ZEITIG

Kriminalroman

Christian Locker


ISBN: 978-3-903059-32-0
1. Auflage 2019, Krems an der Donau
© 2018 EDITION ROESNER

EDITION ROESNER - artesLiteratur
Titelbild von Christian Locker ©, Öl auf Leinwand
Letztkorrektur: Mario Dalbosco

Alle Rechte vorbehalten.


Inhalt

Christian Locker

(1963 – 2018)

 

Christian Locker nahm Unterricht in klassischer Ölmalerei bei Elis Stemberger, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis und war ein bedeutender phantastisch-realistischer Maler und surrealistischer Schriftsteller. Er lebte in Wien und Schwarzau im Gebirge, Niederösterreich.

 

Neben seiner umfangreichen Betätigung als Maler mit ungezählten Ausstellungen war er nicht nur jahrelang Mitarbeiter beim von Jörg Mauthe herausgegebenen Wiener Journal, sondern veröffentlichte auch zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften und verfasste seine legendären Romane.

Christian Locker verstand dieses kurz vor seinem Tod

veröffentlichte Werk als sein geistiges Vermächtnis.

Mit einem Vorwort von Peter Pisa

Gefördert durch

das Land Niederösterreich

und das Bundeskanzleramt

 

Vorwort

 

von Peter Pisa

Peter Pisa ist Literaturkritiker und Kolumnist der Zeitung KURIER.

 

Ich habe Christian Locker nicht gekannt. Das mag, ins Vorwort seines letzten Romans geschrieben, eine überraschende Feststellung sein.

Nicht er, sondern Peter Hofbauer hatte mir im Frühjahr 2012 Lockers ersten Roman „Einfach jeder” ins Büro gebracht, und auch von Hofbauer, dem Direktor des Metropol-Theaters in Wien, kann ich nicht behaupten, ihn zu kennen. Er war einfach da und erzählte: Neulich saß er im Glacis Beisl, als ihm ein Typ mit wenig, aber dafür wallendem Haar – er dachte zuerst an mich – den Roman auf den Tisch legte. Das war Locker. Er, Hofbauer, begann zu lesen und war rasch davon überzeugt, dass es sich um etwas verrückt Gutes handelt, und da dachte er an mich. Ich ließ das Buch liegen.

Und war dann eines Tages doch gefangen zwischen Rax und Schneeberg, wo unterirdisch Gericht gehalten wird. Menschen werden gesteinigt, guillotiniert, Löwen zum Fraß vorgeworfen, und bis man merkt, dass das ein Plädoyer gegen die Todesstrafe ist, glaubt man, einen halluzinogenen Pilz gegessen zu haben. Christian Locker schrieb so … surreal bodenständig.

Ich verstand den (auch schon toten) Publizisten David Axmann, der ihn mit Herzmanovsky-Orlando verglichen hatte, beim zweiten Roman noch besser: In „Wann endet die Gemütlichkeit?“ plant eine vertrottelte Runde – inkl. Universitätsprofessoren –, einen angeblichen Habsburger an die Macht zu putschen.

Diesen Roman brachte Locker persönlich in den KURIER. Ich mag Überfälle nicht besonders und hatte damals meist mein Zimmerchen von innen zugesperrt. Was allerdings mehrmals dazu führte, dass ich gegen die eigene verschlossene Tür prallte.

Christian Locker hatte jedenfalls Glück. Es war offen. Und ich hatte ebenfalls Glück: Er überreichte mir das Buch nahezu wortlos und war schon wieder weg. Er wollte nicht stören. Ein himmlischer Autor. Doch ist es unter derartigen Umständen schwierig, einander kennenzulernen.

Bald darauf kam „Im Berg(l)“ per Post. Das war wieder unterirdisch und drehte sich auch um eine Zeitreise in den Weltkrieg zu Nationalsozialisten, die sich unter der Erd‘ vor den Russen versteckten und eine Runde Freibier ausgaben.

Freundliche E-Mails zwischen Locker und mir gingen hin und her, man duzte einander, ehe im Roman „Den Galgenvogel abgeschossen“ ein Mann aus Wien nach dem Besuch beim Zahnarzt in ein Paralleluniversum fällt: Eine Kaiserin regiert, und im Wirtshaus sind 15 Neu-Heller extra zu zahlen, falls am Plumpsklo mehr als drei Blatt Papier verwendet werden.

In „Unnötiges Österreich“ hat Locker dann viel Autobiografisches hineingepackt. Was, wie die Handlung, unglaublich ist. Denn eigentlich geht es um etwas anderes, um den Untergang Österreichs. Der Bundeskanzler ist schon geflüchtet. Die Innenministerin verirrt sich in ein Altersheim, wo die Bewohner von ihr erfahren möchten, wie es weitergeht. Geht es denn weiter?

 

Der Journalist Martin Haidinger hat mit dem sterbenskranken Schriftsteller im April 2018 ein letztes Gespräch geführt. Christian Locker machte sich wieder Gedanken in der Art: Was wäre, wenn man den eigenen Großvater erschlägt? Kommt man dann überhaupt auf die Welt? Er glaube an die Zeitlosigkeit, verriet er.

Damit führt der Weg zum Roman „Setzen! Nicht genügend“ zurück, es war chronologisch der vierte: 30 Jahre nach der Matura treffen sich alte Schulkollegen, und ein längst verstorbener Mitschüler setzt sich dazu. Einfach so. Er hat brav sein Lateinbuch dabei. Christian Locker notierte: „Muss jemand diese Welt verlassen, kann man logischerweise erwarten, dass er nicht so bald wiederkommt.“

 

Aber nein, nein, das hat er nicht ernst gemeint. Das schrieb er nur so hin. Nichts kann man erwarten. Und bei ihm schon überhaupt nicht. Deshalb ist es nicht schlimm, dass ich Christian Locker nicht gekannt habe. Wir haben ewig Zeit dafür.

Kapitel I - Schillinge und Groschen

 

Grundsätzlich sollte man wissen, dass neunzig Prozent der menschlichen Hirne eine sehr determinierte Auffassungsgabe besitzen und schnell völlig überfordert sind. Allerdings geht die derzeitige Gesellschaft so weit, jedem, der auch nur halbwegs seinen Namen nennen kann, das Wahlrecht zuzubilligen. Daher sind manchmal geistige Abstriche zu machen, möchte man sich Gehör verschaffen. Denn, wenn man etwas in dieser Welt bewegen möchte, muss man sich des demokratischen Prinzips bedienen, auch wenn man selbst davon überzeugt ist, dass es für die Bevölkerung dienlicher wäre, ließe man geschulte Fachkräfte statt amateurhafter Politiker ans Ruder.

Dass es ihm, einem Akademiker, langsam reicht, eine zuhörende Menschenmenge zu bedienen, liegt einerseits an den schwachsinnigen Fragen, die heute aufgeworfen werden. Und andrerseits sollte er sich zu fragen beginnen, ob die Menschen überhaupt reif für eine Veränderung sind oder vielleicht nur deswegen hier sitzen, weil sie nichts Besseres zu tun haben. Jedenfalls, zwei Stunden Vortrag inklusive Podiumsdiskussion reichen zur Genüge, und der Vortragende Dr. Zerner setzt zum Schlusswort an: „Liebe Freunde …, wir sehen uns nächste Woche! Ich muss mich beeilen, weil ich noch unseren Kontaktmann aus Brüssel treffe … Wünsche noch einen schönen guten Abend!“

Die einzige Begegnung, die er noch andenkt, ist eine mit einem guten Glas Rotwein, doch wird er diese in seinem trauten Heim haben. Die gebotene Eile verhindert, dass er noch etwaige Worte mit halbschwachsinnigen Mitarbeitern führen oder schwitzende Hände schütteln muss. So durchmisst er, jovial grüßend, raschen Schrittes den ehemaligen Kinosaal und befindet sich alsbald im Foyer, wo sich normalerweise zu dieser Zeit niemand befinden sollte, weil die Schmalbacher Lichtspiele nur mehr für private Veranstaltungen reserviert sind und eigentlich alle Anwesenden ihm zugehört haben sollten.

Weswegen ihm diese Dame vor dem geschlossenen Buffet sofort auffällt, könnte mehrere Gründe haben. Zum einen kommt ihm der vage Verdacht, dass er sie von irgendwoher kennen könnte, und zum anderen muss er sich eingestehen: Dieser spezielle Frauentyp gefällt ihm durchaus … Da trifft es sich gar nicht so schlecht, dass sie sogar nähertritt und etwas schüchtern sagt: „Dr. Zerner …, verzeihen Sie, dass ich Sie hier störe …, aber ich muss Sie leider dringend sprechen!“

Zwar findet sein Hirncomputer noch immer nicht die richtige Datei, die Frau irgendwo zuzuordnen, trotzdem sollte man möglicherweise nicht zu hartherzig reagieren: „Gerne …, äh …, könnten wir vielleicht …?“ Er sollte sich sputen, wollte er nicht den bereits in den Vorraum dringenden Zuhörern in die Hände fallen, die ihn alsbald mit elenden Belanglosigkeiten bombardieren würden. Daher wäre es dringend klüger, einen geeigneteren Ort zu finden, ein Gespräch anzugehen.

Als hätte die Person im beigen Kostüm die gleiche Idee, hakt sie sich bei ihm ein und erklärt sich damit bereit, gemeinsam das ehemalige Kino zu verlassen. Man lässt vorsorglich die Pizzeria auf der anderen Straßenseite links liegen, weil die meisten seiner Gesinnungs- bzw. sogenannten Parteigenossen nach der Veranstaltung dort weiter zu diskutieren pflegten, was seiner Absicht nach Ruhe diametral widersprechen würde. Allerdings kennt er sich in diesem Grätzel nicht sonderlich gut aus, wo man eventuell ein Privatissimum abhalten könnte. Die blonde Dame freilich lenkt ihre beiden Schritte zielsicher nach rechts in die nächste Seitengasse, wo man in etwa dreißig Metern ein beleuchtetes Signet erkennt, welches auf einen gastronomischen Ausschank schließen lässt.

Da der Mann zuerst in das Innere einer Wirtsstube blicken soll, um etwaige Unpässlichkeiten vorab abzuchecken, erkennt Dr. Zerner, dass es sich um ein Kaffeehaus handelt, in welchem man glücklicherweise noch rauchen darf. Denn neben dem Wein steht ihm der Sinn oder eher die Sucht nach einer Zigarette. Und wenn er schon seine solitäre Trinkabsicht aufgibt und sich in Gesellschaft begibt, dann soll diese wenigstens mit der Annehmlichkeit des Tobaks verbunden sein. Natürlich kann er der schmalen Nase und den sinnlichen Lippen seiner Begleitung ebenso einiges abgewinnen, und dass die dunkelblauen Augen hinter einer Brille mit Goldrand glänzen, gefällt ihm durchaus!

Da man dann auch an einem Rauchertisch im hinteren Bereich Platz nimmt, könnte man davon ausgehen, einen unerwartet netten Abend vor sich zu haben, auch wenn man bekritteln könnte, dass dieses Café die besten Zeiten längst hinter sich hat. Trotzdem erscheint nach angemessener Zeit ein jüngerer Herr, der am weißen Hemd gerade noch als Ober zu erkennen ist und erkundigt sich sogar nach Wünschen.

Dr. Zerner gilt als großzügig: „Gnädige Frau …, darf ich Sie vielleicht auf ein Glas einladen …, also ich würde einen Roten vorschlagen?!“ Ein stummes Nicken scheint den Vorschlag zu goutieren, und Dr. Zerner, der es gar nicht mag, alle zehn Minuten nach einem Achtel zu winken, meint bestimmend: „Bringen Sie uns eine ganze Flasche … und zwar was Ordentliches!“

Selbst in der Raucherzone gebietet es die Höflichkeit, sich gewisser Manieren zu befleißigen, und obwohl Dr. Zerner weiß, dass seine filterlose Sorte meist dankend abgelehnt wird, greift sein Gegenüber sogar zu. Doch als er dann Feuer geben möchte, spielt sein Feuerzeug jene Stückeln, die man als Suchtmensch nicht mag. Dass dann der Kellner eingreifen muss und den Flammendienst versieht, besitzt den Vorteil, dass der Wein nicht mehr weit ist. Bei ihm wenigstens scheint sich der Feuerstein wieder eingekriegt zu haben, denn seinen Tschick kann er sich selbst anzünden.

Auch wenn es dem augenscheinlichen Stil des Lokals widerspricht, zeigt auch der Kellner Kultur und hält die Flasche Dr. Zerner so vors Gesicht, dass dieser das Etikett begutachten kann, Roter Burgunder, darunter steht: Süffiges Tröpferl aus St. Georgen, und in etwas kleinerer Schrift: Weinhandel Theobald Kober & Sohn. So entspricht es aber nicht dem österreichischen Weingesetz, urteilt Dr. Zerner still vor sich hin, vertritt er doch die Ansicht, dass gerade der Glykolwein-Skandal für exakte Etikettierungen gesorgt hat. Als jedoch sein Blick auf die Jahreszahl fällt, welche wohl die Weinernte angeben soll, ist er sich ziemlich sicher, eine Ungereimtheit entdeckt zu haben. Denn, wenn man sich nicht gerade in einem Luxus-Gourmet-Tempel mit einem Faible für historische Weine befindet, wird 1931 wohl weniger auf das Lese-Jahr hindeuten …

Wie er darauf aufmerksam machen möchte, muss er mit Erstaunen feststellen, dass sich auch der Kellner merklich verändert hat, wiewohl es sich nach seiner Erinnerung um exakt den gleichen Mann handelt. Weswegen er sein schäbiges Outfit durch einen Frack ersetzte, sollte man möglicherweise hinterfragen, doch Dr. Zerner drängt darauf, endlich etwas zu trinken zu bekommen. Allerdings muss er noch ein umständliches Dekantier-Ritual abwarten, bis endlich die Gläser befüllt werden. Dass er dann darauf vergisst abzuwarten, bis die Dame ihres hebt, und seines in einem Zug herunterstürzt, hat wohl damit zu tun, dass ihm irgendetwas nicht sonderlich gut aufstößt. Der Wein freilich ist es nicht.

„Herr Doktor …, ich muss Sie jetzt endlich bitten, mir Auskunft zu erteilen, wie die Agenden bezüglich meiner Söhne verlaufen sind … Ich kann einfach nicht mehr warten!“

Dr. Zerner wird es nicht gestattet, sich selbst nachzuschenken, denn wie er nach der Bouteille greifen möchte, ist der Ober schon dran und tut das Seinige. Er bräuchte sich also nur dem Wein zu widmen, doch in Gegenwart einer schönen Frau sollte man natürlich eine gepflegte Kommunikation in Erwägung ziehen. Nur … kann er absolut keine Auskunft erteilen, weil er den gerade gehörten Satz nicht einmal in den Ansätzen verstanden hat: „Entschuldigen …, ich bin jetzt etwas verwirrt!“ Dr. Zerner beobachtet, dass die Dame ebenso eine gewisse Unsicherheit ausstrahlt, die womöglich von irgendeiner Sorge herrührt. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Bitte sagen Sie mir, ob wir eine Chance haben, dass sie bald aus dem Gefängnis entlassen werden?!“

Dr. Zerner findet noch immer keinen Sinn in den Worten, aber da er als sensibler Mensch bemerkt, dass sich in ihren Augen Tränen bilden, sollte er womöglich eruieren, weshalb? Dazu freilich müsste man einmal hören, worum es sich dreht.

Da die folgende Geschichte wenig Sinnzusammenhang zeigt und immer wieder von einem Schluchzen unterbrochen wird, mutmaßt Dr. Zerner, dass er vielleicht das Opfer einer Verwechslung geworden sein könnte. Obwohl diese süße Person mehrmals seinen Namen nennt und ihn als Rechtsanwalt tituliert, muss er ihr das endlich sagen: „Pardon, gnädige Frau …, ich vermute, Sie verwechseln mich mit jemandem!“

„Aber Sie sind doch Dr. Zerner …, Dr. Albert Zerner …, wer sollten Sie denn sonst sein?“

„Natürlich bin ich …“ Dr. Zerner erklärt in knappen Worten, wer er ist, was allerdings zur Folge hat, dass in den gegenüberliegenden Augen die Tränensäcke platzen und feuchte Wasserfälle die Wangen hinunterstürzen.

„Weshalb treiben Sie solche Scherze mit mir, Dr. Zerner?“

Wenn es um Scherze geht, empfindet Albert, dass eher einer mit ihm getrieben wird. Denn während er über die Dame hinweg durch den Raum blickt, muss er sich leider fragen, ob man bereits nach zwei Glas Wein weiße Mäuse sehen kann. So trinkt er vorsorglich ein drittes, bevor er sich eingesteht, dass er dieses Kaffeehaus in völlig anderer Erinnerung hat. Denn bei ihrem gemeinsamen Eintritt sah alles eher nach jahrelanger Patina aus, nun aber zeigt sich das Interieur fast prunkvoll, wenn nicht sogar überladen. Wo vorher eine schäbige Funsen hing, hängt jetzt ein Kristallluster, und die abgeschabten Bänke wirken wie neu überzogen. Auch dürften in der Geschwindigkeit die Gäste gewechselt haben, denn statt schlecht gekleideten Schlurfs in Jeans und Leiberl sitzen rundherum nun adrett adjustierte Personen in Anzug und Kleid.

„Bitte, lieber Herr Doktor …, lassen Sie mich nicht im Stich!“

Grundsätzlich sieht sich Dr. Zerner als äußerst hilfsbereit und zuvorkommend. Allerdings kann man Hilfe nur dann angedeihen lassen, wenn man auch weiß, wie. Also sollte er nun als erstes einmal in Erfahrung bringen, mit wem er es zu tun hat, denn bislang vergaß er eigentlich, diese elementare Frage zu stellen. Aufs Trinken freilich vergisst er nicht.

„Das wissen Sie doch! Weshalb quälen Sie mich?“

Langsam aber sicher wird sich Albert unsicher, was er denken soll. Denn einerseits zeigt sich manches in seiner näheren Umgebung als sonderbar, andrerseits kommt immer mehr ein seltsamer Verdacht auf und der hat mit dem vorhin aufgeworfenen Begriff ‚Scherz‘ zu tun. Womöglich treibt irgendjemand gerade einen solchen mit ihm. Womöglich spielt die gegenübersitzende Person dabei sogar eine tragende Rolle. Dr. Zerner gilt nicht unbedingt als Spezialist im Agentenwesen, aber in seiner Position könnte er mit Sicherheit manchen als Dorn im Auge gelten.

Ist er denn nicht in letzter Zeit mehreren Politikern sogar gefährlich geworden, weil er einiges aufs Tapet gebracht hat, was diese unter den Teppich kehren wollten? Hat er eventuell einen dieser Geister heraufbeschworen, die ihm jetzt irgendwie an die Gurgel wollen, weil er sich nicht korrumpieren lässt? Und gehört dazu nicht auch dieser seltsame Anruf während des Mittagessens mit seiner Sekretärin, wo von einem anonymen Anrufer ins Telefon gehaucht wurde, dass er sich vor dem heutigen Tag hüten solle, wolle er nicht die Gegenwart verlieren? Handelt es sich hier womöglich um eine Agentin, die auf ihn angesetzt worden ist, um …, um was zu tun?

Naheliegend ist stets ein Mord, falls man jemanden aus dem Weg räumen möchte, der in selbigem steht. Allerdings glaubt Dr. Zerner eher nicht, dass man ihm ganz banal nach dem Leben trachtet, denn dazu befinden sich eindeutig zu viele Zeugen hier im Raucherbereich …

Da nun plötzlich die Schiebetüre zwischen Raucher- und Nichtraucherzone verschwunden scheint, kann das mögli­cherweise bedeuten, dass er bereits etwas halluziniert, was irgendwie indiziert, dass seine Sinne beginnen Streiche zu spielen. Und wenn so etwas geschieht, ergibt sich leicht eine Diagnose … – Natürlich …! Das ist es! Wie gelingt es am besten, jemanden – besonders politisch – zu desavouieren …, als ihn für geisteskrank erklären zu lassen …! Doch wie sollte das bei einem normalen Menschen mit keinerlei schizoiden Ansätzen vonstattengehen …? – Klar!!! Mit Drogen! Und wie jubelt man jemandem Drogen unter, von dem man weiß, dass er ein gutes Glas Wein schätzt?!

Dummerweise hat Dr. Zerner bereits die ganze Flasche geleert, was in der Regel wenig Einfluss auf seinen Geisteszustand hat. Aber, und diesen Gedanken versucht er sich nun einzuimpfen, Sinnesverwirrungen kann man auf jeden Fall mit einem eisernen Willen bekämpfen, wenn man nur will: Er wird eine Methode anwenden, um den Spieß umzudrehen und die Agentin ihrerseits in die Enge zu treiben. Denn, wenn sie schon die ganze Zeit tut, als würde sie ihn kennen, soll sie doch einmal sagen, woher?!

„Gnädige Frau …, ich muss zugeben …“, Dr. Zerner subtilisiert vorsichtig, „ich bin selbst etwas verwirrt … und muss Sie bitten, mir alles noch einmal vom Anfang an zu erzählen!“

Ein ziemliches Erstaunen legt sich um die dunkelrot gefärbten Lippen. „Vom welchem Anfang an???“

„Na, einfach, wie Sie heißen!“

Statt einer Antwort strahlt dem Dr. Zerner nun völligstes Unverständnis entgegen. Doch er bleibt unerbittlich, spielt er doch mit der Idee, diese Frau aufs Glatteis zu führen. Denn womöglich war ihr nur die Aufgabe zuteil, ihn in dieses Kaffeehaus zu locken, damit er hier vergiftet werde. Aber nun muss sie eine Geschichte erfinden, wer sie vorgibt zu sein. Womöglich wurde sie darin ja gar nicht geschult, was sich gleich in ihrer Namensnennung outet …“

„Sie wissen doch, wer ich bin!“

„Na, wer?“

„Colombina Tauber …“

Dr. Zerner goutiert zwar die eindeutig blühende Phantasie, die sich hinter diesem klingenden Namen verbirgt, möchte aber nun auch eine dazugehörige Biographie hören und besteht sogar darauf –, er argumentiert gewitzt mit möglichen Ungenauigkeiten in seinen Unterlagen –, dass sie sogar mit Geburtsort und Datum beginnen müsse.

Dagegen, dass sie am 19. März 93 in Prag geboren sein will, sprechen zwei Dinge: ihr akzentfreies Deutsch und, das sieht sogar ein Blinder, dass diese Frau weit von ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag entfernt steht.

„Meine Eltern …“ Sie kommt leicht ins Stocken, wahrscheinlich will sie sich jetzt irgendwelche Namen ausdenken, die nicht ganz so skurril wie der ihrige klingen. „Mein Vater ist …“ Es folgt ein Familienstammbaum mit allerlei Seitenlinien und Verwicklungen, wobei sie vorgibt, verwitwet zu sein und die beiden Knaben alleine großgezogen zu haben. „Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass sie sich so verblenden ließen!“ Schon wieder kommt Dr. Zerner namentlich ins Spiel, doch diesmal auch der niederösterreichische Ort Wöllersdorf.

Theoretisch steht Dr. Zerner noch immer der Sinn nach Wein oder wenigstens nach einem geistigen Getränk. Prak­tisch sollte man eventuell auf Bier umsteigen und zwar auf eine geschlossene Flasche, welche sich nicht so leicht präparieren ließe. Jedoch zeigt sich der Kellner sofort als Komplize, weil er vorgibt, dass man hier nur offenes Bier serviere. Also muss man sich erneut für Wein entscheiden, doch diesmal besteht Dr. Zerner darauf, dass man gleich mehrere Flaschen bringen solle, und er werde dann eine auswählen. Dass er sich nicht für den Burgunder entscheidet, liegt in einer begründeten Vermutung, und dass er den Portugieser selbst öffnet, in einem gewissen Selbstschutz. Jeder Wein hier im Lokal wird wohl nicht vergiftet sein!

Während der Rebensaft nun fröhlich weiterrinnt, muss Frau Tauber (?) sich mit weiteren G’schicht’ln abquälen, die ebenso wenig Hand und keinen Fuß haben. Und auch wenn es unhöflich erscheint, einen Abend jäh zu beenden, sieht Dr. Zerner wenig Notwendigkeit, länger hier zu verweilen. Zudem legt sich eine gewisse Müdigkeit in seine Knochen …

Als er die ersten Anstalten macht, seinen Platz zu verlassen, hat er nicht mit weiblicher Reaktion gerechnet. Ob der gewaltige Tränenwasserfall tatsächlich echt ist, entzieht sich seiner Erfahrung, seine Wirkung verfehlt er keineswegs. Jedenfalls bewegen sich seine Hände plötzlich zu den ihrigen, weil ihm das Weinen doch mehr an die Nieren geht, als er zugeben möchte, und beginnen diese zu streicheln. Sie lässt sich das sogar gefallen.

Außerdem muss man dem Geheimdienst zugestehen, tadellos recherchiert zu haben. Denn wenn man in Zerners Leben herumstierlt, kann man ziemlich leicht herausfinden, wie eine Frau auszusehen hätte, auf die er abfährt. Man bräuchte nur in seine Wohnung einzudringen, wo man bereits im Vorzimmer ein Porträt vorfände, welches seine Jugendliebe Angela Vrank in Essig und Öl gemalt zeigt. Dieses hatte vor Jahrzehnten ein talentierter Schulkollege angefertigt, der es im Stil Volnýs malte, wobei dieser Kollege ein Nachfahre des berühmten österreichischen Frauenmalers war und heute sogar selbst als anerkannter Künstler gilt, wenn er auch mittlerweile völlig dem Realismus entfremdet arbeitet.

Die Vorstellung, dass jemand in seine Privatsphäre eindrang, nimmt nicht sonderlich überhand, weil Dr. Zerner sich nun beauftragt sieht, Trost zu spenden. Natürlich könnte ein herzloser Geselle dieser Mata Hari übel gesonnen sein, doch womöglich hat man die arme Frau zu ihren verwerflichen Handlungen gezwungen.

Albert sieht sich als Mensch mit profunden psychologischen Kenntnissen, und zudem musste er schon länger auf erotische Abenteuer verzichten. So sollte man behutsam darauf hinweisen, dass man ihr auf die Schliche kam, aber ihr deswegen nicht gram wäre: „Colombina …“ Noch muss er diesen vertrottelten Namen verwenden, der sich wahrscheinlich bald in Helga oder Ilse verwandeln wird. „Ich bin Ihnen doch nicht böse …, manchmal macht man eben Dinge, die man so vielleicht gar nicht möchte …“ Auch wenn Dr. Zerner um die beruhigende Wirkung seiner Stimme Bescheid weiß, setzt er zusätzlich gekonnt seine rechte Hand ein und streicht sanft über ihre Wangen.

Ein Lichtblitz blitzt in ihren Augen auf, sie dürfte sich etwas fangen, weil die Tränenbäche langsam versiegen. „Also können Sie mir doch helfen …, Herr Doktor …, ich habe schon geglaubt, verrückt geworden zu sein, weil Sie heute so völlig anders als sonst wirken!“

Eigentlich fühlt sich Dr. Zerner immer mehr so wie immer, zumal die zweite Weinflasche frei von jeglichen Schadstoffen sein dürfte. Allerdings bewirkt die nunmehrige Klarheit seiner Gedanken, dass er sich seiner vorherigen Theorie bezüglich Agentin gar nicht mehr so sicher ist. Vielleicht hat er es tatsächlich nur mit einer ganz normalen Verrückten zu tun, die sich ihm einfach an den Hals wirft, weil er eine ziemlich prominente Persönlichkeit darstellt? Und er zieht sicherheitshalber wieder seine Fingerspitzen von der Dame ab.

Freilich erklärt das kaum, weshalb sich seine Umgebung noch immer in einer Befremdlichkeit zeigt, die so nicht sein dürfte. Leider gilt er nicht als Kenner in Drogen-Halb­wertszeiten und kann so nur hoffen, dass sich die Giftstoffe so rasch wie möglich aus seinem Körper verflüchtigen und somit ebenso die Trugbilder verschwinden. – Jedenfalls wäre es vielleicht doch angebracht, den Abend hier in diesem Café zu beschließen, zumal er morgen unüblicher Weise relativ früh aus den Federn muss, weil ein routinemäßiger Zahnarzttermin ansteht. Als Galan alter Schule wird er sich darum kümmern, dass sie ihren Weg nach Hause findet, wo immer der auch sein mag. Etwas steht sogar eine einschlägige Klinik im Hinterstübchen …

Ein Blick auf die Uhr wird die Bestätigung geben, dass man sich klugerweise bald auf die Socken machen sollte. Nanu? Wenn er jemals eine derartige Uhr besessen hätte, wäre sie aufgrund seiner derzeitigen finanziellen Situation wahrscheinlich längst im Pfandhaus gelandet. Doch wer ihm dieses Chronometer ums Handgelenk gebunden hatte und wie, kann sich Dr. Zerner nicht erinnern. Jedenfalls muss es nach seinem Vortrag in den Lichtspielen gewesen sein, denn dort blickte er mit Garantie noch auf seine Plastik-Digitaluhr. Doch einen tieferen Sinn, was es mit diesem goldenen Zeitmesser auf sich hat, findet er nicht … Da freilich eine nachtschlafende Zeit durch die filigranen Zeiger mitgeteilt wird, folgt ein lautes: „Ober, zahlen, bitte!“

Normalerweise pflegt Dr. Zerner sein Geld einfach im Hosensack zu verwahren, doch statt der üblichen Scheine fördert seine Hand einen halbkreisförmigen Gegenstand zu Tage, welcher als antiquierte Münzbörse zu erkennen ist. Nicht, dass er eine solche stilistisch ablehnen würde, denn eigentlich gibt sich Albert sowieso als kleidermäßiger Sonderling, der nicht hundertprozentig ins einundzwanzigste Jahrhundert zu passen scheint. Doch ähnlich der Uhr hat sich ein solches Portemonnaie keineswegs in seinem Besitz befunden … – Weitere Nachforschungen in seinem Hosensack lassen nur ein leicht verrotztes Stofftaschentuch finden. So muss man inständig hoffen, dass diese Börse keineswegs eine hohle Dekoration ist, möchte man nicht Schwierigkeiten mit dem Kellner bekommen und in den Verdacht der Zechprellerei geraten.

Ein erstes Rütteln mit darauffolgendem Klimpern lässt wenigstens Münzen erahnen, doch in Anbetracht von zwei getrunkenen Bouteillen könnten diese möglicherweise ein aufkommendes Ärgernis nicht verhindern. Trotzdem zieht er die Schlaufe und lässt den Inhalt auf die Marmorplatte purzeln.

Obwohl es sich dem Prägezustand nach durchwegs um ziemlich neuwertige Exemplare handelt, kann man weniger von einer währungsmäßigen Aktualität sprechen. Dass es sich um keine Euro handelte, könnte er selbst ohne Brille erkennen, doch selbst als Kind des Schillingzeitalters treten einige Fragen auf. Was bedeutet die Aufschrift „HALB. SCHILLING“ auf diesem Silberling, auf dem nicht einmal eine Jahreszahl zu erkennen ist? So eine findet sich dann zwar auf einem Zehngroschenstück und gibt „1928“ an, aber selbst wenn man die Umschrift „REPUBLIK OESTERREICH“ liest, folgt kein Déjà-vu. Auch alle anderen Stücke sind ihm nicht geläufig, sondern befremden eher. Insbesonders das Fünfgroschenstück, welches auf der Rückseite das Kruckenkreuz zeigt. Mit diesem Symbol verbindet Dr. Zerner eine Erinnerung an eine sehr ambivalente Epoche der österreichischen Geschichte, und es nährt sich erneut der Verdacht, dass politische Motive im Spiel sind, die ihn irgendwie in die Mangel nehmen wollten …


Kapitel II - Freiheit

 

Komisch …, sie hat es jetzt mehrmals versucht, und jedes Mal geschieht das Gleiche. Immer, wenn Flora Dr. Zerners Nummer wählt, gibt eine mechanische Stimme zu bedenken, dass dieser Anschluss überhaupt nicht existiere …

Eigentlich kann so etwas nur sein, wenn der Telefonbesitzer sein Gerät abgemeldet hat oder es gesperrt wurde. Doch weshalb sollte der Doktor auf diese abstruse Idee kommen? Er wollte doch, dass sie ihn kontaktiert, wann sie die Folder vorbeibringen könnte und ihr wäre es eindeutig morgen lieber, weil ihr heute eher der Sinn nach einer lustigeren Beschäftigung stünde. Da gäbe es entweder die Vernissage im MuQua oder dies … oder das … – Sie hatte aber hoch und heilig versprochen, die kopierten Texte zu liefern, und wenn sie ihn jetzt nicht erreichte, müsste sie wohl oder übel zu ihm hinausfahren, um das Gewünschte abzugeben. Ärgerlich …, so wird sie sich halt auf den Weg machen müssen. Und der wohnt leider so weit draußen, dass man dorthin nicht laufen kann, weil von der U-Bahn-Station geht es dann noch fürchterlich lange mit einem Autobus, der noch dazu in der Nacht nur alle halben Stunden fährt. Und gerade diese berühmte Experimentalkünstlerin, die sich nur heute in der Stadt befindet, hätte sie gerne live gesehen. Außerdem sind ihre beiden Mitbewohner aus der WG auch dort.

Nicht sonderlich gut gelaunt steigt Flora in die U-Bahn, und dann, als sie bereits an der Busstation wartet, wischt sie noch einmal am Display herum, bis die Nummer ihres Auftraggebers erscheint, und drückt auf „Verbinden“. – Wieder nichts!

Zu doof …, kann sie denn der alte Esel nicht verständigen, wenn er die Handynummer wechselt. Mehr als ein Taschengeld erhält sie ja nicht von diesem verschrobenen Junggesellen. Gut …, die Arbeit ist eher banal und lässt sich recht gut neben dem Studium erledigen, aber was dieser Herr Doktor tatsächlich beruflich macht, konnte Flora bisher weniger durchschauen. Es sieht so aus, als wäre seine Tätigkeit ein Mittelding zwischen … Bürgerbewegung und politischer Partei. Jedenfalls hatte die Annonce im Portal Unijobs auf Sekretariatsarbeiten hingedeutet, was diese eigentlich auch sind. Ihre Aufgaben sind, Einladungen oder Plakate für Zusammenkünfte zu entwerfen sowie Druckerei- und Postwege zu erledigen.

Inhaltlich dreht sich das Textliche um mehr Mitsprache des Bürgers und direkte Demokratie, also Dinge, die überall gefordert werden, auch in Berlin. Aber irgendwie verhält es sich auch anders. Die Leute, die da Dr. Zerner umgeben, sind eher so fünfundvierzig oder sogar fünfzig plus! Also Menschen, die eigentlich schon in der Gesellschaft verwurzelt sind und sich nicht mehr so recht um die Zukunft scheren. Jugendarbeitslosigkeit oder Desillusioniertheit der Jugend sind solchen Menschen wahrscheinlich schnuppe. Flora kann daher nicht sagen, ob das, was Dr. Zerner wirklich vertritt, solche Dinge zum Thema hat. Vielleicht hätte sie doch das von ihm verfasste Büchlein lesen sollen, da dessen Vermarktung genauso in ihren Aufgabenbereich fällt. Jedenfalls musste sie das Buch Zeitungsredaktionen schicken und immer wieder Mails nachsenden, ob eine Rezension eventuell zu erwarten wäre.

Nach endlosen Kurven durch dicht, dann weniger verbautes Gebiet wird die angepeilte Station aufgerufen. Letztes Mal holte sie Dr. Zerner von dort ab, aber sie erinnert sich noch, wie es zur Wohnung geht …, erst in Richtung des Weiterfahrwegs des Busses, dann links über den Platz mit dem hässlichen Brunnen und dann rechts beim hellblauen Haus die dritte Stiege.

Am Klingelbrett findet sie sogleich den Namen und läutet. Nichts. Sie läutet ein weiteres Mal. Keine Reaktion! Was jetzt?!

Natürlich kann man die Tüte mit den Foldern nicht einfach hier auf der Straße abstellen. Vielleicht gelangt sie irgendwie ins Haus und kann ihm den ganzen Krempel an die Wohnungstüre hängen. – Just da öffnet sich die Haustüre von innen, und eine Jungfamilie mit Kinderwagen gibt ihr die Möglichkeit das Treppenhaus zu betreten. Von dort fährt man mit dem Lift in den dritten Stock, hält sich am Flur links. Dort, wo die kindischen Aufkleber picken, ist man dann richtig.

Gerade als Flora die Tüte an die Klinke hängen möchte, bemerkt sie, dass die Tür nur angelehnt ist. Vielleicht befindet er sich doch bereits zuhause und schläft nur tief? Flora checkt diesen Gedanken mit ihrer Armbanduhr ab und verwirft ihn sofort. Um diese Zeit schlüpft nicht einmal ein Tattergreis unter die Bettdecke!

Sie klopft vorsichtig! Noch einmal lässt sie die Fingerknöchel spielen! Nichts zu hören! Soll sie es wagen …?

Im Grunde genommen bestellte man sie ja her. Nur scheint es ihr unheimlich, einen fremden Ort zu betreten, selbst wenn ihr der Bewohner nicht als Fremdling gilt. Und fürchten tut sie sich ebenso wenig vor ihm. Im Grunde genommen zeigt er sich als liebenswürdiger, mittelalterlicher Herr mit außergewöhnlich guten Manieren und einer höchst studentischen Lebensweise …, eher Marke ‚ewiger Student‘! Einer geregelten Tätigkeit dürfte der Doktor nicht nachgehen, und wovon dieser Mann selbst Geld lukriert, gilt ihr eigentlich als Rätsel, wiewohl Dr. Zerner nicht nur ihr gegenüber stets großzügig mit seinem Geld umgeht. Sie konnte sogar miterleben, wie er einfach wildfremde Personen, die er gerade im Kaffeehaus am Nebentisch kennengelernt hatte, auf unzählige Runden eingeladen hat. Sie selbst musste in seiner Gegenwart auch nie irgendetwas mit ihrem Geld bezahlen, nicht einmal einen Fahrschein. Er stellte immer welche bereit, falls sie Wege für ihn erledigen musste … Da öffnet sich zart knarrend, vielleicht durch ein Lüfterl vom Gang, die Wohnungstüre immer weiter. Das Stiegenhauslicht fällt ins Vorzimmer direkt auf das Ölbild der schönen Frau, welches sie bei ihrem Erstbesuch sehr bewundert hatte. „Herr Doktor! Herr Doktor? Ich bin ‘s …, die Flora! Sind Sie zu Hause?“

Kein Mucks!

Dass gerade in solchen Momenten Gedanken an ein Verbrechen kommen können, scheint irgendwie logisch, zumal man durch Tageszeitungen oder Glotze ununterbrochen damit konfrontiert wird, wie Menschen sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Freilich sollte man nie mit dem Schlimmsten rechnen, auch nicht mit dem Zweit- oder Drittschlimmsten. Aber als Studentin der Medizin fallen ihr reichlich Verdachtsmomente ein, was einem älteren Menschen mit einer durchaus ungesunden Lebensweise alles widerfahren könnte. Der Herr Doktor raucht ja wie ein Schlot, und Rotwein verdunstet in Unmengen in seinem Körper, wodurch man nicht verblüfft sein dürfte, wenn sich irgendwann ein Schlaganfall meldet … Außerdem existiert für Flora der Begriff ‚Zivilcourage‘ nicht nur in grauer Theorie. – So atmet sie durch, fasst sich ein Herz und übertritt die Schwelle.

Je weiter sie ins Appartement vordringt, desto düsterer erscheint es, da das Flurlicht nur wenig in den Vorraum eindringt. Ein Lichtschalter findet sich bald. Zwar spendet nur eine einzige Glühbirne spärliche Helligkeit, doch auch die genügt, um festzustellen, dass die eigenen Schuhe kaum mehr zu erkennen sind. Es sieht nicht nur so aus, es fühlt sich sogar so an, als wate man durch einen Sumpf aus Dreck und Staub, der bis fast an den Rand ihrer Stiefeletten ragt. Nicht nur ein geübter Blick würde urteilen, dass hier seit Monaten oder gar Jahren niemand mehr einen Besen geschwungen hatte, was freilich völlig verwundert. Denn sie selbst war vor zwei Wochen hier. Da sah es natürlich kaum nach Essen-vom-Fuß­boden aus, wie in jedem Männerhaushalt, doch nun wirkt es drei Klassen schlimmer!

Flora kann sich noch insoweit orientieren, als dass man durch die linke Türe in den Wohnraum gelangt, wo sich Identes zeigt. Grind, Dreck und fragwürdiges Irgendwas türmen sich auf allem und jedem, vom Teppich angefangen bis auf jedes einzelne Möbelstück. Allerdings fällt ihr noch Zusätzliches auf, was durchaus mit dieser Verwahrlosung in Verbindung zu bringen wäre, wenn man nicht wüsste, dass hier eigentlich jemand wohnt. Denn letzthin standen überall halbvolle Aschenbecher und leere Gläser herum, doch diese fehlen vollends. Überhaupt deutet wenig auf einen Bewohner hin, weil die gesamte Möblage irgendwie systematisch angeordnet scheint, wie etwa die Stühle, welche in exaktem Abstand zum Tisch drapiert stehen. Oder die Bücher, die durchwegs alle in den Regalen stehen und nicht wie bei einem gebildeten Menschen durch die Gegend kugeln.

Was aber nun völlig gegen einen möglichen Bewohner Dr. Zerner spricht, sieht man an seinem Laptop, welcher nicht nur geschlossen, sondern sogar ausgesteckt ist. Dass der Computer ebenso mit einer Staubdecke aufwartet, passt … ins Bild.

Klüger wäre es, augenblicklich eine Fliege zu machen, doch am Ende des Zimmers befindet sich noch eine weitere Türe, von der man annehmen könnte, dass diese in einen Schlafraum führt. Und wenn sie schon so weit in eine fremde Privatsphäre vorgedrungen ist, dann darf man eigentlich nichts auslassen. Also beutelt sie den Dreck von ihren Schuhen und stapft weiter. Durch das Öffnen wird in einem Viertelkreis ein Teil des Bodens freigeschaufelt, doch hinter der Tür zeigt es sich wie gehabt. Freilich fühlt sie sich etwas erleichtert, dass Dr. Zerner nicht in seinem staubigen Bett liegt.

Nun reicht es aber eindeutig! Flora erkennt genau, dass irgendetwas absolut nicht stimmt. Die Entscheidung, einen Abgang zu machen, fällt leicht, und dass sie die Folder wieder mitnimmt, kann man definitiv verstehen. Sie watet zurück, dreht aber gewissenhaft in jedem Zimmer das Licht ab. Als sie am Flur steht, schließt sie unwillkürlich die Türe.

„Was hab‘n S‘ hier zu suchen?“ Eine barsche Männerstimme spricht ihr in den Rücken.

Flora dreht sich rasch um und blickt in ein stumpfnasiges Gesicht mit Bürstenschnitt. Die Hand am tätowierten Arm hält eine Leine, an der ein schwarzer Hund böse grollt. „Äh …, ich wollte Dr. Zerner besuchen …“

„Wen wollen S‘, Pupperl?“

„Den Zerner, den Herrn, der hier wohnt.“ Auf offener Straße würde Flora so einem Menschen wohl aus dem Weg gehen, aber der etwa Dreißigjährige im rotweißgestreiften T-Shirt, welches über einem gewaltigen Bierbauch ordentlich spannt, versperrt ihr den Weg zum Lift und zu den Treppen. Der Köter schaut auch böse …

Wer soll da wohnen???“

Dass der Österreicher oft Schwierigkeiten mit dem bundesdeutschen Idiom zeigt, weiß Flora bereits aus vielen Begegnungen mit Einheimischen. So formuliert sie einen so gut als möglich akzentfreien Satz: „Ich bin die Sekretärin von Herrn Dr. Zerner und bringe ihm Dokumente vorbei.“ Sie verweist auf die Tüte mit den Foldern.

„I wohn da scho‘ lang da, …aber den kenn i‘ ned!“

Mit derartigen Herren pflegt Dr. Zerner wohl weniger Umgang, leuchtet auch Flora ein. So gedenkt sie mit einem freundlichen „Tschüss“ die Konversation abzubrechen und sich an dem Herrn mit dem gewagten Schnurrbart vorbei zu drängen. Ein Beller des gefährlichen Tieres verhindert dieses Manöver.

„Na, Pupperl, so geht des ned! Was ham S‘ ‘n da woll‘n?“

Möglicherweise lag es doch nicht an ihrer fremdländischen Aussprache, dass sie mit Unverständnis bedacht wird, sondern eher an einer geistigen Beschränktheit dieses Zeitgenossen … So nimmt sie ihren Mut zusammen und versucht noch einmal einen Ausfallsschritt. „Pardon …, ich muss wirklich weiter! Der Herr Doktor war nicht zuhause …, guten Abend!“

„Des glaub i‘ Erna gern, dass der da ned z‘aus g‘wesen is‘, denn da is‘ niemand z‘aus. I‘ wohn da scho‘ zwa Joahr, aber da drin wohnt kana!“

Natürlich klingt es traurig, wenn man in der heutigen Anonymität der Großstadt nicht mehr jeden seiner Nachbarn kennt, doch manchmal gereicht es zum Vorteil, nicht zu wissen, welche Kreaturen hinter der nächsten Türe hausen. Allerdings sitzt dieser Kerl hier an einem relativ langen Ast.

„Jetzt zeigen S‘ amal, was da in dem Sackerl drin haben, weil in letzter Zeit is‘ da viel g‘stohlen worden auf der Stiege. Vor zwa Woch‘n san s‘ kommen, diese falschen Stromkassier‘ und ham der Frau Nebdalek den ganzen Schmuck g‘fladert. Und die Frau Nebdalek is‘ dabei z‘aus g‘wesen, aber sie is‘ halt halbblind …“

Bevor dieser Bursche das gesamte Schicksal der Frau Nebdalek vor ihren Ohren ausbreitet, öffnet Flora, wie gefordert, die Tüte und nimmt sogar noch einen Folder heraus, um damit zu beweisen, dass sie nichts Unlauteres im Sinn hatte. Sie reicht das bedruckte Papier dem fordernden Gesellen.

„Des kann i‘ ohne Brüll‘n ned les‘n. Warten S‘ a bisserl!“

Das hundeartige Pelztier mit dem klingenden Namen „Rex“ wird noch aufgefordert, dieses „Frauerl“ auf keinen Fall vorbei zu lassen. Deswegen wartet dieses Frauerl, bis Dr. Zerners Nachbar, mit einer Brille auf der Nase, das Papierl in der Hand lesend, zurückkommt.

„Sicher, da steht was von an Zerner, aber des haßt nix! Hier gibt ‘s kan Zerner!“

Da diese Erkenntnis ziemlich lautstark vorgetragen worden ist, öffnet sich eine weitere Wohnungstüre, und ein kleiner Mann mit lustigem Spitzbart gesellt sich zu den Diskutierenden. „Was haben Sie denn, Herr Zeiselgruber? Was wollen Sie denn von der jungen Dame?“

Der Herr Zeiselgruber berichtet dem nun Hinzugetretenen den Sachverhalt.

„Aber Herr Zeiselgruber, das ist doch keine Einbrecherin! Die junge Dame hat sich wohl verlaufen!“

Man sieht dem Herrn Zeiselgruber an, dass er gegen dieses Argument zwingende Einwände vorbringen möchte, merkt aber zugleich, dass der Rex ein dringendes Geschäft zu erledigen hat und die Leine nicht mehr kurz zu halten ist. Herr Zeiselgruber wird die Stiegen hinuntergezogen.

Flora fühlt spürbare Erleichterung. Außerdem dürfte der nächste Nachbar sich eines helleren Köpfchens bedienen, und so stellt sie sich einfach höflich vor. „Ich bin Flora Schrammke und bin die Privatsekretärin von Dr. Zerner!“

„Für eine Sekretärin erscheinen Sie mir eindeutig sehr jung!“

„Eigentlich bin ich eine Studentin der Medizin, aber ich erledige für den Dr. Zerner so einige Aufgaben.“

„Medizin, das ist aber interessant, das kommt von lateinisch ars medicinae, ärztliche Kunst, das ist doch die Lehre von der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen bei Menschen und Tieren. Sehr interessant! Ist es nicht so, dass wir als Menschen im Grunde genommen nicht wirklich die Evolution überwunden haben? Kann es daher sein, dass der Mensch im Ursächlichen …“

„Entschuldigen Sie …“ Flora zeigt wenig Interesse, medizinische Diskurse zu führen. „Kennen Sie den Herrn Dr. Zerner?“

„Zerner? Zerner?“ Die Stirne runzelt sich bis in die Halbglatze hinein. „Zerner … Ich glaube, ich habe mal einen Zerner gekannt, aber ob der Doktor geworden ist …“

„Ich meine, ob hier ein Dr. Zerner wohnt?“

„Ja, natürlich …, in der Unterstufe bin ich mit einem Zerner in die Klasse gegangen. Natürlich, der Zerner …, ein unangenehmer Patron. Aber ich glaube, nach der vierten Klasse haben sie ihn rausgeschmissen. Ein völlig asozialer Kerl …, Sie müssen wissen, ich bin ins Ludwig von Bertalanffy-Gym­na­sium gegangen, und da hat er einfach nicht hineingepasst, der Zerner …“

Floras Blick dürfte Verzweiflung andeuten.

„Was ist denn mit Ihnen, liebes Fräulein? Ist Ihnen etwas über die Leber gelaufen?“

Flora überkommt tatsächlich eine leichte Schwäche, zumal sie beobachtet, dass die Aufkleber an der Wohnungstüre merklich gealtert erscheinen. Im Übrigen aß sie heute beim Mittagstisch mit Dr. Zerner nur eine klare Suppe und ein Brötchen. Vielleicht zu wenig!

„So lass ich Sie nicht gehen, Fräulein! Sie trinken noch einen Tee bei mir.“ Obwohl man grundsätzlich Vorsicht bei fremden Männern walten lassen sollte, lässt sich Flora in die Wohnung am anderen Ende des Ganges bugsieren. In dieser schaut es von den Räumlichkeiten spiegelverkehrt zu Dr. Zerners Appartement aus. Sie gehen geradeaus in eine kleine Küche, wo ihr ein Platz auf einem Hocker neben einem roten Wandklapptisch angeboten wird.

Der Gastgeber bleibt stehen, um an einem Wasserkocher zu hantieren und kramt in einem Kastl über dem Herd nach Teesackerln. „Früchtetee? Oder was anderes? Hagebutte hätte ich auch …!“

Flora zeigt sich mit dem Angebot zufrieden und entscheidet sich für ersteren. Die Beutel werden in zwei bunte Häferln gehängt und mit dem heißen Wasser übergossen.

„Gleich geht ‘s Ihnen besser, Fräulein …, aber wenn Sie wollen, erzählen Sie mir, was geschehen ist …, ich habe Zeit, unendlich viel Zeit. Sie müssen wissen, mein Fernsehapparat hat vor einiger Zeit den Geist aufgegeben, und ich habe mir gesagt, wozu brauche ich einen Fernsehapparat? Ich besitze ja Bücher, viele Bücher … Aber irgendwie bin ich draufgekommen, die Bücher reden nicht …, falsch, entschuldigen Sie! Natürlich reden Bücher, sie reden sogar sehr viel, aber irgendwie reden sie auch nicht. Oder sie reden anders als wir …, sehen Sie, es ist einfach manches Mal nur schön, menschliche Stimmen zu hören …, aber nicht solche aus dem Radioapparat, das sind keine Stimmen, das sind nur Töne, die nach Stimmen klingen …! Oje, ist der Tee zu heiß?“

„Nein, es geht schon!“ Trotzdem brennt es fürchterlich auf der Zunge.

„Meine verstorbene Frau hat immer gesagt: ‚Otto, du musst zuerst blasen!‘, aber ich habe mir fast immer den Mund verbrannt!“ Otto lacht hell auf. „Sie hat immer fürchterlich viel geredet, meine Frau, und ich habe mir damals oft gedacht: Wann hält sie endlich den Mund? Und dann hat sie es plötzlich getan … Schauen Sie nicht so traurig, liebes Fräulein, das ist schon sehr lange her, und Trauer vergeht. Sie müssen wissen, ich habe mir im Nachhinein sogar gedacht, hätte ich überhaupt heiraten sollen? Mir wäre vieles erspart geblieben. Aber so sind die Dinge im Leben eben. So ist das Leben, und man muss es akzeptieren, wie es ist. Das nennen wir Menschen ‚Schicksal‘. Und die Agnes hat eben kein langes Leben vor sich gehabt. Das sollte so sein, und am Schicksalsbaum sollte man nicht unnötig rütteln. Ich habe für alles gebüßt!“ Otto unterbricht seinen Redefluss, um sich eine Pfeife anzuzünden: „Stört Sie das, mein Fräulein?“

Flora schüttelt den Kopf.

„Agnes hat mein Rauchen furchtbar gestört …, sie hat immer behauptet, dass sie davon einen schweren Kopf bekäme. Und schon ist sie mit Migräne im Bett gelegen, und ich habe ihr ununterbrochen nasse Waschlappen reichen müssen …, ach, diese ewigen nassen Waschlappen!“

Der Tee tat seine Wirkung. Floras Spannungen lösen sich, was sogar Otto bemerkt. „Sie kriegen ja wieder ein bisschen Farbe ins Gesicht! Das ist schön! Aber jetzt erzählen Sie einmal, liebes Fräulein, was Sie hierher geführt hat … Also dem Zeiselgruber brauchen Sie sicher keine Auskunft geben. Der ist neugierig, wie ein altes Waschweib. Der wohnt ja schon fast am Gang. Und jedes Mal, wenn man nur irgendeinen Schritt macht, geht schon seine Wohnungstüre auf und man wird mit irgendwelchen Banalitäten belä……

Floras Interesse für Zeiselgrubers Biographie hält sich in sehr engen Grenzen. „Entschuldigen Sie, Herr …, Herr …“

„Svoboda, Otto Svoboda! Das kommt aus dem Tschechischen und bedeutet ‚Freiheit‘. Also mein Großvater hat noch tschechisch gesprochen, aber damals hat es diese Tschechoslowakei noch gar nicht gegeben. Damals hat man ‚Böhmen‘ gesagt, und mein Großvater ist ein echter Ziegelböhm‘ gewesen. Sie wissen, wer die Ziegelböhm‘ waren?“

Sie weiß es nicht und will es gar nicht wissen. „Entschuldigen Sie, Herr … Svoboda …, ich wollte Sie eigentlich etwas über den Dr. Zerner fragen.“

„Natürlich, der Zerner, verzeihen Sie, braves Fräulein, soweit ich mich erinnern kann …, ist der kein Doktor geworden. Er war eine völlige Niete in allen Hauptfächern …, besonders in Latein … Ich weiß noch, dass die gesamte Klasse nur mehr gelacht hat, als er bei seinen hilflosen Übersetzungsversuchen jämmerlich gestottert hat. Deswegen ist er ja nach der Vierten abgegangen, aber … der hat höchstens eine Lehre gemacht. Und ob der die geschafft hat, das weiß ich leider nicht!“

Obwohl man mit großer Wahrscheinlichkeit weniger davon ausgehen dürfte, dass es sich um ihren Zerner handelt, stellt sie dennoch die Frage: „Wissen Sie noch, wie der mit Vornamen geheißen hat?“

„Zerner? Zerner? Also wie hat denn der Zerner geheißen? Also Sie müssen wissen, wir sind eine reine Bubenklasse gewesen und haben uns damals gegenseitig nur mit Familiennamen angesprochen. Bei denen aus der Oberstufe weiß ich noch jeden Vornamen, aber in der Unterstufe …, also der Treppler etwa hat Edgar geheißen …, aber der Zerner …“

„Könnte er vielleicht Albert geheißen haben?“

„Albert? Albert? Ja …! Oder Alfred? Albrecht? Ja, Albrecht Zerner! Oder Albert? Ja, er könnte Albert Zerner geheißen haben …, aber …“

Flora wird dieses Gespräch beenden, zumal sich die Rauchschwaden nun ziemlich fest in ihre Nase setzen. Nach einem freundlichen Dankeswort für den Tee deutet sie an, dass es nun dringend Zeit wäre zu gehen. Doch dies scheint ganz und gar nicht im Sinne des Gastgebers zu sein, der nun eine leichte Unerbittlichkeit an den Tag legt. „Bitte, liebes Fräulein …, bleiben Sie noch ein wengerl …, es ist so nett, mit Ihnen zu plaudern …“ Im Grunde genommen handelt es sich allerdings um einen Monolog. „Seit meine Agnes nicht mehr da ist, habe ich niemanden mehr auf der Welt. Sie müssen wissen, ich habe keine Geschwister, und meine Cousine ist letztes Jahr verstorben. Ja, die Elfie, sie hat nie geheiratet. Sie ist wirklich eine brave Frau gewesen. Sie ist der einzige Mensch gewesen, der immer zu mir gehalten hat. Auch diese siebzehn Jahre!“

„Und Ihre Frau?“ Flora stellt diese Frage aus purer Höflichkeit, während sie nach der Tüte greift, den Schal umbindet und Richtung Vorzimmer trippelt.

Ottos Augen beginnen zu funkeln. „Ja …, meine Frau, die Agnes! Ständig hat sie irgendwas zu nörgeln gehabt. Sie müssen wissen, mein kleines Fräulein, sie hat alles und jedes, was ich gemacht habe, kritisiert. Und dann ihre ewigen Migräneanfälle…, ununterbrochen, angeblich wegen des Rauches. Aber sie hat das nur gemacht, um mich zu schikanieren … Alles, was ich gemacht habe, war immer falsch. Selbst die Fußnägel habe ich ihr nie richtig geschnitten, und wenn ich die Hornhaut von ihren feisten Sohlen abreiben sollte, hat sie immer behauptet, ich bemühe mich nicht ordentlich …, alles falsch …, alles! Da ist es doch verständlich, dass man einmal das Polster nimmt und fest zudrückt …, ganz fest zudrückt … Dass sie mir ‚lebenslang‘ gegeben haben, war … viel, sehr viel. Aber seit drei Jahren bin ich frei … Sie müssen wissen, liebes Fräulein, Svoboda heißt ‚Freiheit‘! Freiheit! Freiheit!“

Als Flora zur Wohnungstüre hinausstürzt, hört sie bis weit ins Stiegenhaus Ottos Lachen.