Über Alexander Oetker

Foto: Maria Vogel/Die Hoffotografen

Alexander Oetker, geboren 1982, war langjähriger Frankreichkorrespondent für RTL und n-tv und ist profunder Kenner von Politik und Gesellschaft der Grande Nation. Er lebt mit seiner Familie in Berlin und verbringt weite Teile des Jahres in Frankreich. Die ersten Bände um Luc Verlain, Retour und Château Mort, standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

 

Mehr über den Autor

www.alexanderoetker.de

* 1953 – † 2019

Miniatures

Sie war einfach unglaublich. Diese Kuppel.

Jetzt zur blauen Stunde leuchtete sie lila. Die Glasfenster schienen förmlich zu glühen. Und die grauen Streben teilten diesen unwirklich schönen Anblick in fassbare Abschnitte.

Julie sah entzückt hinauf, wie jedes Mal, wenn sie das Erdgeschoss des Kaufhauses betrat und erst einmal innehielt, um sich überwältigen zu lassen.

Um sie herum liefen schick angezogene Kundinnen kreuz und quer, die Arme tütenbehangen.

Doch Julie stand da wie angewurzelt und beobachtete, wie das Licht die Emporen und Balkone der oberen Etagen in einen ganz besonderen Glanz tauchte.

Endlich besann sie sich auf ihren eigentlichen Plan: Nur hier durchhuschen, schließlich wollte sie ins Nachbargebäude. Sie durfte nicht in Versuchung geraten, noch ein Kleid für das Weihnachtsfest zu erstehen oder ein neues Parfum. All das kostete viel Geld, das sie nicht hatte. Das sie brauchte, um ihre kleine, völlig überteuerte Wohnung in Saint-Germain zu bezahlen.

Sie hatte sich ans Prioritätensetzen gewöhnen müssen. Ihr Vater hatte gesagt: »Natürlich kannst du in Paris studieren. Wir

Doch einen Luxus gönnte sie sich immer noch – und das war der Luxus, auf den sie jetzt zusteuerte.

Schließlich war morgen der erste Advent. Und den würde sie mit ihren Freunden angemessen begehen, in ihrer kleinen Wohnung im zweiten Stock der Rue de Buci Nr. 54. Die Freunde hatten versprochen, den Champagner mitzubringen. So weit musste das Geld reichen.

Dafür war es an ihr, der Tochter des Austernzüchters, für das leibliche Wohl zu sorgen. Sie lief die Rolltreppe hinab, immer tiefer den feinen Düften entgegen.

Unten war Glitzerzeit, Weihnachtszeit, Hochzeit der Genüsse. Die schwarzen Trüffel aus dem Périgord waren auf einem eigenen Tisch ganz am Anfang der Gourmetabteilung ausgelegt. Knapp dahinter hatte die Champagnermarke Taittinger einen Werbestand aufgebaut.

Ein Vertreter der Gänsestopfleberproduzenten aus der südlichen Gascogne strich seine ausgesuchte Ware auf krosse Baguettescheiben, zum Probieren für die Pariser Kunden – die Tierschützer hatten in Frankreich einen schweren Stand.

Doch Julie ließ sich nicht beirren, sie wusste, wonach sie suchte, und ihr Gang war zielstrebig: zur Kühltheke, hinter der zwei Männer mit weißen Fischverkäuferschürzen warteten. Der eine, ein dicker, gemütlicher, lächelte sie freundlich an.

»Mademoiselle, was darf ich Ihnen Gutes tun?«

Sie betrachtete die Kisten mit einem Lächeln, weil sie diese Zeremonie des Suchens und Aussuchens so liebte.

»Alors«, fuhr der Verkäufer fort, »wir haben die Belon-Austern aus der Südbretagne, außerdem ganz frisch heute Morgen

Er brach ab, als er sah, wie sie den Kopf schüttelte und auf die Kiste neben ihm zeigte.

Les Huîtres d’Arcachon stand in gelben Lettern auf schwarzem Grund auf deren oberem Rand. Da lagen sie, fein säuberlich übereinandergeschichtet. An manchen klebte noch ein wenig Seegras, einige hatten im Meer bizarre Formen angenommen.

Der Geruch von Salzwasser war plötzlich so intensiv, dass sie sich für einen Moment nach Hause versetzt fühlte, obwohl der Ozean doch weit weg war. Julie überlegte, dass sie denjenigen, der die Felsenaustern aus den poches, den Austernsäcken, geholt hatte, sicherlich kannte, wahrscheinlich von Kindesbeinen an.

»Aus welchem Betrieb stammen die?«, fragte sie, und die beiden Verkäufer tauschten einen raschen Blick.

»Chevalier, aus Arcachon«, sagte der Dicke, ohne zu zögern.

Julie nickte. Chevalier. Der Platzhirsch. Der bedeutendste Austernzüchter am Bassin. Zehnmal so viele Tonnen Produktion wie ihre eigene Familie. Vielleicht sogar zwölfmal so viele. Letztes Jahr hatte er schon wieder einen Betrieb aufgekauft. Ihn sich einverleibt, wie die Leute am Bassin raunten.

»Wollen Sie probieren, Mademoiselle?«

»Non, merci«, gab sie zurück, »haben Sie noch Austern von anderen Betrieben aus der Gegend?«

Der Verkäufer schüttelte den Kopf.

»Die kommen erst kurz vor Weihnachten. Im Moment haben wir aus der Aquitaine nur diese.«

Sie zog eine Augenbraue hoch.

»D’accord. Dann geben Sie mir sechs Dutzend creuses aus der Bretagne, s’il vous plaît

Der Verkäufer wechselte wieder einen raschen Blick mit seinem Kollegen, dann griff er nach der Holzkiste mit den flachen

Julie Labadie verehrte die Austern aus Arcachon, sie zog sie allen anderen vor und hielt die bretonischen Meeresfrüchte für gnadenlos überschätzt. Und dennoch würde sie sich eher mit dem Austernmesser die Hand aufschlitzen – was ansatzweise ohnehin schon oft genug passiert war –, als Bertrand Chevalier auch nur einen Euro hinterherzuwerfen.

Diffus fiel das spärliche Licht des trüben Winterabends durch das kleine Wohnzimmerfenster, das mit einem Laken verhängt war, weil es so zog.

Karim trat durch die Balkontür hinaus und zündete sich den Joint an, den er eben geradezu ehrfurchtsvoll gerollt hatte. Ein langer Zug, noch einer, ganz tief saugte er den würzigen Qualm in seine Lunge. In der Hoffnung, dass seine Stimmung gleich, wenn das Licht gänzlich verschwunden war, endlich besser würde. Wobei der Blick nach unten keinerlei Anlass für gute Stimmung gab. Die Funzeln dort auf der Rue de l’Agriculture waren immer noch nicht eingeschaltet. Die verdammten Wichser in der Stadtverwaltung sorgten sich stets darum, dass die Innenstadt von Nanterre glitzerte wie ein Weihnachtsbaum, aber hier in der Banlieue durften sie ruhig im Düstern in die kleinwagengroßen Schlaglöcher stolpern.

Die Hochhäuser jenseits der Straße waren wie ein Spiegelbild zu seinem eigenen, auf dessen baufälligem Balkon in der elften Etage er stand. Grauer Beton mit schmalen Sehschlitzen, die woanders Fenster wären. An allen Balkonen riesige Satellitenschüsseln, die nach Nordafrika wiesen. Wäsche trocknete in

Eine ganze Weile ließ Karim dieses Beinahe-Stillleben auf sich wirken: die Flagge, die sich im leichten Wind immer mal wieder aufblähte, die Neonleuchten in den Wohnungen gegenüber, die eine nach der anderen angingen und der Dunkelheit trotzten, der ausgebrannte Renault Clio die Straße runter, das übliche Ergebnis einer Freitagnacht. Seine kleine Welt.

Er hatte lange gebraucht, um zu erkennen, wie klein diese Welt war.

Als Kind – denn natürlich hatte er schon immer hier gewohnt, quasi von Geburt an, nachdem ihn seine Eltern mit seinen gerade mal zwei Lebenstagen aus dem Hôpital Max Fourestier in ihre winzige Wohnung gebracht hatten –, als Kind jedenfalls hatte er diese Welt für riesig und unüberschaubar gehalten. Die hohen Häuser, die verwinkelten Straßen, der Blick nach drüben, dorthin, wo in der Ferne der hellrote Lichtschein der Hauptstadt zu erkennen war, wie eine Verheißung.

Wie wohl fast jedes Kind liebte er Orte wie den staubigen Bolzplatz die Straße runter, den Treppenaufgang mit den Dutzenden anderen Kindern, die alle irgendwie so aussahen wie er selbst. Und auch damals fand sich nach beinahe jedem Wochenende ein frisch abgefackeltes Autowrack im Viertel. Damals konnten seine Freunde und er das wenigstens noch als rußigen Abenteuerspielplatz gebrauchen.

Vor fünf oder sechs Jahren kam ihm erstmals die Idee, dass hier etwas nicht stimmte. Und vor zwei Jahren wurde diese Idee zur Gewissheit. Dass man ihn hier vergraben hatte. Dass man wollte, dass er hier war. Damit er nirgendwo anders sein konnte. Und dass das – wenn er nicht bald einen radikalen Entschluss fasste – für sein Lebtag so bleiben sollte. Wer war »man«, hatte sich Karim lange gefragt: seine Lehrerin in der école primaire,

Eine Zeit lang hatte er versucht, zu akzeptieren, dass es so war. Hatte hier ein bisschen gedealt und dort ein wenig gehehlt, war auch mal mitgefahren zu einem kleinen Bruch im 16. Arrondissement. Aber drei Wochen im Gefängnis von Porcheville hatten ihn gelehrt, dass es nichts brachte, bei den kleinen Fischen mitzuspielen. Denn die kleinen Fische rutschten in Frankreich nicht durchs Netz. Nein, sie wurden als Einzige gefischt und, um im Bild zu bleiben, nie wieder vom Haken gelassen. Im Knast hatten sie ihm von allen Seiten zugesetzt: Die Justizangestellten hassten die beurs, dabei waren sie oft selber welche. Dann gab es selbst im Jugendknast schon Intensivverbrecher, denen man ansah, wie viel Spaß es ihnen bereitete, hier drinnen Angst und Schrecken zu verbreiten. Und es gab die Dschihadisten, die scheinbar freundlich eine Lösung anboten: den Weg zu Allah, dem einzigen Freund, der einem Kid aus der Banlieue blieb. Doch Karim war nicht doof, er wollte nicht gehirngewaschen und mit einer Sprengstoffweste bekleidet irgendwo auf einem Marktplatz enden. Auch keine Alternative.

Das Angebot seines Freundes – war Islah sein Freund? – war ihm wie ein Wunder erschienen. Islah hatte einen Auftraggeber, einen Franzosen. Ein richtig dicker Fisch, der in so vielen Teichen obenauf mitschwamm: Bau, Import, Export, Sicherheit. Und dieser Franzose baute gerade eine Truppe auf. Ein

Er hatte nicht lange gezögert. Hatte Islah zugesagt. Und der hatte ihm aufgetragen, sich bereit zu machen für einen richtigen Job. Keinen Scheiß mehr zu bauen, sich von allen Bullen fernzuhalten, regelmäßig zu trainieren, um seine ohnehin ansehnlichen Muskeln zu vervollkommnen. Und so ging Karim jetzt jeden Tag in das schäbige Fitnessstudio im Zentrum von Nanterre und pumpte, was das Zeug hielt. Nur vom Gras konnte er nicht die Finger lassen, aber irgendwie musste man ja klarkommen.

In zwei Wochen sollte es losgehen. Wie lange hatte er darauf gewartet. Auf diesen Moment. Maman hatte er von alledem noch nichts erzählt. Er wollte einfach abhauen, mit seinem Rucksack voller Klamotten. Um dort unten großen Erfolg zu haben. Und in ein paar Wochen einen Scheck zu schicken, zusammen mit einem Brief, der erklärte, wo er war und was er tat – und mit Zugtickets, die auch seiner Mutter und seinen zwei kleinen Schwestern erlauben würden, das Meer zu besuchen.

Er schmiss den Joint vom Balkon, griff zu seiner kunstledernen Geldbörse und entnahm ihr das zusammengefaltete Billett, das er hütete wie einen Schatz. Er entfaltete es und las, was er ohnehin auswendig konnte:

13 décembre

6:52 Abfahrt am Gare Paris Montparnasse

8:56 Ankunft in Bordeaux Saint Jean, Umstieg

9:58 Ankunft am Bahnhof von Arcachon

Karim faltete das Ticket wieder zusammen. Bald würde sie beginnen, seine Zukunft. Endlich. Finalement.

Vor sieben Minuten hatte sie die Yamaha-Motoren angeworfen, vor vier Minuten hatte Oberbootsmann Diallo die Leinen losgemacht, woraufhin Lieutenante Giroudin das Boot gewendet und vom Liegeplatz in Richtung Hafenausfahrt gesteuert hatte.

Sie liebte Pünktlichkeit. Wenn sie jetzt den Blick wendete, sah sie die Stege im Hafen von Arcachon nur noch schemenhaft. Die weißen Boote dagegen leuchteten durch die Dunkelheit, genau wie die Lichter im Santa Maria, dem einzigen Restaurant am Hafen, das so spät im Jahr noch geöffnet hatte. Die Lichter auf der Mole blinkten grün und rot, und sie waren Giroudin so vertraut wie die automatische Beleuchtung, die anging, wenn sie ihr blaues Gendarmerie-Motorrad auf ihr geliebtes Grundstück steuerte, so wie es nachher sein würde, in neun Stunden, wenn der Morgen langsam graute.

Doch nun war erst mal Dienstbeginn. Siebeneinhalb Stunden auf dem Bassin. Sie hatten eine Aufgabe. Sie und ihre Jungs. Da war Oberbootsmann Diallo, ein kräftiger Schwarzer, dessen Eltern aus dem Senegal stammten. Er selbst war aber in Bordeaux geboren und aufgewachsen. Ein sehr erfahrener Marinemann, der schon während der Einsätze in Mali und am

Giroudin würde Arnoult ohne zu zögern ihr Boot anvertrauen. Genau wie Diallo. Doch ihr Arbeitsplatz war nicht mehr so gefährlich wie einst, als sie während ihres Einsatzes in Libyen auf einem Flugzeugträger nahe der Küste diente und nie so recht wusste, welcher Stamm gerade die Oberhand hatte und sie als Nächstes beschießen würde. Statt Krieg zu führen, tat sie nun etwas ungleich Wichtigeres – obwohl ihr klar war, dass Menschen im Ausland sie wohl nicht verstehen, geschweige denn diesen Dienst als etwas Wichtiges begreifen würden.

Aber das war er. Sie bewachte ein französisches Kulturgut. Hier draußen auf dem Bassin d’Arcachon. Nein, keine Kunstwerke. Oder altertümliche Statuen. Sondern ganz lebendiges Kulturgut. Die Austern des Bassins. Die zu Weihnachten bei Millionen von Franzosen auf dem Tisch erwartet wurden. Als traditionellster Bestandteil des Menüs.

Früher war die Zeit der Austern von September bis April gewesen, im Sommer gab es wegen der Kühlprobleme keine Meeresfrüchte. Doch auch wenn die Regel, wonach Austern nur in Monaten mit R im Namen gegessen werden dürfen, längst überholt war – immer noch war die Zeit rund um Weihnachten die unangefochtene Austern-Hochzeit. Und es oblag Lieutenante Giroudin und ihren zwei Männern, dass das so bleiben konnte. Es war keine Übertreibung, dass sie die Last dieser Aufgabe auf ihren Schultern spürte. Vorherige Kriegseinsätze hin oder her.

Sie stand in der kleinen Kabine und steuerte das Boot so

Als er die Gangway herunterkam, erlöste ihn die Wintersonne. In Paris war er unter einem wolkenverhangenen Himmel gestartet, einem Himmel, der ausgesehen hatte, als würde er die Hauptstadt gleich verschlingen wollen.

Der Regen hatte auf der Fensterscheibe dicke Schlieren hinterlassen. Von Orly aus hatte der Airbus einen Bogen über Paris gemacht, die prachtvollen Boulevards der Haussmann-Ära hatten trüb und eintönig dagelegen.

Nun spürte Luc die Sonne im Gesicht, sie wärmte seine Haut, und er schloss die Augen, als er vor der Air-France-Maschine stand. Kurz nur, dann ging er rasch die paar Meter bis zum Terminal des Aéroport Bordeaux-Mérignac. So überstürzt wie die Abreise gewesen war, hatte er keinen Koffer dabei, nur die große braune Ledertasche, die er früher immer für Wochenendreisen mit Delphine benutzt hatte. Aufs Gepäck warten entfiel also.

Noch wenige Meter, eine Rolltreppe nach oben und dann immer in Richtung Sortie, die Schiebetür öffnete sich – und da stand sie. Er beschleunigte seinen Schritt, und schon fiel sie ihm um den Hals, er ließ die Tasche zu Boden fallen, hob Anouk

Es waren schreckliche Wochen gewesen. Sie hatten ihn noch am Freitagabend angerufen. Als die Explosionen vor dem Stade de France zu hören waren, dort und in allen Wohnzimmern und Kneipen, in die das Fußballspiel übertragen worden war, das bis dahin weit entfernt von Anouk und Luc stattgefunden hatte. Sie hatten längst auf Anouks Bett in der kleinen Wohnung am Place Canteloup gelegen.

Als der Anruf kam, war noch nicht klar, wie schlimm die Nacht ausgehen würde. Der Einsatzleiter am Quai des Orfèvres hatte offenbar eine Vorahnung. Er ließ die höchste Terrorwarnstufe ausrufen und trommelte seine besten Leute zusammen. Auch die, die in alle Winde verstreut waren. Luc war ans Telefon gegangen – und was er hörte, war keine Bitte: In dreißig Minuten würde eine kleine Maschine der Flugbereitschaft der Armée de l’Air, der französischen Luftwaffe, in Mérignac warten. Und zwar nur auf ihn.

Luc hatte nichts erklären müssen, sie stand schon an der Tür, um ihn zu verabschieden, weil sie während seines Telefonats die Nachrichten gecheckt hatte. Er war im Taxi zum Flughafen gerast, und als er in Mérignac ankam, war klar, dass auch im Musikclub Bataclan irgendetwas vor sich ging. »Geiselnahme« hieß es beim Radiosender France Inter, mehr sollte er erst in Paris erfahren. Eine Stunde und fünfzehn Minuten später landete Luc in Orly, da waren bereits fünfzehn Tote bekannt. Und dann begannen drei Wochen im Ausnahmezustand. Mit der unmittelbaren Tatortarbeit und mit aufreibenden Ermittlungen in Paris und bis hinauf nach Belgien. All die Toten, all die Verletzten, dieser entsetzliche Terror.

Worauf sie sich am meisten freute? Auf den Meeresgeruch. Diesen ersten Schritt hinaus an die frische Luft, aus dem miefigen TER-Vorortzug. Und dann diese Brise aus Norden, die ihre Freunde in Paris – die keine Ahnung hatten, weil sie aus Nizza, Lille oder eben Paris kamen – immer fischig nannten.

Fischig. Als würden die Austernzüchter der Aquitaine ihre Straßen mit verdorbenen Fischabfällen pflastern. Julie konnte da nur lachen. Auch wenn sie nun schon drei Jahre zum Studieren in Paris war, konnte sie sich die Elemente dieses Geruchs mit einem Schnipp herbeizaubern: Da war der grüne frische Grasgeruch der Algen, die sich an die Austern gelegt hatten wie Beilagensalat. Da war selbst an warmen Tagen diese gewisse Kühle in der Luft, die der Atlantik von irgendwo aus der Ferne mit sich brachte, dieser abenteuerlich große Ozean. Da war das Salz, das nur als Hauch durch die Luft wehte, aber sich nach einem langen Tag am Strand auf die Lippen legte und auf Julies Haut, dass sie es gar nicht abduschen wollte, so wie früher als Kind. All diese Gerüche sammelten sich in der Luft – und in unendlich größerer Intensität auch in den Meeresfrüchten, auf die sie sich so freute. Die Biester aus Cancale, die sie und ihre

Julie legte ihren Kopf an die kühle Scheibe des TGV, unter sich die futuristisch anmutende Lampe, wie sie jeden Tisch im Zug beleuchtete. Diese zwei Geheimnisse, die sie seit ihrer Jugend hatte. Und die sie ihren Eltern niemals verraten würde. Erstens: Ihr schmeckten die Austern, die ihre Familie produzierte, phantastisch. Ohne Frage. Aber irgendwas machten dieser Fred und sein Sohn Vincent noch einen Hauch besser. Sie hatte keine Ahnung, was es war. Vielleicht lag es daran, dass der Betrieb der Pujols einer der kleinsten am Bassin war und sie deshalb noch mehr per Hand machten, sich noch mehr Zeit ließen, und vielleicht auch mit noch mehr Liebe arbeiteten. Auch wenn es sie immer wieder an den Rand des Ruins führte. Weil immer kleiner in diesen Zeiten eben auch immer weniger Umsatz bedeutete.

Zweitens: Vincent. Der Name, der für sie klang wie eine Verheißung. I have a crush on him, summte sie das abgewandelte alte Lied und musste lächeln. Ja, das war es. Sie war absolut verschossen in diesen großen, schlanken Burschen mit dem feingliedrigen, fast schlaksigen Körper. Die dunklen Haare, die immer irgendwie wild im Wind hin und her geworfen wurden. Seit sie ein Kind war, hatte sie sich ihn immer wieder ansehen müssen, schon als sie noch zusammen im Sandkasten saßen. Später hatten sie, ihr Bruder François und Vincent zusammen Indianerspiele gespielt. Dann waren sie zusammen in die Bars gegangen, eine große Clique aus dem Ort. Immer hatte sie versucht, sich ihm zu nähern, aber für ihn war es wohl, als schleiche seine Schwester sich an. Unvorstellbar. So war es immer gewesen. Bis sie es aufgegeben hatte, seine Nähe einfach nur

Vincent. Vor einem Jahr hatte sie ihn zuletzt gesehen, an den Weihnachtstagen, bei einem gemeinsamen Essen ihrer Familien. Fred und sein Sohn hatten geklagt, ginge das Geschäft so weiter wie bisher, würden sie bald verkaufen müssen. An Chevalier womöglich. Julie schluckte. Vincent hatte hinreißend ausgesehen, wie er da neben seinem Vater saß. Die Augen so ernst wie das Thema. Irgendwann im Sommer hatte François gesagt, Vincent überlege, nach Paris zu gehen. Das würde das Ende der Austernzucht Pujol bedeuten. Nicht auszudenken.Wenn sie nachher aus dem Zug stieg, in Bordeaux, würde niemand auf sie warten. Im Sommer, ja, da hätte ihr Vater sie sicher abgeholt. Oder ihr Bruder François. In seinem kleinen Peugeot Cabriolet. Aber nicht jetzt, so kurz vor Weihnachten. Da war zu viel zu tun. Sie hatten keine Zeit, nicht mal für die einstündige Fahrt nach Bordeaux. Also würde Julie sich im Relay mit Zeitungen eindecken, dazu einen Cappuccino gegenüber im Bahnhofscafé holen. Eine halbe Stunde später würde die Fahrt weitergehen, mit der Bummelbahn immer am Bassin entlang, bis nach Gujan-Mestras. Von dem kleinen Bahnhof aus wären es nur noch einige Hundert Meter bis zu ihrem Haus mit Blick aufs Wasser. Doch Julie würde bloß ihren Koffer über den Zaun in den Vorgarten hieven und dann direkt weitergehen, bis zur kleinen Holzhütte direkt am Hafen. Wo bereits die Boote lagen, die voll beladen waren mit Säcken voller Austern, die ihr Vater und ihr Bruder nun einen nach dem anderen in die Cabane brachten. Zum Sortieren, Waschen und Verpacken.

Irgendetwas in ihrer Umgebung forderte ihre Aufmerksamkeit, machte, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief, doch sie schaffte es erst nicht, sich von der vorbeifliegenden Landschaft zu lösen, den flachen Sandsteinhäusern und dem Buchenwald,

Kaltes Erwachen