Nachwort

Schuld wird in unserer Gesellschaft ungerecht und unvernünftig verteilt. Diese Verteilung erfolgt systematisch und wird zementiert durch die sozialen Kräfte aus Moral, Religion und Recht. Drumherum kommen noch hohe Mauern, Stacheldraht und bewaffnete Wächter, und fertig ist es: das Gefängnis.

Selbst wenn man einmal den instinktiven Gedanken, Straftäter seien an der Strafhaft selbst schuld und hätten diese verdient, für einen Moment beiseiteschiebt und versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, ein Jahr, zehn Jahre oder dreißig Jahre eingesperrt zu sein, kann man nicht nachempfinden, wie das Leben im Gefängnis tatsächlich ist. Und was es mit dem Menschen macht.

Außerdem: Das Gefängnis hält nicht, was es verspricht. Mehr noch, es ist dazu gar nicht in der Lage, da es von falschen Annahmen über die Ursachen schädigenden Verhaltens von Individuen und über die Möglichkeiten, dieses zu beeinflussen oder zu verhindern, ausgeht. Bei näherer Betrachtung des Gefängnisses von innen und von außen wird klar, dass es sich um ein falsches Symbol handelt. Und um ein kostspieliges. Bundesweit kosten Gefängnisse mehrere Milliarden Euro pro Jahr. Dabei sind die allgemeinen Kosten der Strafjustiz, die zu entscheiden hat, wer wann und wie lange ins Gefängnis kommt, noch nicht einmal berücksichtigt. Auch alternative Formen von Strafe oder staatlicher Konfliktlösung wären selbstredend mit Kosten verbunden, die aber sinnvoller in eine tatsächliche Begrenzung des Schadens, den Menschen sich gegenseitig zufügen, investiert wären.

Für eine Fortentwicklung unseres Strafrechts und unseres gesellschaftlichen Umgangs mit schädigendem Verhalten von Individuen ist es notwendig, dass wir uns größtmögliche Mühe geben, beide Seiten zu verstehen: das Verhalten des Einzelnen, aber auch unseren Umgang mit diesem Verhalten. Das hat nichts mit Verständnis für die Täter zu tun, noch will es das Leid kleinreden, das sie ihren Opfern zugefügt haben. Es bedeutet aber, den Blick auf die Ursachen zu richten und diese anzugehen und durch unser Strafrecht den Schaden nicht zu vergrößern, sondern zu reduzieren. Vor allem müssen wir uns bewusst machen, dass wir selbst schädlich handeln, wenn wir Gewalt fordern oder einsetzen, die über das Maß dessen hinausgeht, das erforderlich ist, um den schädlichen Einfluss Einzelner zu stoppen. Genau das passiert aber im Strafvollzug, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Seit Jahrhunderten. Das alles geschieht, wohlgemerkt, im Namen des Volkes, also von uns allen. Der Wunsch nach Vergeltung ist menschlich, und so werden auch psychologische Mechanismen wie Angst, Lust und Aggression in unserer Definition von Schuld wirksam. Die Ursachen dieser Impulse werden auf gesellschaftlicher Ebene nicht reflektiert, sondern ins Unterbewusstsein verdrängt. Gewalt, vor allem staatliche Gewalt, muss aber immer Ultima Ratio sein, und das nicht nur auf dem Papier und in Sonntagsreden, sondern in unserem Denken.

Wir sind in Deutschland und Europa, im weltweiten Vergleich, sehr fortschrittlich, was den Umgang mit Straftätern angeht. Todesstrafe und Folter gibt es Gott sei Dank bei uns nicht mehr, und auch von den Inhaftierungsraten von Russland oder den USA sind wir weit entfernt. Die Tatsache, dass wir nicht so rückständig, unvernünftig und inhuman agieren wie andere, entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, Ungerechtigkeit und übermäßige sinnlose Gewalt auch bei uns weiter zu reduzieren.

Die Straftaten, die manche begangen haben, sind furchtbar, und das Leid der Betroffenen oft unermesslich und nicht heilbar. Der Impuls, den Verursacher möglichst hart zu bestrafen, ist menschlich und nachvollziehbar. Es hilft aber in aller Regel den Opfern nichts, verhindert keine künftigen Straftaten und fügt in vielen Fällen den Tätern sinnlosen Schaden zu. Letztlich haben wir alle darunter zu leiden. Denn die Haft drängt die Gefangenen häufig noch weiter an den Rand der Gesellschaft, von dem die meisten von ihnen kommen, macht sie somit noch »gefährlicher«.

Das soll, um es klar zu sagen, kein Plädoyer dafür sein, auf staatliche Zwangsmaßnahmen zu verzichten und nicht zu reagieren, wenn Individuen bestimmte Regeln brechen. Auch Abschreckung durch Strafe ergibt bis zu einem gewissen Grad Sinn. Nur sollten wir eben nicht in der Form und dem Umfang, wie wir es derzeit tun, mit dem Entzug der Freiheit reagieren. Es gibt andere, weniger schädliche, und dennoch ebenso abschreckende Möglichkeiten von Strafe. Erst recht soll dies kein Plädoyer dafür sein, Einzelne aus der Verantwortung für das, was sie anderen angetan haben, zu nehmen. Die Frage ist aber eben, wie diese Verantwortungsübernahme gesetzlich reguliert wird, um den schon verursachten Schaden möglichst weit beheben und künftigen Schaden vermeiden zu können. Vergeltung um der Vergeltung Willen macht keinen Sinn, schon gar nicht durch einen für den Betroffenen und die Gesellschaft nachhaltig schädlichen Freiheitsentzug. Zur Abschreckung und für eine größtmögliche Wiedergutmachung gäbe es sinnvollere Strafen, insbesondere durch einen deutlichen Ausbau von Geldstrafen und gemeinnütziger Arbeit.

Ein langfristiger Freiheitsentzug macht nur zur Sicherung der sehr wenigen hochgefährlichen Straftäter Sinn. Aber auch dieser Freiheitsentzug sollte unter menschenwürdigen Bedingungen erfolgen.

Es sind die sehr wenigen schweren Fälle, die unsere größte Aufmerksamkeit erregen und die damit über Öffentlichkeit, Medien und Politik letztlich auch den Strafvollzug prägen. Das betrifft nicht nur die Dauer und Härte der Gefängnisstrafe an sich. Auch die stärksten therapeutischen Bemühungen, die größten Ressourcen im Strafvollzug und in der Justiz allgemein werden in diese wenigen schwersten Fälle investiert. Unser gesellschaftlicher Umgang mit straffälligen Menschen ist eben nicht sehr rational, sondern angst- und wutgesteuert. Darunter zu leiden haben die vielen Gefangenen – und in der Regel auch deren völlig schuldlose Kinder, Frauen und andere Angehörige –, die übermäßig hart bestraft und nicht ausreichend unterstützt werden können.

Ich habe im Gefängnis sympathische und unsympathische Menschen kennengelernt, gute und schlechte Charaktere, mitfühlende Menschen und reine Egozentriker, wobei nicht die Gitter die jeweilige Trennlinie bildeten. Es wird ja seit jeher, und mit stetig zunehmender Tendenz, versucht, den Gefangenen sozusagen in die Seele zu sehen, ihre Psyche und ihre Persönlichkeit zu beschreiben und zu kategorisieren. Da werden dann Persönlichkeitsstörungen, psychische Krankheiten und Neurosen diagnostiziert oder fehlende Empathie und dissoziale Einstellungen festgestellt. Irgendetwas findet man bei jedem, und letztlich findet man dann auch, zumindest scheinbar, eine Bestätigung oder einen Grund dafür, warum jemand im Gefängnis ist. Das Problem an dieser Schlussfolgerung ist allerdings, dass gar nicht sicher gesagt werden kann, ob das, was man in der Psyche und der Persönlichkeit von Straftätern zu finden glaubt, sie wirklich von den Nicht-Straftätern unterscheidet. So profan es erscheint, so wenig wollen es doch viele glauben, dass man es den meisten Straftätern, wären sie nicht im Gefängnis, nicht ansehen oder anmerken würde, dass sie Straftäter sind. Natürlich gibt es, wie überall, auch hier Ausnahmen. Ein Gefangener hatte einen Stacheldraht um seinen Hals tätowiert, darunter stand: »Bitte hier abtrennen.« Ein anderer hatte dick und breit auf seinen Unterarm »Weiser arischer Wiederstand« tätowiert. Ein Gefangener, der mehrere Kinder vergewaltigt hatte, hatte einen wirklich derart eiskalten Blick, dass er einem wohl auch Angst machen würde, wenn man nicht von seinen Taten wüsste. Im Allgemeinen aber wirken die Straftäter wie du und ich. Kein Wunder, denn sie sind es meist auch.

Auch unter den Häftlingen waren nicht unbedingt diejenigen am unsympathischsten, die die schlimmsten Straftaten begangen hatten. Natürlich ist Sympathie eine sehr subjektiv gefärbte Kategorie, aber viele meiner Kollegen empfanden es ebenso. Am wenigsten sympathisch war mir persönlich ein ehemaliger Gefängnisleiter, ein Kriegsverbrecher, der zum Vollzug seiner Strafe nach Deutschland überstellt worden war. Er hatte seine dortigen Gefangenen auf schlimmste Art und Weise gequält, und viele auch umgebracht und umbringen lassen. Er sprach kein Deutsch und angeblich nur gebrochen Englisch, verlangte und bekam zu jedem wichtigeren Gespräch mit uns einen sehr teuren Dolmetscher, obwohl er uns ganz genau verstand und sich auch, wenn er es wollte, gut ausdrücken konnte. Er sprach ohnehin nur mit uns Vertretern der Anstaltsleitung, für die Beamten vor Ort hatte er nur höhnisches Grinsen und ab und zu einen herrischen Befehl übrig. Von Mitgefangenen erfuhren wir immer wieder, wie er sich mit seinen Taten brüstete und diese bis ins Detail beschrieb – das konnte er also offenbar doch auf Englisch. Er hatte große finanzielle Mittel zur Verfügung und ein Netz von Rechtsanwälten und anderen Unterstützern. Die gut bezahlten Anwälte mussten ihre Existenz irgendwie rechtfertigen und verfassten umfangreiche Schriftsätze an internationale Gerichte und Institutionen, um sich über die medizinische Behandlung, die Gefängniskost oder das Fernsehprogramm zu beschweren. Wir durften dann zu allem, ebenso umfangreich, Stellung nehmen. Im Kontakt mit ihm wurde einem die andere, positive Seite unseres Rechtssystems bewusst. Auch jemand wie er wurde anständig behandelt. Die Professionalität unseres Verhaltens wurde durch Menschen wie ihn allerdings der härtesten Prüfung unterzogen.

Was die Interessen der Inhaftierten und die Durchsetzung ihrer Rechte angeht, sind die meisten Häftlinge Einzelkämpfer. Jeder versucht, für sich das Beste herauszuholen. Interessen, die alle oder zumindest die Mehrheit der Inhaftierten teilen, können insbesondere über die Gefangenenmitverantwortung vertreten werden. Das ist ein Gremium, das sich aus von allen Häftlingen einer Anstalt gewählten Gefangenensprechern zusammensetzt. Da geht es um die Anstaltskost, Sportmöglichkeiten, das in der Anstalt zu empfangende Fernsehprogramm und Ähnliches. Richtig problematisch und in Ausnahmefällen auch gefährlich für das System Strafvollzug kann es immer dann werden, wenn sich die Gefangenen in nicht legaler Art und Weise zusammentun. Das kommt aber sehr selten vor. Die Gefangenen weigern sich dann zum Beispiel zur Durchsetzung bestimmter Forderungen kollektiv, sich nach dem Aufenthalt im Freien – als »Hofgang« bezeichnet – wieder in ihren Hafträumen einschließen zu lassen. In der Regel sind es aber Forderungen, die sich innerhalb des diskutablen Rahmens bewegen, wie mehr Ausgang für die Inhaftierten, Fernseher für alle Gefangenen, längere Hofgangzeiten und so weiter. Feste Gruppen von Gefangenen, die unabhängig von einzelnen konkreten Forderungen ihre Interessen auf nicht legalem Wege gegen die Interessen der Anstalt durchzusetzen versuchen, gibt es, von der bereits erwähnten knastinternen Russenmafia abgesehen, selten. Manchmal kommt es, je nach Bundesland, zu einer erhöhten Anzahl von Inhaftierten ausländischer Herkunft, zum Beispiel Türken oder Vietnamesen. Diese bleiben dann oft auch in der Anstalt unter sich und setzen ihre Interessen, manchmal auch illegal, gegen andere Gefangene durch. Wenn dies ersichtlich wird, kann solchen Gruppierungen aber meist relativ schnell durch eine Verlegung einzelner Mitglieder in verschiedene Anstalten das Handwerk gelegt werden. Anstaltsübergreifende und personenunabhängige Strukturen hat nach meiner Kenntnis nur die Russenmafia. Auch die rechtsradikalen Straftäter sind zwar im Einzelfall noch mit Gruppierungen außerhalb der Anstalt und zwischen den Anstalten vernetzt, häufig zeigte sich im Gefängnis jedoch, dass hinter den rechtsradikal motivierten Straftaten gar keine tiefere rechtsradikale Überzeugung steckt. Ich habe im Knast rechtsradikale Täter kennengelernt, die aus dieser Gesinnung heraus und eingebunden in ein Netz von Nazis die schlimmsten Straftaten begangen hatten. Einer hatte beispielsweise einen Obdachlosen, den er für einen Polen hielt, mit Benzin überschüttet und angezündet. Der Obdachlose starb qualvoll. In der Haft merkte der Gefangene sehr schnell, dass seine Nazikollegen ihm nur oberflächlich Halt und Identität gaben. Er wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben und konnte mit dem Abstand von einigen Jahren nicht fassen, einmal etwas so Furchtbares getan zu haben. Von Geschichte hatte er wenig Ahnung, er wusste noch nicht einmal genau, für oder gegen was die Nazis überhaupt waren. Nur dass sie gegen Ausländer waren, wusste er, und in seiner zum Zeitpunkt der Tat kranken Welt ging er davon aus, etwas Richtiges zu tun und Anerkennung in seiner Gruppe zu finden, indem er den Obdachlosen umbrachte. Selbst die wenigen, die in der Haft noch weiter ihr rechtes Gedankengut pflegen und damit auch immer wieder negativ auffallen – wie ein Gefangener, der während des Hofganges im Winter für alle gut sichtbar ein Hakenkreuz in den Schnee pinkelte –, haben in der Haft meist keinerlei Probleme mit Mitgefangenen verschiedenster Herkunft. Ein anstaltsübergreifendes Nazinetzwerk hinter Gittern, das systematisch den Strafvollzug oder andere Gefangene terrorisiert, gibt es jedenfalls nicht. Entsprechendes trifft auch auf Linksradikale, Islamisten und andere Gruppen zu. Das alles gilt, wohlgemerkt, soweit es mir bekannt ist. Die erfolgreichste Organisation hinter Gittern wäre die, von der wir nichts wissen.

Wenn auch weder von Einzelnen noch von Gruppen, von der Russenmafia abgesehen, eine dauerhaft hohe Gefahr für die Anstalt und die Bediensteten ausgeht, so muss man sich dennoch die Tatsache bewusst machen, dass man fast niemandem in vollem Umfang das glauben kann, was er sagt. Der Spruch »Der Ehrliche ist der Dumme« trifft im Knast leider oft zu. Der Gefangene zum Beispiel, der, in welchem Kontext auch immer, ehrlich sagt, dass er natürlich ab und zu an Flucht denke, hat schlechte Karten. Er bekommt in aller Regel den Aktenvermerk »Fluchtgefahr«, der eine Vielzahl von Einschränkungen für ihn zur Folge hat.

Da das System Strafvollzug eine gewisse Ablehnungskultur mit sich bringt in dem Sinne, dass fast alles, was die Gefangenen beantragen, erst einmal abgelehnt und oft erst dann genehmigt wird, wenn ein Gericht die Anstalt dazu verpflichtet, sehen sich zudem viele Inhaftierte genötigt, mit falschen Angaben das zu erreichen, worauf sie, bei Lichte besehen, einen legitimen Anspruch haben. Unter den Strafvollzugsbeamten verhalten sich bei solchen Ablehnungen nur wenige so, weil sie Arbeit vermeiden oder die Gefangenen »klein halten« wollen. Eher spielt eine Rolle, dass beispielsweise jeder genehmigte Gegenstand irgendwann einmal von irgendeinem Gefangenen zu illegalen Zwecken missbraucht wird. Wenn etwa von Hunderten genehmigter elektrischer Rasierapparate einer zu einer Tätowiermaschine umfunktioniert wird – mit der zahlreiche Gefangene mit der gleichen Nadel tätowiert werden –, kommt schnell die grundsätzliche Frage auf, wie man denn bloß Rasierapparate genehmigen konnte.

Die Ablehnungskultur gründet somit auf systemimmanenten Mechanismen und ruft eine Lügenkultur hervor. Wenn ein Gefangener also beispielsweise einen CD-Spieler haben wollte, dann wäre er gut beraten, das nicht damit zu begründen, Musik hören zu wollen, sondern damit, dass er CDs zum Sprachenlernen benötige. Die Lüge macht einen in einem solchen System also noch nicht zu einem schlechten Menschen.

Wie überall, so prägen allerdings auch im Gefängnis nicht diejenigen das Bild nach innen und außen, die sich sozusagen normgemäß verhalten, sondern die anderen.

Ähnlich ist es mit den extrem seltenen Ausbrüchen von Gefangenen. Wenn einmal ein solcher Ausbruch gelingt, ist es jedes Mal ein riesiger Skandal, oft muss dann irgendein Kopf rollen, bis hin zu dem des Justizministers. Ich persönlich habe in all den Jahren nur einen Ausbruch miterlebt. Ein Gefangener war in einem Haftraum untergebracht, dessen Fenster direkt zur Straße außerhalb der Anstalt lag. Es gab vor diesem Haftraum also keine Mauer und keinen Stacheldraht zur Verhinderung einer Flucht, lediglich das vergitterte Fenster. Der Gefangene hat dann, ganz klassisch, in mühevoller Nachtarbeit die Gitterstäbe durchsägt.

Ab und zu, aber insgesamt auch sehr selten, kommt es vor, dass Gefangene, die sich mit Erlaubnis – etwa im Rahmen eines Ausgangs – außerhalb der Anstalt aufhalten, nicht zurückkommen. Das sind Gefangene, bei denen die Anstalt das Risiko von Straftaten als vertretbar gering eingeschätzt hat und die meist in absehbarer Zeit entlassen werden sollten. Jeder dieser Nichtrückkehrer ist bislang kurze Zeit später von der Polizei festgenommen und zurück in die Anstalt gebracht worden oder hat sich selbst wieder gestellt.

Gerade in der JVA Straubing konnte ich hautnah miterleben, wie groß das Medieninteresse an bestimmten Straftaten und Straftätern war und wie sich oft bei näherer Kenntnis des Falles ein ganz anderes Bild von Tat und Täter ergab als das, das in den Medien gezeichnet wurde. Presse und Öffentlichkeit waren besonders interessiert, wenn der Geschädigte prominent war, wie etwa der Modemacher Rudolph Moshammer, dessen Mörder in Straubing inhaftiert wurde. Die Medien stürzten sich auch auf Fälle, bei denen die Umstände der Tat besonders grausam waren, wie bei dem Inhaftierten, dessen Vater ihm bei der Entsorgung von Leichenteilen entlang der Autobahn half, oder dem jungen Mann, der mit einer Totenmaske aus dem Horrorfilm »Scream« nachts in ein Haus einstieg und ein zwölfjähriges Mädchen mit einem Küchenmesser ermordete. Im Boulevard wurde der Täter als »Totenkopf-Killer« bezeichnet. Oder der Transportunternehmer (der »Todesschütze von Dachau«), der im Gericht aus Hass auf die Justiz einen jungen Staatsanwalt erschossen hatte und danach den Richter töten wollte. Ein gesteigertes Interesse von Medien und Öffentlichkeit hat aber noch nie dazu geführt, dass sich das Strafrecht grundsätzlich in eine sinnvolle Richtung weiterentwickelt hätte. Das Interesse macht eben weitgehend an der Oberfläche halt. Zum Beispiel hätte man bei der Entlassung des sogenannten »Mittagsmörders« (er hatte fünf Menschen immer um die Mittagszeit herum getötet) nach etwa fünfzig (sic!) Jahren aus der JVA Straubing durchaus auch auf einer massenmedialen Ebene die Frage thematisieren können, was das denn für einen Sinn haben soll. Durch fünfzig Jahre Knast soll jemand auf ein strafloses Leben in Freiheit vorbereitet werden?

Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Gefangenen, ihre Biografien, ihre Straftaten und ihr Leben im Gefängnis. Die allermeisten von ihnen sind nicht so, wie man sich wohl einen Straftäter, geprägt durch Medien oder Krimis, vorstellt. Die wenigsten haben jemanden umgebracht, vergewaltigt oder finanziell in den Ruin getrieben. Es sind meist Menschen mit einer sehr schwierigen Kindheit, viele mit Heimerfahrung, mit Suchtproblemen und mit geringer Qualifikation. Die meisten Straftäter begehen eher kleinere Delikte, die sich irgendwann zu einer Haftstrafe summieren, und wer einmal auf dieser Schiene gelandet ist, kommt schwer wieder auf eine andere. Es sind Menschen wie der junge Mann, dem ich das Zeugnis für seinen erfolgreich absolvierten Hauptschulabschluss in Haft aushändigen durfte. Ein hochintelligenter, sehr sensibler Mensch, der vor seinem prügelnden Vater und der drogensüchtigen Mutter fliehen musste und ab seinem vierzehnten Lebensjahr auf der Straße gelebt hatte. Noch nach Jahren im Gefängnis hatte man das Gefühl, ihm die Kälte anzusehen, die ihm in Mark und Bein gekrochen war. Er hatte große Scheu vor anderen Menschen und hatte sie nur hin und wieder aufgesucht, um sich das Geld zu verdienen oder zu holen, das er zum Leben brauchte. Zwei- oder dreimal monatlich hatte er sich älteren Herren im Bereich des Bahnhofs für sexuelle Handlungen angeboten. Das so verdiente Geld reichte ihm meist zum Leben. Ab und zu hatte er auch etwas aus Supermärkten oder Kaufhäusern geklaut. Im Gefängnis verbüßte er eine mehrjährige Haftstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags. Er hatte einem älteren Herrn, den er auf der Bahnhofstoilette für zwanzig Euro mit der Hand befriedigte, eine fast volle Bierflasche mit großer Wucht auf den Kopf geschlagen. Vor Gericht hatte er ausgesagt, er habe sich gewehrt, weil der Mann ihn zu anderen sexuellen Handlungen drängen wollte. Der Geschädigte, der mehrere Monate brauchte, um sich von der schweren Kopfverletzung zu erholen, hatte dagegen ausgesagt, der junge Mann habe von ihm mehr Geld gefordert und, als er ihm das nicht gegeben hätte, unvermittelt zugeschlagen. Das Gericht glaubte dem älteren Herrn, und folgte auch der Behauptung des Staatsanwaltes, der Täter hätte mit dem Schlag den möglichen Tod des Opfers billigend in Kauf genommen. So kam er also ins Gefängnis und holte mit diesem äußerst prekären sozialen Hintergrund und unter den in vielerlei Hinsicht schwierigen Bedingungen der Haft seine schulische Ausbildung nach. Dennoch bleibt er ein Straftäter mit Hauptschulabschluss, auf den ein Großteil der Gesellschaft herabsieht.

In diesem Buch entspricht das Verhältnis der Geschichten, die sich mit den »schweren Fällen« beschäftigen, zu denen, die eher Kurzstrafige betreffen, nicht dem Verhältnis in der Realität. Zum einen hängt das mit meiner beruflichen Sozialisation zusammen. In meiner ersten Station, der JVA Amberg, von 2001 bis 2007, waren vor allem Gefangene mit mehrjährigen Haftstrafen, einige wenige sogar mit lebenslangen Freiheitsstrafen, untergebracht. Auch befand sich dort eine der ersten sozialtherapeutischen Abteilungen für schwere Sexualstraftäter. Die für die nächsten sieben Jahre folgende Station, die JVA Straubing, war und ist die Anstalt in Bayern, die vor allem für den Vollzug von langen und lebenslangen Freiheitsstrafen sowie die Sicherungsverwahrung zuständig ist. In beiden Anstalten waren auch viele Kurzstrafige inhaftiert, aber den Alltag prägten meist die anderen. Als Leiter der JVA Zeithain in Sachsen, in der Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren vollzogen werden, die Gefangenen aber im Durchschnitt zwischen ein und zwei Jahren verbüßen müssen, konnte ich schließlich auch diese doch andere »Klientel« und den Umgang mit ihr näher kennenlernen. In der von mir ein gutes halbes Jahr zusätzlich geleiteten JVA Torgau schließlich werden vor allem lange und lebenslange Haftstrafen vollzogen.

In der Arbeit mit diesen langjährigen Häftlingen haben sich also bei mir die meisten Geschichten »angesammelt«. Hinzu kommt, dass sich die Geschichten der Menschen, die zu kurzen Haftstrafen verurteilt worden sind, oft gleichen. Sie kommen meist aus ähnlichen Verhältnissen und haben vergleichbare »Karrieren« durchlaufen, bis sie am Ende im Gefängnis gelandet sind. Und schlussendlich kann vielleicht gerade anhand der Geschichten von Menschen, die außergewöhnlich Schlimmes getan haben, gezeigt werden, dass unsere Kategorien von Schuld und Vergeltung nicht geeignet sind, die soziale Wirklichkeit wiederzugeben, und noch weniger, sie zu gestalten.

Wenn hier im Rahmen der einzelnen Geschichten das Gefängnis als Institution kritisiert wird, dann soll doch ausdrücklich klargestellt werden, dass es nicht um Kritik an den Personen geht, die im beziehungsweise für den Strafvollzug und die Justiz allgemein arbeiten. Ich habe in allen Funktionen und hierarchischen Ebenen, bis hinauf zum Ministerium, engagierte und kompetente Kolleginnen und Kollegen kennengelernt.

Wenn man etwa an die Anstalten Straubing oder Torgau denkt, mit ihren über Hundert Jahre alten düsteren Hafthäusern, in die das Sonnenlicht kaum Zugang findet, und in denen einige Hundert Menschen untergebracht sind, die viele Jahre und Jahrzehnte dort verbringen müssen, dann kann man nur seinen Hut ziehen vor den Menschen, die dort, teilweise in zwölf aufeinanderfolgenden Schichten, bei Tag und bei Nacht ihren Dienst leisten. Kollegen, die zum Teil alleine für hundert und mehr Gefangene zuständig sind. Kollegen, die sich um Inhaftierte kümmern, von denen sich die Frau getrennt hat und die sich umbringen wollen, weil sie keine Aussicht in ihrem Leben sehen, außer der, weitere zehn Jahre in Haft verbringen zu müssen. Kollegen, die sich von psychisch kranken oder chronisch aggressiven Gefangenen zum hundertsten Male beleidigen oder bedrohen lassen müssen. Kollegen, die mit viel Aufwand zum großen Teil absurde, aber vor Gericht haltbare Begründungen dafür schreiben müssen, warum den Gefangenen mal wieder etwas abzuschlagen war, weil das von oben so vorgegeben wurde. Irgendwann entscheiden die Gerichte fast immer, dass den Gefangenen bestimmte Gegenstände ausgehändigt oder bestimmte Außenkontakte gewährt werden müssen.

Noch in den achtziger und neunziger Jahren hatten die Gefangenen zum Beispiel kein Recht, einen eigenen Fernseher in Besitz zu haben. Das wurde dann über Jahre, ja Jahrzehnte, in zahlreichen gerichtlichen Verfahren vom Strafvollzug vertreten, bis es irgendwann nicht mehr haltbar war. Nun befindet sich in jedem Haftraum ein Fernseher. Ähnliches galt für Schreibmaschinen, bei denen zur Korrekturmöglichkeit ein oder zwei Zeilen gespeichert werden können. Hier mussten wir jahrelang gegenüber den Gerichten argumentieren, dass diese Schreibmaschinen aus Sicherheitsgründen nicht zu genehmigen seien, weil so unerlaubt Nachrichten ausgetauscht werden könnten. Irgendwann waren dann aber gar keine anderen Schreibmaschinen mehr käuflich. Oder Fernsehsender wie VIVA, bei denen Zuschauer über ein durchs Bild laufendes Banner Grüße an ihre Freunde senden können. Der Empfang solcher Sender war verboten, denn so könnten Außenstehende unerlaubt Kontakt mit Inhaftierten aufnehmen. (»Servus Sepp in der JVA, könntest Du Dich bitte heute Nachmittag im Hof bereithalten, ich würde mit dem Hubschrauber kommen, Dich zu befreien.«) Eines Tages werden auch Handys in der Anstalt zugelassen werden müssen, und das Internet ohnehin. Bis es so weit ist, müssen aber qualifizierte Leute in den Anstalten, bei den Gerichten und unter den Inhaftierten und ihren rechtlichen Vertretern jahrelange aufwendige Rechtsstreitigkeiten durchführen.

Auch an solchen Beispielen lässt sich zeigen, wie sehr der Strafvollzug seiner Zeit hinterherhinkt. Mein Respekt gilt all den Kollegen, die das sehen und verstehen und dennoch nicht zynisch werden, sondern immer wieder versuchen, in einem System der Unvernunft die Stimme der Vernunft und auch der Menschlichkeit zu erheben. Mein Respekt gilt Kollegen, die in ihrer Freizeit in die Anstalt kommen, um eine Schachgruppe für Gefangene zu leiten. Kollegen, die am Tag dutzende ablehnende Entscheidungen mitteilen müssen, die sie selbst nicht getroffen haben, dafür aber die Frustration der Gefangenen abbekommen, und die am Ende eines harten Arbeitstages noch seitenweise Stellungnahmen für Anstaltsleitung, Ministerium, Anwälte und andere schreiben müssen, um sich für alles zu rechtfertigen, was sie getan und nicht getan haben. Kollegen in Anstaltsleitungen und Ministerien, die politischen Druck zugunsten einer sinnvollen Sachbehandlung aushalten. Uniformierte Kollegen, die in den Medien verächtlich als Wärter bezeichnet werden. Menschen, die unmittelbare Verantwortung für andere übernehmen. Respekt auch für den sächsischen Justizvollzug, der mit sucht-, kreativ-, garten- und sporttherapeutischen Maßnahmen, mit tiergestützten Angeboten oder mit der Etablierung einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit für eine größere Transparenz des Lebens hinter Gittern immer neue Wege sucht, den Vollzug so sinnvoll wie möglich zu gestalten. Und das alles, ohne erst vom Bundesverfassungsgericht und anderen Gerichten dazu verpflichtet werden zu müssen.