Dieses Buch ist Eva Schuster und allen anderen gewidmet, die an das (noch) Unsichtbare glauben
Man kann vom Dichten leben erst,
wenn man längst krepiert ist.
Gustav Meyrink
Das Wort hat mich behext.
Kurt Eisner
Es klopft.
Teufel noch mal, denkt Meyrink, wer klopft? Der Einzige, der hier klopfen darf – und zu gegebener Zeit auch klopfen wird –, bin ich, und ich habe nicht geklopft.
Er blickt in vier entgeisterte Gesichter. Das hätten sie nicht gedacht. Ausgerechnet bei einer spiritistischen Sitzung. Das Tischrücken hat kaum begonnen, der Tisch noch nicht einmal gezittert, schon gar nicht geschwebt, und es klopft. Die Apothekerwitwe bewegt stumm die Lippen, die Frage, die sie an den lieben Verstorbenen richten will, muss hinaus. Meyrink hebt die Hand; die Witwe ist jedoch nicht zu bremsen.
»Hartmut, bist du das?«
Wieder klopft es, und wieder ist es nicht der Hausherr. Es ist sicher nicht das Jenseits, das sich meldet, das wäre das erste Mal. Jemand am Tisch sabotiert die Séance. Jemand reißt das alberne Spiel an sich. Jemand treibt Scherz in einer ohnehin schon lächerlichen Situation. Jemand macht sich lustig, über ihn, Meyrink, den Spiritisten vom Haus zur letzten Latern. Die Apothekerwitwe ist es nicht. Sie legt die Hände wie zum Gebet zusammen.
»Hartmut, Liebster, es ist wegen des Schmucks, ich bitte dich. Wo hast du den Pfandschein versteckt?«
»Bitte nur Ja-Nein-Fragen, gnädige Frau«, sagt Meyrink.
Die drei anderen – Kimmerle, der Bankier, Eisenschmid, ein Fuhrunternehmer, von Rambaldi, Privatier – betrachten die Witwe dringlichst, als ginge es ihnen ebenfalls um den Pfandschein. Der Bankier kräuselt die Lippen in einem dezent süffisanten Lächeln. Elender Schuft, denkt Meyrink, deine Sorte kenne ich aus eigenem Erleben.
Es klopft. Es hämmert. Das ist nicht Hartmut, der Spieler, der seiner Witwe aus der Patsche helfen soll, der reumütig (weil er den Schmuck der Gemahlin für Spielschulden versetzt hat) aus dem Jenseits die Hand reicht. Da ist jemand an der Haustür; und der verliert die Geduld. Meyrink erwartet keinen Besuch und kann jetzt auch keinen gebrauchen. Mena, seine Frau, ist mit den Kindern in der Stadt geblieben; besser, wenn sie das hier nicht mitbekommen. Dumm, dass er sich hat überreden lassen. Aber wenn die Honoratioren immer wieder drängen … Von Rambaldi ist wie Meyrink und Eisenschmid im Vorstand des Ruderclubs, der Fuhrmann hat ihm den letzten Umzug – es wird hoffentlich, hoffentlich der letzte bleiben – in dieses herrliche Haus besorgt, zu einem Preis unter Sportkameraden. Und Kimmerle sitzt der örtlichen Spar- und Darlehenskasse vor, was, sofern die Vorsehung es gut mit Meyrink meint, niemals eine größere Bedeutung erhalten sollte; aber die Zeiten sind schlecht, mit Aussicht auf noch schlechtere. – Von unten erneut das dringliche Hämmern an der Haustür.
»Entschuldigen Sie, meine Dame, meine Herren«, sagt Meyrink, »sicher nur ein später Hausierer. Wir setzen die Séance in einer Minute fort, behalten Sie bitte Ihre Plätze.«
Von Rambaldi schiebt das Zigarrenetui wieder ein. Die Apothekerwitwe macht ein betrübtes Gesicht; solcherart, dass Meyrink im Hinausgehen innehält und sagt: »Nur keine Sorge, es wird uns schon gelingen, Ihren Mann herbeizuzitieren.«
Worauf sich der Bankier vernehmen lässt: »Aber ganz sicher.«
Meyrink stößt die Haustür auf – beinahe fegt er den Einarmigen von der Schwelle, der da steht, mit erhobener Faust, und dem nun die andere Hand besonders abgeht, nämlich um nach dem einseitig angebrachten Geländer zu greifen und seinen unvermeidlichen Sturz rücklings fünf Stufen hinab zu verhindern – also packt Meyrink ihn am leer schlenkernden Rockärmel und stabilisiert den taumelnden Mann fürs Erste, selbst wenn ihm eher danach ist, dem Fallenden noch einen Stoß zu verpassen. Beherrschung, sagt er sich, Beherrschung. Warum nennt man mich den Buddha vom See?
Mit einem Hausierer hat er es nicht zu tun, das ist ein feiner weicher Wollstoff, den er gerade noch in der Hand gehalten hat. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein langgestreckter, dunkler Wagen wie ein dösender Panther, schnurrend und sprungbereit, der Motor läuft. Der Chauffeur lehnt mit geschlossenen Augen an der Flanke und dreht seine Mütze vor dem Bauch, als lenke er den Wagen über eine kurvige Straße. Von dem Tumult an der Tür hat er nichts mitbekommen; oder er ist überaus diskret.
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«, fragt Meyrink den Einarmigen.
Der fischt nach einem Brief in der Innentasche seines Rockes und sagt:
»Sie sollen einen Roman schreiben.«
Meyrink denkt, der andere hält ihn zum Besten. Dieser Einarmige ist gewiss kein Gesandter seines Verlegers. Der, wenn Meyrink ihm ankündigte, er habe ein Romanmanuskript fertig, mit vielen Worten doch nur sagen würde: Schon wieder? Wir haben noch reichlich lagernd vom Grünen Gesicht und von der Walpurgisnacht.
»Wer will das?«
»Das Auswärtige Amt in Berlin«, sagte der Mann, »mein Name ist Doktor Rechenmacher, und ich bin nur der Überbringer der Nachricht, die ich in Ihre Hände zu legen habe. Diese Anfrage nur einfach so per Post zu schicken – ich weiß nicht –, ich bin hier, um die Ernsthaftigkeit dieses Angebots zu unterstreichen.«
Es ist übrigens der rechte Arm, den er verloren hat. Er hält sich etwas schief, die Schulter links ein wenig tiefer, als fehlte auf der anderen Seite das Gegengewicht. Ist wohl noch nicht so lange her, denkt Meyrink, der hat wohl den Arm auf einem der Schlachtfelder gelassen. Aber um einen Brief zu überbringen, reicht ein Arm. Solange die Hand noch dran ist; oder eine Prothese. Man sieht so viele Krüppel in diesen Tagen. Unglaublich, was einem alles an Extremitäten fehlen kann, und dennoch leben diese Gestalten.
Auf dem Umschlag erkennt Meyrink seinen Namen. Darunter steht:
= = = P E R S Ö N L I C H ! = = =
»Und ich brauche Ihre Antwort«, sagt Rechenmacher, »zumindest einen Vorbescheid. Ob Sie interessiert wären. Es eilt nämlich ein wenig.«
Was Meyrink bräuchte, ist die Lesebrille; aber die liegt oben, bei den vieren. Dorthin will er nicht. Er tastet nach dem Hausschlüssel in der Rocktasche und zieht die Tür hinter sich ins Schloss.
»Sie sind mit dem Inhalt vertraut?«, fragt er den Sendboten.
»In groben Zügen, mein Herr. Die Angelegenheit ist im Grunde überaus simpel: Wir möchten, dass Sie einen Roman schreiben, aus dem für jedermann klar ersichtlich und verständlich wird, wer am Ausbruch des andauernden, bedauerlichen Krieges schuld ist. Wenn es außerdem unterhaltsam wäre, schadet es auch nicht.«
Meyrink, verdutzt: »Bitte, wie?«
»Nun ja«, sagt Rechenmacher, »ein Tatsachenroman, ist wohl auch durchaus modern.«
»Und wer, um alles in der Welt«, sagt Meyrink, »soll schuld sein an diesem gigantischen Schlamassel?«
»Ich bin nicht ermächtigt, darüber Auskunft zu geben«, sagt Rechenmacher, »vielleicht weiß ich es auch nicht.«
»Und wenn meine Nachforschungen ergeben, dass es die Mohikaner gewesen sind?«, fragt Meyrink.
»Solange es schlüssig dargelegt ist. Also, meine Meinung. Ich lese Romane, durchaus gerne. Aber sprechen Sie das bitte mit Berlin ab.«
So richtig überzeugt klingt er jedoch nicht.
»Haben Sie irgendeine Legitimation außer diesem Brief, Herr Doktor Rechenmacher?«, fragt Meyrink, dem plötzlich Zweifel kommen. Man treibt Scherz mit ihm. Was sonst? So etwas ist doch – unerhört.
»Ich bin nur der Bote, wie gesagt, alles Weitere ergibt sich aus dem Schreiben, welches natürlich auch nicht die Frage der Honorierung ausspart. Was darf ich nach Berlin melden?«
Nun ist immerhin das Stichwort gefallen, auf das hin auch weniger bedürftige Kandidaten als Meyrink aus der Kulisse herbeigeeilt gekommen wären. Natürlich muss die Honorierung über den Fall entscheiden. Es besteht hier die Gefahr des schriftstellerischen Selbstmordes: Da sollte es schon ein seidener Strick sein, an dem man sich aufhängt. Aber noch ist der Brief nicht geöffnet, noch ist er, Meyrink, nicht kompromittiert, noch kann er den Umschlag an den Einarmigen zurückreichen, mit vor Indignation zitternder Stimme ausrufen: Was erlauben Sie sich, mich mit Ihrem abstrusen, was sage ich, infamen Anliegen heimzusuchen! Ich bin ein Künstler und damit per definitionem nicht käuflich!
Gut, denkt Meyrink, gut, wenigstens ein Mal in Gedanken inszeniert zu haben, was auszusprechen ich nicht über mich bringe. Nicht jetzt.
Er versenkt den Brief in der Rocktasche.
»Ich muss ein, zwei Nächte darüber schlafen«, sagt Meyrink und schiebt nach: »Bin jedoch nicht abgeneigt.«
Als er in den vernebelten Raum zurückkehrt (Kimmerle und von Rambaldi haben sich, verdrossen ob der langen Wartezeit, Zigarren angesteckt), sagt er abwesend: »Ich hatte eine Erscheinung.«
»Sie?«, ruft empört die Apothekerwitwe, »ohne uns?«
[Typoskript in Meyrinkiana, VII.1.; Bayerische Staatsbibliothek München; Ansatz zu einer geplanten Autobiographie von Gustav Meyrink, Titel: Styx (?), undatiert]
Ich will dieses Buch beginnen, in dem ich von Begebnissen aus meinem Leben erzähle.
Meyrink braucht mehr als zwei Nächte, um die Sache zu überschlafen. Das Klären der Dinge im Schlaf, das sonst so gut funktioniert, bleibt in dieser Angelegenheit ohne Wirkung. In der Tat liegt er lange wach, und wenn er schläft, dann so unruhig, dass Mena ihn anzischt. Einige Male verlässt er das Bett und versucht, Ruhe im Yogazimmer zu finden – erfolglos. Das Angebot des Einarmigen erscheint ihm mal verlockend, mal empörend. Frivol ist es jedenfalls. Bei wie vielen Kollegen ist der Einarmige sonst noch vorstellig geworden? Womit man rechnen muss: Meyrink ist nicht der Einzige in diesem Rennen. Wer noch? In Bogenhausen, bei Thomas Mann, wird der schnurrende Panther nicht vorgefahren sein. Hat der nicht nötig. Sonst kommt wohl jeder im Land in Frage.
Haben die anderen Angefragten den einarmigen Gesandten hochkant hinausgeworfen oder gar nicht erst hereingebeten? War es falsch, den Einarmigen so schnöde vor der Türschwelle abzufertigen? Wird der Mann in Berlin berichten, und hat sein Wort Gewicht? Wie kommen sie überhaupt auf ihn, Meyrink? Und ist das in sich selbst bereits eine Geringschätzung seines Werks – oder eine irgendwie verquere Form der Hochachtung?
Was hat er, Meyrink, denn bitte schön für ein schriftstellerisches Renommee, wenn man in Berlin glaubt, er könne, mit Verlaub, jeden Unsinn erzählen – wiewohl er es kann und getan hat. Seine Werke wurden ja auch gelesen und geliebt, die Kritik nannte sie gern skurril, bizarr und gelegentlich genial: Dass die Körpertemperatur eines Menschen so hoch ansteigen kann, dass nur ein Asbestanzug ihn noch zu kleiden vermag, weil alles andere sofort in Flammen aufginge … das nahm man ihm ab. Von Tschitrakarna, dem vornehmen (und sprechenden) Kamel gar nicht zu reden. Solche Dinge … phantastische Geschichten eben. Zum Schreiben echter Märchen fehlt Meyrink die rechte Moral, das Interesse an Gut und Böse. Und für das realistische Fach, nun ja – die Realität ist entweder grässlich oder langweilig oder beides, jedenfalls nichts für einen intelligenten Menschen. Dennoch hat sein Schreiben immer ein Publikum (vielleicht sogar ein intelligentes, wie Meyrink stets gehofft hatte) gefunden. Und ja, der Golem. Sein Bestseller; auch ein wenig im Nebulösen angesiedelt. Der Golem, das ist ein sagenhaftes Monstrum, aus Lehm geformt; und der Rabbi Löw legt ihm einen Zettel in den Mund, auf dem ein magisches Wort steht, und schon marschiert das Monstrum durch die Welt, die Bösen zu richten und die Unschuldigen zu schützen.
Na, denkt Meyrink, und welches mag das Zauberwort sein, das dieses Monster von Roman in Marsch setzt? Die »Schlechtestmögliche Wahrheit« oder die »Besterfundene Lüge« oder –?
Es zwickt und beißt, wie man es auch zurechtzupft. Meyrink weiß einfach nicht, ob er sich ärgern oder freuen soll. Es zwickt und beißt übrigens auch im Portemonnaie. Das Haushaltsbuch ist das einzige Buch, das er in letzter Zeit regelmäßig anfasst, um mit dem Bleistift (als gäbe es etwas zu radieren) das Desaster seiner finanziellen Lage zu protokollieren. Das ist peinigend, aber auch reinigend. Da mag man samt Familie in einem reizenden Haus direkt am See residieren, mit privatem Steg und Bootshäuschen dazu – dies ist alles dem Golem zu verdanken, dem Wesen, das in einem Zimmer ohne Tür vegetiert –, aber ein Anstrich des Hauses, das Ersetzen der Pfähle für den Steg, eine Krankheit, oder auch nur das Leben, das schnöde Leben mit Essen und Kleidern und Haareschneiden und Bahnfahren, und ahhh, das schöne Automobil … das alles kostet, Tag für Tag. Media vita in morte sumus; mitten im Leben sind wir im Tod – zumindest im Bankrott –, und mir nichts, dir nichts ist die ganze Herrlichkeit vorbei, die Bude ausgeräumt, das Ruder- und das Segelboot auf dem Trockenen, der Fuhrmann vor der Tür, um das verbliebene Mobiliar in die neue, fraglos bescheidenere Bleibe zu bringen. Das Haus am See, das er nach einem magischen, manchmal sichtbaren, manchmal unsichtbaren Haus im Golem sein Haus zur letzten Latern nennt, ist ein begehrenswertes und begehrtes Objekt. Warum soll dort – in allerbester Lage – ein zugereister Schriftsteller wohnen?
[Hans Reimann, 3. Literazzia (München, 1954), Artikel über Gustav Meyrink:]
Viele Dichter, Schriftsteller, Publizisten und anderweit Missliebige sind unterdrückt, gefoltert, verjagt worden. Aber sie ließen etwas zurück … eine Spur, einen Hauch, Gespräche unter vier Augen, öffentliche Anprangerung.
Den Dichter Gustav Meyrink haben sie ausgerottet mit Stumpf und Stiel, und sein [Haus] verschwand vom Erdboden.
Die heutige Generation weiß nichts mehr von ihm, obwohl seine Werke eine Auflage hatten wie die Schmöker Karl Mays.
Weit über Deutschland hinaus ward er ein Begriff. Für Edvard Grieg, Ibsen, Rodin, Zola und ähnlich Auserwählte. In Deutschland für eine dünne Schicht. Für Künstler, sitzengebliebene Primaner und andere Outsider.
Mühsam ist sein Name, mühsam ist sein Leben. Kaum einen kennt Meyrink, bei dem das Schicksal (oder die böse Vorsehung) es so vollkommen geschafft hat, eines Menschen Namen in desselben Menschen Leben einzuflechten. Als er das Café Luitpold betritt, sieht er sogleich, was ein zufälliger Besucher des Cafés für einen nachlässig über einen Stuhl geworfenen, womöglich zurückgelassenen Mantel halten könnte – den Mann selbst, der seinen Kopf auf den Zuruf Meyrinks aus dem Pelzkragen schiebt, der genauso grau und speckig glänzt wie Haar und Bart des Mannes.
»Mühsam!«, ruft Meyrink, nach der Stuhllehne greifend, »Sie sind wieder in München? – Ich habe eine Frage an Sie.«
»Was wollen Sie wissen?«, sagt Mühsam, »und warum wollen ausgerechnet Sie ausgerechnet von mir etwas wissen?«
So wie er aussieht, denkt Meyrink, hat Mühsam die Nacht hier verbracht: Nach der Sperrstunde hat man sich die Mühe erspart, den Stuhl mit dem zurückgelassenen Mantel auf den Tisch zu stellen, und drum herum ausgekehrt. Im Morgengrauen hat eine gute Seele dem Mühsam oder dem Mantel eine Tasse Kaffee vorgesetzt, aber sie ist längst kalt. Meyrink gibt der Serviererin ein Zeichen, einen frischen, dampfenden zu bringen.
Er weiß nicht genau, wen er um diese Zeit im Café Luitpold anzutreffen erhofft hat – einen von den Habitués vielleicht, Frank Wedekind, Kurt Martens, Heinrich Mann. Aber gut, dass es Mühsam ist. Der hat immer für Geld geschrieben, der muss wissen, wie das geht. Wie man die Gedanken an die verfluchten Silberlinge auf die Seite schiebt und einfach schreibt, als sei es die reine Kunst, die aus einem flösse, die unschuldige Lust am Schaffen, welche ohnehin kein Geld der Welt aufzuwiegen vermag. Wenn die Dinge nicht so lägen, wie sie nun einmal liegen, Meyrink hätte den Auftrag vielleicht sogar delegiert – warum nicht an Mühsam, als Zuarbeiter. Als Autor kann er natürlich nicht in Erscheinung treten.
»Hören Sie, Mühsam«, sagt Meyrink, »wenn ich Sie fragte: ›Wer ist schuld am Krieg?‹, was würden Sie sagen? Nicht nach langem Abwägen, sondern ganz aus dem Bauch heraus.«
»Die Juden«, sagt Mühsam, »wie immer, und an allem anderen auch.«
»Daraus kann ich keinen Roman machen«, sagt Meyrink, und, nach einer kleinen Pause: »Gesetzt den Fall, ich wollte das überhaupt.«
»Seien Sie mal nicht so anspruchsvoll, Kollege. Die Juden zetteln den Weltkrieg an – und Sie finden den Stoff zu schwach für einen Roman?«
»Nicht schon wieder die Juden«, sagt Meyrink. »Wo bliebe da das Neue, Überraschende? In unserem Metier sollte man schon ein wenig an die Leser denken. Also, nennen Sie mir andere Schurken, solche, die nicht jeder kennt.«
»Kaufen Sie mir ein Frühstück?«, fragt Mühsam. »Auf nüchternen Magen fällt mir niemand ein, der für so eine Katastrophe verantwortlich sein möchte. Mit einer schönen weißen Semmel im Bauch, reichlich gebuttert und mit Marmelade dick bestrichen, bin ich besser ausgerüstet, dann will ich Ihnen die Übeltäter liefern, und, wer weiß, wenn Sie bis zum Mittag bleiben, nach einem Braten und zwei Knödeln, ist mein Einblick in die Angelegenheit von viel größerer Tiefenschärfe oder Schärfentiefe, was immer Sie bevorzugen. Wir haben uns ja länger nicht gesehen.«
Meyrink lässt heranschaffen wie gewünscht. Mühsam ist erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden: Er hatte dem Vaterländischen Hilfsdienst seine Arbeitskraft verweigert. Weiß der Teufel, warum sie ihn überhaupt einziehen wollten. Verzweiflung oder Dummheit. Mehr zersetzendes Element, als er es ist, kann gar nicht sein.
Aber dieser Mühsam hat bisher noch jedem Mahlwerk widerstanden; nicht ohne Spuren, freilich. Mühsams Alter kann Meyrink nur raten. Seit zwei Monaten hatte er ihn nicht gesehen, und selbst in dieser kurzen Spanne hat er sich von alt auf älter verändert.
»Wissen Sie noch, Meyrink«, sagt Mühsam, »Anfang des ersten Kriegswinters trafen wir uns – war das hier?«
»Im Stefanie, meine ich«, sagt Meyrink, »beim Schachspiel.«
»Der Russe stand fünfzehn Kilometer vor Krakau, und Sie sagten –«
»– wenn Sie Krakau kennen würden, blieben Sie auch fünfzehn Kilometer davor stehen, ich weiß, ich weiß.«
»Sie haben sich immer herausgehalten, Meyrink.«
»Das ist kein Vorwurf, oder doch?«
»Niemals«, sagt Mühsam, »bin nie in Krakau gewesen, ich habe keine Ahnung, wie es da aussieht.«
»Ich auch nicht.«
»Manchmal wünschte ich, ich könnte in Watte baden, aber meine Wanne ist mit Disteln gefüllt, und anstatt der wärmenden Pelzmütze, nach der ich mich sehne, will man mir in meinen Träumen Dornenkronen aufsetzen.«
»Freund Mühsam«, sagt Meyrink, »Sie dramatisieren erbärmlich.«
»Mein Geschäft, seit ich das Pillendrehen hinter mir gelassen habe«, sagt der ehemalige Apothekergehilfe Mühsam. »Aber zurück zum Ausgangspunkt: Warum sind Sie hier? Wohl eine Auftragsarbeit, die Sie überraschend ereilt hat?«
Meyrink erklärt es ihm in allen Einzelheiten, zumindest, was er für mitteilbar hält. Mühsam studiert nebenher die Mittagskarte und kann sich nicht zwischen Tafelspitz, Kronfleisch und gebackener Milzwurst entscheiden.
»Meyrink, Sie sind ein Gesegneter, ein Gebenedeiter, ein Glücklicher«, sagt er schließlich. »Schreiben Sie doch, was Sie wollen. Machen Sie die Eskimos verantwortlich, die Schustergesellen, die Sozialdemokraten, aber wenn ich Ihnen – wie gewünscht und um mir mein Mittagessen verdient zu haben – mit einem guten Rat zur Seite stehen soll, dann beweisen Sie, dass es die Juden waren. Hält man Sie nicht auch für einen? Umso glaubwürdiger!«
Ja, denkt Meyrink, darin könnte seine besondere Qualifikation für diese Aufgabe von nationaler Bedeutung liegen: ein angeblicher Jude mit einer Reihe gutdokumentierter Ausfälle gegen das Deutschnationale, das Militär, das Establishment in allen seinen bürgerlichen Spielarten. Seit Meyer & Morgenstern – das mit dem Kompagnon betriebene Bankhaus in Prag – umschwebt ihn der Verdacht, Jude zu sein.
Mühsam hat sich mittlerweile für den Tafelspitz entschieden, jedoch unter Bedenken: Wo sollte in diesen lausigen Zeiten gutes Fleisch herkommen? Er murmelt: »Da werden sie mir einen Lappen auf den Teller werfen, der wahrscheinlich schon im Dunkeln leuchtet, dazu einen Batzen Meerrettich, so scharf, dass die fortgeschrittene Verwesung nicht auffällt. – Meyrink, worin genau liegt Ihr Problem?«
»Sie haben es gerade beschrieben«, sagt Meyrink.
Der Tafelspitz wird serviert und sieht ganz passabel aus. Während des Essens ruht die Konversation, Mühsam beginnt zu schniefen und ins Taschentuch zu blasen, denn der Meerrettich ist in der Tat von höllischer Schärfe. Meyrink denkt an seinen Auftrag, verfängt sich wieder in Zweifel: Hat er dem Kollegen zu viel erzählt? Er muss ihn unbedingt zur Verschwiegenheit verpflichten – sonst wird man ihn in den Münchner Literatentränken andauernd mit lustig gemeinten, aber lästigen Anspielungen traktieren. Die Verachtung, die ihm nach der Publikation eines solchen Romans entgegenschlagen würde, will er sich gar nicht vorstellen.
Allerdings – noch widerlicher dürfte das Lob all der Schulterklopfer ausfallen, die sich dann an ihn heranwanzen. »Vaterlandsaffen«, sagt er halblaut.
Mühsam, beim sorgfältigen Auftunken der Soße, hält kurz inne: »Vaterlandsaffen?«, sagt er, »wo habe ich das bei Ihnen gelesen? – Egal – ich habe einen Vorschlag.«
»Bitte sehr«, sagt Meyrink.
»Kommen Sie mit mir zu Eisner. Er spricht heute Mittag in den Kolosseums-Bierhallen. Wenn Sie Inspiration zur Kriegsschuldfrage suchen – Eisner hat einen klaren Standpunkt.«
»Welchen?«, fragt Meyrink.
»Hören Sie selbst, Meyrink, das lohnt sich, obwohl er nur ein Sozialdemokrat ist.«