Das Wesen der dramatischen Tragödie besteht nicht im Unglück. Vielmehr liegt es im Ernst des unerbittlichen Wirkens der Dinge.
Alfred North Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt (1925)92
In seiner Verlegenheit begriff er, dass eine verlässlich saubere Sache, die man mit Geld tun konnte, die war, es für andere auszugeben.
Lionel Shriver, Eine amerikanische Familie (2016)93
Eine der bekanntesten Passagen der amerikanischen Literatur ist in Kapitel 13 von Ernest Hemingways Roman Fiesta zu finden. Es handelt sich um ein Gespräch, das während des Stierlaufs in einem Café in der spanischen Stadt Pamplona stattfindet.
Bill Gorton, ein Freund des Protagonisten Jake Barnes, ist gerade aus New York eingetroffen. Bill sitzt in einem Café und unterhält sich mit Mike Campbell, einem aristokratischen Engländer, der schon bessere Zeiten gesehen hat, aber den schönen Schein aufrechterhält. Während er eine Geschichte über seinen Schneider erzählt, erwähnt er beiläufig seinen Bankrott. Dann entspinnt sich folgender Dialog:
»Wie bist du bankrottgegangen?«, fragte Bill.
»Auf zweierlei Weise«, sagte Mike. »Erst schleichend, dann plötzlich.«
»Und wie kam das?«
»Freunde«, sagte Mike. »Ich hatte viele Freunde. Falsche Freunde. Und Gläubiger hatte ich auch. Wahrscheinlich hatte ich mehr Gläubiger als jeder andere in England.«94
Wahrscheinlich haben Sie schon Varianten von Mikes Spruch »Erst schleichend, dann plötzlich« gehört. Er wird häufig falsch zitiert, als »Erst langsam, und dann schnell.« Diese kurze Version mag als Warnung dienen, dass ein langsames, stetiges Anhäufen von Schulden ohne Plan, wie sie zurückgezahlt werden können, länger als erwartet weitergehen kann, um dann plötzlich in handfester finanzieller Not und einem rapiden Zusammenbruch zu enden.
Ich habe hier das längere Zitat wiedergegeben, um die kurze Version in den richtigen Zusammenhang zu stellen. Der Schuldner Mike ist nicht nur einfach pleitegegangen; er hatte viele Freunde, die sich auf seine Großzügigkeit und Unterstützung verlassen hatten, aber nicht willens waren, ihm sein Geld zurückzuzahlen oder ihm zu helfen, als er in Not geriet.
Außerdem lässt er erkennen, dass er seine finanzielle Situation nicht ausreichend unter Kontrolle hatte. Die meisten Schuldner können drohende Probleme erkennen und dann entweder ihre Ausgaben kürzen oder andere Schritte unternehmen, um mit ihren Schulden fertigzuwerden. Trotzdem werden beide Strategien eher früher als später dazu führen, dass die Lage sich zuspitzt. Es ist der Mangel an Kontrolle, der es dem Schuldner erlaubt, das Stadium einer auf Dauer untragbaren Verschuldung zu erreichen, die »schleichende« Phase, bis ihm dann auf einmal die Krise aufgezwungen wird, das »plötzliche« Ereignis. Das erklärt, warum er das Unausweichliche als unvorhergesehene Überraschung empfindet.
Das ist die Lage, in der die Vereinigten Staaten sich heute befinden. Die US-Staatsschulden wurden ganz allmählich angehäuft, über Jahrzehnte. Es gibt keine Pläne, sie tragbar zu machen, nur den vagen Wunsch, dass die Gläubiger immer neue Kredite gewähren oder die vorhandenen Schulden refinanzieren werden. Die Vereinigten Staaten haben eine Menge »Freunde«, im Inland wie im Ausland, die Leistungen in Form von Rentenansprüchen, Entwicklungshilfe, Staatsaufträgen oder Steuervergünstigungen von ihnen erwarten. Genau wie Mike aus Hemingways Café-Szene.
Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten schon den Punkt erreicht haben, an dem sie plötzlich pleitegehen können. Natürlich werden die Vereinigten Staaten nicht pleitegehen; sie können sämtliches Geld, das sie brauchen, um ihre Schulden zurückzuzahlen, drucken. Aber wann wird es notwendig, die Notenpresse anzuwerfen?
Diese »Erst schleichend, dann plötzlich«-Dynamik kennen Physiker und Mathematiker nur allzu gut. In der Physik ist sie als Phasenwechsel bekannt. Ein gutes Beispiel ist ein Topf mit Wasser, das erhitzt und dann zu Dampf wird. Der Topf kann eine Weile auf der Flamme stehen, ohne dass für das bloße Auge eine Veränderung erkennbar wäre. Die Temperatur des Wassers steigt, aber heißes Wasser sieht genauso aus wie kaltes. Dann bilden sich plötzlich Wirbel an der Wasseroberfläche, und ganz kurz darauf steigt die brodelnde Oberfläche als Dampf auf. Das Wasser hat seine Phase gewechselt. Wenn die Flamme nicht gelöscht wird, verdampft das gesamte Wasser im Topf.
In der Mathematik sind solche Dynamiken als Hypersynchronizität bekannt. Dieses Wort ist ein technischer Begriff für das Phänomen, dass plötzlich alle das Gleiche tun. Ein Bankrun ist ein perfektes Beispiel. Er beginnt damit, dass nur einige wenige Leute am Kassenschalter Bargeld abheben wollen (oder das digitale Äquivalent der Abhebung von Einlagen oder des Verkaufs von Geldmarktfondsanteilen). Bald brodelt die Gerüchteküche, immer mehr Menschen geraten in Panik, bis alle zugleich ihr Geld zurückfordern, und dann ist nicht mehr genug davon da, um die Nachfrage zu bedienen. Genau das ist im September 2008 passiert, nach dem Bankrott von Lehman Brothers. Diese Krise hatte seit August 2007 vor sich hingeköchelt, bis ganz plötzlich im September 2008 alle Welt ihr Geld zurückhaben wollte.
Ich bin seit Jahrzehnten Hemingway-Fan, und ich habe so gut wie jedes Wort gelesen, das er jemals veröffentlicht hat, auch Briefe und unfertige Manuskripte, und auch eine Reihe von gut recherchierten Biografien. Doch ich habe nie einen Hinweis entdecken können, dass er sich sonderlich für Physik oder Mathematik interessiert hätte. Freilich gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Hemingway ein guter Beobachter des menschlichen Wesens und ein hervorragender Amateur-Ökonom war. Als Hemingway in den 1920er-Jahren als Reporter in Europa lebte, hat er eine Menge über Devisen, Inflation und Staatspleiten gelernt. Er erlebte 1925 die Hyperinflation in Frankreich aus erster Hand. Als Amerikaner, dessen Honorare in Dollar gezahlt wurden, konnte er es sich leisten, in Paris in einer anständigen Wohnung zu leben und in den besten Cafés die besten Weine zu bestellen, da der französische Franc dramatisch an Wert verlor. Seine Einkünfte in Dollar waren eine natürliche Versicherung gegen die Entwertung des Franc; die Franzosen selbst mussten die Folgen der Hyperinflation ertragen, weil ihre Einkünfte nicht in Dollar, sondern in Franc gezahlt wurden.
Was würde passieren, wenn der Dollar plötzlich ebenso unerwünscht würde wie 1925 der französische Franc?
Führen Sie sich die Belege dafür vor Augen, dass die Vereinigten Staaten heute gefährlich nahe vor dem »Plötzlich«-Stadium aus Hemingways Pleiteszenario stehen:
Hemingways Botschaft war, dass ein Bankrott schneller kommt, als irgendjemand – vor allem der Pleitier selbst – es erwartet. Die Vereinigten Staaten sind näher dran an einem Wendepunkt, als es im Kongress und Weißen Haus erkannt wird. Das Wasser im Topf beginnt zu sieden; es wird höchste Zeit, sich gegen die schlimmsten denkbaren Folgen abzusichern.
Erfahrene Aktienanleger wissen, wie sie mit einem Bullenmarkt umgehen müssen. Sie erhöhen ihre Aktienallokation, nutzen Margin-Konten und andere Formen von Leverage, sitzen die Rücksetzer aus, kaufen bei Kursrückgängen zu und schichten hoffentlich in Cash um, bevor dem Bullen die Puste ausgeht.
Erfahrene Investoren wissen auch, wie sie mit einem Bärenmarkt fertigwerden. Sie schichten in defensive Branchen um, etwa in kurzlebige Verbrauchsgüter und Versorgungsunternehmen, erhöhen ihren Cashanteil, reduzieren Leverage, gehen Risiken aus dem Weg und warten geduldig auf deutliche Signale, dass die Talsohle erreicht ist, bevor sie wieder in Aktien umschichten.
Die eine Konstellation, mit der Investoren nicht umzugehen wissen, ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Eine Geschichte, die der Börsenticker kürzlich erzählt hat, kann das zeigen.
Anfang 2018 stand der Dow Jones bei 24 719 Punkten, Ende März 2018 bei 24 103 Punkten, ein moderater Rückgang um 2,5 Prozent. Wenn man nichts anderes wüsste, könnte man denken, dass in dieser Zeit nicht viel passiert sei. Ein Investor weiß natürlich, dass es ganz anders war.
Im Januar 2018 ging der Aktienmarkt erst auf einen Höhenflug, stieg um mehr als 7,6 Prozent, bevor er am 26. Januar ein Zwischenhoch von 26 616 erreichte. Dann war die Party am Aktienmarkt, die über das ganze Jahr 2017 voll im Gang gewesen war, plötzlich zu Ende. Bis 9. Februar waren die Aktienkurse auf ein Tagestief von 23 446 gefallen, eine signifikante Kurskorrektur, die erste seit 2016.
Es folgte eine Erholungsrallye, die den Dow um beinahe 10 Prozent steigen ließ, auf 25 760 Punkte am 27. Februar 2018. Dann kam schnell der nächste Rücksetzer, dieses Mal um 6 Prozent auf 24 270 Punkte am 2. März. Am 12. März schnellte der Dow wieder hoch, um fast 5 Prozent auf 25 425 Punkte am 12. März, worauf er dann wieder um 7,4 Prozent fiel, auf 23 533 Punkte am 23. März. Dann erholte er sich langsam wieder und beendete das erste Quartal mit 24 103 Punkten.
Das Jahr 2018 endete mit einer noch extremeren Achterbahnfahrt, dem »Christmas Eve Massacre« (Absturz des Dow um über 650 Punkte) und einem Anstieg um über 1000 Punkte am nächsten Handelstag, dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Doch dieser kurze Überblick erzählt nicht die ganze Geschichte. Im Verlauf dieser Rallyes und Rücksetzer kam es zu versuchsweisen Rallyes und Mini-Abstürzen, einschließlich einer Serie von Intraday-Rallyes und -Rücksetzern mit Kursgewinnen und -verlusten von mehr als 500 Punkten. Die Volatilität schnellte hoch.
Was war passiert?
Verunsicherung der Investoren ist ein Teil der Antwort. Die Märkte können sich an gute wie schlechte Nachrichten anpassen, doch es fällt ihnen schwer, echte Unsicherheit einzupreisen. Doch das Verhalten von Märkten hat natürlich auch noch andere Ursachen. Die Faktoren, die sich auf die Entwicklung eines Marktes auswirken, sind nicht nur unsicher, sondern sogar widersprüchlich. Der Markt versucht, mehrere widersprüchliche Faktoren einzupreisen, hat aber keinen einfachen Weg, diese Widersprüche miteinander in Einklang zu bringen. Aufgrund von Gerüchten, Informationsschnipseln und Tweets steigen oder fallen die Kurse von Tag zu Tag, ohne zusätzlichen Ballast, um das Schiff zu stabilisieren.
Der Markt wird hauptsächlich von vier Faktoren getrieben. Diese Faktoren sind Wachstum, Handelskriege, Geopolitik und Regulierung von Technologie. Jeder der vier Faktoren hat seine eigenen inneren Widersprüche, was letzten Endes einen binären Ausgang für jeden Faktor ergibt. Das bedeutet, dass es sechzehn (24 = 16) mögliche Pfade gibt, denen der Markt folgen könnte. Und so ist es kein Wunder, dass die Märkte verwirrt sind.
Beim Wachstum erwarten die Bullen einen Schub durch Trumps Steuersenkungen. Und sie erwarten Inflation durch die Schaffung zahlreicher neuer Arbeitsplätze, eine steigende Erwerbsquote und niedrige Arbeitslosigkeit. Sie gehen davon aus, dass die Zinsen steigen werden, halten das aber eher für ein Zeichen wirtschaftlicher Stärke als für einen Grund zur Sorge. Starkes Wachstum ist gut für die Gewinne der Konzerne, und ein bisschen Inflation ist normalerweise gut für die nominalen Aktienkurse, zumindest in den frühen Phasen. Die von den Bullen angeführten Gründe für Wachstum sind ein seltsamer Mix aus Phillips-Kurve und Laffer-Kurve.
Die Bären weisen auf ein schwächeres Wachstum im vierten Quartal 2018 hin. Das passt zu den kümmerlichen durchschnittlichen Wachstumsraten von 2,2 Prozent pro Jahr seit Ende der letzten Rezession im Juni 2009. Stärkeres Wachstum werde beeinträchtigt durch die demografische Entwicklung, die hohe Staatsverschuldung und die Auswirkungen billiger chinesischer Arbeit und Technologie auf die Fähigkeit der US-Wirtschaft, das weltweite Preisniveau zu bestimmen. Die Bären erwarten, dass Trumps Steuersenkungen nicht helfen werden, das Wachstum anzukurbeln, da die bremsende Wirkung der hohen Staatsverschuldung auf das Wachstum stärker sei als die stimulierende Wirkung niedrigerer Steuern.
Die Fed verabreicht einer schwachen Wirtschaft eine doppelte Dosis Straffung in Form von Zinserhöhungen und der beispiellosen Löschung von Basisgeld beim Schrumpfen ihrer Bilanz nach QE. Die Fed trieb die Wirtschaft an den Rand einer Rezession, bevor sie die Zeichen erkannte und ihre Zinserhöhungen aussetzte. Diese Bärenperspektive verbindet die These von Reinhart und Rogoff über Schulden-Todesspiralen mit einem erneuten Blick auf die geldpolitischen Fehler der Fed in den Jahren 1929 und 1937.
Ein weiteres Dilemma sind die Handelskriege. Es bestehen kaum Zweifel, dass ein echter Handelskrieg das globale Wachstum reduzieren wird. Steht uns ein ausgedehnter Handelskrieg bevor oder eher eine Reihe von Scheinverhandlungen vonseiten Donald Trump, um der Öffentlichkeit »The Art of the Deal« vorzuführen? Ursprünglich hatte Trump Einfuhrzölle nach Section 232 auf Stahl- und Aluminiumimporte eingeführt, nur um dann sofort Ausnahmen für Kanada und Mexiko zu deklarieren, bis die NAFTA-Verhandlungen Fortschritte erbracht hätten. Dann verkündete der Präsident mit großem Tamtam ein Handelsabkommen mit Südkorea, mit dem Quoten für Stahlimporte festgelegt wurden, nur um dann beinahe sofort zu sagen, dieses Abkommen sei an die Bedingung geknüpft, dass Südkorea den USA helfe, mit Nordkorea fertigzuwerden. Als Südkorea solche Hilfen zugesagt hatte, trat das neue Freihandelsabkommen zwischen Südkorea und den Vereinigten Staaten (KORUS) im September 2018 in Kraft.
Zuerst drohte Trump China Strafzölle nach Section 301 in Höhe von über 50 Milliarden Dollar an, wegen Diebstahl geistigen Eigentums. Dann mussten China und die Vereinigten Staaten binnen Tagen die Ängste der Märkte beschwichtigen, indem sie Pläne ankündigten, bilaterale Verhandlungen über Handelsfragen zu führen. Diese Verhandlungen blieben zunächst ergebnislos, und bis September 2018 eskalierten die Zug um Zug eingeführten Strafzölle, bis sie sich auf Güter im Wert von über 450 Milliarden Dollar im Handel zwischen China und den Vereinigten Staaten erstreckten. Bis Ende 2018 hatten die Märkte begriffen, dass China und die USA sich tatsächlich in einem anhaltenden Handelskrieg befanden, doch die wirtschaftlichen Auswirkungen auf das globale Wachstum waren erstaunlich gedämpft – die Aktienkurse entwickelten sich, als ob es nie zu diesem Handelskrieg gekommen wäre.
Die geopolitischen Entwicklungen sind ein weiterer Faktor, der die Kurse mal beflügelt und mal drückt. Vieles spricht dafür, dass es zu einem Krieg mit Nordkorea kommen könnte. Der Umstand, dass Nordkorea seit Jahrzehnten an der Entwicklung von Atomwaffen arbeitet und die Häufigkeit seiner Waffentests in den vergangenen Jahren massiv erhöht hat, zeigt eindeutig, dass es entschlossen ist, ein Arsenal von Langstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen aufzubauen, das für die Vereinigten Staaten eine existenzielle Bedrohung darstellen würde. Die Vereinigten Staaten haben ihrerseits klargestellt, dass sie es Nordkorea nicht gestatten werden, solche Waffen zu beschaffen oder zu besitzen. Diese beiden Standpunkte sind unvereinbar und lassen einen Krieg befürchten. Zugleich deuten jedoch intensive diplomatische Bemühungen in Form von Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea, China und Nordkorea sowie Japan und Nordkorea, die allesamt zu dem Gipfeltreffen zwischen Donald Trump und Kim Jong Un im Juni 2018 in Singapur hinführten, darauf hin, dass eine friedliche Auflösung der verfahrenen Situation möglich sein könnte. Falls Sie meinen, dass Kim Jong Un im guten Glauben handelt, werden Sie diese Entwicklungen ermutigend finden. Falls Sie glauben, dass Kim Jong Un unredlich handelt und auf Zeit spielt, während er seine Waffentechnologie perfektioniert, werden Sie zu dem Schluss kommen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ein Krieg ausbricht.
Der letzte Faktor, der die Märkte durcheinanderbringt, ist die Möglichkeit, dass technologische Entwicklungen schärfer reguliert werden könnten. Ein Investor muss nicht daran erinnert werden, welchen massiven Einfluss die FAANG-Aktien (Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google) auf die Märkte im Allgemeinen und den NASDAQ 100 im Besonderen haben.
Plötzlich steht Facebook unter verschärfter Beobachtung, wegen missbräuchlicher Verwendung personenbezogener Kundendaten und seiner Rolle als Helfershelfer Russlands bei dessen Einmischungen in US-Wahlen. Auch Amazon steht unter Beobachtung, aus Antitrust-Gründen wegen seiner monopolartigen Marktmacht, wegen angeblicher Subventionierung seiner Versandkosten durch Preisnachlässe vonseiten des staatlichen U.S. Postal Service sowie Trumps tief sitzender emotionaler Abneigung gegen angebliche »Fake News« der Washington Post, die Amazon-Gründer Jeff Bezos gehört. In diesen Angelegenheiten hat es Anhörungen vor Kongressausschüssen gegeben, die darauf hindeuten, dass neue gesetzliche Regulierungen verabschiedet werden könnten. Werden Silicon-Valley-Lobbyisten solche Gesetzesinitiativen verwässern? Werden Antitrust-Vorwürfe sich in Schall und Rauch auflösen? Oder wird die populistische Empörung über die Tech-Giganten eine Zeitenwende einleiten und dazu führen, dass aggressiv neue Regulierungen durchgesetzt werden, wie Anfang des 20. Jahrhunderts beim Rockefeller-Trust? Diese Fragen kann niemand beantworten. Es wird zu einer Schlacht zwischen Konzernlobbyisten und populistischer Wut kommen, die in den meisten Fällen die Lobbyisten gewinnen – aber wer weiß, vielleicht wird es diesmal anders ausgehen.
Keines dieser vier Probleme wird schnell gelöst werden. Es kann weitere sechs Monate dauern, bis die Fed aufgrund der neu eingehenden Daten erkennt, dass die Wirtschaft ungeachtet der Steuersenkungen schwächelt, oder bis die Bären das Handtuch werfen. Handelskriege ziehen sich in der Regel über Jahre hin, nicht Monate. Wenn die Verhandlungen mit China bald zu Ergebnissen führen sollten, werden die Sorgen um den Handelskrieg schwinden, andernfalls werden sie sich verschärfen, während die Vergeltungsmaßnahmen eskalieren. Falls Kim Jong Un Frieden will, werden wir das ziemlich bald wissen. Falls nicht, wird die Atomkriegsuhr – die zurzeit steht – wieder anfangen zu ticken. Auch die Anhörungen und Gesetzgebungsverfahren zum Thema Technologieregulierung werden ein Jahr oder länger brauchen, bis sie beendet sind. Viele Kongressabgeordnete haben die Tendenz, solche Kontroversen zu missbrauchen, um beiden Seiten Wahlkampfspenden abzunötigen, bevor sie sie lösen; daher sind keine schnellen Ergebnisse zu erwarten.
Das Problem für Investoren ist, dass sie jeden Morgen aufwachen und Kapital anlegen müssen, ganz gleich, ob sie nun Antworten auf diese Fragen haben oder nicht. Wenn das Wachstum stark ist, die Handelskriege im Sande verlaufen, Nordkorea Frieden will und die Lobbyisten der Tech-Konzerne sich durchsetzen, kann der Dow Jones die Marke von 30 000 Punkten knacken. Falls das Wachstum schwach ist, die Handelskriege eskalieren, Nordkorea ein falsches Spiel treibt und die Empörung der Bevölkerung die Tech-Giganten lähmt, könnte der Dow Jones eher auf 15 000 abstürzen. Natürlich kann es auch zu anderen Kombinationen dieser Faktoren kommen. Insgesamt ist es wahrscheinlicher, dass der tatsächliche Lauf der Dinge eher den weniger optimistischen Erwartungen der Bären folgen wird. Doch es wäre unklug, alles auf eine bestimmte Entwicklung zu setzen. Wir leben in einer Zeit, die es notwendig macht, wachsam und flexibel zu sein.
Wie schlimm wird das Worst-Case-Szenario sein?
Für viele Investoren ist die Finanzpanik von 2008 die Messlatte für den denkbar schlimmsten Lauf der Dinge. Der Dow Jones fiel in 17 Monaten um 54 Prozent, vom 9. Oktober 2007 bis 9. März 2009. Große Finanzkonzerne wie Lehman Brothers, Bear Stearns, Fannie Mae, Freddie Mac und AIG gingen entweder bankrott oder wurden nach massiven Verlusten durch eine Intervention der Regierung gerettet. Die Arbeitslosenquote schnellte hoch, von 4,4 Prozent im März 2007 auf 10 Prozent im Oktober 2009. Der S&P Case-Shiller Home Price Index fiel von 182,72 Punkten im Januar 2007 auf 133,99 im Februar 2012, ein Absturz um 27 Prozent. Besitzer einer Immobilie, die nur 10 oder 20 Prozent Eigenkapital hatten, waren pleite. Zahlreiche Hedgefonds schlossen ihre Türen oder setzten Rückkäufe aus. Die Verluste von Anlegern beliefen sich auf Billionen von Dollars. Die Epidemie griff auf Europa und den Nahen Osten über. Im November 2009 wurde die Investmentgesellschaft Dubai World zahlungsunfähig; in Europa tobte von 2010 bis 2015 eine Staatsschuldenkrise. Es war die schlimmste Finanzkrise seit der Weltwirtschaftskrise.
Der finanzielle Schaden ging nicht schnell vorbei, aber er ging vorbei. Vom Juni 2009 bis Dezember 2018 erlebten die Vereinigten Staaten die schwächste wirtschaftliche Erholung ihrer Geschichte. Vom März 2009 bis September 2018 legten die großen Aktienindizes um mehr als das Dreifache zu. Die Arbeitslosenquote fiel von 10 Prozent im Oktober 2009 auf 3,9 Prozent im Dezember 2018. Der S&P Case-Shiller Home Price Index ging auf einen Höhenflug und erreichte im Juni 2018 einen neuen historischen Höchststand von 204,44 Punkten. Investoren, die die Krise ausgesessen und ihre Positionen gehalten hatten, brachten ihre gesamten Verluste wieder ein und hatten bis Ende 2018 sogar ansehnliche Gewinne gemacht. Der CEO einer Bank oder ein Investmentguru wie Warren Buffett konnte die ganze Episode mit einem Achselzucken abtun.
Doch die meisten Investoren reagierten anders auf die Krise. Ende 2008 oder Anfang 2009 verkauften sie ihre Aktien, um das Kapital, das ihnen noch geblieben war, zu retten. Erst Jahre später kehrten sie wieder zurück an den Aktienmarkt, wenn überhaupt, und verpassten so einen großen Teil der Erholungsrallye. Viele Immobilien wurden zwangsversteigert, wodurch ihren ehemaligen Besitzern die Möglichkeit genommen wurde, von der Erholung des Immobilienmarkts zu profitieren, die 2013 begann. Am schlimmsten war jedoch der Vertrauensverlust. Investoren, die schwere Verluste erlitten hatten, mussten mit ansehen, dass die CEOs von Banken ihre Jobs behielten und sich spätestens 2016 wieder Boni in Millionenhöhe auszahlten. Es wurde niemand wegen Betrugs angeklagt, keiner der Top-CEOs wurde zur Verantwortung gezogen. Allmählich kehrten die Investoren an die Märkte zurück, doch das Vertrauen in Wall-Street-Statistiken oder sogenannte Vermögensberater hatten sie verloren. Nach 2009 war beim Investieren jeder auf sich selbst gestellt, nach der Devise »fressen oder gefressen werden«; statt Zuversicht herrschte Zynismus, das frühere Vertrauen war allgemeiner Verbitterung gewichen.
Es mag schwerfallen, sich ein schlimmeres Szenario als 2008 und dessen Nachwirren vorzustellen, doch solche Szenarien sind nicht selten; in der Geschichte der Vereinigten Staaten sind sie immer wieder zutage getreten. In der Weltwirtschaftskrise fielen die großen Aktien-Indizes von 1929 bis 1932 um 80 Prozent. Im Sezessionskrieg erlitt die Wirtschaft der Südstaaten einen Aderlass, von dem sie sich erst in den 1970er-Jahren wieder vollständig erholt hatte, nach mehr als 100 Jahren. Im Zweiten Weltkrieg musste an der Heimatfront massiv gespart werden, während über eine Million US-Soldaten an der Front fielen oder verwundet wurden. Die »Dust Bowl«, eine verheerende Dürre, die den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten von 1934 bis 1939 heimsuchte, verursachte eine Völkerwanderung im eigenen Land; etwa dreieinhalb Millionen Menschen, meistenteils Arme, verstauten ihre paar Habseligkeiten auf alten Klapperkisten oder Handkarren und zogen auf der Suche nach Arbeit aus Oklahoma, Arkansas und Texas nach Kalifornien und in andere Bundesstaaten. Tausende von ihnen starben an Krankheiten oder verhungerten. Kurzum, Amerika hat schon wesentlich schlimmere Schicksalsschläge erlebt als die Finanzkrise von 2008.
Das impliziert, dass ein realistisches Bild von einem echten Worst-Case-Szenario mehr umfassen muss als einen Absturz der Aktienmärkte um 50 Prozent und ein paar Bankpleiten. Ein solches Bild muss zwar finanzielle Verwerfungen berücksichtigen, aber auch darüber hinausgehen, da die zunehmende Größe von Kapitalmärkten und die schnelleren Ansteckungseffekte unter immer enger vernetzten Institutionen sich unweigerlich auch auf kritische Infrastruktur und schließlich auf die gesellschaftliche Ordnung selbst auswirken werden.
Manche Szenarien können wir sofort verwerfen. Seit Jahrzehnten werden die Amerikaner mit filmischen Darstellungen von Zombie-Aufständen und Invasionen aus dem Weltraum bombardiert. Solche Filme mögen unterhaltsam sein, doch es gibt keine Zombies. Vielleicht spuken hier und da ein paar ruhelose Geister und Gespenster herum, aber keine Zombies. Es gibt auch keine stichhaltigen Belege für Kontakte zu Außerirdischen. Aufgrund empirischer Analysen können Begegnungen mit Außerirdischen eher durch übernatürliche Erscheinungen als durch intergalaktische Reisetätigkeit erklärt werden. Mit dieser Debatte brauchen wir uns also nicht aufzuhalten. Eine Invasion durch eine Flotte außerirdischer Raumschiffe, die auf der Mall in Washington landet, steht nicht gerade weit oben auf meiner Liste düsterer Zukunftsszenarien.
Viel wahrscheinlicher ist, dass es zu einem Börsencrash in Verbindung mit einem anderen katastrophalen Ereignis kommen wird, etwa einem Zusammenbruch des Stromnetzes oder einer Naturkatastrophe. Solche Doppelkatastrophen sind nicht so ungewöhnlich, wie man denken könnte; tatsächlich sind sie aufgrund von Dichtefunktionen einigermaßen wahrscheinlich. Die Fukushima-Katastrophe, die sich im März 2011 in Japan ereignete, ist ein perfektes Beispiel: Durch ein Seebeben entstand ein Tsunami, der viele Tausend Todesopfer forderte, ein Atomkraftwerk lahmlegte, dort eine teilweise Kernschmelze verursachte und schließlich die Tokioter Börse zum Absturz brachte. In diesem Fall löste ein bestimmtes System (Tektonik), das sich in einem kritischen Zustand befand, Phasenwechsel in anderen Systemen (Hydraulik, Strahlung, Kapitalmärkten) aus, die in einem kritischen Zustand waren, bis die Kritikalitätskette ihren Lauf nahm.
Kausale Zusammenhänge zwischen mehreren Systemen, die sich in einem kritischen Zustand befinden, können nicht nur durch Zufall entstehen, wie es in Fukushima der Fall war, sondern auch gezielt herbeigeführt werden. Wenn die Chinesen einen Angriff auf das US-Stromnetz durchführen wollten, würden sie das nicht an einem ereignislosen Tag tun, sondern auf einen Absturz der Aktienmärkte warten und dann das Stromnetz angreifen. Eine solche Taktik ist als »force multiplier« (Wirkungsverstärker) bekannt – in diesem Fall würde sie die Ängste der Bevölkerung, wenn die Lichter ausgehen, noch verstärken. Dann würde vielleicht der Iran das ausbrechende Chaos nutzen und es für opportun halten, einen Teil des World Wide Web lahmzulegen, indem er strategische Knotenpunkte stilllegt, etwa die Datendrehscheibe in der Nähe des Flughafens Fujairah in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Internet- und Stromausfälle könnten den Absturz der Aktienmärkte noch beschleunigen, obwohl es wahrscheinlicher ist, dass die Börsen geschlossen würden – was wiederum die Panik der US-Bevölkerung noch weiter anheizen würde.
Andere Katalysatoren können etwa eine Pandemie sein, ein Krieg oder die unerwartete Insolvenz einer großen Bank, bevor der Rettungswagen der Zentralbank den Ort des Geschehens erreichen kann. Obwohl jedes dieser Ereignisse eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten Jahren keines von ihnen passiert, so gut wie null, wie es die Gleichungen zum Bernoulli-Prozess im vorigen Kapitel zeigen. Ein Katalysator setzt die Kettenreaktion in Gang, bei der das Versagen eines Systems dazu führt, das andere Systeme zusammenbrechen und die Schocks immer weiter um sich greifen, bis das gesamte Netz lahmgelegt ist.
Soziologen und Historiker haben vielfach dokumentiert, wie dünn der Lack der Zivilisation ist. Sobald kritische Systeme zusammenbrechen, dauert das zivilisierte Verhalten vielleicht noch drei Tage an; dann herrscht wieder das Gesetz des Dschungels. Die Menschen greifen zu Mitteln wie Gewalt, Geld, Isolierung oder anderen Formen von Zwang, um ihre Stellung zu halten. Die Loyalität zum eigenen Land verflüchtigt sich, da das Land seinen Teil der Abmachung, nämlich für Ruhe und Ordnung zu sorgen, nicht mehr erfüllt. Es bilden sich lokale Stämme, die von gemeinsamen Werten zusammengehalten werden. Hurricane Katrina, der im August 2005 New Orleans heimsuchte, ist ein klassisches Beispiel. Am ersten Tag wütete der Sturm. Am zweiten Tag standen die Menschen unter Schock und kämpften ums unmittelbare Überleben. Spätestens am dritten Tag kam es zu ersten Plünderungen. Als Beamte der Stadtverwaltung diese Plünderungen verharmlosten, indem sie behaupteten, einige Überflutungsopfer seien lediglich auf der Suche nach etwas Essbarem und Trinkwasser gewesen, um zu überleben, formierten sich alsbald bewaffnete Bürgerwehren. Sie erschossen zwar auch ein paar Plünderer, beförderten aber viel häufiger unschuldige Überlebende ins Jenseits, die einfach nur das Pech hatten, in eine »falsche« Nachbarschaft geraten zu sein. Hier geht es nicht um die Frage, ob solches Verhalten gerechtfertigt ist oder nicht, sondern vielmehr um die Tatsache, dass es unter extremen Umständen nicht etwa Wochen, sondern nur ein paar Tage dauert, bis bewaffnete Quasi-Milizen die Macht auf den Straßen übernehmen und eine Gewaltherrschaft errichten. Der Lack der Zivilisation ist hauchdünn.
Über kurz oder lang kehrt wieder Ordnung ein, aber was für eine Ordnung? Die Barbaren, die Ende des 5. Jahrhunderts Rom eroberten, bewahrten die Insignien des Kaiserreichs und forderten vom Kaiser des Oströmischen Reiches (Byzanz), ihre Herrschaft zu legitimieren. Aber auch noch danach wurden die Vermögen von Patriziern konfisziert und sie selbst zu Dutzenden umgebracht. In Bretton Woods wurde 1944 eine neue Weltwirtschaftsordnung errichtet, die aus dem Kollaps erstand, den die Währungs- und Handelskriege der 1920er- und 1930er-Jahre herbeigeführt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die Alliierten im besiegten Deutschland unter Anwendung von Standrecht die Ordnung wieder her, doch die zertrümmerte Infrastruktur, die Vermögensverluste und die Entmutigung der Bürger waren nur allzu real. Über kurz oder lang kehrt wieder eine gesellschaftliche Ordnung ein, aber sie ist nicht mehr die gleiche wie vor der Katastrophe – die Zeit der Nachwirren ist anders.
Ein Investor sollte sich nicht auf die Ursachen eines Zusammenbruchs fixieren (es ist eine ziemlich lange Liste, und der zeitliche Ablauf der Ereignisse ist ungewiss). Der Kollaps selbst wird seinen Lauf nehmen und die gesellschaftliche Ordnung wird sich durch Zwang, Kooperation oder schlichte Erschöpfung wieder einstellen. Die Frage ist, welchen Platz Sie in der neuen Ordnung einnehmen werden?
Das postapokalyptische Genre, das zum Beispiel von Cormac McCarthys Roman The Road (»Die Straße«) verkörpert wird, ist in einem metaphorischen Sinne durchaus überzeugend und lehrreich, braucht hier jedoch nicht in Betracht gezogen zu werden. McCarthy beschreibt eine Welt nach einem Ereignis, durch das zahlreiche Arten ausgestorben sind. Fast alles Leben auf der Erde ist vernichtet, und die wenigen Überlebenden sind Kannibalen, Gefangene oder Kleinbauern, die vollauf damit beschäftigt sind, ihr kleines landwirtschaftliches Anwesen zu verteidigen. Ein solcher Ausgang kann nicht ganz ausgeschlossen werden, doch wenn es überhaupt keine funktionierende Wirtschaft mehr gibt und völlige Gesetzlosigkeit herrscht, wird der Begriff »Investor« seinen Sinn verloren haben. Ein Rückfall in eine Agrargesellschaft wie vor den 1870er-Jahren, ohne Autos, Telefone, fließendes Wasser und elektrischen Strom, ist zwar wahrscheinlicher als die totale Apokalypse, aber dennoch nicht wirklich wahrscheinlich. Irgendjemand wird das Licht wieder anstellen, selbst wenn dieser Jemand das US-Militär ist, dass unter Notstandsvollmachten und Standrecht operiert.
Eine der besten Schilderungen des gesellschaftlichen Lebens nach einem Zusammenbruch des Finanzsystems findet sich in dem Buch The Mandibles (»Eine amerikanische Familie«), einem brillanten Roman der preisgekrönten Autorin Lionel Shriver, der 2016 erschienen ist.95 Darin beschreibt Shriver einen wirtschaftlichen Kollaps im Jahr 2029, doch hauptsächlich geht es um das Leben der Menschen inmitten der Nachwirren. Shriver erfindet Worte und Ausdrücke, um das Ungewohnte zu beschreiben. Vor dem Zusammenbruch des Finanzsystems ist das Stromnetz ausgefallen; die Zeit danach nennt sie »Steinzeit« und die Wasserknappheit in den städtischen Regionen »Dryout«.
Das Beklemmende an The Mandibles ist nicht, dass das darin geschilderte Leben apokalyptisch wäre wie in The Road, noch, dass es normal wäre, wie die Cheerleader von der Wall Street uns weismachen wollen, sondern dass es eine Mischung aus beidem ist. Die Vereinigten Staaten können ihre Schulden nicht mehr bedienen und lassen notgedrungen von der Federal Reserve das Geld drucken, das gebraucht wird, um Zinsen und Tilgungen zu zahlen. Eine neue globale Reservewährung, der Bancor, ist geschaffen worden, doch die Vereinigten Staaten sind von diesem Währungssystem ausgeschlossen. Der aus Mexiko stammende US-Präsident Alvarado, der seine Reden auf Spanisch hält, lässt in den USA das gesamte in Privatbesitz befindliche Gold konfiszieren, eine Neuauflage der Beschlagnahme von Gold durch Franklin D. Roosevelt im Jahr 1933. Es herrscht eine Hyperinflation mit Inflationsraten von 30 Prozent pro Woche (etwas, das ich während meiner Reisen in der Türkei selbst erlebt habe), sodass immer mehr Menschen zum Tauschhandel zurückkehren. Es gibt zwar noch Läden, doch die Regale sind meistenteils leer. Die Menschen kaufen nicht mehr das, was sie brauchen (weil es das nicht mehr gibt), sondern das, was vielleicht andere in Zukunft gebrauchen könnten (Werkzeug und Ähnliches), um es gegen Lebensmittel einzutauschen. Es sind zwar noch Polizisten auf den Straßen, doch sie werden nur aktiv, wenn sie von Anwohnern bestochen werden; Straftaten zum Nachteil von Bürgern, die ihnen kein Schmiergeld zahlen, ignorieren sie. Es gibt zwar noch alltägliche Jobs, doch hochqualifizierte Tätigkeiten in den freien Berufen und im Bildungswesen werden eliminiert, um Kosten zu senken. Das führt dazu, dass die vormals reichsten Mitglieder des Mandible-Clans bei ihren ärmeren Verwandten einziehen müssen, die immerhin noch ein Dach über dem Kopf haben.
Eines der wiederkehrenden Themen in The Mandibles sind Mitglieder der Eliten, die hartnäckig darauf bestehen, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch ein vorübergehendes Phänomen sei und die Wirtschaft sich bald wieder erholen werde, wie sie es ja nach der Steinzeit und in der Tat auch nach der Weltwirtschaftskrise getan hat. Doch in Shrivers Welt erholt sich die Wirtschaft nicht; im Gegenteil, die wirtschaftlichen Umstände werden immer schlimmer. Und diejenigen, die sich am krampfhaftesten an dem Hirngespinst von der Erholung festklammern, verlieren am Ende am meisten. Shriver beschreibt einen Plan der Regierung, das Bargeld abzuschaffen, um den Schwarzmarkt auszutrocknen – eine Maßnahme, die Ken Rogoff und Larry Summers schon heute befürworten. Einige reiche Amerikaner überleben, aber nur, indem sie sich in luxuriösen Bunkern verschanzen, die sie vor der Krise hatten bauen lassen. Shriver beschreibt eine gruselige Szene, in der zwei der Mandibles sich Zugang zu einem dieser Bunker verschaffen. Sie stellen fest, dass niemand die Reichen getötet hatte – sie hatten sich gegenseitig umgebracht. Die Rezensionen für The Mandibles waren überwiegend positiv, mit einer Ausnahme, die in der Washington Post erschien – was nicht weiter verwunderlich ist, da Shriver mit ihrem scharfzüngigen Humor immer wieder die politische Landschaft Washingtons ins Visier nimmt.
Was Shriver in The Mandibles beschreibt, ist ein weit realistischeres wirtschaftliches Szenario als eine totale Apokalypse oder eine totalitäre Gegenreaktion. Es ist eine Welt, in der Sie einkaufen gehen können, aber die Regale leer sind. Eine Welt, in der Sie Geld nutzen können, aber sein Wert dahinschmilzt wie Eis in der Sonne. Eine Welt, in der Sie vielleicht einen Job haben, aber die meisten anderen nicht. Eine Welt, in der die Menschen nicht mit Maschinengewehren überleben, sondern mit Gerissenheit, Ellenbogen und grimmiger Sturheit.
Obwohl der Roman The Mandibles hin und wieder als dystopisch, futuristisch oder sogar als Science-Fiction bezeichnet wurde, ist er tatsächlich eine realistische Darstellung einer Gesellschaft nach einem Kollaps der Wirtschaft. Die alltäglichen Mühen der Figuren Shrivers wären einem Zivilisten hinter den Fronten eines Bürgerkriegs oder einem Bürger, der während der Weltwirtschaftskrise versucht, über die Runden zu kommen, nur allzu vertraut. Jeder, der glaubt, es könne nie wieder zu solchen Szenarien kommen, setzt zu viel Vertrauen auf die Finessen von Zentralbanken und zu wenig auf die Lehren der Geschichte.
Die meisten Katastrophenpläne der Regierung werden, sobald sie tatsächlich gebraucht werden, innerhalb von fünf Minuten in sich zusammenfallen. Auf dem Beltway in Washington, D.C., steht man jeden Tag im Stau; die Idee, dass man mit dem Auto schnell aus Washington herauskommen könnte, sobald der Notstand ausgerufen wurde, ist absurd. Die Superreichen haben ihre Refugien in Neuseeland; das klingt gut, aber die Tycoons haben mehr Zeit damit verbracht, sich eine schöne Location auszusuchen, als darüber nachzudenken, wie sie überhaupt zum Flughafen kommen wollen, ob der Flughafen dann in Betrieb ist, wo sie auf der langen Reise ihren Privatjet auftanken können oder ob die Kiwis sie am Auckland Airport mit Truppen in Empfang nehmen werden, wenn sie überhaupt so weit kommen. Auch die etwas bodenständigere Strategie mit halbautomatischen Waffen, reichlich Munition und Kisten voller haltbarem Proviant wird kaum besser funktionieren. Die Bunker solcher Möchtegern-Rambos werden innerhalb von Minuten von spontan gebildeten Milizen überrannt werden, die jeden erschießen, der Schwierigkeiten macht. Ein schlichter Gebrauchsgegenstand wie ein Fahrrad wird wesentlich wertvoller sein als Munition, wenn es erst mal so weit ist.
Auf dem Höhepunkt des Romans beschließen die in Bedrängnis geratenen Mandibles, Brooklyn zu verlassen, wo sie sich kurz zuvor zusammengefunden haben, um sich auf den langen Fußmarsch nach Gloversville zu machen, einem kleinen Ort nordwestlich von Albany an den Ausläufern der Adirondack-Berge im Bundesstaat New York. Jarred, ein Verwandter der Mandibles, war vor einiger Zeit dorthin gezogen und hatte eine Farm gekauft. Schon vor der schlimmsten Phase der Krise hatte Jarred einen Prepper-Instinkt entwickelt, aber seine Farm war kein Bunker, sondern ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Obstbäumen, Gemüseplantagen und Nutzvieh. Er ließ seine Verwandtschaft wissen, dass sie willkommen sei, wenn sie es denn bis zur Farm schaffen würde – er habe reichlich Arbeit für Hilfswillige, die er mit Lebensmitteln und einem Dach über den Kopf versorgen würde. Die Mandibles aus Brooklyn bewältigen den langen Marsch und überleben am Ende.
Der Schlüssel zum Überleben nach einem echten Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung ist kein Bunker, Gewehr oder Privatjet, sondern Gemeinschaft. Wenn Sie auf sich allein gestellt sind, werden Sie nicht überleben, aber vielleicht in einer Gemeinschaft, die bereit ist, sich gegenseitig mit Nahrung, Trinkwasser, Arbeit und handwerklichem Geschick auszuhelfen. In den Städten wird das Leben schneller zum Erliegen kommen als in den ländlichen Regionen, weil die Städte zu sehr auf elektrischen Strom und öffentliche Nahverkehrsnetze angewiesen sind und zu anfällig für Aufstände, Plünderei und Gewaltkriminalität. Shriver beschreibt eine Hausbesetzung in Brooklyn, die zugleich erschreckend und auf surreale Weise komisch ist.
Aber noch lange, nachdem die Städte unbewohnbar geworden sind, werden ländliche Regionen relativ reibungslos funktionieren können, nicht durch Waffengewalt, sondern durch Gemeinschaft. Die Menschen werden sich um ihre Nachbarn kümmern; wer Arbeit hat, wird andere mit den benötigten Fertigkeiten beschäftigen. Produktion und Preise werden sich stabilisieren. Die beste Art, sich das vorzustellen, sind nicht die öden Landschaften aus McCarthys The Road, sondern das kleinstädtische Leben um 1901 in Grover’s Corners, New Hampshire, wie Thornton Wilder es in seinem Theaterstück Our Town (»Unsere kleine Stadt«) dargestellt hat. Für George Gibbs, den kleinen Nachbarsjungen aus Our Town, ist ebenso wie für Jarred Mandible eine Farm wichtiger als ein College-Abschluss.
Und wie steht es um Geld und Wohlstandssicherung? Sowohl in Wilders Grover’s Corners im Jahr 1901 als auch in Shrivers Gloversville im Jahr 2029 gibt es Geld. In Grover’s Corners sind es Silbermünzen und durch Gold gedeckte Banknoten; in Gloversville sind es Gold- und Silberbarren, durch Gold gedeckte Banknoten oder einfach Tauschhandel. Doch es gibt kein Zahlungsmittel wie das, was wir heute Geld nennen – ungedecktes, von der Fed gedrucktes Papiergeld. In beiden Ortschaften läuft Wohlstand letztlich auf Sachwerte und die Leistungen des Einzelnen als Arbeiter, Künstler oder Unternehmer hinaus. Eine andere Form von Wohlstand, die in Grover’s Corners oder Gloversville keine Rolle spielt, sind Aktien und Anleihen. Diese Realität wird von Shriver sehr anschaulich zum Ausdruck gebracht mit der wütenden Tirade eines Professors, dessen Portfolio durch den vorangegangenen Crash wertlos geworden ist:
All die Rentenfonds mit ihren Kreisdiagrammen mit zweiundsechzig Prozent Aktienkapital und siebenundzwanzig Prozent Anleihen, all die Anlagekonten mit ihren gegensätzlichen Strategien von »Wachstum« und »Ertrag«, die beflissenen Fragebögen von Morgan Stanley über den Grad des Risikos, den du einzugehen bereit bist, Fragebögen, die den Umstand herunterspielen, dass sich nirgends ein »kein Risiko« ankreuzen lässt, die »Large Caps« und die »Small Caps«, die »Schwellenmärkte« und die Feinjustierungen: Vielleicht sollten wir uns etwas stärker in den Energiemarkt bewegen und die Betonung vom Pharmasektor nehmen… All diese Konten und Fonds sind platt, egal, was für eine Strategie sie verfolgt haben.96
Anders ausgedrückt: Harte Sachwerte und harte Arbeit sind die einzigen stabilen Wertaufbewahrungsmittel. Aktien und Anleihen werden ihren Wert verlieren, weil die emittierenden Unternehmen kollabieren werden, und der nominale Wert dessen, was übrigbleibt, wird von der Inflation aufgefressen werden. Vielleicht wird das Spiel von Neuem beginnen, doch erst werden die alten Spieler vom Brett gefegt.
Das soll nicht heißen, dass man heute neben harten Sachwerten nicht auch Aktien und Anleihen halten sollte. Worauf es ankommt, ist, wachsam und flexibel zu sein, während die Lage immer schlimmer wird und die Risiken zunehmen. In nicht allzu ferner Zukunft werden schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, um erst von Wertpapieren in Cash und dann von Cash in Gold umzuschichten … und vielleicht in eine Farm.
Shriver lässt ihren Roman The Mandibles mit einer Enthüllung des ältesten Familienmitglieds enden, der den Clan mit einem Geschenk in Form der einzigen Art von Geld rettet, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihren Wert behalten hat und in einer Schachtel versteckt ist. Ich werde Ihnen die Überraschung nicht verderben, indem ich Ihnen verrate, was sich in der Schachtel verbirgt. Aber wenn Sie meine Bücher kennen, werden Sie es wahrscheinlich erraten können.
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