»Dass die Höhepunkte des Lebens verborgen seien unter Ereignissen des Alltags, klingt heute vielleicht klischiert und ungenau. Doch Virginia Woolf geht es nicht um eine Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, sondern um Wirklichkeit in ihnen.«
Ulrike Draesner
Einer der berühmtesten Romane der englischen Literatur erzählt einen einzigen Tag im Leben der Clarissa Dalloway – und zugleich die Tiefe eines ganzen Lebens voller Leerstellen und in engen Grenzen.
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Vgl. den Tagebucheintrag vom 26. Januar 1920: »[I]ch habe nur Zweifel, inwieweit das menschliche Herz sich in der Form umfassen lässt.«, in: Virginia Woolf, Tagebücher 2, 1920–1924, hrsg. von Klaus Reichert, Frankfurt a. M. 1994, S. 32.
Gustave Flaubert, Die Briefe an Louise Colet, Zürich 1995, Brief vom 23. Dezember 1853, S. 873f.
Zitiert nach Werner Waldmann, Virginia Woolf, Reinbek 1983, S. 96.
Ebd., S. 93.
Woolf, Eine Skizze der Vergangenheit, S. 96, zit. nach ebd., S. 90.
So der Schriftsteller Bernard in: Virginia Woolf, Die Wellen, hrsg. von Klaus Reichert, übers. von Maria Bosse-Sporleder, Frankfurt a. M. 1998, S. 199.
A Writer’s Diary, hrsg. von Leonard Woolf, Hogarth Press 1953, London 1985, S. 167, 30. Mai 1931. »Aber wie es doch die Muskeln in meinem Hirn zu einem festen Knäuel zusammenzurrt!«, Tagebücher 4, 1931–1935, Frankfurt a. M. 2003, hrsg. von Klaus Reichert, S. 54.
Mrs Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst besorgen.
Denn Lucy hatte alle Hände voll zu tun. Die Türen mussten ausgehängt werden; Rumpelmayers Leute würden kommen. Und außerdem, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – so frisch, als habe man ihn Kindern am Strand zugedacht.
Was für ein Spaß! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr noch stets vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie auch jetzt wieder hören konnte, die Terrassentür aufgestoßen hatte und in Bourton ins Freie gesprungen war. So frisch, so ruhig, stiller als hier natürlich, war die Luft am frühen Morgen gewesen; wie das Plätschern einer Welle; der Kuss einer Welle; kühl und scharf und doch (für das Mädchen von achtzehn Jahren, das sie damals war) feierlich; wie sie dort am offenen Fenster stand, hatte sie geahnt, dass etwas Schreckliches sich anbahnte; hatte auf die Blumen geschaut, auf die Bäume, von denen der Dunst sich löste, auf die steigenden und sinkenden Krähen; hatte gestanden und geschaut, bis Peter Walsh sagte: »Grübelst du mitten im Gemüsebeet?« – war es das? – »Ich mag Menschen lieber als Blumenkohl« – war es das? Er musste es eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie auf die Terrasse getreten war – Peter Walsh. Er würde irgendwann aus Indien zurückkehren, im Juni oder Juli, sie hatte vergessen wann, denn seine Briefe waren schrecklich langweilig; seine Aussprüche waren es, an die man sich erinnerte; seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrießlichkeit und, wenn sich Millionen anderer Dinge längst verflüchtigt hatten – wie seltsam das war! –, ein paar Aussprüche wie diese über Kohlköpfe.
An der Bordsteinkante straffte sie sich ein wenig, wartete darauf, dass Durtnalls Lieferwagen vorüberfuhr. Eine reizende Frau, fand Scrope Purvis (er kannte sie, wie man eben Leute kennt, mit denen man Tür an Tür in Westminster wohnt); hatte etwas von einem Vogel, von einem Häher, blaugrün, leicht, lebhaft, obwohl sie die fünfzig überschritten hatte und seit ihrer Krankheit sehr weiß geworden war. Da stand sie nun, vogelgleich, bemerkte ihn nicht, wartete darauf, die Straße überqueren zu können, sehr aufrecht.
Denn wenn man in Westminster gelebt hat – wie viele Jahre jetzt? über zwanzig –, spürt man sogar mitten im Verkehr oder wenn man nächtens wachliegt, Clarissa war sich dessen sicher, eine eigenartig gedämpfte Stille, oder Feierlichkeit; ein unbeschreibliches Innehalten der Zeit, eine Erregung (aber das mochte auch ihr Herz sein, das, wie man sagte, von der Grippe angegriffen war), bevor Big Ben die volle Stunde schlägt. Da! Ein Dröhnen. Zuerst eine Warnung, musikalisch; dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Schwingungen lösten sich auf in der Luft. Was sind wir doch für Narren, dachte sie, als sie die Victoria Street überquerte. Denn der Himmel allein weiß, weshalb man es so liebt, weshalb man es so wahrnimmt, es gestaltet, es um sich errichtet, es einreißt, es jeden Moment neu erschafft; doch selbst die größten Vogelscheuchen, die Mutlosesten der Elenden, die in Hauseingängen kauern (Trunksucht ihr Ruin) tun ein Gleiches; mit Gesetzen, das spürte sie deutlich, ist der Sache nicht beizukommen, aus eben diesem Grund: Sie lieben das Leben. In den Augen der Menschen, in all dem Schwanken, Stapfen und Schlurfen; dem Gebrüll und Getöse; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Plakatträgern; Blaskapellen; Leierkästen; dem Triumph, dem Gebimmel und dem sonderbar hohen Singen eines Flugzeugs am Himmel war, was sie liebte: Leben; London; dieser Augenblick im Juni.
Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war zu Ende, außer für jemanden wie Mrs Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich vor Gram verzehrte, weil dieser nette Junge umgekommen war und der alte Herrensitz jetzt an einen Cousin fallen würde; oder Lady Bexborough, die, wie man sich erzählte, einen Wohltätigkeitsbasar eröffnet hatte, in der Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, sei gefallen; aber er war zu Ende; dem Himmel sei Dank – zu Ende. Es war Juni. König und Königin residierten im Palast. Und obwohl noch so früh, war da überall ein Getrappel, ein Geflirr galoppierender Ponys, das Klacken von Kricketschlägern; Lords, Ascot, Ranelagh und der ganze Rest; eingehüllt in das zarte Gespinst graublauer Morgenluft, die sie im Lauf des Tages auflösen und auf ihren Rasenflächen und Spielfeldern absetzen würde, die springenden Ponys, deren Vorderhufe kaum den Boden berührten, schon schnellten sie hoch, die durcheinanderquirlenden jungen Männer und die lachenden Mädchen in ihren durchsichtigen Musselinkleidern, die selbst jetzt, nachdem sie die ganze Nacht durchgetanzt hatten, ihre lächerlich wolligen Hunde spazieren führten; und selbst jetzt, zu dieser Stunde, schwärmten diskrete alte Witwen in ihren Automobilen zu geheimnisvollen Besorgungen aus; und in den Schaufenstern machten sich die Geschäftsinhaber an ihren falschen Steinen und echten Diamanten zu schaffen, an ihren herrlichen alten meergrünen Broschen in Fassungen des achtzehnten Jahrhunderts, um Amerikanerinnen zu ködern (aber man musste sparsam sein, nicht vorschnell etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie, die all dies mit lächerlich ergebener Leidenschaft liebte, da sie ein Teil davon war, hatten doch ihre Vorfahren zur Zeit der Georges als Höflinge gedient, auch sie wollte am heutigen Abend entflammen und erstrahlen lassen; wollte ihre Gesellschaft geben. Doch wie seltsam, beim Betreten des Parks, die Stille; der Nebel; das Summen; die gemächlich schwimmenden glücklichen Enten; die watschelnden Pelikane; aber wer, passenderweise, kam jetzt daher, mit dem Rücken zu den Regierungsgebäuden, eine Depeschentasche in der Hand, auf die das königliche Wappen geprägt war? Niemand anders als Hugh Whitbread; ihr alter Freund Hugh – der bewundernswerte Hugh!
»Einen schönen guten Morgen, Clarissa!«, sagte Hugh ziemlich übertrieben, denn sie hatten sich schon als Kinder gekannt. »Wohin des Wegs?«
»Ich liebe es, in London spazieren zu gehen«, sagte Mrs Dalloway. »Wirklich, es ist schöner, als auf dem Land spazieren zu gehen.«
Sie seien eben erst in die Stadt gekommen – leider –, um Ärzte aufzusuchen. Andere Leute kamen, um sich Gemälde anzusehen; in die Oper zu gehen; ihre Töchter auszuführen; die Whitbreads kamen, »um Ärzte aufzusuchen«. Unzählige Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread in einem Sanatorium besucht. War Evelyn schon wieder krank? Evelyn fühle sich durchaus nicht wohl, sagte Hugh und gab durch eine Art Vorwölben oder Anschwellen seines sehr gut verhüllten männlichen, überaus ansehnlichen, perfekt gepolsterten Oberkörpers (immer war er fast zu gut gekleidet, aber das musste er ja wohl, angesichts seines kleinen Postens bei Hofe), gab also zu erkennen, dass seine Frau an einer inneren Krankheit litt, nichts Ernstes, deren Natur Clarissa Dalloway, als alte Freundin, sicherlich verstehe, auch ohne ihn um nähere Einzelheiten zu bitten. Ah ja, das tat sie selbstverständlich; wie unangenehm; sie fühlte sich sehr schwesterlich und zugleich seltsam befangen ihres Hutes wegen. Nicht der richtige Hut so früh am Morgen, war es das? Denn Hugh flößte ihr immer dieses Gefühl ein, wie er so weitereilte, ziemlich übertrieben seinen Hut lüftete und ihr versicherte, sie könne für ein junges Mädchen von achtzehn durchgehen, und selbstverständlich komme er zu ihrer Gesellschaft heute Abend, Evelyn bestehe unbedingt darauf, nur könne es nach dem Empfang im Palast, zu dem er einen von Jims Jungen mitnehmen müsse, ein wenig spät werden – neben Hugh kam sie sich stets ein wenig dürftig vor; schulmädchenhaft; war ihm dennoch zugetan, teils weil sie ihn schon immer gekannt hatte, aber sie fand, dass er auf seine Art ein guter Kerl war, obwohl er Richard fast zur Raserei brachte, und was Peter Walsh anging, der hatte es ihr bis zum heutigen Tage nicht verziehen, dass sie ihn mochte.
Sie konnte sich an Szene um Szene in Bourton erinnern – Peter aufgebracht; Hugh, ihm natürlich in keiner Weise gewachsen, aber auch nicht der absolute Schwachkopf, als den Peter ihn hinstellte; kein Perückenstock. Wenn seine alte Mutter wollte, dass er nicht mehr auf die Jagd ging oder sie nach Bath begleitete, so tat er es, ohne ein Wort zu sagen; er war wirklich selbstlos, und was Peters Bemerkung betraf, er habe kein Herz, kein Hirn, nichts als die Manieren und die Erziehung eines englischen Gentleman, so zeigte sich nur ihr lieber Peter von seiner schlimmsten Seite; er konnte unerträglich sein; er konnte unmöglich sein; aber anbetungswürdig, wenn sie an einem Morgen wie diesem mit ihm spazieren ging.
(Der Juni hatte jedes einzelne Blatt aus den Bäumen gelockt. Die Mütter von Pimlico stillten ihre Jungen. Botschaften wurden von der Flotte zur Admiralität gesandt. Arlington Street und Picadilly schienen die Luft im Park zu erwärmen und die Blätter heiß und glänzend auf Wogen jener göttlichen Lebenslust zu heben, die Clarissa so liebte. Tanzen, Reiten, für all das hatte sie geschwärmt.)
Denn sie hätten Hunderte von Jahren getrennt sein mögen, sie und Peter; nie schrieb sie einen Brief, und seine waren wie trockenes Holz; doch zuweilen kam es plötzlich über sie, wenn er jetzt bei mir wäre, was würde er sagen? – mancher Tag, mancher Anblick brachte ihn ihr zurück, ruhig, ohne die alte Bitterkeit; was vielleicht die Belohnung dafür war, dass man sich aus Leuten etwas gemacht hatte; an einem schönen Morgen mitten im St. James’s Park kamen sie zurück – das war tatsächlich so. Doch Peter – wie schön der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa –, Peter sah nie etwas von alledem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie ihn dazu aufforderte; er würde hinschauen. Der Zustand der Welt war es, der ihn interessierte; Wagner, die Gedichte Popes, immerfort nur der Charakter der Leute und die Defekte ihrer eigenen Seele. Wie er mit ihr schimpfte! Wie sie stritten! Sie würde einen Premierminister heiraten und ganz oben auf einer Treppe stehen; die vollendete Gastgeberin hatte er sie genannt (sie hatte deswegen in ihrem Schlafzimmer geweint), sie habe das Zeug zu einer vollendeten Gastgeberin, hatte er gesagt.
So haderte sie auch im St. James’s Park noch immer mit sich selbst, behauptete noch immer, recht daran getan zu haben – und das hatte sie auch –, ihn nicht zu heiraten. Denn in einer Ehe musste es ein wenig Freiheit, ein wenig Unabhängigkeit geben zwischen Menschen, die tagein, tagaus unter demselben Dach zusammenleben; was Richard ihr einräumte, und sie ihm. (Wo war er zum Beispiel an diesem Morgen? Irgendein Ausschuss, sie fragte nie, welcher.) Aber mit Peter musste alles geteilt, alles besprochen werden. Und das war unerträglich, und als es in dem kleinen Garten zu der Szene beim Springbrunnen gekommen war, hatte sie mit ihm brechen müssen, oder sie wären zerstört worden, beide zugrunde gerichtet, davon war sie überzeugt; obwohl sie jahrelang wie einen Pfeil, der in ihrem Herzen steckte, den Kummer, das Leid ertragen hatte: und dann das Grauen des Augenblicks, als ihr jemand bei einem Konzert erzählt hatte, er habe eine Frau geheiratet, die er auf der Schiffsreise nach Indien kennengelernt habe! Niemals würde sie all das vergessen. Kalt, herzlos, prüde hatte er sie genannt. Niemals werde sie seine Art zu lieben begreifen können. Aber diese Inderinnen taten es vermutlich – alberne, hübsche, schwache dumme Gänse. Und sie verschwendete ihr Mitgefühl. Denn er sei ganz glücklich, versicherte er ihr – vollkommen glücklich, obwohl er nichts von alledem getan hatte, wovon sie gesprochen hatten; sein ganzes Leben war ein einziger Misserfolg gewesen. Das ärgerte sie noch immer.
Sie hatte das Parktor erreicht. Sie blieb einen Augenblick stehen und besah sich die Omnibusse auf der Piccadilly.
Heute würde sie von niemandem auf der Welt behaupten, er sei dies oder sei das. Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unsäglich gealtert. Sie durchschnitt alles wie ein Messer; stand gleichzeitig außerhalb, schaute zu. Als sie die Droschken beobachtete, hatte sie das beständige Empfinden, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf hoher See und allein; stets hatte sie das Gefühl, dass es sehr, sehr gefährlich war, auch nur einen Tag lang zu leben. Nicht, dass sie sich für klug hielt oder für außergewöhnlich. Wie sie mit den wenigen Zweiglein Wissen, die Fräulein Daniels ihnen mitgegeben hatte, durchs Leben gekommen war, konnte sie sich gar nicht ausdenken. Sie kannte nichts; keine Sprache, keine Geschichte; sie las kaum noch ein Buch, außer im Bett Memoiren; und doch war es für sie absolut fesselnd; all dies; die Droschken, die vorüberfuhren; und sie würde von Peter nicht behaupten, sie würde von sich selbst nicht behaupten, ich bin dies, ich bin das.
Ihre einzige Begabung, dachte sie im Weitergehen, bestand darin, Leute fast instinktiv zu durchschauen. Wenn man sie mit jemandem in ein Zimmer sperrte, machte sie einen Buckel wie eine Katze; oder sie schnurrte. Devonshire House, Bath House, das Haus mit dem Porzellankakadu, alle hatte sie einst in voller Festbeleuchtung gesehen; und erinnerte sich an Sylvia, Fred, Sally Seton – ganze Scharen von Menschen; und Tanz durch die Nacht; und die Wagen, die auf dem Weg zum Markt vorüberzockelten; und die Heimfahrt durch den Park. Sie erinnerte sich, wie sie einmal einen Shilling in den Serpentine geworfen hatte. Aber ein jeder erinnerte sich; was sie liebte, war dies, hier, jetzt, vor ihr; die dicke Dame in der Droschke. Spielte es da eine Rolle, fragte sie sich, während sie in Richtung Bond Street ging, spielte es da eine Rolle, dass sie unweigerlich ganz und gar erlöschen musste; dass all dies ohne sie weitergehen musste; störte es sie; oder war es nicht vielmehr tröstlich, zu glauben, dass der Tod ein absolutes Ende setzte?, dass sie aber in den Straßen Londons, mit der Fluktuation der Dinge, hier, dort, irgendwie weiterlebte, dass Peter weiterlebte, dass sie ineinander lebten, da sie doch, davon war sie überzeugt, ein Teil der Bäume daheim war; ein Teil des Hauses dort, hässlich, wie es langsam, aber sicher in sich zusammenfiel; ein Teil von Menschen, denen sie nie begegnet war; da sie doch hingebreitet war wie ein Nebel unter den Menschen, die sie am besten kannte, die sie auf ihrem Geäst emporhoben, so wie sie gesehen hatte, dass die Bäume den Nebel heben, aber es dehnte sich ja so weit aus, ihr Leben, ihr Selbst. Was träumte sie da, als sie in das Schaufenster von Hatchard’s blickte? Was versuchte sie wiederzuerlangen? Welches Bild von weißer Morgendämmerung auf dem Land, als sie in dem aufgeschlagenen Buch las:
Fürchte nicht mehr Sonnenglut,
Noch des Winters grimmen Hohn!
Dies jüngste Zeitalter der Welterfahrung hatte in ihnen allen, sämtlichen Männern und Frauen, einen Brunnen voller Tränen geschaffen. Tränen und Schmerzen; Mut und Ausdauer; eine vollkommen aufrechte und stoische Haltung. Man denke zum Beispiel an die Frau, die sie am meisten bewunderte, Lady Bexborough, wie sie den Wohltätigkeitsbasar eröffnete.
Da waren Jorrock’s Jaunts and Jollities; da waren Soapy Sponge und Mrs Asquiths Memoirs und Big Game Shooting in Nigeria, alle aufgeschlagen. So viele Bücher gab es da; doch keines, das genau das richtige zu sein schien, um es Evelyn Whitbread in ihr Sanatorium mitzubringen. Nichts, das dazu taugen würde, sie zu unterhalten und, wenn Clarissa hereinkäme, diese unbeschreiblich vertrocknete kleine Frau dazu zu bringen, auch nur einen Augenblick lang freundlich dreinzublicken; bevor sie sich zurechtsetzten, um die üblichen, nicht enden wollenden Gespräche über Frauenleiden zu führen. Wie sehr sie sich das wünschte – dass Menschen erfreut aussähen, wenn sie hereinkäme, dachte Clarissa, drehte sich um und ging zurück zur Bond Street, verärgert, weil es albern war, andere Gründe dafür zu haben, dass man bestimmte Dinge tat. Viel lieber wäre sie einer jener Menschen gewesen wie Richard, der Dinge um ihrer selbst willen tat, während sie, so dachte sie, als sie darauf wartete, die Straße überqueren zu können, die Hälfte der Zeit Dinge nicht einfach so, um ihrer selbst willen, tat; sondern damit andere Menschen dieses oder jenes dachten; völlige Idiotie, das wusste sie (und jetzt hob der Polizist die Hand), denn niemand fiel auch nur eine Sekunde lang darauf herein. Ach, wenn sie ihr Leben noch einmal von vorn beginnen könnte!, dachte sie, als sie auf den Gehsteig trat, wenn sie wenigstens anders hätte aussehen können!
Dann wäre sie zuallererst dunkelhaarig wie Lady Bexborough gewesen, mit einer Haut wie zerknautschtes Leder und wunderschönen Augen. Dann wäre sie, wie Lady Bexborough, bedächtig und stattlich gewesen; eher füllig; an Politik interessiert wie ein Mann; mit einem Landsitz; sehr würdig, sehr aufrichtig. Stattdessen hatte sie eine Figur, dünn wie eine Bohnenstange; ein lächerliches kleines Gesicht, schnabelförmig wie das eines Vogels. Dass sie sich gut gehalten hatte, stimmte; und hübsche Hände und Füße hatte; und sich gut kleidete, wenn man berücksichtigte, wie wenig sie ausgab. Doch dieser Körper, den sie mit sich herumtrug (sie blieb stehen, um ein holländisches Gemälde zu betrachten), dieser Körper, mit all seinen Fähigkeiten, schien ihr inzwischen häufig ein Nichts zu sein – ein reines Nichts. Sie hatte das befremdliche Gefühl, unsichtbar zu sein; ungesehen; unerkannt; jetzt gab es kein Heiraten mehr, kein Kinderkriegen mehr, sondern nur noch dieses erstaunliche und recht feierliche Fortschreiten mit all den anderen, die Bond Street hinauf, dieses Mrs-Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs-Richard-Dalloway-Sein.
Die Bond Street faszinierte sie; die Bond Street in der Saison, am frühen Morgen; die flatternden Fahnen; die Geschäfte; keine Verschwendung; kein Glanz; ein einzelner Ballen Tweed in dem Laden, in dem ihr Vater fünfzig Jahre lang seine Anzüge erstanden hatte; ein paar Perlen; Lachs auf einem Block Eis.
»Das ist alles«, sagte sie und blickte ins Fischgeschäft. »Das ist alles«, wiederholte sie, während sie einen Augenblick vor der Auslage eines Handschuhladens stehenblieb, in dem man, vor dem Krieg, fast perfekte Handschuhe hatte kaufen können. Und ihr alter Onkel William pflegte zu sagen, eine Dame erkenne man an ihren Schuhen und ihren Handschuhen. Eines Morgens, mitten im Krieg, hatte er sich auf seinem Bett umgedreht. Er hatte gesagt: »Ich habe genug.« Handschuhe und Schuhe; für Handschuhe hatte sie eine wahre Leidenschaft; doch ihre eigene Tochter, ihre Elizabeth, gab auf beides keinen Pfifferling.
Keinen Pfifferling, dachte sie, als sie die Bond Street hinaufging zu einem Geschäft, wo man, wenn sie eine Gesellschaft gab, Blumen für sie zurücklegte. Eigentlich machte sich Elizabeth am meisten aus ihrem Hund. Heute Morgen hatte das ganze Haus nach Teer gerochen. Immerhin, lieber der arme Grizzle als Miss Kilman; lieber Staupe und Teer und alles andere, als sich murrend mit einem Gebetbuch in ein stickiges Schlafzimmer einzuschließen! Lieber alles andere, war sie versucht zu sagen. Aber vielleicht handelte es sich ja, wie Richard meinte, nur um eine Phase, die alle jungen Mädchen durchmachten. Vielleicht war es Verliebtheit. Aber warum bei Miss Kilman?, die natürlich schlecht behandelt worden war; das musste man ihr zugutehalten, und Richard meinte, sie sei sehr tüchtig, habe Sinn für Geschichte. Einerlei, sie waren unzertrennlich, und Elizabeth, ihre eigene Tochter, ging zur Kommunion; und wie sie sich kleidete, wie sie Leute behandelte, die zum Lunch kamen, darauf gab sie keinen Pfifferling, denn ihrer Erfahrung nach machte religiöse Ekstase die Menschen hartherzig (ebenso jede gerechte Sache); stumpfte ihr Empfinden ab, denn für die Russen würde Miss Kilman alles tun, für die Österreicher hungern, unter vier Augen jedoch unterwarf sie einen regelrecht der Folter, so gefühllos war sie, in einen grünen Regenmantel gekleidet. Jahrein, jahraus trug sie diesen Mantel; sie schwitzte; keine fünf Minuten lang war sie im Zimmer, ohne einen ihre Überlegenheit, die eigene Unterlegenheit spüren zu lassen; wie arm sie sei; wie reich man selbst sei; wie sie in einem Slum lebe, ohne ein Kissen oder ein Bett oder einen Teppich oder was immer es sein mochte, ihre ganze Seele zerfressen von diesem Kummer, der in ihr steckte, ihre Entlassung aus der Schule während des Krieges – das arme, verbitterte, unglückselige Geschöpf! Denn nicht sie selbst war es, die man hasste, sondern die Vorstellung von ihr, die zweifellos vieles in sich aufgenommen hatte, was gar nicht Miss Kilman war; die zu einem jener Gespenster geworden war, mit denen man nachts ringt; zu einem jener Gespenster, die rittlings auf uns hocken und uns das halbe Lebensblut aussaugen, Beherrscher und Tyrannen; denn ohne Zweifel, wäre der Würfel anders gefallen, wäre Schwarz oben gewesen und nicht Weiß, sie hätte Miss Kilman geliebt! Aber nicht in dieser Welt. Nein.
Aber es zermürbte sie, dass dieses brutale Ungeheuer sich in ihr regte!, zu hören, wie Zweige brachen, und zu fühlen, wie Hufe sich in die Tiefen jenes laubbeschwerten Waldes, die Seele, gruben; niemals ganz zufrieden zu sein oder seiner selbst ganz sicher, denn jeden Augenblick konnte die Bestie sich regen, dieser Hass, der, besonders seit ihrer Krankheit, die Macht besaß, dass sie sich wie zerschrammt vorkam, am Rückgrat verletzt; der ihr physischen Schmerz verursachte und alle Freude an Schönheit, Freundschaft, Wohlergehen, daran, dass sie geliebt wurde und sich ein wunderbares Heim geschaffen hatte, zum Wanken brachte, zum Erbeben, zum Einknicken, als gäbe es tatsächlich ein Ungeheuer, das an den Wurzeln wühlte, als wäre die ganze Rüstung der Zufriedenheit nichts als Selbstliebe! dieser Hass!
Unsinn, Unsinn!, rief sie sich zu und schob sich durch die Pendeltür von Mulberry, dem Floristen.
Sie trat nach vorn, leicht, groß, sehr aufrecht, und wurde sogleich von der knopfgesichtigen Miss Pym begrüßt, deren Hände stets hochrot waren, als hätten sie mit den Blumen in kaltem Wasser gestanden.
Da waren die Blumen: Rittersporn, Wicken, Fliedersträuße; und Nelken, Unmengen von Nelken. Da waren Rosen; da waren Schwertlilien. Ah ja – so atmete sie den erdigen, gartensüßen Duft ein, während sie dastand und sich mit Miss Pym unterhielt, die ihr Hilfe schuldig war und sie für freundlich hielt, denn freundlich war sie vor Jahren gewesen; sehr freundlich, aber sie sah älter aus, dieses Jahr, wie sie so, die Augen halb geschlossen, den Kopf zwischen den Schwertlilien und den Rosen und den nickenden Fliederdolden von einer Seite zur anderen neigte und, nach dem Straßentumult, den köstlichen Duft, die exquisite Kühle einsog. Und dann, als sie die Augen aufschlug, wie frisch sahen da nicht die Rosen aus, ganz wie gefälteltes Leinen, das, auf Weidentabletts gebreitet, sauber aus der Wäscherei kommt; und dunkel und steif die roten Nelken, die ihre Köpfe hochhielten; und all die Wicken, die sich in ihren Schalen ausstreckten, violett, schneeweiß, blass getönt – als wäre es Abend, und Mädchen in Musselinröcken kämen aus den Häusern herbei, um Wicken und Rosen zu pflücken, nachdem der herrliche Sommertag mit seinem nahezu blauschwarzen Himmel, seinem Rittersporn, seinen Nelken, seinen Callas zu Ende gegangen war; und als wäre es jener Augenblick zwischen sechs und sieben, wenn jede Blume erglüht – Rosen, Nelken, Schwertlilien, Flieder; weiß, violett, rot, tieforange; jede Blume von allein zu brennen scheint, zart, rein in den dunstigen Beeten; und wie liebte sie die grauweißen Falter, die dort hin und her flatterten, über den Vanilleblumen, über den Nachtkerzen!
Und als sie mit Miss Pym von Vase zu Vase ging und wählte, sagte sie bei sich: Unsinn, Unsinn, sanfter und sanfter, als wären diese Schönheit, dieser Duft, diese Farbe und die Tatsache, dass Miss Pym sie mochte, ihr vertraute, eine Woge, der sie erlaubte, sie zu überspülen und diesen Hass, dieses Ungeheuer, zu überwinden, all das zu überwinden; und die Woge hob sie höher und höher, als – oh! draußen auf der Straße ein Pistolenschuss!
»Ach je, diese Automobile«, sagte Miss Pym, ging zum Fenster, um hinauszuschauen, und kam dann, die Hände voller Wicken, wieder zurück und lächelte entschuldigend, als wären diese Automobile, diese Reifen von Automobilen, allein ihre Schuld.
Die heftige Explosion, die Mrs Dalloway aufgeschreckt und Miss Pym dazu gebracht hatte, ans Fenster zu gehen und sich zu entschuldigen, rührte von einem Automobil, das genau gegenüber Mulberrys Schaufenster am Gehsteig angehalten hatte. Passanten, die, natürlich, stehenblieben und den Wagen anstarrten, hatten eben genug Zeit, um vor dem taubengrauen Polster ein Gesicht von allergrößter Bedeutung zu erkennen, bevor eine Männerhand die Gardine vorzog und nichts weiter als ein taubengraues Quadrat zu sehen war.
Dennoch liefen sogleich Gerüchte um, von der Mitte der Bond Street bis zur Oxford Street auf der einen Seite, bis zu Atkinsons Parfümerie auf der anderen Seite, zogen unsichtbar, unhörbar dahin, wie eine Wolke, geschwind, schleierartig auf Hügeln, fielen in der Tat mit so etwas wie der plötzlichen Gelassenheit und Geräuschlosigkeit einer Wolke auf Gesichter, die eine Sekunde vorher zutiefst undiszipliniert gewesen waren. Jetzt aber hatte das Geheimnis sie mit seiner Schwinge gestreift; sie hatten die Stimme der Autorität vernommen; der Geist der Religion weilte unter ihnen, die Augen fest verbunden und die Lippen weit geöffnet. Doch niemand wusste, wessen Gesicht man gesehen hatte. War es das des Prinzen von Wales, das der Königin, das des Premierministers? Wessen Gesicht war es? Niemand wusste es.
Edgar J. Watkiss, sein Bündel Bleirohre unterm Arm, sagte hörbar, humorvoll natürlich: »Die Karosse des Herrn Premierministers.«
Septimus Warren Smith, der sich außerstande sah, voranzukommen, hörte ihn.
Septimus Warren Smith, etwa dreißigjährig, bleichgesichtig, hakennasig, in braunen Schuhen und schäbigem Paletot, mit haselnussbraunen Augen, die jenen Ausdruck von Besorgnis zeigten, der wildfremde Menschen gleichfalls besorgt stimmt. Die Welt hat ihre Peitsche erhoben; wo wird sie niedergehen?
Alles war zum Stillstand gekommen. Das Pochen der Motoren klang wie ein Pulsschlag, der unregelmäßig durch einen ganzen Körper trommelt. Die Sonne wurde außergewöhnlich heiß, denn das Automobil hatte vor Mulberrys Schaufenster gehalten; alte Damen auf den Oberdecks der Omnibusse spannten ihre schwarzen Sonnenschirme auf; hier öffnete sich mit einem leisen Plopp ein grüner, dort ein roter Sonnenschirm. Mrs Dalloway, die, die Arme voller Wicken, ans Fenster trat, sah mit ihrem kleinen, rosigen, fragenden Gesicht hinaus. Alle sahen zu dem Automobil hin. Septimus sah hin. Jungen sprangen von ihren Fahrrädern. Der Verkehr stockte. Und da stand das Automobil, mit vorgezogenen Gardinen, darauf ein eigentümliches Muster, das wie ein Baum aussah, dachte Septimus, und dieses mähliche Sich-Zusammenziehen von allem zu einem einzigen Mittelpunkt genau vor seinen Augen, ganz so, als sei etwas Grausiges fast bis zur Oberfläche aufgestiegen und stehe kurz davor, in Flammen aufzugehen, machte ihm Angst. Die Welt zögerte und zitterte und drohte in Flammen aufzugehen. Ich bin es, der den Weg versperrt, dachte er. Sah man nicht zu ihm her und zeigte auf ihn; wurde er nicht wie von einem Gewicht herabgedrückt, war er nicht im Gehsteig verwurzelt, zu einem ganz bestimmten Zweck? Aber zu welchem?
»Lass uns weitergehen, Septimus«, sagte seine Gattin, eine kleine Frau mit großen Augen in einem farblosen, spitzen Gesicht; eine Italienerin.
Doch Lucrezia konnte selbst nicht umhin, zu dem Automobil und dem Baummuster auf den Gardinen hinzusehen. Saß dort die Königin – die Königin, die Einkäufe machte?
Der Chauffeur, der etwas geöffnet, an etwas gedreht, etwas geschlossen hatte, kletterte wieder auf seinen Sitz.
»Komm«, sagte Lucrezia.
Doch ihr Mann, denn sie waren jetzt seit vier, fünf Jahren verheiratet, zuckte erschrocken zusammen und sagte ärgerlich: »Na gut!«, als habe sie ihn unterbrochen.
Die Leute mussten es bemerken; die Leute mussten es sehen. Die Leute, dachte sie und blickte auf die Menge, die das Automobil anstarrte; die Engländer, mit ihren Kindern und ihren Pferden und ihren Kleidern, die sie in gewisser Weise bewunderte; aber jetzt waren sie »Leute«, denn Septimus hatte gesagt: »Ich werde mich umbringen«; schrecklich, so etwas zu sagen. Angenommen, sie hatten ihn gehört? Sie sah zu der Menge hin. »Hilfe, Hilfe!«, wollte sie Metzgerjungen und Frauen zurufen. Hilfe! Erst im vergangenen Herbst hatten sie und Septimus, in dasselbe Cape eingehüllt, am Embankment gestanden, und da Septimus Zeitung las, statt zu reden, hatte sie sie ihm entrissen und dem alten Mann, der sie beobachtet hatte, ins Gesicht gelacht! Doch Misserfolg verhehlt man. Sie musste ihn in irgendeinen Park bringen.
»Wir überqueren jetzt die Straße«, sagte sie.
Sie hatte ein Anrecht auf seinen Arm, auch wenn es ohne Empfindung geschah. Er würde ihr, die so einfach, so impulsiv, gerade mal vierundzwanzig war, die keine Freunde in England hatte, die Italien ihm zuliebe verlassen hatte, ein Stück Knochen reichen.
Das Automobil bewegte sich mit vorgezogenen Gardinen und einer Aura unergündlicher Reserviertheit in Richtung Piccadilly, wurde noch immer betrachtet, kräuselte die Gesichter zu beiden Seiten der Straße noch immer mit demselben dunklen Hauch der Verehrung, ob für die Königin, den Prinzen oder den Premierminister, das wusste niemand. Das Gesicht selbst war nur ein einziges Mal wenige Sekunden lang von drei Leuten gesehen worden. Selbst das Geschlecht war jetzt umstritten. Doch es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Größe in dem Wagen saß; dass Größe, verborgen, die Bond Street hinabfuhr, nur eine Handbreit entfernt von gemeinen Bürgern, die sich jetzt, vielleicht zum ersten und zum letzten Mal, in Sprechweite der Majestät von England befanden, des immerwährenden Symbols des Staates, das neugierigen Altertumsforschern zur Kenntnis gelangen wird, wenn sie die Trümmer der Zeit sichten, wenn London ein grasbewachsener Pfad ist und all die, die an diesem Mittwochmorgen den Gehsteig entlanghasten, nur mehr Knochen sind, ihr Staub mit einigen wenigen Eheringen und den Goldfüllungen unzähliger verfaulter Zähne vermischt. Dann wird das Gesicht in dem Automobil bekannt sein.
Wahrscheinlich ist es die Königin, dachte Mrs Dalloway, als sie mit ihren Blumen aus Mulberry’s trat: die Königin. Und einen Augenblick lang trug sie eine außerordentlich würdevolle Miene zur Schau, wie sie so im Sonnenlicht vor dem Blumengeschäft stand, während der Wagen mit seinen vorgezogenen Gardinen im Schritttempo vorüberfuhr. Die Königin, die irgendein Krankenhaus besucht; die Königin, die irgendeinen Wohltätigkeitsbasar eröffnet, dachte Clarissa.
Das Gedränge war schrecklich für diese Tageszeit. Lords, Ascot, Hurlingham, was war es nur?, fragte sie sich, denn die Straße war blockiert. Die britische Mittelschicht, die längsseits auf den Oberdecks der Omnibusse saß, mit Päckchen und Schirmen, ja sogar mit Pelzmänteln an einem Tag wie diesem, war lächerlicher, dachte sie, allem, was je existiert hatte, unähnlicher, als man sich vorstellen konnte; und die Königin selbst aufgehalten, die Königin selbst außerstande voranzukommen. Clarissa wurde auf einer Seite der Brook Street behindert; Sir John Buckhurst, der alte Richter, auf der anderen, zwischen ihnen der Wagen (Sir John hatte jahrelang Recht gesprochen und schätzte eine gutgekleidete Frau), als der Chauffeur, der sich ein wenig hinausbeugte, dem Polizisten etwas sagte oder zeigte, der salutierte und den Arm hob und den Kopf herumriss und den Omnibus zur Seite beorderte, und so fuhr der Wagen durch. Langsam und sehr leise fuhr er seines Weges.
Clarissa stellte Vermutungen an; selbstverständlich wusste Clarissa Bescheid; sie hatte in der Hand des Lakaien etwas Weißes, Magisches, Rundes gesehen, eine Scheibe, auf der ein Name geschrieben stand – der der Königin, des Prinzen von Wales, des Premierministers? –, der sich kraft seines Glanzes einen Weg durch die Menge brannte (Clarissa sah den Wagen kleiner werden, verschwinden), um an diesem Abend zwischen Lüstern, funkelnden Ordenssternen, Brustkörben, steif von Eichenlaub, Hugh Whitbread und all seinen Kollegen, den Gentlemen Englands, im Buckingham Palace zu erstrahlen. Und auch Clarissa gab eine Gesellschaft. Sie nahm eine etwas steifere Haltung an; so würde sie ganz oben auf ihrer Treppe stehen.
Der Wagen war fort, hatte aber ein leichtes Kräuseln hinterlassen, das sich zu beiden Seiten der Bond Street durch Handschuhgeschäfte und Hutgeschäfte und Schneidergeschäfte fortpflanzte. Dreißig Sekunden lang hatten sich alle Köpfe in dieselbe Richtung geneigt – zu dem Fenster. Damen, die ein Paar Handschuhe aussuchten – sollten sie bis zum Ellbogen reichen oder darüber hinaus, zitronengelb oder hellgrau? –, hatten innegehalten; als der Satz zu Ende gesprochen war, hatte sich etwas ereignet. Etwas so Nichtiges in Einzelvorgängen, dass kein mathematisches Instrument, mochte es auch Erdstöße in China übermitteln, die Schwingung anzeigen konnte; in seiner Tragweite jedoch ziemlich gewaltig und in seiner allgemeinen Wirkung emotional; denn in all den Hutgeschäften und Schneidergeschäften sahen Fremde einander an und dachten an die Toten; an die Fahne; an das Empire. In einem Wirtshaus in einer Seitenstraße beleidigte ein Kolonist das Haus Windsor, was zu einem Wortwechsel, zersplitterten Biergläsern und einem allgemeinen Radau führte, der in den Ohren der Mädchen auf der anderen Straßenseite, die weiße, mit reinweißen Bändern verzierte Leinenunterwäsche für ihre Hochzeiten kauften, eigentümlich widerhallte. Denn als die Oberflächenerregung des vorüberfahrenden Wagens sich legte, hatte sie an etwas sehr Tiefes gerührt.
Der Wagen glitt über Piccadilly und bog dann in die St. James’s Street ein. Großgewachsene Männer, Männer von robuster Statur, gutgekleidete Männer mit ihren Fracks und ihren weißen Hemdbrüsten und ihrem zurückgekämmten Haar, die aus nur schwer zu ermittelnden Gründen im Erkerfenster von White’s standen, die Hände hinter den Frackschößen verschränkt, und hinaussahen, erfassten instinktiv, dass Größe vorüberfuhr, und das fahle Licht unsterblicher Gegenwart fiel auf sie, wie es auf Clarissa Dalloway gefallen war. Sogleich standen sie noch aufrechter und nahmen die Hände vom Rücken und schienen bereit, ihrem Souverän, wo nötig, bis vor die Mündung der Kanone zu folgen, wie ihre Vorfahren es vor ihnen getan hatten. Die weißen Büsten und die kleinen Tischchen im Hintergrund, die mit Ausgaben des Tatler und Flaschen Sodawasser bedeckt waren, schienen es zu billigen; schienen das wogende Getreide und die Landsitze Englands anzudeuten; und das schwache Summen der Wagenreifen zurückzuwerfen, so wie die Wände einer Flüstergalerie eine einzelne Stimme zurückwerfen, verstärkt und klangvoll durch die Macht einer ganzen Kathedrale. Die schalumschlungene Moll Pratt, die mit ihren Blumen auf dem Bürgersteig saß, wünschte dem lieben Jungen (es war ganz bestimmt der Prinz von Wales) alles Gute und hätte aus schierer Unbeschwertheit und Verachtung der Armut den Gegenwert eines Kruges Bier – einen Strauß Rosen – auf die St. James’s Street geworfen, hätte sie nicht gesehen, dass das Auge des Wachtmeisters auf ihr ruhte, was eine alte Irin von ihrer Loyalitätsbekundung abhielt. Die Wachen vor St. James’s salutierten; Königin Alexandras Polizist billigte es.
Unterdessen hatte sich vor den Toren von Buckingham Palace eine kleine Menschenmenge angesammelt. Teilnahmslos, aber zuversichtlich warteten sie, samt und sonders arme Leute; sahen zum Palast hin, auf dem die Flagge wehte; zu Victoria, die auf ihrem Sockel wogte, bewunderten ihre Schalen mit strömendem Wasser, ihre Geranien; hoben unter den Automobilen auf der Mall erst dieses, dann jenes hervor; verschwendeten ihre Gefühle, vergebens, auf einfache Bürger, die eine Spazierfahrt machten; nahmen ihren Tribut dann zurück, um ihn ungenutzt zu verwahren, während dieser Wagen vorbeifuhr und jener; und ließen die ganze Zeit über Gerüchte durch ihre Adern laufen und die Nerven in ihren Schenkeln vibrieren bei dem Gedanken, dass ein Mitglied des Königshauses auf sie blickte; die Königin, die sich verneigte; der Prinz, der salutierte; bei dem Gedanken an das himmlische Leben, das Königen durch göttliche Gnade zuteilwird; an die Stallmeister und die tiefen Hofknickse; an das alte Puppenhaus der Königin; an Prinzessin Mary, die mit einem Engländer verheiratet war, und an den Prinzen – ah! den Prinzen! der, wie man sagte, dem alten König Edward ganz wunderbar nachgeraten war, dabei aber doch sehr viel schlanker. Der Prinz wohnte in St. James’s; doch am Morgen mochte er vorbeikommen, um seine Mutter zu besuchen.
Das sagte Sarah Bletchley, die ihr Baby in den Armen hielt und mit dem Fuß wippte, als säße sie an ihrem Kaminvorsatz in Pimlico, ihre Augen jedoch auf die Mall heftete, während Emily Coates sie über die Fenster des Palastes schweifen ließ und an die Hausmädchen dachte, die unzähligen Hausmädchen, die Schlafzimmer, die unzähligen Schlafzimmer. Zu ihnen gesellten sich erwerbslose Männer, ein älterer Herr mit einem Aberdeen-Terrier, und die Menge wuchs. Der kleine Mr Bowley, der Zimmer im Albany mietete und, was die tieferen Quellen des Lebens betraf, mit Wachs versiegelt war, jedoch von derlei Dingen – armen Frauen, die darauf warteten, die Königin vorbeifahren zu sehen; armen Frauen, netten kleinen Kindern, Waisen, Witwen, dem Krieg – plötzlich, unpassend, sentimental entsiegelt werden konnte, hatte doch – ts-ts – tatsächlich Tränen in den Augen. Eine recht warme Brise, die durch die schütteren Bäume die Mall hinabwehte, vorbei an den bronzenen Helden, blähte eine Fahne in Mr Bowleys britischer Brust, und er lüftete den Hut, als der Wagen in die Mall einbog, und hielt ihn in die Höhe, als der Wagen näher kam, und duldete es, dass die armen Mütter von Pimlico sich dicht an ihn drängten, und stand sehr aufrecht. Der Wagen rollte heran.
Plötzlich blickte Mrs Coates zum Himmel auf. In die Ohren der Menge bohrte sich unheilvoll das Geräusch eines Flugzeugs. Da kam es auch schon über die Bäume geflogen, ließ hinten weißen Rauch austreten, der sich kringelte und kräuselte, wahrhaftig etwas schrieb! Buchstaben an den Himmel schrieb! Alle blickten auf.
Das Flugzeug ließ sich jäh fallen, schwang sich dann steil in die Höhe, zog eine Schleife, flog schneller, sank, stieg, und was immer es tat, wohin es auch flog, hinter ihm flatterte ein dickes gekräuseltes Band aus weißem Rauch, das sich am Himmel zu Buchstaben kringelte und kräuselte. Doch zu welchen Buchstaben? War das ein C?, ein E, dann ein L? Nur einen Augenblick lang standen sie still; dann bewegten sie sich und schmolzen und wurden ausgelöscht dort oben am Himmel, und das Flugzeug schoss davon und begann, an einem frischen Stück Himmel, von neuem ein K zu schreiben, und ein E, vielleicht ein Y?
»Blaxo«, sagte Mrs Coates mit gepresster, ehrfurchtsvoller Stimme, blickte geradewegs nach oben, und auch ihr Baby, das steif und weiß in ihren Armen lag, blickte geradewegs nach oben.
»Kreemo«, murmelte Mrs Bletchley wie eine Schlafwandlerin. Mr Bowley, der seinen Hut vollkommen reglos in der Hand hielt, blickte geradewegs nach oben. Die ganze Mall entlang standen Leute und blickten zum Himmel auf. Wie sie so schauten, wurde die ganze Welt vollkommen still, und ein Schwarm Möwen querte den Himmel, erst eine Möwe, die ihn anführte, dann eine andere, und in diese außergewöhnliche Stille und Ruhe, in diese Blässe, in diese Reinheit hinein schlugen elf Mal die Glocken, deren Schall dort oben zwischen den Möwen verklang.
Das Flugzeug wendete und flog schneller und stieß herab nach Belieben, rasch, beweglich, wie ein Schlittschuhläufer –
»Das ist ein E«, sagte Mrs Bletchley –
oder ein Tänzer –
»Das heißt Toffee«, murmelte Mr Bowley –
(und der Wagen fuhr durch das Tor, und niemand sah hin), und stellte den Rauch ab, raste weiter und weiter, und der Rauch verblasste und sammelte sich um die breiten weißen Umrisse der Wolken.
Es war fort; es war hinter den Wolken. Kein Geräusch mehr. Die Wolken, an die sich die Buchstaben E, G oder L geheftet hatten, bewegten sich frei, als seien sie dazu ausersehen, in einer Mission von größter Bedeutung, die niemals enthüllt werden würde, von West nach Ost zu reisen, und doch war sie das gewiss – eine Mission von größter Bedeutung. Dann plötzlich, wie ein Zug aus einem Tunnel kommt, stürzte das Flugzeug wieder aus den Wolken hervor, das Geräusch bohrte sich in die Ohren all der Leute auf der Mall, im Green Park, auf der Piccadilly, in der Regent Street, im Regent’s Park, und der Streifen Rauch hinter ihm wölbte sich, und es ließ sich fallen, und es schwang sich in die Höhe und schrieb einen Buchstaben nach dem anderen – aber welches Wort schrieb es?
Lucrezia Warren Smith, die neben ihrem Mann auf einer Bank am Broad Walk im Regent’s Park saß, blickte auf.
»Sieh nur, sieh nur, Septimus!«, rief sie. Denn Dr. Holmes hatte ihr geraten, ihren Mann (dem nichts Ernstes fehle, der nur ein wenig unpässlich sei) für Dinge außerhalb seiner selbst zu interessieren.
So, dachte Septimus, als er aufblickte, sie signalisieren mir. Nicht eigentlich mit Worten; das heißt, noch konnte er die Schrift nicht lesen; aber sie war doch deutlich genug, diese Schönheit, diese auserlesene Schönheit, und Tränen füllten seine Augen, als er den Rauchwörtern am Himmel nachblickte, die schwächer wurden und schmolzen und ihm, in ihrer nie versiegenden Barmherzigkeit und lachenden Güte, eine Gestalt von unvorstellbarer Schönheit nach der anderen bescherten und ihm ihre Absicht