die Wohnungstür war nur angelehnt, in der Diele warfen zwei Kerzen, die Zitrusduft verströmten, große schwankende Schatten auf die Wände. Olivier hörte, wie Danielle ihrer Tochter im Wohnzimmer Mut zusprach. Mit einem kleinen Klopfen kündigte er sich an, bevor er eintrat. Lou saß ihrer Mutter gegenüber, auf der Stuhlkante, mit dem Rücken kaum angelehnt, wie von Dornen umgeben. Sie warf ihm aus ihrer unbequemen Position ein gezwungenes Lächeln zu. Ein banger, verstörter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht mit den sehr roten Lippen. Olivier kam näher, um sie aufs Haar zu küssen. Seine Kinder leiden zu sehen, machte ihn hilflos. Er hatte nicht Danielles Seelenruhe bei dem Gedanken, dass auch das zum Leben gehört.
Sie hatten ausgemacht, dass die Kleine in den paar Tagen, die ihre Mutter in der Geburtsklinik verbringen würde, bei ihnen schlafen sollte. Ihr Vater hatte sie gebadet, das nach hinten gekämmte Haar streichelte sie mit den tropfenden Löckchen im Nacken. Ihre Tasche stand bereit, doch weder Lou noch Jean-Baptiste hatten nun das Herz, ihr die erste Verlassenheit anzutun. Danielle schlug vor, dass sie noch alle zusammen zu Abend aßen, und ließ sich von der Kleinen beim Tischdecken helfen.
Der Lärm der Restaurantküche hinter dem hellen Leinen der Vorhänge bildete einen merkwürdigen Kontrast zu Lous Gefasstheit. Sie sah ihnen lächelnd beim Essen zu, in konzentrierter Erwartung der nächsten Wehe, bei der sie von neuem aufstehen würde, als müsste sie aus ihrem Körper heraustreten. Sie ging dann im Zimmer umher, die Hände in der zerzausten Fülle ihres schönen Haars. Lou nahm während ihrer Schwangerschaften praktisch nicht zu. Das machte die verwirrende Anwesenheit des Babys unter dem hervortretenden Nabel umso unwahrscheinlicher, aber zugleich realer. Während er Marie beobachtete, die mit den Fingern in ihrem Joghurt stocherte, den Kopf auf den angewinkelten Arm gelegt, fragte sich Olivier, wie man sich diese Dinge wohl mit drei Jahren vorstellte.
Es kam ziemlich selten vor, dass die Kleine bei ihnen übernachtete, Jean-Baptiste fiel es noch schwerer als Lou, auf ihre Gegenwart zu verzichten. Aber sie machte keinerlei Schwierigkeiten, zog willig ihre Regenjacke an und folgte ihnen, auf die Ereignisse sicherlich mehr als vorbereitet. Olivier bestand nicht darauf, sie an der Hand zu nehmen; ein angestrengter Wille, der Wille einer großen Schwester, führte sie Stufe für Stufe hinab bis zum Türöffner. Es war fast neun, draußen war die Dunkelheit hereingebrochen und mit ihr Wassermassen, die im Schein der Straßenlampen von den Dächern platschten. Marie wollte sich zuerst die Füße nass machen, dann ließ sie sich tragen. Im Auto wehrte sie sich gegen den Kindersitz. Danielle schnallte sie an, ohne auf ihr Gejammer einzugehen und ohne die Geduld zu verlieren. Sie war so gekommen, wie sie praktizierte: in Yogahose und weißem Body. Sie fröstelte unter dem leichten Lycra, als sie ins Auto stieg. Sie schüttelte die Tropfen von ihrem dunklen Haar, warf einen hastigen Blick in den Spiegel der Sonnenblende und fragte nach der Uhrzeit, wahrscheinlich, um sich nachher zu erinnern, wie lang die Geburt gedauert hatte.
Der Regen fiel immer dichter und spülte die Lichter aus der Stadt. Olivier sah schlecht, er fuhr langsam. Marie hinter ihm war verstummt, das Schluchzen nahm ihr den Atem. Halt an der Ampel an, bat Danielle und öffnete schon die Tür. Olivier sah zu, wie sie auf die Rückbank neben die Kleine schlüpfte, ihren Kopf zwischen die Hände nahm und die Stirn, wie um sie dort anzuschrauben, fest auf ihre drückte. Diese gebieterische, so seltsam passende Geste ließ Marie für den Rest des Wegs schweigen. Sie war fast eingeschlafen, als Olivier die beiden vor dem Haus absetzte, plötzlich schlaff wie ein Lappen, die Lippen verschmiert von Nasenschleim. Danielle presste sie an sich und lief mit ihr durch den Regen. Ihre Haare und Arme waren mit Tropfen übersät, als Olivier sie im Hausflur einholte. Er wischte ihr mit dem Daumen die Nässe aus dem Gesicht, während sie auf den Lift warteten, diese intime Berührung erregte ihn, und er beugte sich vor, um sie zu küssen, der rasche Kuss eines Liebenden, der fast eine Erektion bei ihm ausgelöst hätte, während die wach gewordene Marie auf dem Arm ihrer Großmutter feindselig ins Leere starrte.
Gegen zehn rief Jean-Baptiste aus der Klinik an. Es sei noch nicht so weit, die Wehen würden immer schmerzhafter, Lou weine vor Erschöpfung. Dass er hinausgegangen war, um zu telefonieren, empörte Olivier. Anders als Danielle hatte er sich nie wirklich damit abgefunden, einen so jungen, so unbedarften Schwiegersohn zu haben. Dass seine Tochter während ihres Studiums schwanger geworden war, hatte ihn zutiefst enttäuscht, eine Zeit lang hatte er gehofft, sie würde abtreiben, und es sogar ernsthaft erwartet. Das war ein Konflikt mit Danielle gewesen, eine der seltenen Gelegenheiten, bei der sie bestürzt, verletzt feststellen mussten, dass sie in etwas Wesentlichem uneinig waren.
Nachdem Jean-Baptiste aufgelegt hatte, zeigte sich Marie von neuem untröstlich. Ihre Tränen verstärkten noch ihre Übermüdung und ihre unvermeidliche Angst. Olivier ließ Danielle mit ihr ins Fernsehzimmer gehen, dass sie die Kleine beruhige. Er, eher sanft, feminin, war letztlich den Jungen näher, vor allem Romain, Danielles Sohn, und später Édouard, dem ältesten der drei Kinder, die sie dann zusammen bekommen hatten.
Nach dem Aufwachen fand Olivier die Wohnung leer und das Badezimmer im Dunst. Es war kaum acht, Danielle war mit Marie hinausgegangen; er hatte sie am Abend nicht einmal ins Bett schlüpfen hören. Die hohen Fenster des Wohnzimmers standen weit offen; zwei Sonnenrechtecke erleuchteten einen feinen Staubteppich auf dem Parkett. Olivier trat auf den Balkon. Von der durch die Niederschläge aufgewühlten Garonne her wehten ihn Schlammgeruch und Vogelgekreisch an. Der gestrige Regenguss hatte die zwei Tage zuvor gepflanzten Sommerblumen gezaust, die Erde war auf den Metalltisch gespritzt, den er mit der flachen Hand abwischte und zusammengeklappt an die Wand stellte. Er war jetzt bald zwei Jahre im Ruhestand, er begann an diesen kleinen Alltagsdingen Gefallen zu finden. Danielle hatte einen Teil ihrer Reha-Praxis abgegeben, behandelte aber einige Patienten noch weiter. Olivier erlaubte sich fast nie, nach ihr aufzustehen. Am Anfang hatte es ihn sehr verunsichert, da zu sein, wenn sie nach Hause kam. Es war eine andere Frau, die er nach ihrem Arbeitstag zur Tür hereinkommen sah, eine dunklere, maskulinere Frau, die ihn ganz vergessen hatte.
Ein Zettel für Angèle lehnte am Toaster: »Fangen Sie mit der Bügelwäsche an, mein Schwiegersohn ruht sich im Fernsehzimmer aus (Lou hat heute Nacht entbunden, es ist eine kleine Jeanne!).« Der Kaffee war noch warm, eine Tasse stand auf dem Tisch, ebenso Maries Plastikbecher, und in der Spüle waren zwei Weingläser, ein gerade erst ausgespülter Aschenbecher, ein Teller mit einem fettigen Rest von Rillettes am Rand. Warum hatte Danielle ihn nicht geweckt, als Jean-Baptiste in der Nacht aufgekreuzt war? Sie musste nur ein paar Stunden geschlafen haben, Olivier fand es unangebracht, dass er an einem Tag wie diesem ausgeruht war.
Er duschte, holte die Post von unten und ging zurück ins Arbeitszimmer, um seinen Kaffee zu trinken. Seit er pensioniert war, achtete er darauf, während der zwei oder drei Halbtage pro Woche, an denen Angèle bei ihnen putzte, beschäftigt zu sein. Sie erhielt ihre Anweisungen nur von Danielle und hatte sich an seine Anwesenheit in der Wohnung so wenig gewöhnt wie er. Olivier stieß seine Tür etwas zu, als er sie den Schrank im Flur öffnen hörte und die Fenster im Luftzug schlugen. Ihre Tochter begleitete sie wie in allen Schulferien, seit sie nach Frankreich hatte kommen können. Danielle hatte sich dem zunächst widersetzt, allein mit dem Argument, es gebe spezielle Angebote für Kinder arbeitender Mütter. Olivier wunderte sich immer, wenn er an ihr solche Rigiditäten entdeckte, und genauso, wenn sie dann schließlich ohne großen Widerstand seinen Entscheidungen zustimmte. In diesem Fall jedoch hatte sie recht gehabt. Es kam nicht infrage, dass das Mädchen bei der Hausarbeit half. Ihre Langeweile ließ ein feindseliges Schweigen auf dem Vormittag lasten. Sie war zu alt, zwölf, um nichts mit ihren Ferien anzufangen. Es nervte Olivier, wenn sie von morgens an vor dem Fernseher hing. Er machte sich Vorwürfe, weil er so wenig Zuneigung zu dem Mädchen empfand.
Olivier schaute aus dem Fenster, am Ende der Straße sah er die Lichtschneise zwischen den Mietshäusern und den schimmernden Fluss unter den durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen. Er wartete ein paar Minuten, ob nicht Danielle und Marie auftauchten. Dann setzte er sich wieder, klappte den Computer zu und betrachtete einen Moment seine großen Hände, von denen Mathilde, ihre Jüngste, sagte, sie finde sie so schmerzvoll und ungeschickt wie ihn.
Jean-Baptiste musste aufgestanden sein, denn plötzlich gab es Freudengeschrei, als Marie in die Wohnung stürmte. Olivier wartete noch ein bisschen, er zögerte immer, an der Aufregung dieser Tage einer Geburt teilzunehmen, denn sie weckten bei ihm ein Gefühl des Bedauerns: Es tat ihm leid um die Möglichkeit, sorglos zu sein.
Er fand Jean-Baptiste auf dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer, das Hemd offen über seiner unbehaarten Brust, wo sich die langen Muskeln des Basketballspielers abzeichneten. Marie saß zwischen seinen Beinen und betrachtete die ersten Fotos ihrer kleinen Schwester. Jean-Baptiste hob sie ein wenig hoch, um die Begrüßungsküsse seines Schwiegervaters zu empfangen. In seinem Alter hinterließ die Anstrengung noch keine Spuren, aber als sie sich umarmten, schien er gerührt. Die Periduralanästhesie hat nicht gewirkt, es war hart für sie, sagte er heiser, bevor er sich wieder setzte. Olivier beugte sich zu Marie, um die Fotos anzuschauen. Mit erschöpfter Anmut blickte die aufgelöste Lou hinunter auf das Neugeborene in ihren Armen. Das Blau des Klinikhemds ließ ihr Gesicht und die nackte Haut in ihrem entwaffnend tiefen Ausschnitt blass erscheinen. Olivier blieb stumm. Die müde Schönheit der Wöchnerinnen brachte ihn durcheinander. Wie jung deine Mama ist, flüsterte er Marie ins Ohr, die mit dem Finger auf die Fotos tippte und durchaus Bescheid zu wissen schien, was all das bedeutete. Als er sich wieder aufrichtete, kämpfte Jean-Baptiste lautlos, zwei Finger in die Augen gepresst, mit den Tränen. Olivier legte ihm freundschaftlich eine schwere Hand auf die Schulter. Niemals, dachte er mit Bedauern, hatte er selbst sich erlaubt, in diesen Momenten zu weinen.
Das Tischtuch lag bereit, und die Bücherstapel auf dem großen Tisch waren beiseitegeräumt. Danielle hatte einen dicken Strauß gelber Ranunkeln, Brioche und Obst gekauft. In einer lila Yogahose, die ihr sehr weich über die sportlich schmalen Hüften fiel, ging sie zwischen Küche und Diele hin und her. Ihr kurz geschnittenes dichtes Haar kringelte sich um ihr Gesicht. Sie war immer schön gewesen, schön wie eine amerikanische Joggerin, dachte er gern. Sie war es geblieben, sehr gerade, die Brüste schwer und ausladend unter dem feinen Schultergelenk, der Bauch flach, und die faltige Haut berührte ihn heute mehr, als ihre Jugend es je getan hatte. Mit achtundsechzig hatte Olivier die überraschenden Schönheiten, die ihr Körper für ihn bereithielt, noch längst nicht ausgeschöpft. Du schaust sie an wie ein Liebhaber, hatte ihm einmal Édouard vorgeworfen, dessen junge Ehe sich unaufhaltsam auf einen beiderseits akzeptierten Zustand der Unzufriedenheit zubewegte.
Danielle war noch nicht wieder aufgetaucht, seit sie zurückgekehrt war. Olivier wartete, bis Angèle ins Esszimmer ging, den Tisch zu decken, um nachzusehen, was mit ihr los war. Sie hatte die Ranunkeln ausgepackt und schnitt über dem Mülleimer die Stängel ab. Du hättest mich wecken sollen, bemerkte er und legte ihr den Arm um die Taille. Ohne von den Blumen aufzublicken, erwiderte Danielle, Jean-Baptiste habe am frühen Morgen eine Nachricht geschickt. Lou sei endlich eingeschlafen, und er wolle bei Marie sein. Die Geburt hat beinahe sechs Stunden gedauert, sagte sie noch und atmete tief ein.
Schließlich richtete sie sich auf: Ihre Züge waren verzerrt, ihr Blick ratlos, die Wimperntusche ein wenig zerlaufen. Was ist los, ist es Romain? Danielle hob mit einer flehenden Geste die Hände, damit er sie in Ruhe ließ. Ich erkläre es dir später, bitte, heute Abend, beharrte sie. Angèle blieb in der Tür stehen, als sie beide in der Küche sah. Danielle gab ihr die Brioche zum Toasten und folgte ihr ins Esszimmer. Olivier hob einen Blumenstängel vom Boden auf und räumte die Gartenschere weg. Diese einfachen Handgriffe bedeuteten eine riesige Anstrengung, als wäre alle seine Energie mit einem Schlag aufgebraucht. Er hätte nicht die Kraft, die Sorgen um Romain noch einmal zwischen ihnen aufkommen zu sehen, sagte er sich mit ruhigem Zorn, nicht nach fast drei Jahren ohne Rückfall.
Sie riefen Lou in der Entbindungsklinik an. Jean-Baptiste stellte das Telefon laut, damit alle sie hören konnten. Das Kinn auf die Brust gesenkt, beobachtete Angèles Tochter verlegen das Schauspiel ihrer Emotionen. Danielle hatte sie aufgefordert, neben ihr Platz zu nehmen, aber das Mädchen konnte sich nie entschließen, sich zu setzen oder zu essen. Angèle verhielt sich ihnen gegenüber familiärer und herzlicher; sie vergötterte Lou, die sie schon als Jugendliche gekannt hatte und der sie mit geschlossenen Augen zuhörte, während sie die Stirn auf ihre gefalteten Hände schlug. Ihr Verhältnis zur Familie hatte sich verändert, seit Danielle sich so energisch dafür eingesetzt hatte, dass sie ihren Mann und die Kleine, die in Benin zurückgeblieben waren, nachholen konnte. In ihre Dankbarkeit mischte sich noch etwas anderes, als hätte sich Danielle durch ihre Hilfe bereit erklärt, eine unendliche Schuld auf sich zu nehmen. Olivier fehlte manchmal die Geduld für das Engagement seiner Frau und die neuen Scherereien, die es mit sich brachte. Er hatte nie Skrupel gehabt, für sich und seine Familie ein privilegiertes Leben aufzubauen, das seine ganze Großzügigkeit forderte.
Jean-Baptiste entfernte sich vom Tisch, um Lou noch ein paar Worte zu sagen; Olivier wunderte sich über sein finsteres Gesicht, als er sich wieder setzte. Seine Augen waren gerötet von der Müdigkeit, die Marie mit ihrer nie nachlassenden Tyrannei noch verstärkte. Dennoch hatte er sich die Mühe gemacht, sich vor dem Frühstück zu rasieren und ein gebügeltes Hemd anzuziehen. Sein Konformismus in Kleidungsfragen war mit dem Kontakt zu ihnen entstanden und in der Abkehr von einer chaotischen Kindheit, die er auf einem Campingplatz in Dax verbracht hatte, wo seine Eltern noch heute lebten. Ich bin gespannt, ob sie auf meine Nachricht reagieren, sagte er mit einem Zwinkern zu Danielle, als Antwort auf ihre besorgte Frage. Sie waren seine eigentliche Familie, das stand seit jenem Skilager fest, in dem er sich in ihre Tochter verliebt hatte. Lou hatte ihnen einmal den seltsamen Vorwurf gemacht, sie werde mehr ihretwegen, also ihrer Eltern wegen geliebt als um ihrer selbst willen. Die Ungerechtigkeit der Klage hatte Olivier ebenso irritiert wie der Schmerz in diesem Bekenntnis. Lou hatte die sichere Haltung ihrer Mutter, dasselbe lange Gesicht, umrahmt von einer schönen, kräftigen Mähne, dasselbe Lachen auf den dunklen Lippen, die sich hoch über das Zahnfleisch schürzten. Sie war willensstark und ohne Launen. Die Art von Mädchen, die man sich in einer soliden Liebesbeziehung vorstellt. Olivier war nie um sie besorgt gewesen. Der geäußerte Zweifel hatte sie für ihn plötzlich geheimnisvoll gemacht. Er hatte sich gesagt, er habe es vielleicht nicht verstanden, sie mit genügend Intuition zu lieben.
Lou hatte gesagt, sie sollten nicht vor drei kommen, und Mathilde, die in Barcelona einen Nachtbus bestiegen hatte, um ihre Schwester zu überraschen, rechnete damit, erst am späten Vormittag da zu sein. Die Müdigkeit legte sich wie Asche auf sie alle. Angèle war gegangen, Danielle hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen, um ihre Schwester in Deutschland anzurufen, und Jean-Baptiste war auf dem verschlissenen Samtsofa beim Fernseher weggesackt. Marie saß auf dem Parkett und hielt ihn am Daumen seiner auf ihrer Schulter ruhenden Hand. Gebannt von den Bildern eines Zeichentrickfilms reagierte sie nicht, als Olivier die Tür zuzog. Seine Kinder mussten ihn nie schlafen sehen, dachte er. Seine väterliche Schamhaftigkeit hatte eine andere, vielleicht wertvollere Verbundenheit geschaffen. Da herrschte immer ein wenig Verlegenheit, wenn sie allein zusammen waren, und die Zurückhaltung, die es brauchte, damit die Spannungen sie nicht überwältigten, auch nicht in den Jahren, als Romains unbarmherzige Flucht sie alle so niedergedrückt hatte. Mit Mathilde war es anders gewesen. Bei ihrer Geburt war Olivier schon über fünfundvierzig. Seine Schamhaftigkeit war gereift, er konnte weicher und nachgiebiger sein. Als sie nach Barcelona ging, um dort ihr Geschichtsstudium zu beenden, fanden Danielle und er sich allein wieder und merkten verdutzt, dass sie in ihrem Alter keinerlei Erfahrung hatten mit einem Leben zu zweit. Sie mussten sich mit dem Verlust von dreiunddreißig Jahren Jugend im Haus abfinden, von Jugend und den damit verbundenen Geräuschen, dem Lärm.
Als Mathilde ankam, war es schon nach eins. Olivier war nicht darauf gefasst, sie so verändert zu sehen. Sie hatte sich das Haar wachsen lassen, hatte etwas abgenommen und trug einen blauen Kunststoffgips am Handgelenk, von dem sie ihnen überhaupt nichts gesagt hatte. Bist du ganz allein?, fragte sie in seltsamem Ton und schleuderte in der Diele ihre Tasche auf den Boden, als würde sie ihm ein erlegtes Tier vor die Füße werfen. Jean-Baptiste und Marie ruhen sich aus, ich glaube, deine Mutter auch, sie haben praktisch nicht geschlafen, erklärte Olivier, der sie aus einigem Abstand betrachtete, eingeschüchtert von seiner heftigen Freude, sie zu sehen. Mathilde konnte auch nicht viel geschlafen haben, ihre Kleider rochen nach dem Muff einer Nacht im stickigen Bus. Olivier sah zu, wie sie ihre Turnschuhe aufschnürte und das um die Taille geschlungene Sweatshirt löste. Dieses Mädchen war so robust, wie ihre Mutter und ihre Schwester lang waren. Ihre Komplexe als Jugendliche hatten sie ihm gewissermaßen vertrauter gemacht, genau wie Jahre später Romains Verletzlichkeit.
Ich trag sie später rauf, jetzt bin ich zu faul, sagte sie und schob die Tasche mit dem Fuß beiseite, bevor sie ihr zusammengerolltes Sweatshirt noch hinterherwarf. Sie gähnte, und dann kam sie plötzlich und lehnte sich mit dem Kopf an die Brust ihres Vaters, als wollte sie bei ihm den Mut schöpfen, den sie brauchte, um diese Rückkehr zur Familie durchzustehen. Sie sei hungrig, sie sterbe vor Sehnsucht nach einer Dusche, seufzte sie und wandte sich der Küche zu. Olivier schnitt ihr eine dicke Scheibe Brioche ab. Vielleicht bereute sie, dass sie gekommen war, dachte er, während er zusah, wie sie aus dem Wasserhahn trank, mit der Brioche in der Hand zurück in die Diele ging und zerstreut und träge ihre Sachen nahm. Es würde ein wenig dauern, bis man wieder herausfand, wie man miteinander sprechen und was man sich sagen konnte.
Danielle hatte eine helle Hose angezogen und schien ein wenig geschlafen zu haben, als Mathilde um zwei Uhr aus ihrem Zimmer im fünften Stock herunterkam. Wir gehen in zwanzig Minuten, rief sie aus dem Flur, bevor sie sich mit ihrer Tochter einen Augenblick in die Küche zurückzog. Vom Balkon aus bewunderte Olivier das meditative Schauspiel der Garonne, die ihre braunen Wasser durch die Stadt wälzte. Ein ängstliches Gefühl bedrückte ihn seit dem Vortag. Er hatte Danielle geliebt und sich so sehr gewünscht, das Leben mit ihr und ihrem Sohn zu teilen. Noch weitere Kinder zu bekommen, war für Danielle eine Selbstverständlichkeit gewesen; diese bei sich selbst zu hinterfragen, wäre ihm gar nicht eingefallen. Dennoch überforderte ihn die Familienrealität oft. Man hätte gemeinsame Momente mit jedem Einzelnen haben müssen, Olivier hatte aber nur mit Romain wirklich welche gehabt in den drei Jahren vor Édouards Geburt, als seine Pflichten ihm noch die Zeit ließen, sich für Hausaufgaben, Kinderzeichnungen und Modellautos zu interessieren, und Romain und er sich allmählich aufeinander einließen.