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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Cornelia Franke
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: KireevArt und lemixgraf / shutterstock.com
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Mit jedem Schritt werde ich langsamer. Was ist nur aus mir geworden?
Ein feiger Hund, beantworte ich mir selbst die Frage. Dabei geht es hier gar nicht um mich.
Während ich die Stufen im Treppenhaus des Altbaus hinaufsteige, ziehe ich den Reißverschluss meiner Wolljacke hinab. Oben angekommen, bleibe ich am Absatz stehen und streiche mit einem tiefen Seufzer durch meine vom Wind zerzausten Haare. Komm, du schaffst das, es wird alles so sein wie immer.
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken will, geht das Licht aus, graue Schatten hüllen mich ein. Das passiert mir ständig. Früher hätte ich darüber geflucht, jetzt nutze ich die Gelegenheit, um Zeit zu schinden. Ich lasse den Arm sinken, lehne den Kopf gegen die Tür und balle die Hände zu Fäusten. Für einen kurzen Moment halte ich die Luft an, weil ich Angst vor den Lauten habe, die sonst aus meiner Kehle emporsteigen. Jetzt bloß nicht heulen, bleib stark. Es ist schon schwer genug für sie. Also gebe ich mir einen Ruck, beiße die Zähne zusammen und drücke auf den Lichtschalter.
Dann entriegle ich so geräuschvoll wie möglich das Schloss und öffne die Tür.
Ich schlucke. Stille empfängt mich, dröhnt in meinen Ohren und lässt mein Herz stolpern. Draußen dämmert es erst, doch hier drinnen ist es stockduster.
»Mamutschka?« Meine Stimme klingt jämmerlich, beinah lächerlich für einen Achtzehnjährigen meiner Statur. Ich atme tief durch und versuche es ein zweites Mal, diesmal nachdrücklicher. »Mamutschka?« Bitte antworte. Sag doch was, egal was. Mein Puls pocht in den Schläfen und ich höre mein Blut in den Ohren rauschen. Wie festgewurzelt bleibe ich auf der Schwelle stehen und lausche. Mein persönlicher Albtraum. Seit Wochen geht das nun schon so.
Was würde ich darum geben, noch einmal von ihr angeschrien zu werden, weil ich unpünktlich war oder nicht hart genug trainiert habe. In diesem Moment wird mir schmerzlich bewusst, dass diese Zeit für immer vorüber ist.
»Juri?«, dringt ihre leise Stimme zu mir herüber. »Bist du das?«
Meine Anspannung löst sich und ich atme erleichtert auf. Diese paar Sekunden waren die Hölle. Die Angst, eines Tages diese Wohnung zu betreten und zu spät zu kommen, bringt mich noch um den Verstand.
Mit schnellen Schritten laufe ich den schmalen Flur entlang, bis ich das Schlafzimmer erreicht habe.
Die braunen Samtvorhänge sind zugezogen, nur der Fernseher, der tonlos vor sich hinflimmert, spendet ein wenig Licht. Die Luft ist stickig und vom Geruch der Krankheit geschwängert.
Ich knipse die Nachttischlampe an, die den Raum in gedämpftes Licht taucht, während Mama sich aufrichtet und ein Kissen hinter ihren Rücken schiebt.
»Mamutschka …« Wie geht es dir?, wäre mir fast über die Lippen gekommen. Doch die Frage ist überflüssig. Bei ihrem Anblick schnürt sich mir die Kehle zu. Was hat dieser verdammte Krebs nur aus ihrer anmutigen Erscheinung gemacht? Ihr Gesicht ist so eingefallen, dass ihre hohen Wangenknochen und ihre markante Nase sich scharf abheben. Sie trägt einen Turban, um die wenigen Haare zu verbergen, die ihr nach der letzten Chemo geblieben sind. Nur der Schwung ihrer schmalen Augenbrauen lässt noch erahnen, was für eine ausdrucksstarke Person sie einmal war.
»Ich lasse ein wenig frische Luft ins Zimmer, wenn es dir recht ist.« Wenn es dir recht ist. Seit sie Krebs hat, fasse ich sie mit Samthandschuhen an. Früher herrschte hier noch ein anderer Ton, geprägt von ihrer strengen Erziehung, in der Disziplin das A und O darstellte, und rebellischem Verhalten meinerseits. ›Ohne Disziplin bist du ein verlorenes Kind‹, hat sie stets gesagt. Und wie immer recht behalten. Sonst wäre ich tänzerisch niemals auf meinem Niveau angelangt.
Doch dieses ›früher‹ gibt es nicht mehr. Nur noch Bedauern. Denn mit dem Wissen von heute hätte ich ohne Widerworte alles getan, was sie von mir verlangt hat.
»Mach das, mein Junge«, antwortet sie matt und ich eile mit angehaltenem Atem zum Fenster.
»Ich habe ein wenig geschlafen.«
Du schläfst doch nur noch, liegt mir auf der Zunge. »Das ist gut, Mamutschka«, erwidere ich stattdessen. Was soll ich auch sonst sagen, ich kann ihr unmöglich einen Vorwurf daraus machen, obwohl mein Herz blutet, sie so energielos und schwach zu sehen. Ich setze mich zu ihr auf die Bettkante und greife nach ihrer Hand. Sie fühlt sich knochig und kalt an. Als gäbe ich einem Skelett die Hand. »Hast du ordentlich gegessen?«
»Die alte Katinka hat mir eine Schüssel Soljanka hochgebracht. Du weißt doch, ich habe sie immer so gern gegessen …« Sie beendet den Satz nicht, presst stattdessen die Lippen aufeinander, als hätte sie Schmerzen. »Ich habe einen ganzen Teller geschafft, doch ich konnte nichts davon bei mir behalten.«
Ich seufze leise. »Mamutschka, lass mich dich endlich in ein Krankenhaus bringen.«
Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Um dort zu sterben?« Sie schüttelt vehement den Kopf. Langsam hebt sie ihre Hand und fährt damit durch die Luft, als würde sie auf die Fotos an den Wänden zeigen. »Das kann ich auch hier.«
Nur mit Mühe kann ich ein Stöhnen unterdrücken. Ihre Sturheit wird sie nie ablegen. »Bitte, sag so etwas nicht ständig, du darfst nicht einfach aufgeben. Ich möchte dir helfen, für dich sorgen, aber du lässt mich ja nicht.«
»Ich habe Hilfe. Jeden Tag. Du sollst nicht dein Leben für mich opfern. Außerdem will ich nicht, dass du mein Elend ständig ertragen musst …«
»Aber ich will bei dir sein und mich um dich kümmern.«
»In der WG geht es dir besser, glaube mir.«
Ich gehe nicht darauf ein. Sie muss nicht wissen, dass ich mich dort selbst zu einem Außenseiter degradiert habe, der sich vor jedem abschottet. »Vielleicht würde sich dein Zustand verbessern, wenn ich wieder …«
»Du weißt, was die Ärzte gesagt haben. Ich glaube nicht mehr an ein Wunder. Wie war dein Training heute?«, wechselt sie abrupt das Thema.
»Wie immer.« Hastig senke ich den Blick. Ich konnte ihr schon als kleiner Junge nicht in die Augen sehen, wenn ich sie angelogen habe. Seit einem Monat war ich nicht mehr beim Unterricht. Ich kann nicht tanzen, während sie hier liegt, würde mich schäbig fühlen. Polina Iwanowa, einst gefeierte Primaballerina, jetzt zerfressen von Metastasen, die ihr die letzte Würde nehmen. Sie ist doch erst 44 Jahre alt, was hat sie Schlimmes getan, dass sie so leiden muss?
Mamutschka legt den Kopf schräg und mustert mich eine Weile lang. »Ich habe mit Sergei gesprochen, du warst seit Wochen nicht dort. Wo treibst du dich nur herum?«
Blját! Verfluchter Mist, sie weiß es also. Selbst ans Krankenbett gefesselt hat sie überall Augen und Ohren.
Sie sieht mich auffordernd an, doch eine Antwort bleibe ich ihr schuldig. Hastig weiche ich ihrem zärtlichen und gleichzeitig sorgenvollen Blick aus. Wie könnte ich ihr sagen, dass ich meinen Kummer in Alkohol ertränke, nachts um die Häuser ziehe und jeden Morgen neben einem anderen Mädchen aufwache?
»Ich will nicht, dass du auf die schiefe Bahn gerätst«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Deshalb möchte ich, dass du dich an der NYC Academy of Ballet bewirbst.«
»Was?« Nach New York? »Ich gehe nicht fort aus St. Petersburg, ich werde dich auf gar keinen Fall alleine lassen.«
»Wenn das Sommersemester dort anfängt, bin ich nicht mehr da, Juri. Ich habe nur noch ein paar Wochen.«
»Warum sagst du so etwas?« Meine Stimme klingt brüchig.
»Weil es so ist. Du weißt es genauso gut wie ich.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein …« Ihre Konturen verschwimmen hinter einem Tränenschleier, ich kann nicht länger stark sein. Meine Schultern zucken und ein Schluchzen bricht mit aller Gewalt aus mir hervor. Ich schieße hoch, weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen. Meine Schwäche macht mich rasend vor Wut. Ich schnappe mir eins der vielen weißen Kissen, die Mamas Kopf wie eine Leibgarde umzingeln, und kralle meine Finger so tief hinein, bis es wehtut. Ohne es zu wollen, steigt ein Knurren aus meinem tiefsten Inneren empor, das in einen haltlosen Schrei übergeht. Wie von einem weidwunden Tier. Ich werfe das Kissen mit aller Kraft auf den Boden. Wie soll ich nur ohne sie leben?
»Setz dich bitte zu mir«, sagt sie mit sanfter Stimme, als hätte mein Gefühlsausbruch nie stattgefunden.
Ich ziehe die Nase hoch und streiche mir mit einer Hand übers tränenfeuchte Gesicht. Nur widerwillig ziehe ich den Stuhl ans Bett und komme ihrer Bitte nach, doch diesmal brauche ich Abstand. Warum über eine Zukunft sprechen, in der sie nicht existiert?
»Wenn ich nicht mehr da bin, wird Marco sich um dich kümmern. Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen.«
»Du hast was?« Ich merke, wie Zorn in mir aufwallt. »Ohne das mit mir abzuklären? Ich kenne diesen Mann gar nicht.«
»Er ist dein Vater.«
Ich schnaube. »Ein Vater, der nie für mich da war.«
Sie seufzt leise. »Er wollte dich immer richtig kennenlernen, aber irgendwie …« Sie hebt die Schultern und lässt sie wieder sinken. »… ist es nie dazu gekommen. Er in New York, wir hier.«
»Er hat dich damals einfach sitzen lassen.« Meine Stimme überschlägt sich. Wie kommt sie nur auf diese absurde Idee?
»Es gehören immer zwei dazu. Wir waren jung, ich befand mich auf dem Höhepunkt meiner Karriere, war nur mit mir beschäftigt …«
»Da hat er sich ganz schnell eine Neue geschnappt …«
»So ist es nicht, Juri.«
»Du hast ihn noch nie in Schutz genommen.« Ich höre mich an wie ein trotziges Kind, doch ich kann es nicht ändern. »Wieso jetzt auf einmal?«
»Er ist kein schlechter Mensch, ihr werdet euch aneinander gewöhnen. Du hast viel von ihm. Zum Beispiel seinen Dickschädel.« Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Das ich nicht erwidern kann. Und will.
»Aber warum kann ich meinen Abschluss zur Bühnenreife nicht an der Waganowa-Akademie machen, so, wie wir es geplant haben?« Wenn Tante Anouschka nicht so eine unerträgliche Spießerin wäre, könnte ich bei ihr wohnen. Aber das werde ich mir nicht antun.
»Bei Marco bist du in guten Händen«, stellt Mama ohne Umschweife fest. »Der Umzug nach New York wird deinen Horizont erweitern und dir helfen, dich später überall zurechtzufinden. Neue Erfahrungen prägen und inspirieren, dies habe ich in meiner Tänzerkarriere festgestellt. Und durch die Ballettakademie in New York steht dir die Welt offen. Ich bin davon überzeugt, dass du ein Stipendium erhältst, es gibt niemanden, der besser tanzt als du.«
Noch nie hat sie mir ein derartiges Kompliment gemacht. Es klang auch nicht wie eines. Meine Mutter besitzt die Gabe, es so klingen zu lassen, als wäre die Akademie in New York meine Berufung, die es zu erfüllen gilt. Das ist so typisch für sie. Selbst ihre bestimmende Art wird mir fehlen.
»Ich will das alles nicht.« Mutlos schüttele ich den Kopf und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
Da spüre ich ihre Finger. Sie streicht zärtlich durch mein Haar, so, wie sie es immer getan hat. Wie werde ich das vermissen. Weitere Tränen lösen sich, strömen unaufhörlich aus mir heraus und benetzen meine Wangen. Ich weine still vor mich hin, bis Mama aufhört, meinen Kopf zu streicheln. Ich blicke hoch und nehme das Taschentuch entgegen, das sie mir reicht. Geräuschvoll schnaube ich hinein.
»Du hast immer gesagt, tanzen wäre dein Leben, erinnerst du dich?«
»Aber nicht ohne dich! Ich wollte so sehr, dass du mich auf einer großen Bühne siehst und stolz auf mich bist.« Schniefend greife ich nach ihrer Hand.
Sie drückt sie ganz fest. »Das bin ich auch jetzt schon. Du bist so unglaublich talentiert. Die ganze Welt soll dich tanzen sehen, das ist mein größter Wunsch.« Sie hebt mein Kinn, damit ich ihr in die Augen sehe. »Tanze, bis es Sterne regnet und du trunken bist vor Glück, moy malchik.«
Alle Augen der fünf Juroren sind auf mich gerichtet. Ich muss Mr Coleman unwillkürlich anstarren, denn das durch die breite Fensterfront einfallende Licht der Mittagssonne wird von den runden Brillengläsern des Direktors reflektiert. Als er sich mit verschränkten Armen nach hinten lehnt, schabt sein Stuhl laut über den Linoleumboden.
Ist es Gleichgültigkeit oder Langeweile, die ich in den Gesichtern der Dozenten lese? Ich bin jedenfalls weit davon entfernt. Meine Fingerspitzen fühlen sich an, als hätte ich sie in Eiswasser gehalten und gleichzeitig läuft mir der Schweiß den Nacken hinab. Es gibt nichts, das ich mehr verabscheue als Prüfungssituationen. Mir fällt nur eine Sache ein, die mindestens genauso schlimm ist: Wenn man mich als Schlitzauge oder Reisfresser beschimpft – oh ja, man glaubt es kaum, aber sogar in NYC gibt es noch Leute, die sich über meine Herkunft lustig machen. Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schießen. Mae, konzentrier dich, verdammt noch mal!
Fest entschlossen, mein Bestes zu geben, puste ich mir eine nicht vorhandene Haarsträhne aus meiner Stirn – eine dumme Angewohnheit, schließlich ist es bei dem strenggebundenen Dutt wohl kaum möglich, dass nur ein einziges Haar sich verselbstständigt. Komm, Mae, du schaffst das. Jeté-Sprünge und Pirouetten sind das, was ich normalerweise im Schlaf beherrsche, doch meine Angst, dass meine Nervosität mir ein Schnippchen schlägt, bringt mich gleich um den Verstand. Wieder einmal. Immer dann, wenn es darauf ankommt. Schließlich ist das hier alles, was ich je wollte.
Ein leises Räuspern bringt mich zurück ins Hier und Jetzt. »Mae Sun?« Die schwarzhaarige Frau links neben Mr Coleman beäugt mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Sind Sie soweit?«
Ich antworte mit einem kurzen Nicken.
Der Pianist spielt die ersten Takte und ich atme tief ein, versuche, meine Energie zu bündeln, so, wie ich es schon unzählige Male zuvor gemacht habe. Mein ganzer Körper spannt sich, ich recke mein Kinn, bringe meine Arme in Position. Und dann läuft alles ganz von selbst, mein Verstand schaltet ab und mein Körper übernimmt das Kommando: Temps levé-coupé-chassé-grand-jeté, und auch die weitere Schrittfolge tanze ich wie in Trance. Die Diagonale zurück mache ich Piqué-Drehungen, die ich mit einer vierfachen Pirouette abschließe und in einer Arabesque en pointe enden lasse. Ich bleibe solange stehen, wie ich mich auf einem Bein auf Spitze halten kann – trotz meiner Nervosität wider Erwarten fünf Sekunden – und gleite dann geschmeidig in die Schlusspose nach vorne.
Geschafft! Ich riskiere einen Blick zu den Juroren, die mich mit undurchdringlichen Mienen mustern. Ein kurzes Nicken, dann senkt Mr Coleman den Kopf, um sich Notizen zu machen.
»Danke, Mae«, sagt die Schwarzhaarige mit einer Stimme, die nicht mal einen Hauch an Spekulation zulässt.
Mit einem unterdrückten Seufzer trete ich zur Seite, denn der nächste wartet schon in Position. Ich setze mich zu den anderen Bewerbern vor den Spiegel. Während ich unauffällig den letzten Rest meines schwarzen Nagellacks vom Daumennagel abkratze – wie konnte ich nur so nachlässig sein, am wichtigsten Tag meines Lebens – frage ich mich, ob es von Vorteil ist, die letzte der weiblichen Bewerberinnen zu sein. Vielleicht bleibe ich ihnen dann besser in Erinnerung. Nur in guter hoffentlich.
»Hey, du warst echt klasse«, raunt mir die Rothaarige rechts neben mir zu. Sie ist mir vorhin schon aufgefallen, weil sie während ihrer Darbietung in vollkommener Konzentration versunken die Lippen aufeinanderpresste. »So einen Spann wie du hätte ich auch gerne.«
Ich lächele verlegen und schaue mir dabei unauffällig ihre Spitzenschuhe an. Sie sehen nagelneu aus – im Gegensatz zu meinen, die schon völlig zertanzt sind. Wahrscheinlich musste sie sie mit einem Hammer bearbeiten oder zwischen die Angeln einer Tür stecken, die sie dann ein paarmal zugeschlagen hat, um sie für das Vortanzen geschmeidig zu bekommen.
»Ich heiße Bonnie, und du?«
Ich betrachte sie genauer. Alles an ihr erscheint mir irgendwie überdimensional. Ihre riesigen grünen Augen, ihre langen hellen Gliedmaßen, im Stehen überragt sie mich bestimmt um einen Kopf. Aber ich finde sie wunderschön. »Mae.«
»Pssst«, macht es von hinten.
In dem Moment, als ich mich umdrehen will, um zu sehen, wer sich an unserem Geflüster stört, rammt Bonnie mir ihren Ellbogen in die Seite.
Halb verärgert, halb verdattert blicke ich hoch.
In der Mitte des Raumes kauert ein junger Mann auf dem Boden, auf seinem Oberarm prangt ein Tattoo, ein Schriftzug, den ich aus der Entfernung nicht erkennen kann. Er trägt nur eine hautenge Balletthose mit Trägern, die über seinen nackten Oberkörper spannen. Als die Musik einsetzt, streicht er sich durch sein dunkelbraunes Haar und steht dann in einer schwungvoll graziösen Bewegung auf. Hingerissen beobachte ich das Spiel seiner Muskeln, wie jede Sehne, jede Faser seines Körpers sich anspannt. Seine Bewegungen sind fließend und geschmeidig – das kann unmöglich ein Bewerber sein, er ist einfach zu perfekt. Ich ertappe mich dabei, wie mir vor lauter Faszination der Mund offen stehen bleibt. In einem Moment wirkt er gebrochen, im nächsten, als würde er sich freitanzen wollen. Und das mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die mich staunend zurücklässt.
»Ob er so was wie ein leuchtendes Vorbild für uns sein soll, wie wir mal werden können, wenn wir uns anstrengen?«, flüstere ich meiner Sitznachbarin ins Ohr.
Sie zuckt die Schultern. »Auf jeden Fall tanzt er wie ein junger Gott.«
»Allerdings, er fliegt regelrecht durch die Luft.«
»Trotzdem wirkt er dabei so männlich«, seufzt Bonnie.
Ich muss mir ein Kichern verkneifen, als ich ihren verklärten Blick sehe.
»Vergiss es. Der ist so schwul, wie man als Balletttänzer nur sein kann.« Ich meine, einen enttäuschten Zug um Bonnies Mund zu erkennen, bis ihr Gesicht sich erhellt. »Wusstest du, dass es beinah so viele schwule Fußballspieler wie Ballett…«
»Schht!«, dringt die Mahnung zu uns herüber, so eindringlich, dass Bonnie verstummt und unsere Köpfe gleichzeitig zur Seite zucken.
Ein Mann steht an der Tür und fordert uns mit einem Fingerzeig auf, den Raum zu verlassen. Postwendend steigt mir Hitze ins Gesicht. Sein Blick trifft mich bis ins Mark. Ich kann nur hoffen, dass er nicht einer meiner Dozenten wird.
Meine Wangen brennen vor Scham, als ich mich mit gesenktem Kopf an ihm vorbeidrücke und hinter Bonnie den Tanzsaal verlasse.
»Na, wenn das kein gelungener erster Auftritt war.« Bonnie seufzt tief und guckt betreten zu Boden. »Noch nicht mal angenommen, werden wir gleich aus dem Saal verwiesen.«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme entlockt mir ein kleines Lächeln. Und in dem Moment weiß ich, ich habe eine neue Freundin gefunden – die offenbar alles andere als einen guten Einfluss auf mich haben wird.
In der Umkleide angekommen, ist mir nicht mehr zum Lachen zumute. Bestimmt habe ich es versaut. Bestimmt hat das Tuscheln einen schlechten Eindruck hinterlassen. Niedergeschlagen lasse ich mich auf die Bank plumpsen und stehe kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Hey, was ist denn los? Hast du etwa Angst, dass sich das negativ auf unsere Bewertung auswirkt?« Bonnie setzt sich neben mich und streicht mir behutsam über den Rücken. »So eine Tänzerin wie dich werden sie sich mit Sicherheit nicht durch die Lappen gehen lassen.«
Ich blicke auf.
»Du hast dich für ein Stipendium beworben, nicht wahr?«
Mit gerunzelter Stirn sehe ich sie an. »Woher weißt du das?« Kann man mir etwa ansehen, aus was für ärmlichen Verhältnissen ich stamme? Sind meine zertanzten Schuhe so erbärmlich?
Sie zuckt mit den Schultern und sieht mich unverhohlen an. »Du hast vier saubere Pirouetten gemeistert.«
Ich blicke verlegen zu Boden, insgeheim freue ich mich aber darüber, dass das etwas Besonderes zu sein scheint. »Wenn ich kein Stipendium bekomme, kann ich die Ausbildung vergessen. Meine Eltern haben nur einen kleinen Haushaltsladen in Chinatown, sie können sich die Gebühren nicht leisten. Sie haben zwar Geld gespart und würden alles dafür tun, um mir meinen Wunsch zu erfüllen, aber ich will nicht, dass sie meinetwegen am Hungertuch nagen. Oder eine Hypothek aufnehmen.«
Bonnie löst die Bänder ihrer Spitzenschuhe. »Gegen dich komme ich mir richtig schäbig vor.«
»Wie meinst du das?«
»Naja, du bist so bescheiden. Mein Vater hat haufenweise Geld und liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.«
»Und? Wir suchen uns doch nicht aus, in welche Familie wir geboren werden«, versuche ich, sie in Schutz zu nehmen. »Ich habe von klein auf lernen müssen, dass ich hart arbeiten muss, um mir gewisse Dinge zu leisten.«
»Ich weiß, dass ich in vielen Dingen eine verwöhnte Göre bin.« Unbefangen schält sie sich aus ihrem schwarzen Ballettanzug und ich senke verlegen den Blick, um ihr nicht auf ihre Brüste zu starren, die für eine Tänzerin erstaunlich üppig sind – was man von meinen nicht gerade behaupten kann. Höchstwahrscheinlich muss ich sie bald mit der Lupe suchen. Naja, wenigstens stören sie mich nicht beim Tanzen.
»Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«, fragt Bonnie, während sie in einen lässigen kurzen Jumpsuit schlüpft, der ihre langen Beine noch besser zur Geltung bringt. »Ich hab angefangen zu tuscheln, ich will nicht, dass du dir deswegen jetzt unnötig Sorgen machst.«
»Klar, warum nicht.« Bonnies Redefluss hält mich wenigstens davon ab, über den Ausgang des Vortanzens zu grübeln. Sie redet wirklich wie ein Wasserfall, aber das stört mich nicht, ich höre gerne zu, ich würde sonst nur bei meinen Eltern im Laden rumhängen. Sie war mir auf Anhieb sympathisch und die Vorstellung, gleich zu Beginn des Semesters eine Freundin zu haben, ist wundervoll – vorausgesetzt wir werden beide angenommen.
»Spitze! In der West 65th Street gibt es ein nettes Café, wo man gemütlich abhängen kann.«
»Meinst du etwa das Blackbirds?«
Bonnie nickt erfreut.
»Das ist mein Stammcafé! Ich gehe meist nach dem Training dorthin, mein Ballettstudio liegt gleich um die Ecke. Warum habe ich dich dort noch nie gesehen?«
»Naja, vielleicht liegt es daran, dass ich erst einmal dort war«, gesteht sie kleinlaut, während sie ihre schicke Sporttasche packt.
Kichernd streife ich meinen überlangen Schlabberpulli über meinen Ballettanzug. »Du kommst nicht aus New York, hab ich recht?«
»Hört man das etwa?« Sie zieht eine Schnute. »Dabei gebe ich mir solche Mühe mit dem Slang.«
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich die Enttäuschung in ihren Augen lese. »Nein, dein Akzent klingt noch zu sehr nach Upper East Side. Normale Leute verzichten grundsätzlich auf das R.«
»Gut zu wissen, dann muss ich wohl noch ein wenig üben. Und du, kannst du Chinesisch sprechen?«
»Zuhause sprechen wir Mandarin, aber sobald andere dabei sind, die uns nicht verstehen, wechseln wir ins Englische.«
»Das ist cool, wenn man noch eine andere Sprache perfekt beherrscht.« Bonnie verzieht anerkennend die Mundwinkel, während ich ihr bewundernd dabei zusehe, wie sie die letzte Haarnadel aus ihrem Dutt entfernt, den Zopfgummi löst und ihre rote Mähne dann über ihre blassen Schultern fallen lässt.
»Ich komme ursprünglich aus Chicago«, erzählt sie und bürstet sich dabei ihr Haar, um es danach zu einem straffen Pferdeschwanz am oberen Hinterkopf zu binden. »Mein Vater ist Diplomat, also sind wir ständig umgezogen.«
»Du hast es gut«, seufze ich, während ich in meine Sneakers schlüpfe. »Ich bin noch nie weiter als Baltimore gekommen, und das auch nur, weil sämtliche Verwandten meiner Mutter dort angesiedelt sind.«
Bonnie beißt sich auf die Unterlippe und muss unwillkürlich lachen. Ich kann es ihr nicht verdenken.
»Woher kannst du so gut Ballett tanzen?«, will sie wissen.
»Ich tanze seit ich drei bin. Meine Tante ist Ballettlehrerin und war der Meinung, dass ich beste anatomische Voraussetzungen hätte. Sie hat mir bisher Unterricht gegeben, drei Stunden täglich. Sie war es auch, die mich überredet hat, vorzutanzen.«
»Wow, dann hattest du also eine Art Mäzen.«
»Eine was bitte?« Mit gerunzelter Stirn sehe ich sie an.
»Schon gut«, sagt Bonnie lachend und ich frage nicht weiter nach.
Nach einem letzten Kontrollblick, ob wir nichts vergessen haben, schnappen wir uns unsere Taschen und verlassen die Umkleide. Als wir den Ballettsaal passieren, öffnet sich die Tür und ich recke unauffällig meinen Hals, um nach dem Tänzer von vorhin Ausschau zu halten.
Eine Meute von Bewerbern – erstaunlicherweise die Hälfte davon Jungs – rauscht aus dem Raum, doch enttäuscht stelle ich fest, dass er nicht dabei ist.
Ehe wir durch das große Portal nach draußen gehen, bleibt Bonnie stehen und zieht mit geschlossenen Augen die Luft tief durch die Nase. Bei meinem fragenden Blick zuckt sie mit den Achseln. »Ich wollte noch ein letztes Mal Ballettluft inhalieren«, sagt sie theatralisch.
Lachend verdrehe ich die Augen. »Du scheinst nicht sehr optimistisch, dass sie dich nehmen.«
»Ich glaube, ich hatte keinen guten Tag. Aber das ist nicht so schlimm, es gibt ja mindestens noch zehn andere Ballettschulen, bei denen ich mein Glück versuchen kann«, winkt sie ab.
»Aber diese hier ist die beste. Außerdem würde ich mir wünschen, dass wir zusammen angenommen werden.«
Bonnie schenkt mir ein sanftes Lächeln. »Oh ja, das wäre wirklich großartig.«
Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee weht uns entgegen, als wir das Blackbirds betreten. Die Geräuschkulisse ist ein Zusammenspiel aus Klappern von Geschirr, dem Zischen der Espressomaschine und dem munteren Geplauder der Gäste – es gibt keinen Ort, an dem ich mich heimischer fühle. Die Ziegelsteinmauern sind das einzige, was an den Industrial-Style erinnert, ansonsten machen bunt zusammengewürfelte Sitzmöbel den Raum so gemütlich wie ein Wohnzimmer – mein zweites Wohnzimmer. Am meisten liebe ich jedoch das raumhohe Bücherregal, das sich über die ganze Stirnseite erstreckt. Bücher können gespendet und auch mitgenommen werden. Manchmal sitze ich stundenlang an der Bar und blättere durch die Seiten, weil ich nicht weiß, für welchen Schmöker ich mich entscheiden soll.
Während ich Ausschau nach einem freien Platz halte, macht sich mein Magen durch ein leises Knurren bemerkbar, doch ich weiß, mehr als ein Kaffee ist wie immer nicht drin. Vor lauter Aufregung habe ich heute Morgen nichts weiter als ein halbes Erdnussbuttersandwich mit Bananenscheiben heruntergewürgt, normalerweise mein Lieblingsfrühstück. Wenigstens kommt mein schmales Budget meiner Figur zugute. Auf meiner Unterlippe kauend starre ich sehnsüchtig in die Kuchenauslage. Obwohl – vielleicht könnte ich meine letzten Cents für einen Donut zusammenkratzen.
»Ich glaube, für ein Stück Blueberry Cheesecake würde ich jetzt morden.«
Verdutzt blicke ich Bonnie an und erkenne am gierigen Funkeln ihrer Augen, dass auch ihr Heißhunger geweckt ist. Im nächsten Moment brechen wir beide in haltloses Kichern aus. »Anscheinend haben wir die gleichen Gelüste«, sage ich, nachdem der Lachanfall verebbt ist. »Wollen wir uns ein Stück Kuchen teilen?«
»Teilen? Kommt überhaupt nicht infrage. Noch müssen wir nicht einzelne Salatblättchen rauspicken und Wattebällchen runterwürgen, damit wir satt werden. Ich spendier dir eine Kalorienbombe deiner Wahl.«
»Dann entscheide ich mich für einen Cronut mit Schokocreme«, kommt es wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund, als hätte ich nur darauf gewartet, dass sie mich einlädt.
»Mmh, gute Wahl!«, pflichtet Bonnie mir bei, ehe ich mich für meine eilfertige Bestellung schämen kann. »Oh, schau mal, da wird gerade ein Platz frei.«
Ich komme kaum hinterher, als Bonnie sich einen Weg durch die Schlange an der Theke bahnt, um den gerade frei gewordenen Tisch in der Ecke zu ergattern.
»Was haben wir für ein Glück!«, seufzt sie erleichtert und lässt sich in das ausgesessene Polster des jadegrünen Sofas fallen.
»Allerdings«, stimme ich ihr zu und setze mich in den Ohrensessel mit dem Rücken zum Eingang. »Das hier ist mein absoluter Lieblingsplatz, auf den man normalerweise vergeblich warten muss, da er von jedermann heiß begehrt ist.«
Bonnie nickt zustimmend. »Von hier aus kann man den ganzen Raum überblicken und die Leute beobachten. Wie lief eigentlich das Stangentraining bei dir?«, wechselt sie zusammenhangslos das Thema.
»Die Dozentin stand eine Weile neben mir und hat mich nicht aus den Augen gelassen. Als sie dann endlich weiterging, hat sie nur kurz genickt.« Ich stelle meine Tasche ab und fühle mich, zum ersten Mal an diesem Tage, entspannt.
»Sie hat dich nicht verbessert? Wow, das ist echt ein gutes Zeichen! Bei mir hob sie einmal im Vorbeigehen mein Kinn an und korrigierte meine Armhaltung, sonst hat sie mir keinerlei Beachtung geschenkt.« Ein bedrückter Ausdruck stiehlt sich auf Bonnies Gesicht.
Ich lege besänftigend meine Hand auf ihre. »Du bist eine sehr gute Tänzerin, Bonnie. Mach dir keine Sorgen. Können wir bitte über etwas anderes sprechen? Mir wird flau im Magen, wenn ich nur daran denke.«
Bonnie grinst schief und nickt dann. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass es unter den Bewerbern beinah so viele Jungs wie Mädchen gab? Das bin ich gar nicht gewöhnt. Beim Ballettunterricht in Chicago gab es fast nur Tänzerinnen. Das bedeutet, in Zukunft muss ich mir sogar im Trainingsraum darüber Gedanken machen, wie ich mich am besten in Szene setze.« Bonnie wirft in einer übertriebenen Geste ihren Zopf nach hinten und bringt mich damit zum Lachen.
»Das sollte das kleinste Problem sein. Außerdem sind die meisten von ihnen doch sowieso schwul. Womit wir wieder beim Thema wären …«
»Hey, Lovelies, was darf ich euch bringen?«, unterbricht Janis, meine Lieblingskellnerin, unser Gespräch und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Einen Chai Latte für Mae und für dich …?«
»Ich bin Bonnie und wir werden jetzt öfter das Vergnügen haben«, greift Bonnie vorweg und reicht ihr die Hand. Zur Abwechslung trägt Janis heute einen Afro. So mag ich sie am liebsten, denn dann kommen ihre mokkabraunen Kulleraugen am besten zur Geltung. Sie schlägt lachend ein. »Angenehm! Und was darf’s für dich sein, Bonnie?«
»Für mich einen Latte macchiato. Außerdem einen Cronut mit extra viel Schokocreme und den Blueberry Cheesecake, das größte Stück, das ihr im Angebot habt.«
»Endlich mal jemand, der Mae darin bestärkt zu sündigen, und sie von ihrem asketischen Dasein abbringt«, sagt Janis anerkennend.
»Ich hätte liebend gern ein paar Kilos mehr auf den Rippen und damit endlich mal weibliche Rundungen, aber leider kann ich die fürs Tanzen nicht gebrauchen«, verteidige ich mich. »Oder findest du es schön, wenn mein Pas de deux-Partner unter meiner Last zusammenbricht?«
»Nun übertreib mal nicht, davon bist du noch meilenweit entfernt«, entgegnet Janis lachend und richtet ihr Wort an Bonnie. »Du siehst auch aus wie eine Ballerina … gibt es etwa was zu feiern?« Auf einmal schnappt sie nach Luft und schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich Trottel, ich wusste, da war doch was, fast hätte ich es vergessen. Mae, wie war dein Vortanzen?«
»Ganz …«
»Sie war die Beste!«, fällt mir Bonnie ins Wort.
»Hab ich auch nicht anders erwartet!«, erwidert Janis trocken. »Braves Mädchen, die Kuchen gehen aufs Haus!« Sie zwinkert uns noch einmal zu und zieht dann weiter zum nächsten Tisch.
Dass ich die Beste war, hat Bonnie sicher nur so daher gesagt, um mir Mut zu machen. Meine Zweifel nimmt sie mir dadurch nicht. Auf meinen Fingernägeln kauend blicke ich durchs Fenster hinaus auf die belebte Straße. Es herrscht geschäftiges Treiben, wie immer um die Mittagszeit. Der Verkehr stockt, sowohl Geschäftsleute mit Aktenkoffern als auch Hipster mit Undercut und gepflegten Vollbärten laufen die Fensterfront des Cafés entlang.
»Wie meinst du, werden sie uns benachrichtigen?«
»Ich schätze, wir bekommen ein riesengroßes Paket mit einer Torte drin«, antwortet Bonnie, ohne eine Miene zu verziehen. »Daraus springt dann dieser wahninnig tolle Tänzer, um für uns ein paar Pirouetten zu drehen und uns schließlich trällernd zu verkünden, dass sie uns nehmen.«
Ich lache bei der Vorstellung laut auf. »Eine wirklich schöne Idee, aber deine Fantasie geht wohl gerade mit dir durch.«
»Ja, das tut sie öfters. Reines Wunschdenken.« Bonnie winkt ab und nimmt dann dankend Janis den gereichten Kuchenteller aus der Hand. Kurz nippt sie an ihrem noch dampfenden Latte macchiato, verzieht schmerzhaft das Gesicht, ehe sie ihn mit einem Klirren auf der Untertasse abstellt und sich gierig über den Cheesecake hermacht. »Nein, im Ernst«, sagt sie mit vollem Mund. »Ich schätze, sie werden dich bei einer Zusage telefonisch und bei einer Absage per Post benachrichtigen.«
Ich nicke zustimmend, ehe ich ein großes Stück von meinem Cronut abbeiße. »Mmh, der schmeckt einfach himmlisch«, sage ich kauend und halte ihn Bonnie vor die Nase. »Probier mal.«
Das lässt sie sich nicht zweimal sagen, sondern beißt herzhaft hinein. »Oh mein Gott!«, stöhnt sie laut auf und wischt sich die Schokoladencreme aus dem Mundwinkel. »Wie gut ist das denn!«
Unauffällig schaue ich mich um. Erleichtert stelle ich fest, dass Bonnies Gefühlsausbruch in der Betriebsamkeit des Cafés untergegangen ist und uns keiner Beachtung schenkt.
Nachdem wir gegenseitig von unseren Kuchen probiert und genüsslich vor uns hin gegessen haben, stelle ich die Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigt. »Sag mal, dieser Tänzer da vorhin, weißt du, woher er kommt? Er sieht so osteuropäisch aus.«
»Ja, könnte sein. Allerdings, warum sollte er dann hier studieren? Ich dachte immer, in Russland gibt es die besten Ballettschulen.«
»Vielleicht erfahren wir es ja noch. Auf jeden Fall war seine Leistung beeindruckend.«
Bonnie grinst wissend, ehe sie ihr Glas mit beiden Händen umfasst, auf die heiße Flüssigkeit pustet und dann in vorsichtigen Schlucken trinkt. »Nicht nur seine Leistung war beeindruckend. Er hatte so etwas an sich …«
»Das gewisse Etwas«, beende ich ihren Satz. »Eine sexuelle Ausstrahlung …«
»Achtung, er steht genau hinter dir«, zischt Bonnie mir hinter vorgehaltener Hand entgegen.
Ich merke, wie meine Gesichtszüge entgleisen und ich knallrot anlaufe. Mein Herz stolpert, während ich langsam meinen Kopf zum Eingang drehe.
Doch da ist niemand. Abgesehen von einem Jungen, der ein Tablett mit Coffee-To-Go-Bechern in der einen Hand balanciert und mit der anderen versucht, die Tür nach draußen zu öffnen. Ich brauche einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass Bonnie mich zum Narren gehalten hat, fast gleichzeitig vernehme ich ein unterdrücktes Kichern.
»Na warte, das wirst du mir büßen«, rufe ich in gespielter Empörung und werfe das nächstbeste Zuckerpäckchen nach ihr. Und ein ums andere Mal wundere ich mich, wie leicht ich mit Bonnie Freundschaft geschlossen habe.
Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, stehe ich gebückt, mein keuchender Atem erfüllt den Ballettsaal. Ich habe mir gerade die Seele aus dem Leib getanzt. Die Musik hat mich völlig eingenommen, mein Körper ist ihr gefolgt und ich habe alles um mich herum vergessen. Es tat unendlich gut. Nach Mamas Tod ist es das erste Mal, dass ich mich körperlich so verausgabt habe. Ich hätte es schon viel früher machen sollen, aber ich war innerlich blockiert. Der Schmerz saß einfach zu tief.
Ihr Tod ist jetzt einen Monat her und kam nicht überraschend – nicht so, wie ich es immer befürchtet hatte. Stunden vorher hat sie mich zu sich gebeten, sie hat gespürt, wie das Leben langsam aus ihrem Körper wich. Die ganze Zeit habe ich ihre Hand gehalten und sie sanft in den Schlaf hinübergleiten sehen. Ich konnte nicht weinen, spürte nur eine furchtbare Leere in mir.
In den letzten Wochen habe ich funktioniert und Mamas letzten Willen erfüllt – sie hat alles bis ins kleinste Detail geplant von der Wohnungsauflösung, dem Einwanderungsantrag in die USA bis hin zu meinem Erbe, dass sie für mich fest angelegt hat und über das ich erst verfügen kann, wenn ich in Amerika als volljährig gelte – sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich einen Teil des Geldes gleich auf den Kopf gehauen hätte. Die gesamte Organisation der Beerdigung hat sie ihrer Schwester übertragen und ich war sehr dankbar, dass ich diese schmerzliche Aufgabe nicht übernehmen musste. In der Zeit habe ich Mamas Wohnung aufgelöst – nein, ich hab es noch nicht übers Herz gebracht, ihr Hab und Gut durchzuschauen, so weit bin ich noch lange nicht. Stattdessen habe ich eine Umzugsfirma beauftragt, ihre Sachen in Kisten zu packen, um sie in einer angemieteten Garage zu deponieren. Selbst dafür hatte meine Mutter einen Bargeldbetrag zur Seite gelegt.
»Mr Iwanow«, reißt mich die Stimme des Direktors aus meinen Gedanken und der Mann winkt mich zu sich. »Ich möchte Sie gerne in einer Stunde in meinem Büro sprechen, bis dahin müssten wir hier durch sein«, sagt er, als ich vor ihm stehe. »Bitte ziehen Sie sich in der Zwischenzeit um und warten draußen.«
Ich fahre mir durchs Haar, das tue ich immer, wenn ich unsicher bin oder eine Situation nicht einschätzen kann, und nicke dann. Was er wohl von mir will?
Widerwillig komme ich der Aufforderung des Direktors nach und verlasse den Ballettsaal. Wie war gleich noch mal sein Name?
Egal. Ich mache das hier nicht für mich, sondern für Mama. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, nach New York zu gehen. Schon die Ankunft vor zwei Tagen hat mir gereicht. Müsste man St. Petersburg personifizieren, würde ich meine Heimatstadt als verletzlich, authentisch und irgendwie liebenswert bezeichnen. New York dagegen ist verroht, aufdringlich und arrogant. Die vielen Menschen auf der Straße sehen durch dich hindurch. Man muss im Strom mitschwimmen, sonst bleibt man auf der Strecke. Überall ist es laut, Sirenen und Gehupe an jeder Ecke. Nicht auszuhalten.
Kaum habe ich den Umkleideraum erreicht, schäle ich mich aus meiner Balletthose und gehe in eine der drei separaten Duschen. Ich drehe den Hahn so heiß, dass ich es gerade noch ertragen kann, presse die Handflächen an die geflieste Wand, senke den Kopf und lasse das heiße Wasser den Nacken hinunterlaufen. Ein wohliger Schauer durchströmt mich und ich spüre, wie sich meine verkrampften Muskeln entspannen. Ich lasse mir unendlich viel Zeit, denn momentan ertrage ich einfach keine anderen Menschen, bin am liebsten für mich und hänge meinen Gedanken nach.
Als auch die letzten Stimmen der anderen Bewerber verklungen sind und meine Haut schon ganz gerötet ist, schließe ich den Wasserhahn, schnappe mir mein Handtuch von der Haltestange und rubbele mir die Haare so gut es geht trocken. Ich stehe im Halbdunkeln, das automatische Licht ist schon längst erloschen, nur durch das Milchglasfenster fällt ein schwacher Schein. Ich schlinge mir das Handtuch um die Hüfte und laufe zurück zu meinem Spint.
Die Tür der Umkleide öffnet sich, jemand steckt seinen Kopf durch den Spalt und schaltet das Licht an. Ich blinzle, weil es mich im ersten Moment blendet, doch dann erkenne ich einen der Dozenten. Ich habe ihn im Ballettsaal gesehen, in der Jury saß er jedoch nicht.
Sein Blick schweift durch den Raum, als überprüfe er, ob noch jemand da ist. Als er mich bemerkt, verzieht sich sein Mund zu einem Grinsen, sein Blick verharrt auf meinem freien Oberkörper – für meinen Geschmack einen Tick zu lang.
»Bist du der Letzte?«, will er wissen.
Nein, die anderen haben sich alle in der Dusche versteckt, würde ich bei dieser scharfsinnigen Frage am liebsten antworten. »Ja, ich denke schon«, entgegne ich stattdessen.
Seine Züge verhärten sich. »Dann trödle nicht so lange, ich will abschließen.«
»Bin gleich soweit.« Hastig ziehe ich mir mein T-Shirt über den Kopf. Er steht noch immer in der Tür. Was soll das? Ich will das Handtuch nicht herunterziehen und mich vor ihm entblößen. Normalerweise wäre es mir egal, aber wenn er einer meiner Dozenten wird, muss er mich nicht nackt sehen.
Abwartend hebt er die Augenbrauen.
Ich spüre Zorn in mir aufwallen und habe Mühe, mich im Zaum zu halten. »Es würde schneller gehen, wenn ich dabei nicht unter Beobachtung stünde«, sage ich so sachlich und ruhig wie möglich.
Seine Augen fixieren mich.
Ich halte seinem Blick stand – von ihm lasse ich mich sicherlich nicht einschüchtern – bis er den Kopf schüttelt und ein heiseres Lachen ausstößt. »Genierst du dich etwa vor mir?«
Als eine Reaktion meinerseits ausbleibt, besinnt er sich und macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Schon gut, wie du willst. Ich warte dann draußen.«
Ich schnaube, als die Tür hinter ihm zuschnappt. Yebat! So ein verfickter Scheiß. Der hat mir gerade noch gefehlt. Was sollte das? Ob er auf Männer steht? Oder wollte er mich einfach nur ein bisschen aus der Reserve locken, um zu sehen, wie ich ticke? Er scheint ein älteres Semester zu sein, so um die 50, wirkt sehr gepflegt und selbstsicher – um nicht zu sagen überheblich. Sollte ich an der Academy angenommen werden, werde ich versuchen, mich von ihm fernzuhalten. Nach diesem Aufeinandertreffen würde ich mich in seiner Gegenwart nur unbehaglich fühlen.
Fertig angezogen, trete ich aus dem Raum und werfe jeweils einen Blick zu beiden Seiten des Flures. Der Dozent ist verschwunden. Erleichtert atme ich auf und trotte zum Büro des Direktors, setze mich auf die Bank davor und warte, bis ich hineingebeten werde.
Während ich einen Energieriegel in mich hineinstopfe, schweifen meine Gedanken zum Tag meiner Ankunft zurück.
Das Zusammentreffen mit Marco – das Wort Vater kam nicht über meine Lippen, denn das hatte er nicht verdient – war mehr als unangenehm. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt – irgendwie italienischer. In meiner Erinnerung existierte nur ein blasses Bild von ihm: ein braun gebranntes Gesicht umrahmt von vollem, kinnlangen Haar und strahlend weißen Zähnen. Deshalb hatte ich einen dunkelhaarigen Italotypen erwartet mit Brusthaar, das aus seinem weit aufgeknöpften Hemd vorwitzig hervorlugt, und mindestens einem Goldkettchen.
Tatsächlich ist es so, dass man ihm seine Nationalität absolut nicht ansieht.
Wie Fremde standen wir uns am Flughafen in der Ankunftshalle gegenüber. Unsicher trat er von einem Bein aufs andere und fuhr sich über seinen ordentlich gestutzten Bart. Sein mittlerweile grau meliertes Haar trug er kurz geschnitten. Er konnte die Begrüßung gar nicht schnell genug hinter sich bringen.
Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass er mich mit Freudentränen an sich reißt. Doch er brachte weder eine Umarmung zustande, noch schaffte er es, mir unbeholfen auf die Schulter zu klopfen, wie man es vielleicht von einem Vater vermutet hätte, der seinen Sohn das letzte Mal als Baby gesehen hat. Körperkontakt vermied er tunlichst. »Hallo, Juri«, lautete seine kurze, fast schon förmliche Begrüßung. Er entriss mir meinen Trolley und ich hatte Mühe, ihm durch die Menschenmassen ins Parkhaus zu folgen. Nicht nur einmal prallte ich an der Schulter mit einem Passanten zusammen.
Ich staunte nicht schlecht, als ich mich im Inneren seines Chevrolets umschaute. »Offenbar hast du noch mehr Kinder in die Welt gesetzt?«, mutmaßte ich mit Blick auf den Kindersitz.
»Du hast noch eine Stiefschwester«, kam die schlichte Antwort. »Sie heißt Sara und ist sieben Jahre alt.«
Einmal mehr wurde mir bewusst, dass er für mich ein Fremder war. Ich wusste noch nicht einmal, womit er sein Geld verdiente.
Eigentlich wäre das der geeignete Zeitpunkt gewesen, um einander von unseren Leben zu erzählen, aber keiner wagte den Anfang. Die ganze Fahrt über herrschte unbehagliches Schweigen. Interessierte es ihn gar nicht, wie es mir ging oder wie ich mein bisheriges Leben verbracht hatte?
Irgendwann, als ich die erstickende Stille zwischen uns nicht mehr ertrug, holte ich mein Smartphone aus dem Rucksack, stülpte mir die Kopfhörer über die Ohren und stellte meine russische Lieblingsmetalband Walknut auf volle Lautstärke. Mit den Fingern trommelte ich im Takt aufs Armaturenbrett.
Es war kein besonders heißer Tag für Anfang August, aber Marco geriet schnell ins Schwitzen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er sich mit dem Handrücken den dünnen Schweißfilm von seiner Stirn wischte.
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass das Innere des Wagens nicht für uns beide ausreichte und fuhr die Scheibe herunter, um frische Luft hinein zu lassen.
Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich einsamer als je zuvor.
Ich war kurz davor einzunicken, als der Wagen in Brooklyn vor einem zweistöckigen Ziegelhaus mit ordentlich gepflegtem Vorgarten und weiß gestrichenem Verandageländer hielt.
Idylle pur.
Ich wappnete mich innerlich darauf, unerwünscht zu sein, schließlich gehörte ich nicht zu der heilen Welt, in der Marcos Familie lebte. Aber auch das würde ich durchstehen. Ich musste mir nur vor Augen halten, dass es eine vorübergehende Wohngemeinschaft war, vielleicht ein Jahr lang, wenn ich zwei Semester überspringen konnte, maximal zwei, dann war ich ausgebildeter Tänzer und konnte mir eine eigene Bleibe von meinen Gagen leisten.
Als ich die Beifahrertür öffnen wollte, fasste Marco mich an der Schulter und hielt mich zurück. »Hör zu, Juri, die Situation ist nicht einfach für mich …« Er räusperte sich umständlich. »Und auch nicht für dich – für uns beide nicht.« Es klang, als hätte er sich die Worte zurechtgelegt sowie vorm Spiegel geprobt. »Lass uns die Zeit nehmen, die wir brauchen, um uns näherzukommen. Und noch eine Sache: Ich finde es okay, wenn du die Obsession deiner Mutter in Ehren halten willst, aber ich hoffe, dass du danach einen anständigen Beruf lernst.«
Ich blinzelte irritiert. Mit dieser Obsession, wie er es nannte, war sie über lange Zeit sehr erfolgreich gewesen und hatte uns gut über die Runden gebracht. Obwohl sie eine alleinerziehende Tänzerin gewesen war, hatte sie sogar für finanzielle Rücklagen für mich gesorgt. Was war daran also nicht anständig? Einen Moment lang blieb mir vor Fassungslosigkeit der Mund offenstehen. »Balletttänzer ist also kein anständiger Beruf für dich?«
»Nicht für einen Mann.«
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. So dachte er also darüber. Das war wohl der Gipfel der Engstirnigkeit. In welcher Welt lebte er eigentlich? »Um eins klarzustellen: Ich bin nur wegen der NYC Academy of Ballet hierhergekommen, wegen nichts anderem.« Er glaubte doch nicht ernsthaft, er hätte das Recht mir vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll. »Es war Mamas größter Wunsch, dass ich Tänzer werde und meiner ist es auch.«
Von einem tiefen Seufzer begleitet ließ er mich los. Das Gespräch schien beendet. Offenbar wollte er die Sache erst einmal ruhen lassen, doch ich wusste, das Thema war noch lang nicht vom Tisch.
Ich konnte gar nicht schnell genug aus dem Wagen steigen.
Auf der Verandatreppe saß ein kleines Mädchen. Als sie mich kommen sah, sprang sie auf und lief mir entgegen, dass ihre blonden Locken nur so flogen.
»Du musst Juri sein!«, stellte sie lächelnd fest.
»Darf ich raten? Dann bist du Sara!«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln.
Sie nickte und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd. Ich kniete mich zu ihr hinab und reichte ihr die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.«
Anstatt sie entgegenzunehmen, fiel sie mir um den Hals.
Im ersten Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte und versteifte mich, doch dann schloss ich die Arme um ihren kleinen Körper und drückte sie ganz fest.
Als ich mich von ihr löste, sah sie mich durch ihre runden Brillengläser aus quicklebendigen Augen an. Sie hatten den gleichen Blauton wie meine – und Marcos.
»Ich wollte schon immer einen großen Bruder!«, rief sie begeistert. »Komm, ich zeig dir unser Haus.« Dann fasste sie meine Hand und zog mich die Stufen hinauf.
Ich wollte es nicht, denn sie war das Sinnbild dafür, dass mein Vater weder mich noch meine Mutter in seinem Leben wollte. Nichtsdestotrotz musste ich sie einfach mögen, außerdem traf Sara keine Schuld an dieser vertrackten Situation.
Die Tür geht auf und – ah, jetzt fällt mir sein Name wieder ein – Mr Coleman bittet mich mit einem Wink in sein Büro.
»Trete näher, Juri«, sagt er mit einer raumgreifenden Handbewegung, ehe er sich dann hinter seinem Schreibtisch niederlässt.
Ob es etwas auf sich hat, dass er mich mit Vornamen anspricht? Ich mache ein paar unsichere Schritte vorwärts und schaue mich um. Die weißen Wände zieren gerahmte Zeitungsausschnitte und Schwarz-Weiß-Fotos von Tänzern, vermutlich ehemalige Schüler, alles wirkt sehr sauber und geordnet.
»Nimm bitte Platz.« Mr Coleman weist mit der Hand auf den schwarzen Ledersessel vor seinem Schreibtisch und ich folge seiner Aufforderung.
Erst jetzt nehme ich mir die Zeit, ihn näher zu betrachten.
Er trägt eine Glatze und einen säuberlich gestutzten Bart. Mir war so, als hätte er vorhin eine Brille auf der Nase gehabt, die ihn auf den ersten Blick älter erscheinen ließ. Jetzt schätze ich ihn knapp auf die Vierzig.