Band 3:
Schwarzes Land
Fantasy-Serie
Die junge Polizistin Natalie Berger arbeitet beim BKA. Mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten, Menschen zum Reden zu bringen, und ihrer unglaublichen Treffsicherheit beim Schießen beeindruckt sie ihre Kollegen. Als ihr bei einem Verhör der geheimnisvolle Fremde Keiran Lasalle gegenübersitzt, weiß sie sofort, dass dieser ihr Leben für immer verändern wird.
Von ihrem verschollen geglaubten Vater Gerbin beauftragt, nimmt Lasalle sie mit auf eine Reise in die magische Parallelwelt Grüenlant. Diese wird bedroht von der dunkeln Magierin Magna aus Vârungen …
Während ihr Geliebter Keiran sich als Gefangener der finsteren Magierin Magna in deren Heimat Vârungen befindet, macht sich Natalie mit ihren Gefährten auf den Weg, um ihn und Grüenlant zu retten. Mehr als einmal geraten sie dabei an ihre Grenzen.
In der Vârburg begegnet Natalie schließlich Magnas ebenso charmantem wie gefährlichem Sohn Vâkon, der ihre Liebe zu Keiran auf eine harte Probe stellt …
Die Autorin
Christina Kunz wurde 1972 in Hanau geboren. Sie hat Germanistik und Mathematik auf Lehramt in Frankfurt studiert und arbeitet in Seligenstadt, wo sie mit ihren Söhnen auch lebt, und ist Mitglied in der Autorenvereinigung „Scriptorium Seligenstadt“. Neben dem Schreiben gilt ihre große Leidenschaft der Musik, unter anderem spielt sie Querflöte im Orchester.
Copyright © 2019 mainbook Verlag, mainebook Gerd
Fischer
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-947612-60-4
Lektorat: Gerd Fischer
Covergestaltung: Olaf Tischer
Bildrechte: © Christina Kunz
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And I won’t hold you back
Let your anger rise
And we’ll fly
And we’ll fall
And we’ll burn
No one will recall
This ist he last time I’ll abandon you
And this ist he last time I’ll forget you
I wish I could
Muse, Stockholm Syndrome
Die Autorin
Keine Zweifel
Durch die Nebel
Wer ist der Feind?
Die Vârburg
Nur ein Spiel
Ein weiches Bett
Vârungen
Ruhe und Frieden
Beeilung!
Ein guter Plan
Was tun?
Blutmagie
Etwas geschieht
Nur ein Opfer
Ein Wiedersehen
Der blaue Kristall
Verrat
Freunde
Hochzeitsvorbereitungen
Hochzeit
Blutmond
Schweigend ritten wir auf der Straße unserem Ziel entgegen. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag in Grüenlant, als ich vor Keiran auf dem Pferd gesessen und alles bestaunt hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein … und doch lagen nur vier Wochen dazwischen. Wir ritten durch grüne Wiesen und schattige Wälder, alles wurde von der Sonne beschienen und blühte und trieb frische Knospen, die Vögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen und die Bienen summten sorglos von Blüte zu Blüte. Ich beneidete sie. Wie einfach könnte das Leben sein! Ohne Krieg, ohne Sorgen, ohne die quälende Ungewissheit, wie es weitergehen würde. Meine Gedanken wanderten wieder und wieder zu meinem Geliebten, der nun Magnas Gefangener war, ihr und den dunklen Gedanken, die ihn immer wieder überkamen, hilflos ausgeliefert. Es hätte ein herrlicher Frühlingstag sein können, und als wir durch ein Dorf kamen und spielende Kinder uns übermütig zuwinkten, da wirkte alles unwirklich und bizarr. Am Ufer des Milain legten wir eine Pause ein, und ich betrachtete versonnen das Wasser, das in leisen Wellen ans Ufer plätscherte und auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Ich nahm einen Kieselstein und ließ ihn über das Wasser springen, eins-, zwei-, dreimal; er zog weite Kreise, die sich schnitten und die noch lange auf der Wasseroberfläche sichtbar blieben. Ein kleiner Kieselstein, im richtigen Winkel geworfen, konnte weite Kreise ziehen, die sich tief bis in den Fluss hineinzogen. Das Bild gab mir neue Hoffnung. Auch wir würden unsere Kreise ziehen, und es würde uns gelingen, Magna zu besiegen und Grüenlant zu befreien.
Dazu mussten wir es zunächst einmal schaffen, den Blinden Fleck zu durchqueren, was noch nie jemand vor uns gewagt hatte. Und was würde uns in Vârungen erwarten? Keiner von uns war je dort gewesen, außer Hekon, der dort geboren und aufgewachsen war. Mehr als einmal dankte ich den Göttern dafür, dass er uns begleitete.
Den Göttern … Ich war selbst von mir überrascht, wie schnell ich die Gewohnheiten dieses Landes übernommen hatte, wie sehr ich bereits ein Teil dieser Welt geworden war, die doch durch meinen Vater auch ein Teil von mir war.
Gernot kam zu mir und brachte mir etwas Brot und Käse. „Hier, du musst etwas essen! Halb verhungert nutzt du uns gar nichts.“ Sein bestimmter Ton duldete keinen Widerspruch.
Dankbar nahm ich das Angebot an. Gernot dachte immer praktisch, tat nichts Unüberlegtes. Ein bisschen erinnerte er mich an Keiran, der auch immer eine Strategie brauchte und der ins Straucheln kam, wenn jemand etwas Überraschendes tat und eine Reaktion von ihm erwartete. Aus einem Impuls heraus drückte ich ihm die Hand. „Ich bin froh, dass du bei uns bist.“
Gernot sah mich überrascht an und geriet ins Stottern. „Ich – ja, gerne …“
Am Abend erreichte die Gruppe die Abzweigung zum Blinden Fleck. Auf einer Lichtung nahe des Weges organisierte Gernot das Lager. Er war froh, eine sinnvolle Aufgabe übernehmen zu können. So ganz war ihm dieses Unternehmen nicht geheuer – er war sich nicht sicher, ob Natalie einen konkreten Plan verfolgte oder einem Impuls folgend gehandelt hatte. Lange genug darüber nachgedacht hatte sie ja. Aber wie sollte es weitergehen, was war ihre Strategie? Im Moment schien ihm das Ganze noch wenig durchdacht. Nach Vârungen reiten, ja – Keiran befreien, wie? -– Magna töten, ja sicher, ganz einfach. Und sie hatte doch gar keine Ahnung von dieser Welt. Sie kämpfte zwar meisterhaft und konnte auch ihre Magie schon erstaunlich gut beherrschen, aber sonst? Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er wäre lieber mit General Letho und Kommandant Blunt nach Kunningshort gezogen, aber Gunhild hatte ihn eindringlich darum gebeten, ja, im Grunde hatte sie ihm befohlen, auf Natalie aufzupassen. Nun war er also der Leibwächter der Königin, den schien sie auch bitter nötig zu haben. Außerdem schätzte Gernot Keiran sehr, schon deswegen musste er Natalie begleiten. Das war das Mindeste, was er für seinen ehemaligen Gefährten tun konnte.
Gernot verdrängte seine Zweifel an dem Unterfangen. Er erinnerte sich an Natalies Kampf mit Hekon. Damals hatte er auch gezweifelt, und dennoch hatte sich später herausgestellt, dass es ein guter Schachzug gewesen war. Sowohl Adana als auch Javana und Tonan schienen ihr wohlgesonnen zu sein. Er wusste manchmal wirklich nicht, was er von ihr halten sollte.
Keiran?
Ich musste es einfach versuchen. Nach der Nacht, in der ich ihn vor der Dunkelheit gerettet und die mich so viel Energie gekostet hatte, war es mir nicht mehr möglich gewesen, ihn zu erreichen. Ich war zwar körperlich wieder einigermaßen bei Kräften, aber meine Magie gewann nur langsam ihre alte Form zurück. Wie sehr ich mich nach ihm sehnte.
Natalie! Endlich. Du hast mir so sehr gefehlt …
Du mir auch. Ich war überglücklich. Wie geht es dir? Wo bist du?
Wir werden die Vârburg morgen erreichen …
Meine Güte! Wir mussten uns beeilen. Wenn er erst dort war, würde es für Magna kein Halten mehr geben.
Halte durch, Liebster! Wir sind auf dem Weg zu dir. Ich versuchte, möglichst zuversichtlich zu klingen, auch wenn mein Magen sich gerade krampfhaft zusammenzog.
Wie wollt ihr das so schnell schaffen?, wollte Keiran wissen.
Wir reisen durch den Blinden Fleck.
Natalie, nein! Das ist viel zu gefährlich! Jetzt klang er wirklich besorgt.
Keiran, wir haben keine andere Chance. Wir holen dich da raus.Wie hätte er mich daran hindern sollen? Er war ja so weit entfernt …
Du lässt dich ja sowieso nicht davon abbringen, oder?
Nein. Ich lächelte. Keine Chance, Keiran Lasalle. Ich liebe dich!
Starrköpfiges Weib … Ich spürte, wie auch er lächelte. Ich liebe dich auch.
Getrud hatte sich etwas abseits von der Gruppe gesetzt. Sie war unsicher, was sie tun sollte. Natalie wollte nichts über die Zukunft wissen, aber ein kleiner Fingerzeig war bestimmt nicht verkehrt. Ihre Mutter Gunhild hatte sie von ihrer gefährlichen Vision in Kenntnis gesetzt, mit der Weisung, ihr Wissen darüber nur einzusetzen, wenn es absolut notwendig war. War es das bereits?
Während sie noch haderte, näherte sich ihr Hekon zaghaft. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Unbeholfen knetete er seine Hände.
„Aber ja.“ Es war kaum zu glauben, wie sehr sich der einstmals schwarze Krieger verändert hatte, seit Natalie gegen ihn gekämpft und gewonnen hatte. Gertrud mochte ihn inzwischen sehr gerne und sie freute sich, dass er ihr Gesellschaft leistete. An ihm zeigte sich deutlich, dass Menschen nicht von Natur aus gut oder böse waren. Sie wurden hineingeboren in ein Umfeld und nahmen dessen Werte als wahr und richtig an. Es zeugte von Größe, darüber nachzudenken und sich gegebenenfalls neu zu orientieren, so wie Hekon es getan hatte.
Schweigend saß er nun neben Gertrud, deren sanftes Wesen stets beruhigend auf alle wirkte.
„Es tut mir immer noch so leid. Das hört nie auf, oder?“ Traurig starrte er vor sich hin.
Gertrud sah ihn von der Seite her an. „Ich weiß nicht … Du musst es akzeptieren, eine andere Möglichkeit hast du nicht.“
„Ich hätte es nicht tun müssen. Der junge Mann könnte noch am Leben sein.“ Hekon schien immer noch verzweifelt, die Gedanken daran, wie er Keirans Adjutanten geköpft hatte, ließen ihn einfach nicht los. Hilflos richtete er seine schwarzen Augen auf die Spiritistin.
Gertrud nahm seine Hand in ihre Hände und beruhigte seine aufgewühlten Gefühle. Dabei sah sie ihm fest in die Augen.
„Doch, musstest du. Du warst noch nicht so weit zu erkennen, dass es falsch war, was du getan hast. Außerdem standest du unter Magnas Einfluss. Dir kann keiner einen Vorwurf machen, am wenigsten du selbst. Vielleicht wärest du dann jetzt tot. Wichtig ist, was du jetzt tust! Lass die Vergangenheit ruhen, Hekon.“ Eindringlich sah sie ihn an.
Dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und streichelte sanft seine Hand. Schüchtern legte er den Arm um sie und gemeinsam lauschten sie der Stille der Nacht, dem leisen Rascheln der Blätter im Wind und dem Zirpen der Grillen.
Vor den Toren Mulinbercs hatte sich ein Heerlager formiert, wie Jeremy es vorausgesagt hatte: Fünfhundert Mann, davon etwa dreihundert Vasallen aus den Dörfern Grüenlants und zweihundert ausgebildete Soldaten. Jeremy würde das Heer führen. Er war immer noch erstaunt über seine steile Karriere. Keirans überraschender Wegfall und sein Vertrauen in ihn hatten dies ermöglicht, und mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob er dem gewachsen sein würde. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass es jetzt seine Aufgabe war. Er musste den Soldaten Mut zusprechen, auch wenn dieser ihn selbst verließ, und die Vasallen auf das vorbereiten, was sie erwartete und von dem er selbst nicht genau wusste, was es war. Jeremy war froh, Gerbin an seiner Seite zu haben, auch wenn dieser ihm nicht unbedingt sympathisch war.
Nun stand er zusammen mit Karl, den er zu seinem Adjutanten bestimmt hatte, abmarschbereit an der Spitze seines Heeres und wartete auf den Magier. Der kam nicht und Jeremy wurde zunehmend wütend. Was dachte der sich? Es war ein Befehl der Königin gewesen, Tochter hin oder her, dem hatte er zu gehorchen. Er konnte doch nicht fünfhundert Mann einfach warten lassen und den ganzen Aufbruch verzögern!
„Noch fünf Minuten – dann reite ich zur Burg und sehe nach, wo er bleibt.“
Gerbin lief in seinem Zimmer auf und ab. Gunhild war bei ihm.
„Ich lasse mir von meiner Tochter nicht auf der Nase herumtanzen. Ich bleibe hier!“ Er unterbrach seinen hektischen Gang jäh und warf Gunhild einen zornigen Blick zu.
„Gerbin, sie hat sich etwas dabei gedacht. Nicht alles, was sie tut, ist per se schlecht und unüberlegt. Im Gegenteil! Das Heer braucht Euch.“ Gunhild redete beruhigend auf ihn ein, allerdings erfolglos.
„Mulinberc braucht mich!“, entgegnete der Oberste Magier hitzig.
„Mulinberc ist nicht in Gefahr. Außerdem bin ich auch noch da. Und Kommandant Blunt – nun ja, er ist unerfahren und könnte Eure Hilfe sicher gut gebrauchen“, versuchte die Spiritistin ihn zu beschwichtigen.
„Ja, und sie hat ihn eingesetzt! Dann muss sie jetzt sehen, wie weit sie damit kommt.“ Gerbin blieb unnachgiebig.
„Erstens war das nicht sie, sondern Letho, und zweitens hat sie ihm Euch zur Seite gestellt. Und drittens – warum hat sich denn nie jemand um die Organisation des Heeres gekümmert? Das lag allein auf Lethos und Keirans Schultern. Niemand hat darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn einer von ihnen nicht mehr zur Verfügung steht. Natalie war die erste, die das erkannt hat.“
Gerbin wurde nachdenklich.
„Gerbin, Ihr benehmt Euch wie ein trotziges Kind! Wenn Ihr nur ein bisschen darüber nachdenken würdet … Außerdem ist sie Eure Tochter und Ihr solltet zu ihr stehen, egal was passiert. Schließlich wart Ihr es, der sie hierher geholt hat. Sie hatte ihr Leben, dort, in ihrer Welt, Ihr habt ihr das alles genommen und solltet froh sein, dass sie die Dinge hier in die Hand nimmt und nicht schon längst wieder zurückgegangen ist. Jetzt packt Eure Sachen und macht Euch auf den Weg! Da unten wartet ein Heer von fünfhundert Mann auf Euch, und ich kann mir vorstellen, dass die Männer langsam unruhig werden.“
Gunhild stand am Fenster ihres Zimmers und beobachtete den Lindwurm des Heeres, der sich vor zehn Minuten unter Kommandant Jeremy Blunt in Richtung Kunningshort auf den Weg gemacht hatte. Sie dachte an Gerbin und sein ungebührliches Verhalten. Was war nur in ihn gefahren?
Sicher, er war jetzt lange Zeit unangefochten die Nummer eins im Königreich gewesen, auch König Ekko hatte nur getan, was sein Bruder ihm empfohlen hatte. Wohl eher befohlen, dachte Gunhild grimmig. Gerbin hatte wohl gedacht, dass er mit seiner Tochter genauso verfahren könne.
Gunhild schnaubte. Er konnte es einfach nicht akzeptieren, dass Natalie ihren eigenen Kopf hatte und selbstständig dachte. Und diese hatte noch nicht gelernt, mit ihm umzugehen. Im Grunde war es ja einfach, ihn zu manipulieren … Man musste es nur so anstellen, dass er glaubte, die Ideen, die man ihm näherbrachte, seien seine eigenen …
Dieser Gedanke verursachte Gunhild ein flaues Gefühl im Magen.
Wahrscheinlich wäre Natalie ohne sie jetzt nicht hier, Keiran nicht bei Magna und Ekko nicht tot.
Nein, korrigierte sie sich. Ekko wäre genauso tot.
Und Natalie und Keiran? Gunhild vertraute den beiden. Sie würden es schaffen, Magna zu besiegen und Grüenlant zu befreien.
Entschlossen wischte sie ihre negativen Gedanken beiseite.
Adana würde ihnen beistehen.
Am nächsten Morgen machte sich die kleine Gruppe auf den Weg durch den Blinden Fleck, nicht wissend, was sie erwarten würde. Damit keiner den Weg verfehlte, banden sie die Pferde aneinander. Es ritt immer ein Nicht-Magier zwischen zwei Magiern. Gernot machte den Anfang, es folgten Hekon, Gertrud, Mina, Timmon und Mallister. Natalie bildete den Abschluss. Sie ritten langsam, und schon bald hüllte der unheimliche Nebel sie ein. Mallister wurde es unbehaglich zumute. Damals, als er mit Gerbin hier unterwegs gewesen war, hatte er sich geschworen, dies nicht noch einmal zu tun. Er sah weder den Weg noch die Hand vor Augen und wieder einmal wurde ihm klar, woher der Blinde Fleck seinen Namen hatte. Er legte sich eng an den Hals seiner Stute. Ob sie den Weg sehen konnte? Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein … Um sich nicht völlig in der Blindheit zu verlieren, begann Mallister ein Gespräch mit dem Pferd.
„Kannst du irgendwas sehen? Diese Magier sind einfach verrückt. Kein normaler Mensch macht sowas! Warum habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wer weiß, wie weit wir nach dem Tor noch durch diese Suppe reisen müssen … Ob Natalie weiß, was sie tut? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher … Aber, was soll's, sie liebt ihn. Das reicht als Begründung …“
Und so plapperte er vor sich hin, und es half ihm dabei, nicht den Mut zu verlieren.
Ich hörte Mallister vor mir leise flüstern. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Er konnte einfach nie den Mund halten. Nach dem, was er mir geschildert hatte, musste die Reise für ihn aber auch viel unangenehmer sein als für mich. Angeblich sah er überhaupt nichts. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen! Zwar sah auch ich wenig, aber der Weg leuchtete deutlich vor mir, als hätte jemand LEDs im Boden versenkt. Schemenhaft nahm ich auch den Wald wahr, durch den der Weg führte. Einer inneren Eingebung folgend holte ich den kleinen blauen Kristall aus der Tasche, den Keiran mir gegeben hatte. Er leuchtete hell und plötzlich drehte Mallister sich um. „Natalie? Was tust du?“
Ich zeigte ihm den Kristall. „Kannst du jetzt etwas sehen?“
Mallister sah mich erstaunt an. „J-ja, ich sehe sogar dich! Wir sind im Wald … Aber den Weg sehe ich trotzdem nicht.“
„Ich leihe ihn dir aus, wenn du mir versprichst, vorsichtig damit umzugehen. Er ist ein – besonderes Geschenk von Keiran.“
„Von Keiran?“ Mallister klappte der Mund auf und tatsächlich wusste er einmal nicht, was er sagen sollte.
„Ja – von Keiran.“
Ich lächelte ihn an und dachte daran, wie Keiran mir den Kristall gegeben hatte.
Gernot hatte darauf bestanden, den ganzen Tag im Sattel zu bleiben. Zu groß war die Gefahr, dass vor allem einer der Nicht-Magier verlorenging. So hatte sich jeder mit Nahrungsmitteln und Wasser für den ganzen Tag versorgt. Gegen Abend würden sie das Tor erreicht haben, er hoffte, dass sich dort die Gelegenheit für ein Nachtlager ergab.
Kurz vor ihrem Ziel hielt er die Gruppe an.
„Wir müssen vorsichtig sein! Um das Tor befinden sich meistens Späher, sowohl von uns als auch von Vârunger Seite. Ich gehe vor und überprüfe die Lage. Ihr wartet hier.“
Lautlos glitt er von seinem Pferd, welches einfach stehen blieb, und verschwand im dichten Nebel.
Gernot wollte den Pfad nicht verlassen, denn hier wäre er sonst verloren. So schlich er vorsichtig in Richtung Tor. Er wusste, wo sich die Späher aus Grüenlant aufhielten. Es gab eine kleine Hütte, in der sie ihr Lager bezogen, um sich im Nebel nicht ganz verloren zu fühlen. Da er wusste, wo diese Hütte stand, schlich er sich von hinten heran. Er wusste auch, dass die Späher vornehmlich das Tor und die Richtung nach Vârungen im Auge behielten – von hinten drohte in der Regel keine Gefahr und mehr war auch ob des dichten Nebels nicht machbar.
„Psst!“ Er klopfte leise an die Hütte. Niemand antwortete. Vorsichtig schob er die Tür auf und zuckte sofort wieder zurück. Ein unerträglicher Geruch schlug ihm entgegen, der süßliche Gestank von Verwesung und Tod. Gernot hielt sich ein Tuch vor Nase und Mund und überwand sich, einen Blick in die Hütte zu werfen.
Zwei Späher, beide waren tot, bestialisch ermordet, jemand hatte ihnen die Kehlen von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Die feuchte und klebrige Luft hatte ihr Übriges beigetragen. Die Körper waren aufgedunsen und grünlich, dienten bereits als Brutstätte für Fliegen, die sich selbst hier im dichten Nebel ausbreiteten. Sie waren bestimmt schon zwei Wochen tot. Gernot hatte genug gesehen, schnell drehte er sich weg. Er kämpfte gegen den sauren Geschmack, der sich mehr und mehr in seinem Mund ausbreitete. Draußen atmete er tief die neblige Luft ein.
Die verfeindeten Späher ließen sich in der Regel in Ruhe, jeder saß auf seiner Seite und solange niemand bedrohlich nahekam, ließen sie die jeweils anderen gewähren.
Es war also noch jemand hier gewesen, kurz nachdem Natalie und Keiran gekommen waren. Und dieser Jemand war ihnen nicht wohlgesonnen …
Natalie?
Gernot brauchte mehrere Anläufe, bis er sie erreichte. Dieser Nebel dämpfte einfach alles …
So hatte er Schwierigkeiten, ihr seine grausige Entdeckung mitzuteilen.
Das ist gar nicht gut! Gernot, komm zurück, unternimm nichts allein!
Natalie war spürbar besorgt, sodass Gernot sich zunächst auf den Rückweg zu den anderen machte.
Dort angekommen stellte er beunruhigt fest, dass es vor allem Mina und Mallister nicht gut ging. Timmon sprach gerade beruhigend auf den jungen Mann ein. Hekon, der es gewöhnt war, seine Gefühle zu verbergen, ließ sich nichts anmerken.
Gernot schlug vor, weiter vorn am Rand der Lichtung zu lagern, dort war der Nebel nicht so dicht. Vorerst hielt er die Gruppe jedoch noch im Schutz der Bäume an, denn auch auf Vârunger Seite gab es sicher Späher. Er wollte sich sofort auf den Weg machen, um die feindliche Seite zu erkunden.
„Gernot, allein ist es zu gefährlich!“, sagte Natalie. „Zu zweit sind wir stärker“, insistierte sie.
Es kostete ihn eine Menge Überzeugungskraft, ihr klar zu machen, dass es besser war, wenn sie bei ihren Freunden blieb und er die Lage zuerst allein peilte. So konnte er sich unauffälliger bewegen.
Und im Falle eines Falles wäre mit ihm nicht viel verloren. Diesen Gedanken behielt er jedoch für sich.
„Ich komme zurück. Wartet auf mich.“ Schon wurde er vom Nebel verschluckt.
„Wo sollen wir auch sonst hin?“, entgegnete Mallister missgelaunt.
In der Zwischenzeit schlugen wir unser Lager am Rande der Lichtung, die zum Tor führte, auf. Die Nebel flimmerten hier leicht gelblich und ließen zumindest einen kleinen Sichtradius frei. Ich versuchte, Keiran zu erreichen, hatte jedoch keine Chance, durch die Nebel zu ihm durchzudringen. Wo er jetzt wohl war? Als ich ihn das letzte Mal erreichen konnte, hatten sie die Wüste gerade hinter sich gelassen. Also müsste er nun bald auf der Vârburg ankommen. Dann würde Magna ihn wieder belästigen. Was würde sie tun, wenn er sich ihr widersetzte? Oder würde es ihr gelingen, ihn zu überzeugen? Nein … Ich musste ihm vertrauen. Und das tat ich, aus tiefstem Herzen.
Ich warf einen Blick in die Runde meiner Freunde. Mallister hatte die Reise am meisten mitgenommen, sein Blick war angespannt und er hielt Minas Hand, als sei er am Ertrinken. Um Hekon musste ich mir weniger Sorgen machen – Gertrud kümmerte sich liebevoll um ihn und half ihm mit ihren magischen Fähigkeiten über die Schrecken hinweg, die der Blinde Fleck den Nichtmagiern bescherte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Die beiden hätten gegensätzlicher nicht sein können, und doch schien es so, als seien sie füreinander bestimmt. Ich fragte mich, ob sie sich dessen bereits bewusst waren. Timmon döste vor sich hin. Er kam allein zurecht und wusste mit seinen Kräften hauszuhalten.
Nun warteten wir auf Gernots Rückkehr.
Unauffällig gesellte ich mich zu Mina und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm, versuchte, ihr ein bisschen mit meiner Magie zu helfen.
„Es wundert mich überhaupt nicht, warum noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, diesen Weg zu nehmen“, stellte Mallister entmutigt fest. „Das ist ja kaum zu ertragen!“ Mina kuschelte sich an ihn. „Wenn ich dich schon nicht sehen kann, so möchte ich doch wenigstens spüren, dass du da bist.“
Natalie stimmte Mallister zu. „Du hast recht, wir sollten sehen, dass wir so schnell wie möglich hier rauskommen.“
„Zum Glück ist wenigstens einer in der Lage, herauszufinden, wo wir hinmüssen, während der Rest hier dumm herumsitzen muss“, grummelte Mallister und nickte in Richtung von Gernots verlassenem Lager.
„Ach Mallister, der Nebel schlägt dir wohl aufs Gemüt.“ Natalie war überrascht über Mallisters plötzlichen Stimmungsumschwung und irgendwie auch erleichtert – wenigstens war er jetzt nicht mehr so depressiv.
„Ja, Natalie, er macht mich richtig aggressiv! Und noch schlimmer ist es, hier sitzen zu müssen, nichts zu sehen und nichts tun zu können.“
„Ich kann dich gut verstehen. Mir geht es genauso. Ich würde auch lieber etwas tun.“
Kurz darauf kam Gernot zurück.
„Da drüben ist etwas. Ein Lagerfeuer. Es sitzen zwei schwarze Gestalten dort.“ Er warf Natalie einen Blick zu. „Wenn mich jemand begleiten würde, könnten wir sie gleichzeitig erledigen.“
„Ich könnte das machen“, bot Mallister sich an.
„Du?“ Gernot warf ihm einen verwunderten Blick zu, bisher war sein Gefährte Kämpfen immer aus dem Weg gegangen.
„Na ja – besser als hier herumsitzen. Ich komme mir gerade so nutzlos vor.“ Mallister zuckte mit den Schultern.
„Unsere Zeit kommt noch“, wandte sich Timmon ihm zu. „Jetzt brauchst du vor allem eins – Geduld!“
Mallister fügte sich schnell und sie beschlossen schließlich, dass Gernot und Natalie sich um die beiden Späher kümmern würden, während Gertrud und Timmon Wache hielten. Mallister und Hekon blieb nichts anderes übrig, als ihre Schwerter bereitzuhalten, falls die beiden Wachen etwas meldeten.
Ich hatte Gernot den Vortritt gelassen und schlich nun leise hinter ihm über die Lichtung. Dabei erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich in Grüenlant angekommen war. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Hier hatte ich zum ersten Mal Seite an Seite mit Keiran gekämpft – und mich ziemlich unbeholfen mit dem Schwert angestellt. Unwillkürlich musste ich lächeln. Was war in der Zwischenzeit alles passiert – irgendwie war ich ein völlig anderer Mensch geworden.
Vor uns, auf der anderen Seite der Lichtung, hörte ich etwas. Ich spannte die Sehne meines Bogens, Gernot neben mir tat das Gleiche. Vorsichtig schlichen wir weiter, und tatsächlich – am Rande der Lichtung, auf Vârunger Seite, saßen zwei schwarze Gestalten an einem Lagerfeuer, dessen Schein vom Nebel stark gedämpft wurde. Sie schienen nicht damit zu rechnen, dass irgendjemand kommen würde, und unterhielten sich laut.
Gernot und ich schlichen noch etwas näher heran. Mit Zeichen ordneten wir uns den beiden zu, kurz darauf sirrten unsere Bogensehen gleichzeitig und bevor die Gestalten etwas bemerkt hatten, steckten ihnen unsere Pfeile mitten im Herzen.
Wir näherten uns langsam dem Lagerfeuer, es konnte ja sein, dass noch mehr Leute in der Nähe waren. Nichts tat sich.
„Den Spuren nach ist hier keiner mehr.“ Gernot deutete auf den Platz um das Feuer. Trotzdem sahen wir nach, konnten aber niemanden entdecken. Gernot löschte das Feuer, die beiden Leichen ließen wir liegen.
Wir durchsuchten ihr Gepäck, doch außer ein paar Essensvorräten konnten wir nichts finden, was uns irgendeinen Aufschluss über eine eventuelle Mission der beiden gegeben hätte. Also nahmen wir an, dass deren Aufgabe tatsächlich nur in der Bewachung des Tors bestanden haben durfte.
Auf dem Rückweg, der uns näher am Tor vorbei führte, fiel mir auf, dass die beiden Leichen der Schergen, die Keiran und ich damals getötet hatten, verschwunden waren. Dafür fand ich etwas anderes: einen Dienstausweis des BKA, ausgestellt auf Tobias Werner. Meine Nackenhaare stellten sich auf und mich durchfuhr ein eisiger Schrecken.
„Ich weiß, warum jemand hier war!“ Aufgeregt zeigte ich Gernot meinen Fund. „Sie haben Tobi geholt!“
„Wer ist Tobi?“ Verwundert sah er auf die kleine Karte und betrachtete das Foto.
„Tobi – ist mein Freund. Drüben. Wir haben zusammen – gearbeitet, also – so wie wir beide jetzt. Das muss Magna gewesen sein!“
„Welchen Sinn sollte das haben? Ich meine – wenn sie dich damit hätte erpressen wollen, dann hätte sie es doch schon längst getan. Und wenn sie ihn töten wollte, warum auch immer, dann hätte sie es – drüben erledigt, so wie bei … bei deiner Mutter.“ Gernot schluckte. „Wozu braucht sie ihn hier?“
„Meine Güte, die Waffen!“ Plötzlich fiel es mir ein. Die verschwundene Waffenlieferung! Magna brauchte jemanden, der ihr dabei half, die Technologie zu verstehen und sie richtig zu gebrauchen. Und indem sie meinen Freund für sich gewann, schadete sie mir zusätzlich. Aber Tobi – warum um alles in der Welt sollte er sich darauf einlassen?
Es nutzte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn meine Vermutung stimmte, war er bei dem Heer an der Küste zu finden. Ich hoffte nur inständig, dass er keine Dummheiten machte oder sich gar in Lebensgefahr begab.
„Halt – wer da?“ Mallister saß aufrecht, aufgeschreckt durch ein Geräusch, aber Gertrud beruhigte ihn gleich wieder. „Keine Angst, das sind Natalie und Gernot.“ Tatsächlich schälten sich die beiden kurz darauf aus dem Nebel.
„Die andere Seite ist sauber. Wir sollten uns hier etwas ausruhen und morgen weiterreiten. Wir sind alle erschöpft.“ Gernot ließ sich neben Mallister nieder. Die beiden Späher erwähnten wir nicht.
„Wir haben etwas entdeckt.“ Natalie erzählte von ihrem Fund. Mallister wurde hellhörig. „Ist das der Tobi, von dem du uns erzählt hast? Dein Freund?“
„Genau der.“
Mallister besah sich den Dienstausweis und drehte ihn in den Fingern.
„Oh–oh Natalie, du stehst Keiran in Blindheit in nichts nach … Was glaubst du wohl, was der hier will?“
Ich konnte nicht umhin, über Mallisters Bemerkung nachzudenken. Ich – blind? Was meinte er damit? Doch nicht etwa, dass Tobi – dass Tobi etwas für mich empfand? Das war nicht möglich, wir kannten uns schon so lange! Und wenn es so wäre – warum hatte Tobi dann nie etwas gesagt?
Zugegebenermaßen hatte ich noch nie wirklich über eine solche Option nachgedacht. Klar hatte ich hin und wieder seinen muskulösen Körperbau bewundert und gerne mit ihm geflirtet, aber es war nie darüber hinausgegangen.
Vielleicht hatte Mallister auch einfach nur Unrecht.
Tobi war schließlich mein Freund, und Freunde standen einander bei.
So musste es sein.
Ich wischte den Gedanken beiseite.
Dennoch sorgte ich mich weiter darum, was mit Tobi geschehen sein konnte.
Am nächsten Tag ritt die kleine Gruppe weiter. Die Pause am Tor hatte den Nicht-Magiern etwas Erholung verschafft, die absolute Blindheit in dem undurchdringlichen Nebel hatte ihnen sehr zu schaffen gemacht. Insbesondere Mallister wurde zunehmend gereizt, aber auch Mina und Hekon waren fahrig und nervös.