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Brian Christian | Tom Griffiths

ALGORITHMEN FÜR DEN ALLTAG

Brian Christian | Tom Griffiths

ALGORITHMEN FÜR DEN ALLTAG

Die Wissenschaft der perfekten Entscheidung – vom Aufräumen bis zur Partnersuche

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

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1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 bei Henry Holt and Company, LLC, New York, USA, unter dem Titel Algorithms to Live By. The Computer Science of Human Decisions. Copyright © 2016 by Brian Christian and Tom Griffiths. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Stephan Gebauer

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: grmarc/Shutterstock, Oxanne/Shutterstock

Layout & Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1131-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0784-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0785-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

1 OPTIMAL STOPPEN

2 ERKUNDEN UND VERWERTEN

3 SORTIEREN

4 ZWISCHENSPEICHERN

5 ABLAUFPLANUNG

6 DIE BAYESSCHE REGEL

7 ÜBERANPASSUNG

8 ENTSPANNUNG

9 ZUFÄLLIGKEIT

10 VERNETZUNG

11 SPIELTHEORIE

SCHLUSS

BIBLIOGRAFIE

DANKSAGUNGEN

ÜBER DIE AUTOREN

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

ALGORITHMEN FÜRS LEBEN

Stellen wir uns vor, jemand sucht eine Wohnung in San Francisco – in keiner amerikanischen Stadt dürfte es derart schwierig sein, eine Unterkunft zu finden. Der boomende Technologiesektor und das strenge Baurecht haben dafür gesorgt, dass die Stadt an der Pazifikküste so teuer wie New York ist und einen härter umkämpften Wohnungsmarkt hat als die Stadt am anderen Ende des Kontinents. Neue Wohnungsanzeigen verschwinden nach wenigen Minuten wieder, Sammelbesichtigungen arten zu Massenaufläufen aus, und oft landen die Schlüssel in den Händen dessen, der es schafft, dem Vermieter als Erster einen Scheck über die Kaution in die Hand zu drücken.

Auf einem derart erbittert umkämpften Markt hat man kaum Zeit für jene Art von Recherche und Überlegung, die in der Theorie das Verhalten des rationalen Konsumenten prägen sollte. Anders als Besucher eines Einkaufszentrums oder Online-Kunden, die verschiedene Optionen vergleichen können, bevor sie eine Entscheidung fällen, muss sich ein Neuankömmling in San Francisco augenblicklich entscheiden: Er kann diese Wohnung nehmen und darauf verzichten, andere Optionen zu sehen, oder er kann sich für immer von dieser Wohnung verabschieden.

Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass der Wohnungssuchende nur ein Ziel hat: Er will seine Chance erhöhen, sich die beste verfügbare Wohnung zu sichern. Er will das doppelte Bedauern darüber, zwischen der Skylla der »entgangenen Gelegenheit« und der Charybdis der »nie gesehenen Möglichkeit« gefangen zu werden, auf das absolute Mindestmaß verringern. Dabei gerät er sofort in ein Dilemma: Wie kann er wissen, dass die Wohnung, die er gerade besichtigt, tatsächlich die Beste ist, wenn er keine Vergleichswerte hat, um sie zu beurteilen? Und wie kann er diese Vergleichswerte finden, ohne sich einige Wohnungen anzusehen – und sie sich entgehen zu lassen? Je mehr Information er sammelt, desto eher wird er das beste Angebot erkennen, wenn er es sieht – aber gleichzeitig wird es umso wahrscheinlicher, dass er sich dieses Angebot bereits hat entgehen lassen.

Was soll unser Wohnungssuchender also tun? Wie kann er eine fundierte Entscheidung fällen, wenn sich seine Versuche, sich richtig zu informieren, negativ auf das Ergebnis auswirken? Es ist eine quälende, beinahe paradoxe Situation. Angesichts eines solchen Problems werden die meisten Leute intuitiv erklären, dass man ein Gleichgewicht zwischen ausreichender Suche und Entscheidungsfreudigkeit finden muss – dass man sich genug Wohnungen ansehen muss, um einen Standard definieren zu können, um an diesem Punkt die Erste zu nehmen, die diesem Standard entspricht. Und tatsächlich ist die Idee des Gleichgewichts vollkommen richtig. Aber die meisten Leute können nicht klar bestimmen, worin das Gleichgewicht besteht. Zum Glück gibt es eine Antwort auf die Frage, wo wir es finden können.

Die Antwort ist: 37 Prozent.

Um die größte Chance zu haben, die beste Wohnung zu finden, muss der Wohnungssuchende 37 Prozent der Suche (das heißt elf Tage, wenn er sich einen Monat Zeit dafür gibt) damit verbringen, unverbindlich Optionen zu prüfen. Das Scheckheft kann er in dieser Zeit zu Hause lassen, denn es geht nur darum, seinen Standard festzulegen. Aber wenn er 37 Prozent der Suche hinter sich hat, muss er das Scheckheft mitnehmen und bereit sein, sich augenblicklich für die erste Wohnung zu entscheiden, die besser ist als alle, die er bis dahin gesehen hat. Das ist nicht bloß ein intuitiv befriedigender Kompromiss zwischen unverbindlicher Suche und dem Wagnis der Entscheidung. Es ist die nachweislich optimale Lösung.

Das wissen wir, weil die Wohnungssuche zu einer Kategorie von mathematischen Problemen gehört, die als »optimale Stopp-Probleme« bezeichnet werden. Die 37-Prozent-Regel gibt eine Abfolge einfacher Schritte zur Lösung solcher Probleme vor – die Informatiker bezeichnen dies als »Algorithmus«. Und wie sich herausstellt, ist die Wohnungssuche nur eines von vielen optimalen Stopp-Problemen, die wir im Alltag lösen müssen. Der Frage, ob wir eine von mehreren Optionen wählen oder ausschließen sollen, begegnen wir in unserem Leben immer wieder unter verschiedenen Umständen. Wie oft sollen wir um den Block fahren, bevor wir uns für eine Parklücke entscheiden? Wie lange sollen wir ein riskantes Geschäft fortsetzen, bevor wir unseren Gewinn einstreichen und aussteigen? Wie lange sollen wir auf ein besseres Angebot für unser Haus oder unser Auto warten?

Mit demselben Problem sind wir in einem besonders heiklen Bereich konfrontiert, nämlich bei der Partnersuche. Die optimale Stopp-Theorie ist die Wissenschaft von der Serienmonogamie.

Es gibt einfache Algorithmen, die uns nicht nur bei der Wohnungssuche, sondern in allen Lebenssituationen helfen können, in denen wir mit der Frage konfrontiert sind, welches der geeignete Augenblick ist, um eine Suche zu beenden. Derartige Probleme müssen wir jeden Tag lösen – obwohl die Dichter natürlich mehr über die Irrungen und Wirrungen der Parnersuche als über die Parkplatzsuche geschrieben haben –, und in einigen Fällen quälen wir uns sehr mit der Entscheidung. Aber diese Quälerei muss nicht sein. Zumindest mathematisch sind diese Probleme gelöst.

Jeder gestresste Mieter, Autofahrer und Partnersuchende, den wir in einer normalen Woche in unserer Umgebung sehen, versucht im Grunde, das Rad neu zu erfinden. Diese Leute brauchen keinen Therapeuten, sondern einen Algorithmus.

Der Therapeut sagt ihnen, dass sie das richtige Gleichgewicht zwischen Impulsivität und übermäßiger Grübelei finden sollen.

Der Algorithmus sagt ihnen, dass sie das richtige Gleichgewicht bei 37 Prozent finden.

*

Es gibt einige Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind, Probleme, die direkt der Tatsache entspringen, dass unser Leben räumlich und zeitlich begrenzt ist. Was sollten wir an einem Tag oder in einem Jahrzehnt tun oder nicht tun? Welches Maß an Unordnung ist erträglich, und wie viel Ordnung ist übertrieben? Welches Verhältnis zwischen neuen Erfahrungen und liebgewonnenen Gewohnheiten ist eine Gewähr für ein erfülltes Leben?

Man könnte meinen, derartige Probleme beträfen nur das menschliche Leben, aber das stimmt nicht. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ringen die Informatiker mit den Gegenstücken dieser Alltagsprobleme und haben sie in vielen Fällen gelöst. Wie soll ein Computerprozessor seine »Aufmerksamkeit« verteilen, um alle Aufgaben, die ihm der Benutzer stellt, mit möglichst geringem Overhead-Aufwand und in möglichst kurzer Zeit erfüllen zu können? Wann sollte er von einer Aufgabe zur anderen wechseln, und wie viele Aufgaben sollte er überhaupt annehmen? Wie kann er seine begrenzten Speicherressourcen am besten nutzen? Sollte er mehr Daten sammeln oder anhand der Daten, die er bereits hat, eine Entscheidung fällen? Für einen Menschen ist es eine Herausforderung, den Tag richtig zu nutzen, aber Computer sind in der Lage, Millisekunden effizient zu nutzen. Und wir können sehr viel daraus lernen, wie sie das tun.

»Algorithmen fürs Leben« mag wie eine sonderbare Juxtaposition klingen. Viele Leute denken bei dem Wort »Algorithmus« an die unduchschaubare Funktionsweise von Big Data, an obskure Machenschaften eines allmächtigen Staats und großer Unternehmen: Algorithmen sind in ihren Augen ein zentraler Bestandteil der Infrastruktur der modernen Welt, aber kaum eine Quelle praktischer Anleitungen für die Bewältigung des menschlichen Alltags. In Wahrheit ist ein Algorithmus nichts anderes als eine endliche Abfolge von Schritten, die man befolgen muss, um ein Problem zu lösen, und Algorithmen sind sehr viel älter als der Computer und keineswegs auf seine Funktionsweise beschränkt. Algorithmen wurden von Menschen verwendet, lange bevor Maschinen damit zu arbeiten begannen.

Das Wort »Algorithmus« ist vom Namen des persischen Mathematikers al-Chwarizmi abgeleitet, der im 9. Jahrhundert ein Buch über Rechenverfahren schrieb. (Der Titel des Buchs war Hisab Al-dschabr wa’l-muqabala – und das »Al-Dschabr« ist die Quelle unseres Worts »Algebra«.1) Die ältesten bekannten mathematischen Algorithmen sind jedoch deutlich älter als al-Chwarizmis Werk: Auf einer viertausend Jahre alten sumerischen Tontafel, die in der Nähe von Bagdad gefunden wurde, ist eine Methode für die schriftliche Division beschrieben.2

Algorithmen gibt es jedoch nicht nur in der Mathematik. Wenn man ein Brot nach Rezept backt, befolgt man einen Algorithmus. Wenn man einen Pullover nach einem Muster strickt, befolgt man einen Algorithmus. Wenn man einen Feuerstein mit einer Abfolge präziser Schläge mit einem Stück Holz oder einem Geweihstück bearbeitet – ein unverzichtbarer Arbeitsschritt bei der Anfertigung von Steinwerkzeugen –, befolgt man einen Algorithmus, was zeigt, dass Algorithmen seit der Steinzeit ein fester Bestandteil der menschlichen Technologie sind.

*

In diesem Buch befassen wir uns mit menschengemachten Algorithmen – mit der Suche nach besseren Lösungen für die Probleme, mit denen wir Menschen jeden Tag konfrontiert werden. Die Betrachtung des Alltagslebens durch die Brille der Informatiker hat zahlreiche Auswirkungen. Zunächst einmal liefert sie uns praktische, konkrete Vorschläge dazu, wie wir bestimmte Probleme lösen können. Die optimale Stopp-Theorie sagt uns, wie lange wir suchen und wann wir uns entscheiden sollen. Der Explore/Exploit-Tradeoff sagt uns, wie wir ein Gleichgewicht zwischen der Erkundung von Neuem und der Verwertung des Bekannten herstellen können. Die Sortiertheorie sagt uns, ob und wie wir unser Büro ordnen sollen. Die Caching-Theorie sagt uns, wie wir unsere Schränke am besten füllen können. Die Scheduling-Theorie sagt uns, wie wir uns unsere Zeit einteilen können.

Auf der nächsten Ebene liefert uns die Informatik ein Vokabular zur Beschreibung der Grundprinzipien, die in jedem dieser Bereiche am Werk sind. Wie es Carl Sagan ausgedrückt hat: »Wissenschaft ist weniger das gesammelte Wissen, sondern vielmehr eine Art zu denken.«3 Selbst dann, wenn das Leben so chaotisch ist, dass uns eine strikt numerische Analyse oder eine klare Lösung unmöglich scheint, eröffnen uns Ansätze und Konzepte, die auf eine einfachere Form eines Problems angewandt werden können, eine Möglichkeit, die grundlegenden Zusammenhänge zu verstehen und Fortschritte zu erzielen.

Und ganz allgemein kann uns ein Blick durch die Brille des Informatikers viel über die Natur des menschlichen Verstands, die Bedeutung der Rationalität und die älteste aller Fragen verraten: Wie sollen wir leben? Indem wir die Kognition als ein Mittel zur Lösung der grundlegenden Berechnungsprobleme betrachten, mit denen uns unsere Umwelt konfrontiert, gewinnen wir ein vollkommen anderes Bild von der menschlichen Rationalität.4

Der Gedanke, das Studium der Abläufe in Computern könne Aufschlüsse darüber liefern, wie wir denken und entscheiden, was wir glauben und wie wir uns verhalten sollten, dürfte auf viele Menschen nicht nur wie eine extrem verengte Vorstellung, sondern geradezu irregeleitet wirken. Selbst wenn wir von der Informatik etwas darüber lernen können, wie wir denken und handeln: Wer möchte das hören? Wenn man die Künstliche Intelligenz und die Roboter in der Science-Fiction sieht, wirkt ein solches Leben kaum lebenswert.

Das liegt teilweise daran, dass wir uns, wenn wir an Computer denken, kalte, mechanische, deterministische Systeme vorstellen: Maschinen, die eine strikt deduktive Logik anwenden, durch eine vollständige Berechnung aller Optionen zu ihren Entscheidungen gelangen und genau die richtige Antwort ausspucken, egal wie lange und mühsam sie darüber nachdenken müssen. Tatsächlich hatte der Mensch, der sich als Erster einen Computer vorstellte, im Grunde so eine Maschine im Sinn. Alan Turing definierte das Konzept der Computerberechnung anhand der Analogie zu einem menschlichen Mathematiker, der eine lange Berechnung sorgfältig Schritt für Schritt durchgeht und zu einem unzweifelhaft richtigen Ergebnis gelangt.5

Daher kann es überraschend wirken, dass moderne Computer angesichts eines schwierigen Problems in Wahrheit nicht so vorgehen. Normale Berechnungen sind natürlich keine Herausforderung für einen modernen Computer. Schwierig sind für ihn Aufgaben wie die Kommunikation mit Menschen, die Reparatur beschädigter Dateien oder eine Go-Partie, das heißt Probleme, bei denen es keine klaren Regeln gibt, ein Teil der benötigten Information fehlt oder die Ermittlung der exakt richtigen Antwort die Berechnung einer astronomischen Zahl von Möglichkeiten erfordern würde. Und die Algorithmen, die entwickelt worden sind, um die schwierigsten Probleme zu lösen, haben den Computer aus der völligen Abhängigkeit von der erschöpfenden Berechnung befreit. Um Aufgaben zu lösen, die sich in der realen Welt stellen, müssen Computer lernen, mit dem Zufall umzugehen, zwischen Zeitaufwand und Genauigkeit abzuwägen und mit Annäherungswerten zu arbeiten.

Die Computer werden besser darin, Probleme der realen Welt zu bewältigen, und arbeiten dabei nicht nur mit Algorithmen, die wir in unserem Alltagsleben nutzen können: Sie liefern uns auch einen besseren Maßstab für das Verständnis der menschlichen Kognition. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat uns die Verhaltensökonomie eine wenig schmeichelhafte Geschichte über das menschliche Wesen erzählt: Sie sagt uns, dass wir irrational und fehleranfällig sind, was im Wesentlichen an der störungsanfälligen, idiosynkratischen Hardware des menschlichen Gehirns liegt.6 Diese selbstkritische Sichtweise findet eine wachsende Anhängerschaft, aber es gibt einige ungeklärte Fragen. Warum bewältigen Vierjährige zahlreiche kognitive Aufgaben in Bereichen wie Vorstellungskraft, Sprache und folgerichtiges Denken immer noch besser als Supercomputer, die viele Millionen Dollar kosten?

Die von der Computerwissenschaft gefundenen Lösungen für Alltagsprobleme zeichnen ein anderes Bild des menschlichen Verstands. Das Leben ist voller Probleme, die einfach schwer sind. Und die Fehler, die Menschen bei ihren Versuchen machen, Probleme zu bewältigen, verraten uns in vielen Fällen mehr über die wesenhafte Vertracktheit des Problems als über die Unzulänglichkeit des menschlichen Gehirns. Wenn wir die Welt algorithmisch betrachten und etwas über die Grundstruktur unserer Probleme und die Eigenschaften geeigneter Lösungen in Erfahrung bringen, stellen wir fest, dass unser Verstand in Wahrheit sehr gut funktioniert, und verstehen besser, warum wir Fehler begehen.

Tatsächlich werden wir Menschen offenbar unentwegt mit einigen der kniffligsten Probleme konfrontiert, mit denen sich die Informatik beschäftigt. Wir müssen oft angesichts von Ungewissheit, Zeitmangel, unvollständiger Information und sich rasch wandelnden Bedingungen Entscheidungen fällen. In manchen Fällen ist es den Computerwissenschaftlern bisher nicht gelungen, effiziente Algorithmen zu entwickeln, die stets die richtige Lösung für diese Probleme liefern. Und in bestimmten Fällen existieren solche Algorithmen vermutlich nicht.

Doch selbst dort, wo keine perfekten Algorithmen gefunden wurden, hat die Auseinandersetzung mehrerer Generationen von Informatikern mit den schwierigsten Problemen der realen Welt wichtige Erkenntnisse geliefert. Diese mühsam gewonnenen Lösungsansätze widersprechen unseren Vorstellungen von der Rationalität und haben wenig Ähnlichkeit mit den klaren Anweisungen, mit denen ein Mathematiker versucht, die Welt in eine Ordnung zu zwingen. Diese Lösungsvorschläge lauten: Prüfe nicht immer sämtliche Optionen. Strebe nicht unbedingt jedes Mal das scheinbar beste Ergebnis an. Richte gelegentlich ein Durcheinander an. Reise mit leichtem Gepäck. Lasse Dinge unerledigt. Vertraue deinem Gespür und denke nicht zu lange nach. Entspanne dich. Wirf eine Münze. Vergib, aber vergiss nicht. Bleibe dir treu.

Angesichts dessen wirkt die Aussicht, sich im Leben an den Erkenntnissen der Informatik zu orientieren, nicht mehr ganz so erschreckend. Und anders als bei den meisten Ratschlägen ist der Nutzen dieser Empfehlungen bewiesen.

*

So wie die Entwicklung von Algorithmen für Computer ursprünglich ein zwischen verschiedenen Disziplinen angesiedeltes Forschungsgebiet war – eine sonderbare Aktivität, die halb Mathematik und halb Ingenieurswissenschaft war –, ist auch die Entwicklung von Algorithmen für das menschliche Leben ein Gebiet, das in keiner Disziplin beheimatet ist. Das Algorithmendesign stützt sich heute nicht mehr ausschließlich auf Informatik, Mathematik und Ingenieurswissenschaft, sondern auch auf verwandete Gebiete wie Statistik und Operations Research. Und wenn wir herausfinden wollen, welcher Zusammenhang zwischen für Maschinen entwickelten Algorithmen und der menschlichen Entscheidungsfindung besteht, müssen wir auch die Erkenntnisse von Kognitionsforschung, Psychologie, Ökonomie und anderen Disziplinen nutzen.

Die Autoren sind mit diesem interdisziplinären Territorium vertraut. Brian studierte Informatik und Philosophie, bevor er sich der Anglistik zuwandte und schließlich eine Tätigkeit am Schnittpunkt der drei Felder aufnahm. Tom studierte Psychologie und Statistik, bevor er Professor an der Universität Berkeley wurde, wo er sich vor allem mit der Beziehung zwischen der menschlichen Kognition und den Abläufen in Computern beschäftigt. Aber niemand kann ein Experte auf sämtlichen Gebieten sein, die für die Entwicklung besserer Algorithmen für das menschliche Leben wichtig sind. Auf unserer Suche nach Algorithmen fürs Leben sprachen wir daher mit den Personen, die im letzten halben Jahrhundert einige der berühmtesten Algorithmen entdeckten. Und wir fragten diese Personen, die zu den intelligentesten Menschen der Welt zählen, wie sich ihre Forschung auf ihren Zugang zu ihrem eigenen Leben ausgewirkt hat – von der Partnersuche bis zur besten Methode, ihre Socken zu sortieren.

Auf den folgenden Seiten werden wir uns mit einigen der größten Herausforderungen beschäftigen, mit denen Computer und der menschliche Geist konfrontiert sind: Wie kann man begrenzten Platz, begrenzte Zeit, begrenzte Aufmerksamkeit, unbekannte Unbekannte, unvollständige Information und eine unvorhersehbare Zukunft bewältigen? Wie kann man das mit Anmut und Zuversicht tun? Und wie kann man es in einer Gemeinschaft tun, deren Mitglieder alle gleichzeitig dasselbe versuchen? Wir werden uns mit der grundlegenden mathematischen Struktur dieser Herausforderungen befassen und die Frage untersuchen, wie Computer – teilweise auf ganz andere Art, als wir uns vorstellen – so ausgelegt werden, dass sie diese Aufgaben möglichst gut bewältigen können. Und wir werden mehr darüber lernen, wie der menschliche Verstand funktioniert: Wir werden uns die verschiedenen, aber eng verflochtenen Wege ansehen, die er wählt, um diese Probleme in Angriff zu nehmen und diese Beschränkungen zu bewältigen. So werden wir nicht nur konkrete Lehren für den Umgang mit alltäglichen Problemen ziehen. Wir werden nicht nur die eleganten Strukturen, die sich hinter den komplexesten menschlichen Dilemmata verbergen, in einem neuen Licht sehen und erkennen, dass die Mühen des menschlichen Verstands und jene des Computers große Ähnlichkeit haben. Wir werden auch, was noch bedeutsamer ist, ein neues Vokabular für das Verständnis der uns umgebenden Welt entwickeln und etwas wirklich Neues über uns selbst lernen.

1
OPTIMAL STOPPEN

WANN MAN AUFHÖREN SOLLTE ZU SUCHEN

Zwar leiten alle Christen ihre Hochzeitseinladung mit der feierlichen Erklärung ein, daß sie einem besonderen göttlichen Ratschluß zufolge in die Ehe treten. Ich möchte das aber – als Philosoph – gerne mit Ihnen, dem großen weisen Manne, eingehender besprechen …

Johannes Kepler7

Wenn Sie Mr. Martin jedem anderen Menschen vorziehen, wenn Sie ihn netter finden als alle Männer, denen Sie bisher begegnet sind, warum sollten Sie zögern?

Jane Austen, Emma

Das Problem ist so alltäglich, dass die Vertrauenslehrer an den amerikanischen Universitäten eine eigene Bezeichnung dafür haben: Sie nennen es sehr schonungslos den »turkey drop«.8 Paare, die seit der Schule zusammen sind, kommen im ersten Studienjahr zu Thanksgiving nach Hause (daher wird »der Truthahn fallen gelassen«) und machen sich vier Tage später als Singles wieder auf den Weg zurück ins College.

Brian war beunruhigt, als er sich im ersten Studienjahr an seine Beraterin wandte. Seine Freundin aus der Highschool studierte an einer anderen Universität, und es lagen mehrere Bundesstaaten zwischen ihnen. Die Distanz machte den beiden zu schaffen. Sie mussten sich auch eine komplexere, eher philosophische Frage stellen: Wie gut war ihre Beziehung eigentlich? Da dies ihre erste Beziehung war, hatten sie keine Vergleichsmöglichkeiten. Brians Beraterin sah darin ein klassisches Freshman-Dilemma und gab ihm einen überraschend nüchternen Rat: »Sammeln Sie Daten.«

Jeder, der Serienmonogamie betreibt, ist mit einem grundlegenden, unausweichlichen Problem konfrontiert: An welchem Punkt habe ich genug Menschen kennengelernt, um zu wissen, welcher am besten zu mir passt? Und was, wenn mich die Sammlung der für diese Erkenntnis benötigten Daten die Beziehung zu eben dieser Person kostet? Dies scheint das große Dilemma der Liebe zu sein.

Wie wir gesehen haben, ist dieses Dilemma, diese verzweifelte Frage des gepeinigten Studienanfängers, das, was die Mathematiker als »optimales Stopp-Problem« bezeichnen, und möglicherweise gibt es sogar eine Antwort auf diese Frage: 37 Prozent.

Natürlich kommt es darauf an, welche Annahmen man in Bezug auf die Liebe anzustellen bereit ist.

DAS SEKRETÄRINNEN-PROBLEM

Bei einem optimalen Stopp-Problem besteht das zentrale Dilemma nicht in der Frage, welche Option man wählen soll, sondern darin, wie viele Optionen man in Betracht ziehen soll.9 Mit derartigen Problemen sind nicht nur Verliebte und Mieter konfrontiert, sondern auch für Autofahrer, Hauseigentümer, Einbrecher und andere.

Die 37-Prozent-Regela ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem berühmtesten optimalen Stopp-Problem, das unter der Bezeichnung »Sekretärinnenproblem« bekannt ist.10 Die Ausgangslage ähnelt der im Dilemma des Wohnungssuchenden, mit dem wir uns in der Einleitung beschäftigt haben. Nehmen wir an, wir führen Bewerbungsgespräche mit einer Reihe von Kandidaten für eine Sekretärinnenstelle und wollen die Wahrscheinlichkeit maximieren, dass es uns gelingen wird, die beste Bewerberin auszuwählen. Wir wissen nicht, wie wir die einzelnen Bewerberinnen benoten sollen, aber wir können problemlos beurteilen, welche wir bevorzugen. (Ein Mathematiker würde sagen, dass wir nur Zugang zu den Ordnungszahlen haben, das heißt zum relativen Rang jeder Bewerberin verglichen mit allen anderen, während uns die Kardinalzahlen, das heißt die Einstufung in einer allgemeinen Skala, unbekannt sind.) Wir beginnen, die Bewerberinnen in beliebiger Reihenfolge zu interviewen. Wir können jederzeit einer Kandidatin die Stelle anbieten, und sie wird den Job garantiert annehmen, womit die Suche beendet ist. Auf der anderen Seite haben wir in dem Moment, in dem wir uns entschließen, eine Bewerberin nicht einzustellen, keine Möglichkeit mehr, zu dieser Kandidatin zurückzukehren.

Es wird allgemein angenommen, dass das Sekretärinnenproblem erstmals im Februar 1960 in der Zeitschrift Scientific American beschrieben wurde, wo sich Martin Gardner in seiner beliebten Kolumne zu mathematischen Knobeleien damit befasste (allerdings ohne auf Sekretärinnen Bezug zu nehmen).11 Die Ursprünge des Problems sind jedoch überraschend geheimnisvoll.12 Wir stießen bei einer eigenen Suche eigentlich nur auf Spekulationen, aber dann entschlossen wir uns zu einer unerwartet praktischen Detektivarbeit: Wir fuhren im Auto nach Stanford, um im Archiv die Schachteln auszugraben, in denen Gardners Korrespondenz aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren aufbewahrt wird. Die Lektüre von Papierkorrespondenz hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Belauschen eines Telefongesprächs: Man hört nur die Person an einem Ende der Leitung sprechen, während man auf die Äußerungen der anderen Seite nur aus den Worten der belauschten Person schließen kann. Bei unserer Recherche fanden wir nur die Antworten auf die Briefe, in denen Gardner vor mehr als einem halben Jahrhundert offenbar über seine Erkenntnisse zu den Ursprüngen des Problems berichtet hatte. Je mehr wir lasen, desto verworrener und unklarer wurde die Geschichte.

Der Harvard-Mathematiker Frederick Mosteller berichtete im Jahr 1966, dass ihm sein Kollege Andrew Gleason elf Jahre früher von dem Problem erzählt hatte.13 Gleason hatte seinerseits von jemand anderem davon gehört. Leo Moser von der University of Alberta schrieb in einem Brief, er habe in »einigen Notizen« von R. E. Gaskell von Boeing davon gelesen, der seinerseits einen Kollegen als Quelle nannte. Roger Pinkham von der Rutgers University schrieb, er habe erstmals im Jahr 1955 von dem Mathematiker J. Shoenfield von der Duke University über das Problem gehört, »und wenn ich mich richtig erinnere, hatte ihm jemand in Michigan davon erzählt«.14

Dieser »Jemand« in Michigan war mit einiger Sicherheit ein Mann namens Merrill Flood. Flood ist außerhalb der Mathematik kaum bekannt, aber wenn man sich mit der Computerwissenschaft beschäftigt, stößt man fast zwangsläufig auf seinen Einfluss.15 Er war derjenige, der das Problem des Handelsreisenden bekannt machte (mit dem wir uns in Kapitel 8 eingehender befassen werden), er entwickelte das Gefangenendilemma (Kapitel 11), und möglicherweise stammt sogar der Terminus »Software« von ihm. Im Jahr 1958 war Flood nachweislich der Erste, der die 37-Prozent-Regel beschrieb, und er erklärte, sich seit 1949 mit dem Problem beschäftigt zu haben, wobei er selbst jedoch auf die Beiträge mehrerer anderer Mathematiker verwies.16

Wie dem auch sei, das Sekretärinnenproblem erwies sich als beinahe perfektes mathematisches Rätsel: einfach zu erklären, teuflisch schwer zu lösen, mit einer knappen, prägnanten Antwort und verlockenden Implikationen. Die Folge war, dass es sich in den Fünfzigerjahren wie ein Buschbrand in der mathematischen Gemeinde ausbreitete und dank Gardners Kolumne im Jahr 1960 das Interesse der breiten Öffentlichkeit weckte. In den Achtzigerjahren waren das Problem und seine Abwandlungen Gegenstand derart vieler Analysen, dass es in wissenschaftlichen Arbeiten als eigener Untersuchungsbereich behandelt wurde.

Was die Sekretärinnen anbelangt, so ist es vergnüglich zu beobachten, wie jedes kulturelle Umfeld formalen Systemen einen eigenen anthropologischen Anstrich gibt. Nehmen wir zum Beispiel das Schachspiel, das wir mit Bildern aus dem mittelalterlichen Europa verbinden, obwohl das Spiel in Wahrheit seinen Ursprung im Indien des 8. Jahrhunderts hat. Es wurde im 15. Jahrhundert auf plumpe Art »europäisiert«: Der Schah wurde zum König, der Visier zur Königin und der Elefant zum Boten/Läufer (im Englischen zum Bischof). Auch die optimalen Stopp-Probleme gibt es in verschiedenen Inkarnationen, die jeweils Aufschluss über die zu einer gegebenen Zeit vorherrschenden Bedingungen geben. Im 19. Jahrhundert wurden derartige Probleme anhand von barocken Verlosungen und jungen Frauen veranschaulicht, die einen Gemahl auswählen sollten. Anfang des 20. Jahrhundert tauchten Reisende auf, die entlang ihrer Fahrtroute nach Hotels suchten, und Männer hielten nach einer geeigneten Braut Ausschau. Und in der von Männern dominierten Bürowelt der Nachkriegszeit suchten Manager eine Sekretärin. Die erste nachgewiesene Erwähnung des »Sekretärinnenproblems« scheint ein Artikel aus dem Jahr 1964 zu sein, und irgendwie blieb diese Bezeichnung hängen.17

Woher die 37 Prozent?

Bei der Suche nach einer guten Sekretärin können wir zwei Fehler begehen: Wir können die Suche zu früh beenden, und wir können sie zu spät beenden. Hören wir zu früh auf zu suchen, so bleibt die beste Bewerberin unentdeckt. Hören wir zu spät auf zu suchen, so warten wir auf eine bessere Bewerberin, die nicht existiert. Die optimale Strategie erfordert also, dass wir das richtige Gleichgewicht finden und eine Gratwanderung zwischen übermäßig langer und unzureichender Suche bewältigen.

Wenn wir uns nur mit der besten Kandidatin zufriedengeben werden, ist klar, dass wir im Verlauf des Auswahlprozesses nicht einmal daran denken dürfen, eine Bewerberin einzustellen, die nicht die beste bisher begutachtete ist. Aber es genügt auch nicht, dass sie die bisher beste ist, denn die erste Bewerberin wird per definitionem selbstverständlich ebenfalls die bis dahin beste mögliche Wahl sein. Allgemein dürfen wir annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir »bisher beste« Bewerberinnen finden, im Lauf des Auswahlprozesses sinken wird. Zum Beispiel liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die zweite Bewerberin die beste bisher begutachtete sein wird, bei 50 zu 50, aber bei der fünften Bewerberin sinkt diese Wahrscheinlichkeit auf 1 zu 5, bei der sechsten auf 1 zu 6 usw. Die Folge ist, dass die »bisher besten« Bewerberinnen immer beeindruckender sein werden, je länger die Suche dauert (definitionsgemäß werden sie besser sein als alle, die wir vorher gesehen haben) – aber auf der anderen Seite werden wir solche Bewerberinnen immer seltener zu Gesicht bekommen.

Nun wissen wir also, dass es voreilig wäre, würden wir uns für die erste bisher beste Bewerberin (das heißt für die erste Bewerberin überhaupt) entscheiden. Wenn es hundert Bewerbungen um den Posten gibt, wäre es auch überhastet, der nächsten bisher besten Bewerberin die Stelle anzubieten, nur weil sie besser als die Erste ist. Wie sollen wir also vorgehen?

Es gibt eine Reihe möglicher Strategien. Beispielsweise könnten wir der dritten Bewerberin, die besser ist als alle zuvor begutachteten, den Posten anbieten – oder vielleicht der vierten. Oder wir könnten uns für die bisher beste Kandidatin entscheiden, mit der wir sprechen, nachdem wir zahlreiche Bewerberinnen gesehen haben, die nicht besser als die vorhergehenden waren.

Doch wie sich herausstellt, ist keine dieser relativ vernünftigen Strategien die beste. Stattdessen ist die optimale Lösung das, was wir als Regel »Erst schauen, dann die Entscheidung wagen« (Look-Then-Leap) bezeichnen können: Wir legen einen bestimmten Zeitraum für das »Schauen«, für Datensammlung und Abwägung der Optionen fest und verpflichten uns dazu, in dieser Zeit keine Bewerberin auszuwählen, so überzeugend sie auch sein mag. Nach Ablauf dieser Zeit beginnt die »Wagnis«-Phase, in der wir uns augenblicklich für die erste Kandidatin entscheiden, die besser ist als alle zuvor in der Phase des »Schauens« interviewten.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Regel »Erst schauen, dann die Entscheidung wagen« aus der Beschäftigung mit den kleinsten Pools von Bewerberinnen hervorgeht. Wenn es nur eine Bewerberin gibt, ist das Problem leicht zu lösen: Wir stellen sie natürlich ein! Wenn wir zwei Bewerberinnen haben, liegt die Erfolgschance bei 50 zu 50, egal was wir tun. Wir können die erste Bewerberin einstellen (die in der Hälfte der Fälle auch die bessere sein wird), oder wir können die Erste ablehnen und automatisch die Zweite einstellen (die ebenfalls in der Hälfte der Fälle die bessere sein wird).

In dem Moment, in dem wir eine dritte Bewerberin hinzufügen, wird es interessant. Wenn wir unsere Sekretärin zufällig auswählen, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass wir auch die Beste finden, bei einem Drittel oder 33 Prozent. Bei zwei Bewerberinnen war kein besseres Ergebnis möglich als bei einer Zufallsauswahl, aber wie sieht es bei drei Kandidatinnen aus? Wie sich herausstellt, können wir in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit der richtigen Wahl gegenüber einer zufälligen Entscheidung sehr wohl erhöhen – es hängt nur davon ab, wie wir mit der zweiten Bewerberin verfahren. Wenn wir mit der ersten Kandidatin sprechen, haben wir keinerlei Information: Sie ist in jedem Fall die bisher beste Bewerberin. Wenn uns die dritte Bewerberin gegenübersitzt, haben wir keinerlei Handlungsmacht mehr: Wir müssen dieser Kandidatin die Stelle anbieten, da wir die beiden anderen abgelehnt haben. Aber bei der zweiten Bewerberin haben wir ein wenig von beidem: Wir wissen, dass sie besser oder schlechter als die erste Kandidatin ist, und wir können wählen, ob wir sie einstellen oder ablehnen wollen. Was geschieht, wenn wir sie einfach einstellen, sofern sie besser als die erste Bewerberin ist, und ablehnen, sofern sie schlechter als die Erste ist? Wie sich herausstellt, ist dies die beste mögliche Strategie, wenn wir es mit drei Bewerberinnen zu tun haben: Anhand dieser Strategie können wir überraschenderweise bei drei Bewerberinnen genauso gute Ergebnisse erzielen wie bei zwei Bewerberinnen, da wir in genau der Hälfte der Fälle die richtige Kandidatin finden werden.b

Wenn wir uns das Szenario mit vier Bewerberinnen ansehen, stellen wir fest, dass wir immer noch bei der zweiten Bewerberin den Sprung wagen sollten, aber bei fünf Bewerberinnen sollten wir uns erst bei der Dritten entscheiden.

Wenn der Pool von Bewerberinnen wächst, stabilisiert sich der exakte Punkt, an dem wir die Linie zwischen Suchen und Springen ziehen sollten, bei 37 Prozent des Poolsc – womit wir bei der 37-Prozent-Regel sind: Wir sollten uns die ersten 37 Prozent der Bewerberinnen ansehen, ohne eine von ihnen auszuwählen, und von da an bereit sein, uns für die erste Kandidatin zu entscheiden, die besser ist als alle, die wir bisher gesehen haben.18

Zahl der Bewerberinnen

Die beste Bewerberin einstellennach

Chance, die beste Bewerberin zu finden

3

1 (33,33 %)

50 %

4

1 (25 %)

45,83 %

5

2 (40 %)

43,33 %

6

2 (33,33 %)

42,78 %

7

2 (28,57 %)

41,43 %

8

3 (37,5 %)

40,98 %

9

3 (33,33 %)

40,59 %

10

3 (30 %)

39,87 %

20

7 (35 %)

38,42 %

30

11 (36,67 %)

37,86 %

40

15 (37,5 %)

37,57 %

50

18 (36 %)

37,43 %

100

37 (37 %)

37,10 %

1000

369 (36,9 %)

36,81 %

Die optimale Strategie zur Auswahl einer Sekretärin

Wie sich herausstellt, haben wir dank dieser optimalen Strategie eine Chance von 37 Prozent, die beste Bewerberin zu finden; eine der auffälligen mathematischen Symmetrien dieses Problems besteht darin, dass die Strategie selbst und ihre Erfolgschancen auf denselben Wert hinauslaufen.19 Die obige Tabelle zeigt die optimale Strategie zur Lösung des Sekretärinnenproblems bei unterschiedlich vielen Bewerberinnen. Wie wir sehen, nähert sich die Erfolgschance – wie der geeignete Punkt, an dem man die Suche beenden und sich entscheiden sollte – mit steigender Zahl von Bewerberinnen 37 Prozent an.

Eine Fehlerquote von 63 Prozent bei Anwendung der besten möglichen Strategie ist natürlich ernüchternd. Selbst wenn wir angesichts eines Sekretärinnenproblems die optimale Strategie wählen, werden wir in den meisten Fällen nicht das gewünschte Ergebnis erzielen – das heißt, wir werden nicht die beste Bewerberin finden. Das ist eine schlechte Nachricht für jene unter uns, die unter der Partnersuche eine Suche nach »der oder dem Richtigen« verstehen. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Man sollte meinen, dass unsere Chance, die beste Sekretärin zu finden, stetig sinken wird, je größer das Angebot an Kandidatinnen ist. Wählen wir unsere Sekretärin zum Beispiel nach dem Zufallsprinzip aus, so haben wir bei einem Angebot von hundert Bewerberinnen eine Erfolgschance von 1 Prozent. Bei einem Pool von einer Million Bewerberinnen sinkt die Wahrscheinlichkeit, zufällig die beste Kandidatin auszuwählen, auf 0,0001 Prozent. Doch bemerkenswerterweise ändern sich die mathematischen Verhältnisse beim Sekretärinnenproblem nicht. Wenn wir optimal stoppen, liegt die Wahrscheinlichkeit, die beste Bewerberin zu finden, bei einem Pool von hundert Bewerberinnen bei 37 Prozent – und bei einem Pool von einer Million Kandidatinnen liegt sie ebenfalls bei 37 Prozent. Je größer der Pool von Bewerberinnen, desto wichtiger also die Kenntnis des optimalen Algorithmus. Zwar werden wir die Nadel im Heuhaufen in der Mehrheit der Fälle nicht finden, aber die optimale Stopp-Strategie bietet uns die beste Möglichkeit, unsere Chance zu erhöhen, so groß der Heuhaufen auch sein mag.

DER SPRUNG DER LIEBENDEN

Die Liebesleidenschaft unter den Geschlechtern hat sich zu allen Zeiten als so gleichartig erwiesen, daß sie algebraisch ausgedrückt, immer als konstante Größe betrachtet wern kann.

Thomas Malthus20

Ich heiratete den ersten Mann, den ich jemals küsste. Wenn ich das meinen Kindern erzähle, übergeben sie sich beinahe.

Barbara Bush21

Lange bevor er Professor für Operations Research an der Carnegie Mellon University wurde, war Michael Trick ein Student auf der Suche nach Liebe.22 »Irgendwann wurde mir klar, dass dieses Problem bereits untersucht worden war: Es war das Sekretärinnenproblem! Ich hatte eine freie Position und eine Reihe von Kandidatinnen, und mein Ziel war es, die beste Kandidatin für die Position zu finden.« Also rechnete er sich die Sache durch. Er wusste nicht, wie viele Frauen er in seinem Leben kennenlernen würde, aber die 37-Prozent-Regel ist durchaus flexibel: Sie kann auf die Zahl der Bewerber, aber auch auf den Zeitraum der Suche angewandt werden.23 Ausgehend von der Annahme, dass seine Partnersuche vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr dauern würde, ergab die 37-Prozent-Regel ein Alter von 26,1 Jahren als Punkt, an dem er vom Schauen zum Wagnis übergehen sollte.24 Zufällig war Trick genau in diesem Alter, als er diesen Lösungsansatz wählte. Als er eine Frau fand, die besser zu ihm passte als alle, denen er bis dahin begegnet war, wusste er, was er zu tun hatte. Er wagte den Sprung. »Ich wusste nicht, ob sie die Richtige war (die Annahmen des Modells gaben mir keine Möglichkeit, das zu bestimmen), aber zweifellos erfüllte sie die Bedingungen für diesen Schritt des Algorithmus«, schreibt er. »Also machte ich ihr einen Antrag.«

Und sie lehnte ab.

Die Mathematiker versuchen mindestens seit dem 17. Jahrhundert, romantische Probleme zu lösen. Der Astronom Johannes Kepler ist heute vor allem für die Entdeckung bekannt, dass die Umlaufbahnen der Planeten elliptisch sind, und er spielte eine wichtige Rolle in der »kopernikanischen Revolution«, zu der auch Galileo und Newton beitrugen und die unsere Vorstellung vom Platz unseres Planeten im Universum vollkommen veränderte. Aber Kepler hatte auch irdische Interessen. Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1611 machte er sich auf eine lange und beschwerliche Suche nach einer neuen Partnerin und machte im Lauf der Jahre insgesamt elf Frauen den Hof.25 Unter den ersten vier gefiel ihm die Letzte am besten, obwohl er sich darüber ärgerte, dass ihm durch die Entscheidung »die fünfte entschlüpfte«. Doch als seine Suche beendet schien, »griff das Schicksal ein: die vierte wurde meines Zögerns müde und versprach sich einem anderen«. Nun war Kepler »über den Verlust der vierten genau so verärgert wie über den Verlust der fünften«. Doch sein »Vergleichen und Abwägen« erwies sich schließlich nicht als Unglück, denn Liebe und Vernunft zwangen ihm eine fünfte Frau auf, die vorteilhafte Eigenschaften mitbrachte: »Kein unnötiger Stolz, kein unnütiger Aufwand, Fleiß und einige Kenntnis in der Führung des Haushalts.«26

»Doch ich suchte weiter«, schrieb er.

Keplers Freunde und Bekannte stellten ihm weitere Frauen vor, und er setzte die Suche (wenn auch halbherzig) fort. Seine Gedanken blieben bei Nummer Fünf. Nachdem er insgesamt elf Frauen den Hof gemacht hatte, entschloss er sich, die Suche abzubrechen. Während er sich auf eine Reise nach Regensburg vorbereitete, kam er auf die fünfte Frau zurück und machte ihr einen Antrag, der angenommen wurde. Kepler und Susanna Reuttinger heirateten und hatten sechs Kindern miteinander, zu denen noch die Kinder aus Keplers erster Ehe kamen. Die Biografen beschreiben das restliche häusliche Leben Keplers als besonders friedliche und heitere Zeit.

Sowohl Kepler als auch Trick erlebten – auf gegensätzliche Art – am eigenen Leib, dass das Sekretärinnenproblem die Suche nach der wahren Liebe übermäßig vereinfacht. Im klassischen Sekretärinnenproblem nehmen die Bewerberinnen den angebotenen Posten stets an – eine Abfuhr wie jene, die Trick erhielt, ist also unmöglich. Und im theoretischen Problem gibt es keine Möglichkeit, auf eine einmal abgelehnte Bewerberin erneut »zurückzukommen«, wie es Kepler tat.

In den Jahrzehnten seit der Einführung des Sekretärinnenproblems ist eine Vielzahl von Abwandlungen des Szenarios untersucht worden, wobei optimale Strategien unter verschiedensten Bedingungen entwickelt wurden. Beispielsweise gibt es für die Möglichkeit der Zurückweisung eine einfache mathematische Lösung: Man muss frühzeitig und häufig Heiratsanträge machen.27 Wenn die Chance, dass wir zurückgewiesen werden, bei 50 zu 50 liegt, ergibt dieselbe Art von mathematischer Analyse, die zur 37-Prozent-Regel führt, dass wir bereits nach Sichtung eines Viertels der Kandidatinnen beginnen sollten, Anträge zu machen. Werden wir abgelehnt, müssen wir weiter jeder bisher besten Kandidatin ein Angebot machen, bis uns schließlich eine Frau das Jawort gibt. Mit dieser Strategie wird die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs – das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass wir Heiratsanträge machen und von der besten Kandidatin im Pool das Jawort erhalten werden – insgesamt ebenfalls bei 25 Prozent liegen. Das ist vermutlich keine so schlechte Chance in einem Szenario, in dem das Hindernis der Zurückweisung mit der allgemeinen Schwierigkeit verbunden ist, überhaupt Maßstäbe festzulegen.

Kepler für seinen Teil beklagte sich über die Gefühle, die ihn dazu trieben, die Suche fortzusetzen, Gefühle, »die ich durch Zögern, durch Vergleichen und Abwägen der Gründe für und wider mit jedem Tag neu entfachte«. »Konnte nun mein unruhiges Herz es nicht anders lernen, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein als dadurch, daß es die Unmöglichkeit einsieht, daß nicht alle Wünsche auf einmal zu erfüllen sind?«28 Auch hier ist die optimale Stopping-Theorie ein gewisser Trost. Rastlosigkeit und Selbstzweifel sind keineswegs Hinweise auf eine moralische oder psychische Schwäche; vielmehr gehören sie zur besten Strategie für Szenarien, in denen man eine zweite Chance bekommen kann. Wenn wir zu den früheren Kandidaten zurückkehren können, ergänzt der optimale Algorithmus die vertraute Regel »Erst schauen, dann die Entscheidung wagen« durch einen längeren Zeitraum ohne Verpflichtung sowie durch einen Plan für Rückgriffe.

Nehmen wir beispielsweise an, dass ein unmittelbarer Heiratsantrag garantiert von Erfolg gekrönt sein wird, während verspätete Anträge in der Hälfte der Fälle abgelehnt werden. Dann sagt uns die Mathematik, dass wir unverbindlich suchen sollten, bis wir 61 Prozent der Kandidatinnen gesehen haben, und von diesem Punkt an nur dann den Sprung wagen sollten, wenn sich eine Kandidatin unter den verbleibenden 39 Prozent als die bisher Beste erweist.29 Wenn wir – so wie Kepler – immer noch allein sind, nachdem wir alle möglichen Optionen geprüft haben, können wir auf die beste Kandidatin zurückgreifen, die uns durch die Lappen gegangen ist. Auch in diesem Fall ist die Symmetrie zwischen Strategie und Ergebnis zu beobachten, denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir die beste Kandidatin finden werden, liegt in diesem Szenario, in dem es eine zweite Chance gibt, bei 61 Prozent

In Keplers Fall sorgte der Unterschied zwischen der Realität und der Theorie des klassischen Sekretärinnenproblems für ein Happy End. Tatsächlich funktionierte die Abwandlung des klassischen Problems auch in Tricks Fall: Nachdem ihn die beste Kandidaten zurückgewiesen hatte, schloss er sein Studium ab und nahm eine Stelle in Deutschland an. Dort ging er in eine Bar und verliebte sich in eine schöne Frau. »Drei Wochen später zogen wir zusammen, und ich lud sie ein, ›für eine Weile‹ mit mir in die Vereinigten Staaten zu gehen.« Sie war einverstanden – und sechs Jahre später waren die beiden verheiratet.

ETWAS GUTES ERKENNEN, WENN MAN ES VOR DER NASE HAT: VOLLSTÄNDIGE INFORMATION

Die ersten Varianten, mit denen wir uns beschäftigt haben – Möglichkeit der Zurückweisung und Möglichkeit des Rückgriffs – verändern die Annahmen des klassischen Sekretärinnenproblems, bei dem zeitnahe Angebote immer und verspätete Angebote nie angenommen werden. Bei diesen Varianten bleibt die beste Strategie dieselbe wie im ursprünglichen Problem: Man muss eine Zeit lang unverbindlich suchen und ab einem bestimmten Punkt bereit sein, den Sprung zu wagen.

Aber es gibt eine noch grundlegendere Annahme des Sekretärinnenproblems, die wir in Zweifel ziehen können: Wir wissen nichts über die Bewerberinnen mit Ausnahme ihrer relativen Qualität im Vergleich zueinander. Wir besitzen kein objektives oder Vorwissen darüber, was eigentlich eine gute und schlechte Bewerberin ausmacht, und wenn wir zwei Kandidatinnen miteinander vergleichen, wissen wir lediglich, welche von beiden der anderen überlegen ist, nicht jedoch, wie viel besser sie ist. Diese Tatsache ist der Grund für die unvermeidliche Phase des »Schauens«, in der wir riskieren, uns eine vorzügliche frühe Bewerberin entgehen zu lassen, während wir Klarheit über unsere Erwartungen und Maßstäbe gewinnen. Die Mathematiker bezeichnen diese Art von optimalen Stopp-Problemen als »No-Information-Spiele«.

Nun kann man einwenden, dass dieses Szenario wenig mit der Suche nach einer Wohnung, einem Partner und sogar einer Sekretärin zu tun hat. Stellen wir uns stattdessen vor, wir hätten irgendein objektives Kriterium – beispielsweise hätte jede Sekretärin eine Prüfung im Maschinenschreiben abgelegt und wäre aufgrund ihres Ergebnisses einem Perzentil zugeordnet worden. Das Prüfungsresultat jeder Bewerberin wird uns also verraten, wo sie gemessen an den Maschinenschreibkenntnissen unter sämtlichen Kandidatinnen einzuordnen ist, die den Test absolviert haben: Eine Bewerberin im 51. Perzentil besitzt knapp überdurchschnittliche Maschinenschreibkenntnisse, eine Bewerberin im 75. Perzentil ist gemessen an dieser Fähigkeit besser als drei von vier Konkurrenten usw.

Nehmen wir an, unser Bewerberinnenpool ist repräsentativ für die Gesamtbevölkerung; keine Gruppe ist überrepräsentiert und es hat keinerlei Selbstselektion gegeben. Nehmen wir weiter an, die Geschwindigkeit beim Maschinenschreiben ist das einzige Kriterium, das zählt. In diesem Fall haben wir das, was die Mathematiker als »vollständige Information« bezeichnen. Das ändert alles. »Es muss keine Erfahrung gesammelt werden, um einen Maßstab festlegen zu können«, wie es im grundlegenden Artikel aus dem Jahr 1966 heißt, »und manchmal ist augenblicklich eine vorteilhafte Entscheidung möglich.«30