VORWORT
Raven E. Dietzel: SCIURUS
Sascha Dinse: RISSE
Ute Dietrich: DAS DEPOT
Lea Reiff: ARTURS ERWACHEN
Michael J. Awe: DER KOMPLEX
Kurt Münzer: DIE KATZE
Simon Viktor: ELIAS
Manfred Lafrentz: WOLF IN DER STEPPE
Marco Denevi: JANÓVICE
Fernando Sorrentino: DIE CUBELLI-LAGUNE
Uwe Durst: DÄMMERUNG
Tino Falke: HUTMACHERS LATERNE
Gabriele Behrend: PARTITION
Norbert Fiks: ABSCHIED VON BRONTANNASDÉ
Nele Sickel: IM NEONLICHT DES NEUEN TAGES
Andreas Fink: Salvation3
Hans Jürgen Kugler: FREIER FALL
Matthias Weber: ZEITSPRINGER
Rainer Erler: DIE AUSERWÄHLTEN
Die Autoren
Die Herausgeber
Titelillustration
Bibliographisches
VORWORT
Liebe Freunde des Phantastischen,
metaphorisch gesprochen, umkreisen die Geschichten dieser Sammlung wie die Planeten eines Sonnensystem einen gemeinsamen Mittelpunkt. Die unterschiedlichen Bahnen um das Zentralgestirn mögen sie durch jeweils andere Gefilde führen, und unterwegs begegnen ihnen jeweils andere Phänomene, aber der Kern, der sie mit unsichtbarer Kraft an sich bindet, bleibt doch derselbe. Liebe, Sex, Erotik, Verführung und Leidenschaft sind beinahe durchgängig die grundlegenden Elemente.
Den Auftakt bildet Raven E. Ditzels »Sciurus«, eine eindringliche Schilderung, die uns ganz nahe heranrückt an das intime Ringen von Gut und Böse in der Grausamkeit vertrauter Katastrophen. Der Leser wird Zeuge eines Dialogs, in dem ein Dämon und ein Engel die Causa Gut versus Böse verhandeln.
Und es gibt weitere Schlachtfelder. Auf einem von ihnen wird das Banner mit der Aufschrift »Love is a battlefield« vorweggetragen. Entweder ist es die Liebe, die das Schlachtfeld erschafft, oder sie ist es, die aus ihm den letzten Ausweg weist. Die alte Parole, dass im Krieg wie in der Liebe alles erlaubt ist, belegen sowohl Matthias Weber mit »Zeitspringer« als auch Norbert Fiks mit »Abschied von Brontannasdé«.
Längst ist nicht mehr sicher, wer für das vermeintlich starke, wer für das angeblich schwache Geschlecht steht. Frauen wissen sich zu wehren, wenn sie in die Liebesfalle getappt sind (Nele Sickel: »Im Neonlicht des neuen Tages«), Männer strecken die Waffen und ergeben sich ihrem Schicksal (Manfred Lafrentz: »Wolf in der Steppe«). In Kurt Münzers »Die Katze« geht es um Rache aus dem Totenreich, und auch in Simon Viktors »Elias« erweist sich der Ruf des Jenseits stärker als das Diesseits. Gleiches gilt für Tino Falkes »Hutmachers Laterne«, eine Geschichte, die zudem mit unkonventionellen stilistischen Mitteln reizt.
Nur eine vermeintliche Verschnaufpause gewähren uns Marco Denevi mit »Janóvice«, einer durchtriebenen Geschichte aus dem Mikrokosmos einer kafkaesken Bürowelt, oder Fernando Sorrentino mit seiner anekdotischen »Cubelli-Langune«. Doch schon mit Uwe Dursts »Dämmerung« meldet sich das Grauen zurück: Der Strahler richtet sich auf eine Szene, die kurz und wuchtig ist wie ein Donnerschlag. Hier ist die Erwartung des Unausweichlichen übermächtig gewaltiger als alles, was nur angedeutet werden kann.
Wenn es um letzte Dinge geht, um Liebe und Tod, ums Existenzielle, dann landen wir bald bei den Dystopien, in denen sich das Geschehen dramatisch zuspitzt und apokalyptische Ausmaße annimmt. Willkommen zum Showdown der Menschheit! Den illustrieren Sascha Dinse in »Risse«, Michael J. Awe in »Der Komplex«, Ute Dietrich in »Das Depot« und Andreas Fink in »Salvation3«. In einer fernen Zukunft stellen die Protagonisten in Lea Reiffs »Arturs Erwachen« menschliche Schicksale nach, von denen sie aber seltsam unberührt bleiben.
Zurück an die Ursprünge vormenschlichen Lebens, das sich ans Licht kämpft, begibt sich Gabriele Behrendt in »Partition«, während in der schon meditativen Betrachtung »Freier Fall« von Hans Jürgen Kugler alle Bewegung zu einem Stilleben gerinnt, das im Wortsinne All umfassend ist.
Rainer Erler setzt mit »Die Auserwählten« einen versöhnlichen Schlußpunkt. In seiner Geschichte wehren sich zwei Menschen dagegen, dass ihre Verbundenheit für einen höheren Zweck instrumentalisiert werden soll und füllen die auferlegte Pflicht mit eigenem Leben.
Sie sehen, was man in dieser Ausgabe zu lesen bekommt, ist alles andere als leichte Kost, und dennoch bereichernd. Lassen Sie sich gut unterhalten!
Die Herausgeber Michael J. Awe & Andreas Fieberg
Bonn, im April 2018
Raven E. Dietzel
SCIURUS
Als ich die Stufen zum Parkplatz hinunterstieg, wurde mir klar, dass es vorbei war. Ich hatte es geschafft!
Der Regen prasselte schwer, und das Wasser war kalt, dennoch trug ich meinen Schirm geschlossen in der Hand. Meine Laune war … ach, ich fühlte mich unbeschreiblich.
Die paar Schritte zu meinem kleinen, alten Wagen waren schnell getan. Links stand ein Polizeiauto und rechts die Fahrzeuge von zwei anderen Lehrern, die noch drinnen waren und Aussage machten. Aber die meisten hatten nichts zu sagen gewusst und waren längst nach Hause gefahren. Ich selbst hatte nur unter einem Vorwand bis eben bleiben können. Der entgeisterte Tonfall der Polizisten hatte mich interessiert.
Ich entriegelte die Tür, öffnete sie schwungvoll und schlüpfte ins Wageninnere. Pfeifend steckte ich den Schlüssel ins Schloss, erkannte das Lied, das ich gedankenverloren geträllert hatte, und wollte es plötzlich hören. Also ließ ich den Wagen an, ließ Scheinwerfer aufleuchteten, denn es herrschte bereits trübe Winterdämmerung, und schob die Kassette in den Schlitz. Ich spulte ein wenig, verfehlte den Anfang, und hörte einfach mittendrin.
Das Scheinwerferlicht tastete über den schwimmenden Asphalt, spiegelte sich in der Dunkelheit mühsam und doch widerstandslos. Bäume säumten die Straße, denn der Schulhof grenzte direkt an den Wald. Ich fuhr nach links, passierte das Ortsausgangsschild, beschleunigte, schaltete im Takt der Musik. Gleich wäre ich im fünften Gang …
Da erfasste mein Lichtkegel eine Gestalt am Straßenrand. Der Rücken unter der hellen Regenjacke war krumm, die Schultern eingesunken. Das unsichtbare Gewicht der Niederlage schien tonnenschwer auf ihnen zu lasten.
Mein erster Impuls war, an mein Lenkrad zu tippen. Es interessierte mich, ob es Simon in die Luft schleudern würde, wenn ich ihm von hinten in die Kniekehlen fuhr. Vielleicht überschlug er sich lustig, wie eine Puppe, die ein eifriges Kind in den blauen Sommerhimmel warf, um ihr das Fliegen beizubringen. Wie die freudigen Kinderhände würde meine Motorhaube ihn fangen. Oder ob ich genug Tempo hatte, ihn bis auf Höhe meines Dachs zu schleudern? Wenn ich noch etwas Gas gab, würde es vielleicht …?
Aber wahrscheinlich würde ihn der Stoß nur einige Meter nach vorne werfen, und dann würden die Räder auf meiner rechten Seite ihn überrollen, erst das vordere und dann das hintere. Es würde mit Sicherheit rumpeln, vielleicht gab es ein lautes Geräusch, wenn sein Kopf an irgendein Metallteil stieß. Die Regenjacke könnte sich am Auspuff oder an der Anhängerkupplung verfangen, sodass ich ihn eine Weile mitschleifte. Aber so starker Regen würde die rote Spur doch bestimmt bald fortspülen… In solche Gedanken war ich versunken, und ich achtete gar nicht darauf, was ich in Wirklichkeit tat. Erst das Knarren des Handbremsenzugs machte mich darauf aufmerksam, dass ich angehalten hatte.
Nun im Bann des Rücklichts erschien die Regenjacke rot, und auch das Gesicht unter der Kapuze leuchtete in derselben Farbe. Simon beschleunigte seinen Schritt, um zum Wagen aufzuschließen. Je näher er kam, desto stärker verfremdete die Beleuchtung seine Züge. Vermutlich war es ganz und gar unmöglich, in den scharf schattierten Augenhöhlen eine kummervolle Miene zu erkennen, doch meine Phantasie schmückte sie entsprechend aus.
Ich drehte die Musik leise. Er war inzwischen neben dem Auto, fasste nach dem Griff und zog die Tür auf. Die Innenbeleuchtung ging an und sein Gesicht desillusionierte mich mit einem Ausdruck hoffnungsvoller Dankbarkeit, wie ihn Menschen üblicherweise zur Schau tragen, wenn ein gnädiger Autofahrer sie aus eiskaltem Sturzregen rettet. Allerdings hielt das nur einen winzigen Moment. Dann erkannte er mich und fuhr zusammen.
»Bevor du die Tür zuwirfst«, hielt ich ihn von einer übereilten Reaktion ab, »denk nach!«
Wozu er sein Gesicht verzog, war beinahe Hass. Aber eben doch nur beinahe. »Was soll das hier?«, fuhr er mich an. »Warum hast du mich nicht einfach überfahren?«
Ich verzichtete auf eine Antwort auf seine zweite Frage und erklärte auf die erste: »Ich biete dir an, dich mitzunehmen. Das soll das hier.«
Er zögerte. Sein Geist und seine Gesinnung sagten ihm natürlich, dass er sich aufrichten und seinen Weg zu Fuß fortsetzen sollte. Aber das Wasser rann ihm unablässig übers Gesicht und tropfte ihm von der Nase, und seine klammen, notdürftig in den Ärmeln versenkten Hände verrieten, wie kalt ihm war. Ach, wie ich solche Situationen liebte! Wenn der Gute zwischen Stolz und Bedürfnis entscheiden musste …
»Klammer aus, dass es eine Versuchung ist«, bot ich an, um die Entscheidung leichter zu machen. »Betrachte mich als einen … barmherzigen Samariter.« Aufmunternd fügte ich hinzu: »Ich habe eine Heizung.« Und drückte auf den entsprechenden Schalter.
Man sah Simon genau an, wie er sich zwingen musste, sich nicht dem warmen Luftstrom entgegenzubeugen. »Du verlangst keine Gegenleistung?«, vergewisserte er sich misstrauisch.
»Doch nicht an so einem Abend!«, lachte ich und winkte ab. »Im Übrigen: Es macht keinen Märtyrer aus dir, wenn du an einer Lungenentzündung stirbst.«
Widerwillig nickte er, und mit dem Blick eines gebrochenen Menschen stieg er ein. Das Knallen der Autotür sperrte den Regen aus. Ich löste die Handbremse und fuhr zufrieden los.
Noch immer murmelte in den Lautsprechern die Musik, doch ich dachte gar nicht daran, sie lauter zu stellen. Mir war danach zu plaudern. Ach, ich war so gut gelaunt!
»Ist fast eine Sintflut da draußen«, bemerkte ich.
Teilnahmslos hob Simon die Schultern.
»Nein, die Sintflut war nicht so kalt«, übernahm ich es also selbst, mir zu widersprechen. »Aber wem sage ich das? Du bist ja selbst darin ertrunken!« Ich lachte so laut, dass Simon wohl glaubte, ich überhörte seine leise Bemerkung. Aber nachdem ich meiner Heiterkeit Luft gemacht hatte, nahm ich mich zusammen und bestätigte: »Das stimmt natürlich: Nicht nur du. Es war ein ulkiges Patt damals, nicht wahr?«
Er gab keine Antwort, aber ich sah seiner Miene deutlich an, dass Simon es gar nicht ulkig gefunden hatte. Ich glaube, er war damals wie ein Wahnsinniger gepaddelt und hatte versucht, ein kleines Kind über Wasser zu halten. Und zugegebenermaßen hatte auch ich es nicht besonders genossen, in Schlammmassen zu ersaufen. Aber es war lange her, und an einem Abend wie diesem stand ich weit über allen Todeserfahrungen. »Weißt du schon, was du jetzt machen wirst?«, erkundigte ich mich fröhlich.
»Sterben«, knurrte Simon missmutig.
»Ach? Warum denn schon?« Weil im Scheinwerferlicht eine scharfe Kurve auftauchte, bremste ich ein wenig ab. »Du könntest die freie Zeit nutzen und das Leben genießen.«
»Genießen?«, stieß Simon scharf aus. »Ich soll ein Zeitalter genießen, das von dir beherrscht wird?«
»Warum nicht? Umgekehrt funktioniert es doch auch.« Oft genug war es vorgekommen, dass ich Simons Sieg überlebt hatte und noch einen Gutteil der verbleibenden Zeit als simpler Mensch verbringen musste – als ein bösartiger natürlich, und ob meiner Niederlage meist auch recht gehässig. Ich hatte stets das Beste daraus gemacht. Einmal war ich ein ganz hervorragender Massenmörder geworden, dessen Namen man bis heute ehrfürchtig nannte. Man hatte mich nie in die Finger bekommen, um mich aufzuhängen, wie es zu der Zeit Sitte war. Stattdessen war ich reich und alt geworden und am Ende fett in einem Bett gestorben. Es war einer der angenehmsten Tode, an die ich mich erinnern konnte, und das in einem Jahrhundert, das sehr schlecht angefangen hatte …!
»Hab einfach ein bisschen Spaß«, riet ich gönnerhaft.
»Weißt du, Nathan«, setzte Simon an. »Spaß und Genuss sind dein Metier.«
»Dann verschaffst du dir eben …«, ich rang um ein Wort, dass Simons Wesensart treffen mochte, »… Freude. Wo ist das Problem?«
»Ich freue mich nicht, wenn Böses herrscht!«
»Ach, ja … Ich habe auch keinen Spaß an deinen langweiligen guten Werken«, stellte ich dem gegenüber. »Aber, Simon, ich habe eine Menge Spaß daran, ein paar gute Dinge zu verderben.« Bei dem Gedanken daran kribbelten mir üblicherweise die Handflächen, aber heute merkte ich gar nichts, denn schon die ganze Zeit war dasselbe Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich wäre am liebsten auf meinem Sitz herumgehüpft, aus Genugtuung über das böse Werk, dass vor ein paar Stunden zu einem Abschluss gelangt war. All die kleinen Boshaftigkeiten, die ich als Mensch zu vollbringen in der Lage war, waren nichts gegen den Moment, in dem ich das Spiel gewann; jenen Augenblick, in dem der Mensch, um den Simon und ich gerungen hatten, sich entschied. Nicht immer war das Ergebnis ein Massaker, wie es heute stattgefunden hatte. Genauso reichte es aus, dass ein Mann endlich die Hand erhob und seine Frau ein paarmal heftig gegen die Wand schmetterte. Manchmal ging es sogar nur um eine lächerliche Unterschrift auf irgendeinem Papier. Es kam nicht darauf an, wie groß oder klein die Tat war, es ging nur darum, dass es sich um die freie Entscheidung eines Menschen für das Gute oder das Böse handelte – ein kosmischer Münzwurf. Das Entsetzen in Simons Gesicht, wenn die Münze auf die blutige Seite fiel, war jedes Mal entzückend. Er schien sich bis heute nicht daran gewöhnt zu haben, wozu Menschen in der Lage waren. Wie konnte man nach so vielen Tausend Jahren noch so naiv sein? Aber ich konnte es nicht leugnen: Ich liebte das Leid dieses Burschen. Er war so unvergleichbar fähig dazu …
Doch in diesem Gedanken wurde ich unterbrochen. Simon hatte beschlossen, seine Einsilbigkeit aufzugeben: »Das klingt, als wolltest du mich ermuntern, weiterhin gegen dich zu kämpfen«, bemerkte er. »Warum?«
»Weil es Spaß macht.«
»Es macht dir Spaß, bekämpft zu werden?«
»Nein. Es macht mir Spaß, über ein paar von deinen Leuten zu siegen«, stellte ich klar. »Und das kann ich nicht, wenn sie nicht gegen mich kämpfen.«
Bisher hatte er seine Hände an der Heizung gewärmt, doch nun ließ er sie sinken. Nach der Kälte draußen hatte die Wärme seine Haut rot gefärbt, und wahrscheinlich brannte sie. Vier Grad und Regen waren einfach eine wunderbare Wetterlage. »Ihr bringt uns auch um, wenn wir nicht im geringsten Hand gegen euch erheben«, stellte er fest. Sein Blick dabei war unschuldig, aber ich glaubte ihm nicht, dass er dieses lästige Thema anschnitt, ohne zu wissen, wie sehr es mich nervte.
»Natürlich tun wir das«, meinte ich bissig. »Aber es hilft nicht! Mit deinen pazifistischen Märtyrern kann ich nichts anfangen. Sie … bringen mir nichts.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Simon, und ärgerlicherweise waren diese Worte begleitet von einem Lächeln. Es war ein kleines und verstohlenes Lächeln, eines, das Simon nicht lächelte, damit es von mir gesehen wurde, sondern das aus seinem Innern aufstieg und sich einfach so in seine Mundwinkel setzte. So ein Lächeln war das; so ein selbstgenügsames … Als es ihm auffiel, wischte er es sofort weg – das ärgerte mich noch mehr.
»Die absurdeste Niederlage, die ich jemals einstecken musste!«, machte ich mir Luft. »Wir haben ihn getötet, und dadurch habt ihr gewonnen…!«
Er und ich hatten im Laufe der Menschheitsgeschichte schon viele Kämpfe geführt, doch Simon wusste sofort, welchen ich meinte. Wieder tauchte der Ausdruck auf seinen Lippen auf, und diesmal ließ er ihn zu. »Weißt du, Nathan… Ich glaubte, du glaubst, das Komplizierte am Gutsein wäre, nichts Böses zu tun. Aber damit schätzt du deine Versuchung viel zu groß ein. Das Komplizierte am Gutsein ist das gut Sein. Sie müssen nicht nur das Falsche lassen – sie müssen das Richtige tun …«
»Aber er hat doch gar nichts getan!«, entrüstete ich mich. »Er hat sich einfach umbringen lassen. Das ist das genaue Gegenteil davon, etwas zu tun. Er hätte sich selbst verleugnen können oder sich aus dem Gefängnis befreien …«
Jetzt lächelte der Kerl nicht nur, jetzt lachte er sogar. Auch das war leise und in sich selbst hinein, und es regte mich noch viel mehr auf. »Wenn er das getan hätte«, meinte Simon, »dann hättest du gewonnen.«
»Nein! Ich hätte doch so gewinnen müssen.« Ich verstand bis heute nicht ganz, was eigentlich passiert war. Es war eine Unbegreiflichkeit. »Er war kein starker Kämpfer des Guten! Er war sogar zu schwach, sein eigenes Leben zu verteidigen …«
»Er war stark genug, es herzugeben. Das hat er getan.« Simon fügte hinzu. »Und das hat einigen von deinen Leuten sehr zu denken gegeben.«
Ich öffnete den Mund, wusste aber nichts zu sagen, das irgendetwas an der Pleite von damals besser machte. Also beschränkte ich mich darauf, verächtlich zu schnauben.
Simon warf mir einen Blick zu, der so etwas wie Mitleid bedeutete – ich fand es eklig. Aber dann trübte er sich. »Diesmal hast du gewonnen«, murmelte Simon.
»Ja-ah.« Ich fühlte mich gleich besser. »Ein wundervolles Jahrhundert liegt vor uns.« Hoffnungsvoll setzte ich hinterher: »Du willst nicht doch etwas Widerstand organisieren?«
Simon schwieg.
Ich hielt das für Resignation und glaubte, dass unser Gespräch sich erschöpft hatte. Wahrscheinlich war es an der Zeit, die Musik wieder aufzudrehen. Erst musste ich den Wagen noch durch ein paar enge Straßenkurven lenken, aber nachdem wir diesen letzten Teil des Waldes hinter uns gebracht hatten und uns nun auf freier, gerader Landstraße befanden, tastete ich mit der Hand nach dem Autoradio. In weiter Ferne vor uns glommen ein paar Rücklichter durch die Dunkelheit. Ich dachte über meine kleine Lehrerkarre nach und beschloss, mir bald ein schnelleres Auto zuzulegen. Meine Finger fanden inzwischen den Lautstärkeregler.
Da sagte Simon plötzlich: »Mehr, als dir gefallen wird.«
Ich zog die Hand vom Knopf zurück. Mühsam schloss ich an das vergangene Gespräch an. »Mehr Widerstand als mir gefallen wird?«, echote ich verwundert. »Wie meinst du das?«
Simon mochte lange nachgedacht haben, aber das Ergebnis hatte aus meiner Sicht keinen Sinn. Das Spiel war gelaufen, jedenfalls für dieses Jahrhundert. Nun hatte er nicht mehr Macht als jeder normale Mensch. Wenn er Widerstand organisierte, nutzte ihm der nicht nur nichts, sondern er hatte auch keine Aussicht auf Erfolg. Im Kampf mit meinen Leuten würde nicht mehr davon übrig bleiben als ein schmieriger Fleck – und das nur teilweise im übertragenen Sinne. Und ich freute mich darüber, wenn dieser Fleck ein bisschen größer ausfiel als unbedingt nötig. So war ich nun einmal.
»Nein, widerstehen müssen die Menschen dir alleine«, meinte Simon versonnen. »Es ist manchmal sehr schwer für sie – wie wir heute gesehen haben …« Ein dunkler und tiefer Schatten glitt über sein Gesicht, als er an den Jungen dachte, der mit einem Gewehr in die Schule gegangen war und zwölf Mitschüler erschossen hatte. Simon war bis zum Schluss der festen Überzeugung gewesen, dass er sich umentscheiden würde. Ich hatte leider keine Gelegenheit, ihn in dem Moment zu sehen, aber ich hatte mir sein Entsetzen vorgestellt, als die ersten Schüsse auf dem Flur erklungen waren. Mir hatte das Geräusch ein böses Grinsen auf die Lippen gezaubert, und ich hatte mich zur Tafel umdrehen müssen, damit die Schüler es nicht sahen.
»Erik ist nicht böse, nur verzweifelt«, hatte Simon zu mir gesagt, als wir das Spiel begonnen hatten, und etwas ganz Ähnliches auch zu den Polizisten, die heute, vier Jahre danach, das Lehrerkollegium verhörten. Obwohl es immer wieder der Fall war, wollte er einfach nicht daran glauben, dass sich Menschen tatsächlich für das Böse entschieden. Nun: Es war mir genauso unbegreiflich, dass sie etwas auf die Seite der Guten zog …
»Es wäre dir lieber gewesen, er hätte dich getötet?«, vermutete ich.
Simon schreckte aus Gedanken auf. Ich hätte ihn darin lassen sollen, dachte ich, als seine Züge sich glätteten. Eben waren sie noch so wunderbar schmerzerfüllt gewesen, als hätte jeder Schuss eine Falte hineingegraben. Noch ein bisschen länger in der Verzweiflung, und er hätte vielleicht angefangen zu weinen. Doch nun blickte er abgeklärt. »Das wäre für mich der einfache Weg gewesen«, bestätigte er.
Man konnte nicht sagen, dass Simon das Sterben leichtfiel, aber es fiel ihm zumindest leichter als mir. Es gab für mich keine tiefere Niederlage, als das Spiel zu verlieren und meiner Leiblichkeit beraubt zu sein. Wenn Simon dagegen beim Finale draufging, verschaffte ihm das immer sein dämliches gutes Märtyrergewissen, das ihn mit unbegreiflicher neuer Zuversicht ins nächste Spiel einsteigen ließ. Im Gegenzug litt er stärker als ich unter denjenigen Niederlagen, die er überlebte. Ich war dann bloß wütend – wobei auch ohnmächtige Wut ein dreckiges Gefühl ist.
»Bring dich doch einfach um«, schlug ich vor.
Simon schüttelte den Kopf.
»Ich meine es nur nett«, versicherte ich.
»Ich weiß, Nathan.« Wer mich weniger gut kannte, hätte es wohl für einen gehässigen Spruch gehalten, doch Simon wusste es wirklich. Die Empfindung, aus der ich gesprochen hatte, war skurril, doch ich hatte sie gelegentlich: eine Art Freundschaft. Ich konnte es mir selbst nicht erklären.
»Dann tu es doch. Du bist jetzt nur ein Mensch.«
Simon lachte mit sämtlicher Freude, die er in dieser Situation aufbringen konnte. Es war nicht sehr viel, und so kam ein recht zynisches Lachen dabei heraus. »Ich kann doch keinen guten Menschen töten.«
»Weil dich das zu einem bösen Menschen machen würde?«
Er nickte.
Kurz fragte ich mich, ob Simon dann zu mir gehören würde. Vielleicht wäre das so etwas wie ein endgültiger Sieg …
»Aber wenn ich durch die Entscheidung böse werde, töte ich ja einen bösen Menschen«, stellte Simon klar. »Dann tue ich nichts Böses mehr …«
»… und du bleibst also gut.«
»Ja«, seufzte er. »Es ist ein Paradoxon. Jedenfalls kann ich mich nicht umbringen.«
»Weißt du denn, was du stattdessen machen wirst?« Erst nachdem ich es gefragt hatte, fiel mir auf, dass wir wieder dort waren, wo unser Gespräch angefangen hatte, nur an einem zehn Kilometer entfernten Flecken auf der Landkarte.
Und auch Simons Antwort hatte sich zehn Kilometer entfernt: »Ich bleibe Lehrer.«
»Du bleibst …?« Es war sehr ungewöhnlich, dass wir Ort und Rolle, an denen wir gespielt hatten, nicht verließen. »Warum bleibst du?«
»Um den Kindern etwas beizubringen.«
Ich war in meinen vier Lehrerjahren sehr damit beschäftigt gewesen, dem Jungen Gift in die Gedanken zu träufeln, Simon hatte sich um das Gegenteil bemüht. Einen anderen Zweck hatte ich in unserem Lehrerdasein nicht gesehen. »Nun, dazu hast du jetzt die Möglichkeit«, meinte ich gönnerhaft. »Jetzt, nachdem Erik weg ist.«
Weg hieß tot, aber Simon korrigierte das nicht. Ich sah nur seine Augenlider nervös zucken, als ich den Satz sprach.
Erik hatte durchaus die Gelegenheit gehabt, Simon auf seinen einfachen Weg zu schicken. Er hatte das Schloss aufgeschossen und die Tür aufgestoßen, wie schon bei ein paar Klassenräumen zuvor. Er hatte auch auf die gleiche Art und Weise die Waffe gehoben, wie zuvor, bevor er in die anderen Räume gefeuert hatte, leichthin, fast nebenbei, wie normalerweise Zehntklässler zwei Hände voll Bonbons in die Klassenräume warfen, wenn sie ihre Chaostage hatten: Jeder verdiente es, etwas abzubekommen. In diesem Klassenraum hatten die Schüler Schutzwälle aus Tischen errichtet, auf Geheiß ihres Lehrers. Natürlich wussten sie nicht, dass er ein paar Jahrtausende Erfahrung in der Verteidigung gegen das Böse hatte, aber sie hatten auch so auf ihn gehört und sich dahinter versteckt. Als Erik die Tür aufstieß, stand Simon allein aufrecht im Raum. Eigentlich hätte er ein unverfehlbares Ziel abgegeben. Aber Erik zögerte einen kurzen Moment, gerade lang genug, damit Simon sagen konnte: »Erik. Das bist nicht du.« Und Erik hatte tatsächlich fast sofort aufgehört. Er hatte nur noch einen einzigen Schuss abgefeuert: in seinen eigenen Mund.
»Eigentlich kannst du doch sogar den Umständen entsprechend zufrieden sein«, beschloss ich, nachdem ich die Geschehnisse rekapituliert hatte. »Immerhin hat der Böse nicht überlebt. Das ist ein guter Anfang für Widerstand, meinst du nicht?«
»Erik war nicht böse.«
»Natürlich war er böse!«, stieß ich hervor. »Sonst hätte ich doch nicht gewonnen.«
Doch Simon widersprach unbeirrt: »Er war nicht an sich böse. Man hatte ihm nur Böses in den Kopf getan.«
»Dann hat er sich die Allüren aber gezielt ausgetrieben«, witzelte ich.
»Genau das hat er«, erwiderte Simon scharf. »Genau das. Er hat den Bösen erschossen. Er war stark genug, sein Leben dafür herzugeben.«
»Von seinem Leben war ohnehin nicht mehr viel übrig«, erwiderte ich unbekümmert. »Viel Stärke gehörte nicht dazu.«
»Das mag sein«, gab Simon zu. »Aber er hätte auch mich erschießen können. Verstehst du? Er hätte weitermachen können, bis ihn jemand aufhält. Aber er selbst hat den Bösen aufgehalten.«
»Du meinst: wie ein Guter?«, erwiderte ich skeptisch.
»Als ein Guter.«
»Nein!«, donnerte ich wütend. Ich hatte das Bedürfnis, Vollgas zu geben, doch wir waren auf der weiten Landstraße längst am Limit des kleinen Motors unterwegs. Aus Sucht nach Extremen wählte ich das andere und ging auf die Bremse.
Augenblicklich wurden Simon und ich in die Anschnallgurte gepresst. Auf regennasser Fahrbahn drehte mein Auto sich anderthalb Mal um sich selbst. Ich verlor die Orientierung und verfluchte stumm meine Impulsivität, weil ich nicht wusste, ob und wohin ich das Lenkrad drehen sollte. Mit zwei Rädern im Graben kamen wir schließlich zum Stehen.
Simon keuchte nicht weniger als ich. Mit zitternden Fingern lockerte er den Gurt. »Was war das?«, japste er. Seine Augen waren schreckgeweitet.
»Erik war kein Guter«, stellte ich klar und hielt dabei die Stimme so fest es mir jetzt gerade möglich war. Ich löste ebenfalls meinen Gurt, um besser Luft zu bekommen. »Ich habe gewonnen. Also war Erik ein Böser. Einer von meinen Leuten«, fügte ich hinzu.
»Keine Angst, Nathan. Ich mache dir deinen Sieg nicht streitig«, versicherte Simon. »Auch wenn es mir leid tut, das zu sagen: Erik war böse, als es darauf ankam. Allerdings ist er nicht als Böser geboren. Und er ist nicht als Böser gestorben!« Nach dieser zornigen Rede blieb ein Moment der Stille zurück.
Der Regen fiel so unablässig wie eh und je, doch erst jetzt, da der Motor aus war, hörte man ihn aufs Auto trommeln. Ich überlegte, ob ich aussteigen und den entstandenen Schaden begutachten sollte oder ob ich das lieber noch herauszögerte. Simon ließ den Kopf in den Nacken kippen, nach links, sodass er neben der Kopfstütze auf der Sitzlehne auflag. Er stieß lang die Luft aus. Und dann kicherte er.
»Was ist?«
»Oh, nichts eigentlich. Das hat mir nur irgendwie Freude bereitet.«
Ich grinste und ließ ebenfalls meinen Kopf auf die Lehne sinken. »Spaß«, erwiderte ich. »Spaß hat es gemacht.« Einen Moment lagen wir beide da, Auge in Auge miteinander. Zwischendurch musste der eine schmunzeln, und dann schmunzelte auch der andere.
»Komische Sache, dieses menschliche Leben«, murmelte ich irgendwann.
Simon ließ den Kopf, wo er war. »Ja«, bestätigte er. »Allein so ein blöder, kleiner Adrenalinschub gibt einem das Gefühl, dass es unbedingt lebenswert ist.«
Ich nickte, ohne viel Anstrengung darein zu legen. Besagter Adrenalinschub ließ allmählich nach und forderte seinen medizinisch unabdingbaren Tribut. Ich fühlte mich erschöpft und machte die Augen zu.
»Sag mal: Wo sind wir eigentlich?«, fragte Simons Stimme.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich in meine persönliche Dunkelheit hinein. »Irgendwo auf der Bundesstraße …«
»Aber wohin waren wir unterwegs? Wenn du mich nach Hause hättest bringen wollen, hättest du im Wald links abbiegen müssen…«
»Ich weiß.«
»Hast es aber nicht getan.«
Widerwillig öffnete ich eines der Augen wieder. Simon hatte sich anders in seinen Sitz geschoben, aber nur, um es sich gemütlicher zu machen. Als er meinen Blick bemerkte, hob sich in seinem durch und durch guten Gesicht eine kesse Augenbraue.
Ich bemerkte: »Es gibt Fragen, die man stellen sollte, bevor man in ein fremdes Auto einsteigt.« Munter fügte ich hinzu: »Es könnte jemand Böses darin sitzen.«
Ich war der festen Überzeugung, dass er seine ganze Willenskraft zusammennehmen musste, um nicht wenigstens ein bisschen zu schmunzeln, und dass er das nur tat, um mich zu ärgern. »Na gut, du hast recht«, gab er trocken zu. »Und jetzt sag: Wohin waren wir unterwegs?«
»Ich wollte mir nur meine neue Welt ein bisschen angucken. Das mache ich gerne, wenn ich gewonnen habe«, erzählte ich also. »Vielleicht hätte ich auch zwei, drei Leute totgefahren, um zu gucken, ob es sich schon anders anfühlt. Was sich so ergeben hätte.«
Ich war mir sicher, Simon verzog nur nicht das Gesicht, weil er sich noch immer unter der Beobachtung meines einen Auges befand. Er verkniff sich sogar einen Kommentar, der sicherlich mit einer moralisch mindestens so aufgeladenen Bezeichnung wie »Ekel« dahergekommen wäre. Stattdessen meinte er kühl: »Und dazu wolltest du mich mitnehmen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe im Gesprächseifer einfach vergessen, bei dir vorbeizufahren«, machte ich klar. »Ganz ohne Hintergedanken.« Nun öffnete ich auch das andere Auge. Mein Körper hatte seinen Tiefpunkt überwunden zu haben, beschloss ich. Ich streckte eine Hand nach dem Türöffner aus.
»Hast du vor, dir den Schaden zu besehen?«
Ich nickte.
»Warte. Willst du meine Jacke?«
Er war drauf und dran, den Regenparker auszuziehen, doch ich winkte barsch ab und knurrte: »Treib es bloß nicht zu weit …!« Bei jedem Menschen hätte ich die Gelegenheit genutzt, mir einen Vorteil zu verschaffen, doch nicht bei ihm. Die Milde, die er einem erwies, klebte hinterher an einem, wie Hundekot unterm Schuh.
Draußen: Die Regentropfen im Scheinwerferlicht schienen schneller zu fallen, als ihre Brüder in der Dunkelheit, doch es waren letztere, die mir kalt in den Nacken platschten, während ich mir forschendem Blick einmal um das Auto herumging. Die beiden Räder auf der rechten Seite berührten nicht den schlammigen Grund, sondern hingen ein Stück darüber. Ich wusste wirklich nicht, wie ich meine alte Mühle aus dem Graben bekommen sollte, selbst wenn Simon allen seinen guten Willen aufbot, um zu schieben – der Kerl konnte verblüffende Körperkräfte freisetzen, wenn er es ernst meinte.
Beinahe rutschte ich auf dem schlammigen Abhang aus, konnte mich aber noch am Türgriff festhalten. Mühsam kletterte ich zurück auf die Straße und öffnete die Fahrertür. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, offenbarte ich. »Entweder machen wir uns zu Fuß auf den Weg oder wir warten auf Hilfe.«
»Wir wissen nicht, wo wir sind«, erwiderte Simon. »Wir sollten warten.«
Also stieg ich wieder ein.
Seltsamerweise hatte keiner von uns beiden mehr das Bedürfnis, zu lachen oder zu schlafen. Ich drehte probehalber am Lautstärkeregler des Autoradios, doch die Kassette musste inzwischen durchgelaufen sein. Ich machte mir nicht die Mühe, sie umzudrehen.
Zwischendurch setzte Simon an: »Du solltest vielleicht …«
Mit einer Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen und schaltete das Warnblinklicht ein. Sein regelmäßiges Klicken war das einzige, was übrig blieb, als schließlich sogar der Regen nachließ. Verräterisches Wetter! Hätte es sich eine halbe Stunde früher entschieden, wäre ich nun nicht durchnässt. Ich fror allmählich. Auch Simon fror, man sah es ihm an. Aber er beklagte sich nicht.
Er war derjenige, der die fremden Scheinwerfer zuerst auftauchen sah. Hoffnungsvoll in die Ferne zu blicken war nicht meine Art – aber ich musste zugeben, dass auch ich mich über diesen Silberstreif freute. So weit hatte Simons lästige Gegenwart mich bereits gebracht: Ich empfand nicht Spaß oder Vergnügen über eine Sache, sondern Freude. Nun, ich wollte sehen, was sich daraus machen ließ …
»Du könntest ihn bitten, im nächsten Ort einen Pannenservice für uns anzurufen«, meinte Simon, als ich aus dem Auto ausstieg und die Tür offen ließ.
»Oh, das könnte ich natürlich tun«, murmelte ich. Ich machte eine grüßende Geste in Richtung des fremden Autos, das auf dem gegenüberliegenden Seitenstreifen angehalten hatte. Nun stieg der Fahrer zögerlich aus.
»Was ist denn das Problem?«, fragte er mit lauter Stimme über die Straße.
Ich unterließ es, auf das Offensichtliche hinzuweisen und ging stattdessen zur Motorhaube. Simon saß nach wie vor im Wagen. Er winkte dem Fremden dankbar zu, als der näher kam, und dachte nicht weit genug mit. Unter meinen Händen klickte die Haube, als Simon sie von drinnen öffnete.
Der Mann glaubte wohl, ich wolle ihm etwas zeigen und trat nun endgültig zu mir heran. Vielleicht kannte er sich mit Motoren aus und freute sich, helfen zu können. Aber ich war nicht auf der Suche nach dem Motor, als ich die Haube anhob. Unauffällig tastete ich nach einem guten Freund …
Ich ließ mir gerade genug Zeit, die Brechstange zu heben, damit der Mann verstehen konnte, was los war, aber nicht genug für ihn, um auszuweichen. Jemandem von hinten einen über den Schädel ziehen konnte jeder, der ein bisschen hinterhältig war. Aber einen schwungvollen Schlag von vorne in ein hilflos überfordertes Gesicht auszuführen, machte ungleich mehr Spaß.
Noch mehr Spaß machte allerdings Simons Reaktion, als das matschige Stoßgeräusch erklang und der Mann zu Boden ging. Nun war es vorbei mit seiner kühlen Beherrschtheit. Er schrie: »Was hast du getan, du Scheusal?«
Hastig riss er die Autotür auf und fiel in einen Graben, mit dem er nicht gerechnet hatte. Nass und schlammig und auf allen Vieren kroch er sofort wieder heraus, auf den Lippen all die Ausdrücke, die er vorhin noch verschwiegen hatte: »Du bist abscheulich! Ein hinterhältiges Ekel!«
»Damit beleidigst du mich nicht besonders, Simon«, bemerkte ich heiter.
»Aber du hast ihn eiskalt umgebracht!« Inzwischen war er bei mir im Scheinwerferlicht angelangt, hielt aber inne, als er mich gedankenversunken das Gewicht der Brechstange in der Hand prüfen sah.
Simon mochte es nicht glauben, aber ich vermochte mit dem Ding geradezu chirurgisch umzugehen. »Ich habe etwas viel Besseres getan«, frohlockte ich. »Ich habe ihm eine Gehirnerschütterung verpasst, und jetzt werden wir ihm sein Auto stehlen. Das wird ihn in Zukunft von dem Gedanken Abstand nehmen lassen, irgendwelchen Leuten zu helfen.«
Simon antwortete nichts, beschloss aber wohl, sich von meiner Brechstange nicht erschrecken zu lassen. Er krabbelte zu dem Mann, der hintenüber auf den Asphalt gefallen war und besah mit trauriger Miene dessen verformten Kiefer. »Du hast ihm ein bisschen mehr verpasst als nur eine Gehirnerschütterung«, bemerkte er so gefasst, wie es nur jemand sein konnte, der schon eine gute Weile mit mir leben musste.
»Zugegebenermaßen.« Ich hob die Schultern. »Komm, lass uns fahren.«
Simon hatte seine Jacke ausgezogen und mit einer Ersten Hilfe begonnen, wie man sie aus dem Buche kannte. »Ich bleibe!«, erwiderte er, und sein Tonfall klang, als sei zwänge ich ihn, etwas Selbstverständliches auszusprechen.
»Sei vernünftig. Er hat dich gesehen und weiß, dass du zu mir gehörst.«
»Ich gehöre nicht zu dir.«
»Ja, aber es sieht so aus – noch viel mehr, wenn ich mit seinem Auto davon bin, und du mit dem anderen gestohlenen Auto hierbleibst.«
»Gestohlen?« In Simons Gesicht regte sich die Ahnung, dass ich vorhatte, ihn zu erpressen.
»Das lässt sich ganz leicht einfädeln«, bestätigte ich. »Ich werde dir die Polizei auf den Hals hetzen. Dann ist es Essig mit deinen Zukunftsplänen. Kinder unterrichten und so weiter…«
»Ich kann ihn hier aber nicht liegen lassen.«
»Du wärst erstaunt, was du alles kannst«, erwiderte ich und sprach von dem normalen Menschen, der auch irgendwo im allzu guten Simon steckte.
Er warf einen knappen Blick auf die Brechstange, die ich beim Sprechen gedankenversunken über den Asphalt gezogen und hatte klirren lassen. Dann meinte er: »Hinten im Auto ist bestimmt ein Verbandskasten. Ich komme nicht mit, bevor ich nicht mein Bestes gegeben habe …«
Ich beschloss, darüber hinwegzusehen, dass er die Möglichkeit meiner Bedrohung einfach ignorierte. Nicht, dass er nicht bemerkte, dass er seinen Kopf in wunderbarer Höhe für ein Polospiel mit Brechstange hielt… Nicht, dass er nicht genau wusste, dass mir so ein Gedanke auch kam … Aber er tat einfach, als wäre es nicht so, als gäbe es keinen Bösen, der mit einer gezielten Bewegung Atlas und Schädel entzweien konnte wie ein Seitensprung ein junges Ehepaar. Vielleicht sollte ich ihm einen Denkzettel … Aber ich ließ es bleiben.
Während er seine selbstgewählte Aufgabe erfüllte, sah ich mir mein neues Auto an. Das Vorhaben, meine alte Kiste zu ersetzen, war rasch umgesetzt, ein gutes Omen, hoffte ich. Es sollte ein spaßiges Jahrhundert werden.
Als Simon schließlich und sehr widerwillig bei mir einstieg, hatte er blutige Hände. Er hatte überhaupt viel häufiger Blut an den Händen als ich – was bei oberflächlicher Betrachtung absurd scheinen mochte, schließlich brachte ich sehr viel häufiger Menschen um. Aber wenn man genauer darüber nachdachte, kam man darauf, dass ich mich schlichtweg ungern schmutzig machte.
»Was hast du eben geschrieben?«, wollte ich wissen, während ich den Motor anließ.
»Geschrieben?« Er log schlecht. Außerdem hatte ich ihn beobachtet.
»Auf das Blatt, das du aus deinem Notizbuch gerissen hast«, half ich seiner Erinnerung auf die Sprünge. Die Hemdtasche, in der er das Büchlein danach wieder verstaut hatte, war am Saum verräterisch blutfleckig.
»Nur einen Ratschlag«, meinte Simon leise.
»War es so etwas wie: Halte dich von Fremden fern?« Ich lachte. »Das hat er jetzt schon gelernt. Vielleicht hat er in Zukunft selbst eine Brechstange im Auto. Dann ist er ein guter Schüler.«
»Ich hoffe, dass er es nicht ist.«
»Lass mich mal lesen«, forderte ich.
Simon widersprach nicht, sondern gab mir stumm sein Büchlein. Die Stelle, aus der er das Blatt gerissen hatte, war leicht zu finden; Lehrerfinger sind nicht blutig, wenn sie Kopfnoten eintragen – jedenfalls nicht, wenn Simon der Lehrer ist. Wie erwartet hatte der Kugelschreiber auf die nächste Seite durchgedrückt.
»Sie sind an einen Bösen geraten«, entzifferte ich im Licht der Innenbeleuchtung, die ich dafür angemacht hatte. Das Lenkrad hielt ich gerade, ohne hinzusehen. »Aber nicht alle Menschen sind böse, und die guten brauchen weiterhin Ihre Hilfe. Was ist das für ein Unsinn?«
Simon hatte im Handschuhfach ein Papiertaschentuch gefunden, mit dem er sich nun dürftig die Finger reinigte. Er sah nicht auf. »Das ist Widerstand.«
»Nein, es ist Unsinn«, versicherte ich und warf ihm das Buch in den Schoß. »Damit treibst du ihn meinen Leuten direkt in die Arme.« Ich fügte hinzu: »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Aber es ist so dumm.«
»Dumm ist es, zu glauben, es gäbe keine guten Menschen, nur weil man bösen begegnet«, entgegnete Simon. Er steckte sein Buch wieder ein und machte dann die Beleuchtung aus. »Das ist, als würde man … nicht mehr daran glauben, dass es rote Eichhörnchen gibt, nur weil man ein paar schwarze gesehen hat. Ich will ihn nur vor einem Irrtum bewahren.«
»In diesem Jahrhundert wird es aber eine Menge schwarzer Eichhörnchen geben«, gab ich zu bedenken. »Und im Gegensatz zu den roten werden sie beißen.«
»Oh, die roten können auch beißen«, versprach Simon. »Und sie sind nicht so dumm, wie du glaubst. Im Zweifelsfall helfen sie sich über die schwere Zeit, indem sie Nüsse vergraben.«
»Die sie dann im nächsten Jahrhundert wieder ausgraben, meinst du?«
»Ja. Ich werde ihnen dabei helfen.«
»Nüsse zu vergraben?«, vergewisserte ich mich.
»Und wieder auszugraben.«
»Meinst du nicht, dass sie bis dahin verrottet sind? Die Nüsse?«
Simon dachte kurz nach. »Ich glaube eher, dass bis dahin Bäume daraus geworden sind«, meinte er. »Zumindest aus einigen.«
»Und diese Bäume ernähren dann eine neue Generation von roten Eichhörnchen?«
»Meinetwegen dürfen auch die schwarzen davon fressen«, erwiderte Simon mild. Ein wenig genugtuend fügte er hinzu: »Wobei sie davon rot werden würden – du verstehst, was ich meine.«
»Simon?«
»Was ist, Nathan?«
»Lass uns mit dieser blöden Eichhörnchenmetapher aufhören.«
»Aber sie ist sehr fruchtbar …«
»Lass uns einfach damit aufhören.«
Er hob die Schultern.
Eine Weile glitten wir durch die Dunkelheit. Der Motor meines neuen Autos war besser als der alte. Wir waren schneller unterwegs, leiser, und die Scheinwerfer leuchteten weiter.
Als wir an ein paar Hinweisschildern vorbeikamen, sagte Simon, und er schlug einen ganz selbstverständlichen Tonfall an: »Ich möchte, dass du dort nach links fährst.«
»Warum?«
»In der Richtung liegt eine Ortschaft.«
Ich unterließ es, blöd zu fragen, was er in einer beliebigen Ortschaft wollte. »Du suchst eine Telefonzelle, um einen Krankenwagen für den Mann zu rufen.«
»Richtig.«