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Arthur Schnitzler, Briefe 1913–1931, hrsg. von Peter Michael Braunwarth [u. a.], Frankfurt a. M. 1984, S. 411.
Brief an Stefan Zweig vom 6. 11. 1924, in: Schnitzler (s. Anm. 1), S. 373.
Schnitzler (s. Anm. 1), S. 373.
Nachweis u. a. bei Achim Aurnhammer, »›Selig, wer in Tränen stirbt‹. Das literarische Leben und Sterben von Fräulein Else«. In: Euphorion 77 (1983) H. 4, S. 500–510, hier S. 502.
Vgl. Astrid Lange-Kirchheim, »Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 265–300, hier S. 275; und vgl. Evelyne Polt-Heinzl, Erläuterungen und Dokumente. Arthur Schnitzler: »Fräulein Else«, Stuttgart 2002 [u. ö.], S. 12.
Die folgenden Ausführungen orientieren sich im Wesentlichen an der Darstellung bei Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 6., verb. und erw. Aufl., Stuttgart 1979, S. 371.
Wilpert (s. Anm. 6), S. 793.
Aus der Forschung ist bekannt, dass Frauen während des sogenannten »prämenstruellen Syndroms« (PMS) oft nicht nur unter den körperlichen Beschwerden, sondern auch unter Antriebslosigkeit, Angstzuständen und Depressionen leiden.
Gemeint ist der Fall »Dora« in Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse von 1905. Vgl. dazu den Hinweis in Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 5.
Eine ausführliche Darstellung dieser Vorgänge wird zitiert bei Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 42 f.
Schnitzler (s. Anm. 1), S. 395.
Zitiert nach: Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 36.
Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil, hrsg. von Wolf Dieter Hellberg, Stuttgart 2014, S. 75, V. 2605–2608. (Reclam XL, Text und Kontext, 19152.)
Vgl. z. B. die Traumnovelle von 1924: Dort werden die Stationen vom Gang der Hauptfigur Fridolin durch die Nacht jeweils eingeleitet durch Hinweise auf eine stetige Erwärmung.
Vgl. dazu Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 6 f. und S. 34 sowie Lange-Kirchheim (s. Anm. 5.), S. 271 f.
In einem Brief an die dänische Übersetzerin der Novelle erläutert Schnitzler diesen Begriff: »Else meint damit einen gewissen unnatürlichen, unangenehmen, wohl durch die sinnliche Erregung Dorsdays zu erklärenden Ton seiner Stimme«; Schnitzler (s. Anm. 1), S. 609 f.
Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 33.
Die Wortherkunft ist nicht eindeutig gesichert; vielleicht handelt es sich bei dem Begriff ›Karneval‹ um eine scherzhaft gemeinte Volksetymologie von lat. Carne vale! = ›Fleisch, lebe wohl!‹.
Vgl. Aurnhammer (s. Anm. 4), S. 508.
Vgl. Gerd K. Schneider, »Ton- und Schriftsprache in Schnitzlers Fräulein Else und Schumanns Carnaval«, in: Modern Austrian Literature 2 (1969) H. 3. S. 17–20. Zitiert nach: Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 75 f.
Siehe zu diesem Zusammenhang: Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, übers. von Emma Moersch, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1972, Stichworte »Eros«, »Lebenstrieb«, »Todestrieb«, »Sexualität«, »Narzißmus«, »Thanatos« sowie die jeweiligen Querverweise.
Literarischer Niederschlag zu dieser Theorie ist Schnitzlers Traumnovelle, die zur gleichen Zeit wie Fräulein Else entstanden ist. Siehe dazu Bertold Heizmann, Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: 2006 (Reclams Universal-Bibliothek, 16054), S. 67–70.
Vgl. Lange-Kirchheim (s. Anm. 5), S. 272.
Vgl. Lange-Kirchheim (s. Anm. 5), S. 271 f.
Vgl. Schnitzlers Brief an Gabor Nobl vom 21. 2. 1925, in: Schnitzler (s. Anm. 1), S. 394 f.
Schnitzler (s. Anm. 1), S. 370 f.
Felix Salten, »Fräulein Else«, in: Neue Freie Presse (1924) Nr. 21623, S. 1–3; zitiert nach: Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 54.
Aus einem Brief Hofmannsthals an Schnitzler, in: Hugo von Hofmannsthal / Arthur Schnitzler, Briefwechsel, hrsg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 1964; zitiert nach: Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 55.
W. P., »Arthur Schnitzler, Fräulein Else«, in: Der Kreis 2 (1925) H. 3, S. 50.
Hans Brandenburg, »Schnitzler, Arthur: Fräulein Else«, in: Die schöne Literatur 26 (1925) H. 12, S. 543.
Vgl. Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 53 und Renate Wagner, Arthur Schnitzler. Eine Biographie, Wien [u. a.] 21981, S. 356 f.
Tagebucheintrag vom 20. 10. 1929, in: Arthur Schnitzler, Tagebuch 1927–1930, hrsg. von Werner Welzig, Wien 1997, S. 284.
An Clara Pollaczek am 15. 3. 1929, in: Schnitzler (s. Anm. 1), S. 597.
An die Redaktion des Tempo, 18. 2. 1929, in: Schnitzler (s. Anm. 1), S. 590 f.
»Und ich ging nicht mehr zurück«, Elisabeth Bergner im Gespräch mit Eva Orbanz, in: Exil. Sechs Schauspieler aus Deutschland, Kap.: »Elisabeth Bergner«, Berlin 1983, S. 12.
Schnitzler (s. Anm. 30), S. 243; vgl. auch Polt-Heinzl (s. Anm. 5), S. 58.
Fräulein Else gehört zu den späten Erzählungen Schnitzlers. Wie in der 20 Jahre zuvor entstandenen erfolgreichen Novelle Lieutenant Gustl bedient er sich der Technik des »inneren Technik: Innerer MonologMonologs«. Als ein Bekannter ihm gegenüber später gesteht, bei der Lektüre von Fräulein Else wegen dieser Erzähltechnik große Schwierigkeiten gehabt zu haben, antwortet ihm der Dichter zu dessen Überraschung, selten sei ihm »etwas Erzählendes so leicht von der Hand gegangen«.1 Er wundert sich, angesichts der Leichtigkeit, mit der ihm die Arbeit von der Hand ging, sowie der »ganz außerordentliche[n] Möglichkeiten«, die diese Technik biete, selbst darüber, dies so selten getan zu haben.2 Allerdings räumt er ein, es würden sich »nur wenige Sujets dazu« eignen.3
Das ›Sujet‹ der Novelle, die selbstquälerischen Zweifel der 19-jährigen Else, lässt Schnitzler eine Erzählweise wählen, die die Distanz zwischen Erzähler und Protagonistin verringert, ja fast völlig aufhebt: Elses Monolog ist in hohem Maße subjektiv und erlaubt dem Leser Einblicke in ihr Inneres, ohne durch Reflexionen eines auktorialen Erzählers unterbrochen zu werden. Schnitzler ist oft dafür gerühmt worden, wie überzeugend es ihm, dem mehr als 60-Jährigen, gelungen ist, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt eines jungen Mädchens einzufühlen. Er erweist sich einmal mehr als souveräner Schnitzler: Kenner der weiblichen PsycheKenner der weiblichen Psyche; gerade seine persönlichen Erfahrungen mit durchaus problematischen Frauenfiguren – wozu auch seine zum Zeitpunkt der Abfassung der Novelle 15-jährige Tochter Lili zu zählen ist – haben seinen Blick geschärft für die ›weibliche‹ Sichtweise in Bezug auf Erziehung, Moral, Gesellschaft, Sexualität.
Der zu seiner Zeit berühmte, aber wegen der vielen SkandalschriftenSkandale um seine allzu freizügigen Schriften vielfach angefeindete und mit Prozessen überzogene Autor ist lange Zeit auf diese Skandalschriften, insbesondere den Reigen, reduziert worden. Im Nationalsozialismus bediente Schnitzler das Vorurteil, jüdische Schriftsteller brächen sämtliche moralischen Gesetze oder Tabus und seien deshalb als ›undeutsch‹ oder ›entartet‹ abzulehnen. Auch nach 1945 litten Schnitzlers Schriften unter dem Makel, als allzu zeitbezogen zu gelten: Man amüsierte sich eher darüber, dass derartige Darstellungen das damalige Publikum schockieren und empören konnten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die literarisch interessierte Öffentlichkeit bereit, in Schnitzler auch wieder den sensiblen Psychologen und Gesellschaftskritiker zu sehen, dem es in seinen Theaterstücken und Erzählungen gelungen ist, bei aller Zeitgebundenheit grundsätzliche menschliche Darstellung menschlicher VerhaltensweisenVerhaltensweisen in ihrer Problematik zu thematisieren. Einen schönen Beleg liefert der Film Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick (1999), der auf Schnitzlers Traumnovelle basiert: Mühelos gelingt es Kubrick, die Thematik der zwanziger Jahre in Wien nach New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu transponieren – die Dramatik der zwischenmenschlichen Spannungen ist hier wie dort dieselbe.
Auch wenn es heute fraglich erscheint, ob ein junges Mädchen sich in einer vergleichbaren Situation derartigen seelischen Qualen aussetzt, wie es Else: Selbstfindungsprozess in fragiler UmweltElse tut, so ist die Erzählung dennoch mehr als ein bloßes Spiegelbild einer untergegangenen Zeit, sie ist die nachvollziehbare Darstellung des Selbstfindungsprozesses eines jungen Menschen in einer gesellschaftlich und moralisch fragilen Umwelt.
Ort und Zeit: genau bestimmbarOrt und Zeitpunkt des erzählten Geschehens lassen sich aufgrund einiger nachvollziehbarer Daten genau feststellen: Es spielt am 3. September 18964. Die Titelfigur ist um vier Uhr zum Tennis gegangen und hat beinahe drei Stunden gespielt. Also setzt die Handlung gegen 19 Uhr ein, »zwei Stunden bis zum Dinner« (S. 5), und endet wenige Stunden später. Es liegt somit tendenziell eine Zeitdeckung vor, da Erzählzeit und erzählte Zeit weitgehend übereinstimmen. Auch der Ort wird benannt: Das Geschehen findet im Hotel Fratazza in San Martino di Castrozza am Fuße des Cimone, eines Gipfels der Palagruppe in den Südtiroler Dolomiten, statt. (Das Hotel Fratazza existierte im Jahre 1896 allerdings noch nicht, es wurde erst 1908 errichtet.)
Da die Novelle nicht in Kapitel unterteilt ist, orientiert sich die folgende Inhaltsangabe an Sinnabschnitten der Geschichte.
Der Leser lernt die Else, die »arme Verwandte«Titelfigur als ein 19-jähriges Mädchen aus Wien kennen, das seinen Urlaub auf Einladung der »reichen Tante« Emma in dem noblen Hotel verbringt; normalerweise hätte sie, die »arme Verwandte« (S. 6), sich einen solchen Luxus nicht leisten können. Im selben Hotel halten sich auch ihr Cousin Paul sowie die verheiratete Cissy Mohr auf. Mit den beiden, die sie im Verdacht hat, ein Verhältnis miteinander zu haben, hat Else gerade Tennis gespielt, möchte sich jetzt aber zurückziehen. Sie behauptet, nicht in den gut aussehenden Paul verliebt zu sein, er sei ihr zu »affektiert« (S. 5). In Gedanken ist sie bei einem angekündigten Expressbrief, den sie von zu Hause erwartet und der sie in Unruhe versetzt. Um vier Uhr, als sie zum Tennis ging, war er noch nicht da. Sie befürchtet, möglicherweise in die Stadt zurückkehren zu müssen, denn eigentlich genießt sie das luxuriöse Leben. Andererseits wird spürbar, dass sie sich in der Atmosphäre des vornehmen Hotels manchmal fehl am Platze fühlt, denn die reichen Müßiggänger mit ihrem affektierten Gehabe fallen ihr auf die Nerven. Die Frage, ob und wieweit sie zu diesen gehört, spielt in ihren Gedanken eine wesentliche Rolle, da sie ursprünglich aus »besseren Verhältnissen« (S. 6) stammt und sich selbst als »Snob« (S. 7) fühlt, aber verarmt ist. Eine solche luxuriöse Existenz könnte so schön sein, sagt sie sich, denn sie sei »zu einem sorglosen Leben geboren« (S. 7).
Am Abend begegnen ihr im Hotel verschiedene Gäste, mit denen sie kurz ins Gespräch kommt, so auch der reiche jüdische Kunsthändler Dorsday. Das oberflächliche gesellschaftliche Geplauder enthält deutlich herauszuhörende erotische Erotische UntertöneUntertöne. Else fühlt sich körperlich und seelisch unwohl: körperlich, weil ein Ziehen in den Beinen die Menstruation ankündigt, seelisch, weil der verhängnisvolle Brief immer noch nicht da ist. Schließlich übereicht ihr ein Portier den Brief dann doch, den sie aber erst später in unheilvoller Erwartung auf ihrem Zimmer öffnet.
Tatsächlich sind ihre Befürchtungen berechtigt. Ihre Mutter teilt ihr Der verhängnisvolle Briefwortreich mit, dass der Vater, ein mit dubiosen Geschäften betrauter Anwalt in Wien, wieder einmal in große finanzielle Bedrängnis geraten sei und sich nicht mehr zu helfen wisse, da die bisherigen Freunde und Verwandten alle bereits im Übermaß in Anspruch genommen worden oder derzeit nicht verfügbar seien. Er benötige dringend dreißigtausend Gulden, sonst sei »alles verloren« (S. 11). Die Mutter scheint weniger die Insolvenz zu befürchten, als den damit ausgelösten Skandal. In dieser Situation wende man sich jetzt an sie, da sie, die Tochter, in ihrem letzten Brief geschrieben habe, Dorsday getroffen zu haben, den der Vater seit langem kenne, und man bitte sie, doch Dorsday, der Else schon als Kind »immer besonders gern gehabt« habe, um den »Liebesdienst« (S. 13) anzugehen, dem Vater mit dreißigtausend Gulden aus der Not zu helfen. Sollte der Vater die Summe nicht beibringen können, werde er wohl ins Gefängnis wandern müssen, da es sich, wie indirekt durchklingt (und sich später bestätigt), um veruntreute und an der Börse verspekulierte Mündelgelder handele.
Else liest den Brief mit Verbitterung. Ihr geht durch den Sinn, dass die Familie eigentlich schon seit Jahren am Ende ist, aber dennoch nach außen hin eine sorglose Existenz vortäuscht. Sie fühlt sich zerrieben zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch einerseits, den insbesondere der Vater aufrechtzuerhalten sucht, und der moralischen Verurteilung der Ursachen dieser Verarmung andererseits. Sie sieht sich außerstande, dem Wunsch der Eltern nachzukommen und Dorsday anzubetteln, zumal sie realistischerweise befürchtet, mit den dreißigtausend Gulden sei es nicht getan (auch das bestätigt sich später); stattdessen gehen ihr einige Alternativen durch den Sinn, die aber allenfalls in der Selbstanklage enden, ihrerseits nicht über die Mittel zu verfügen, die dem Vater aus seiner Klemme helfen könnten. Auch verwirft sie die Möglichkeit, die geizige Tante anzusprechen – diese würde vermutlich solche Mittel auf die Schnelle ohnehin gar nicht flüssigmachen können. Dass sie in dem Ansinnen der Mutter eine Eine unmoralische AufforderungAufforderung zur Prostitution sieht, wird im Weiteren deutlich: Statt den »[w]iderliche[n] Kerl« (S. 17) Dorsday zu fragen, für den sie – befolgte sie den Plan ihrer Eltern – ein tief dekolletiertes Kleid anziehen würde, in dessen Ausschnitt sich dann seine Augen bohren könnten, geht ihr durch den Sinn, den Cousin Paul um die Dreißigtausend anzugehen: er könne dann von ihr haben, was er wolle. Eine solche Szenerie erschiene ihr jedoch wie aus einem schlechten Roman, zumal ein derartiges sexuelles Abenteuer ihr auch noch Vergnügen bereiten könnte. So kommt sie doch auf den Vorschlag der Mutter zurück.
Trotz ihres Abscheus vor den – unterstellten – finanziellen Machenschaften ihres Vaters und des zwischenzeitlich geäußerten Wunsches, dieser möge tot sein (vgl. z.B. S. 14, 36, 37), wächst in ihr dann doch das Bedürfnis der guten Tochter, den Vater zu »»Rettung« des Vatersretten« (S. 1618