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Gottesdienst und Liturgie sind wieder deutlich stärker in den Fokus der innerkirchlichen Wahrnehmung und wissenschaftlichen Diskussion getreten. Die Frage nach der »liturgischen Präsenz«, die Wiederentdeckung von Geste und Ritual neben dem Wort oder die Entwicklung von Gottesdiensten im digitalen Raum markieren nur einige Themenfelder, auf denen gegenwärtig angeregt diskutiert und experimentiert wird. Dieser Band bietet die im Umfeld dieser Debatten und Bewegungen notwendige sachliche Orientierung. In ökumenischer Perspektive entfalten Alexander Deeg und David Plüss umfassendes liturgisches Wissen zur Geschichte und Gegenwart des Gottesdienstes, zu seinen verschiedenen Stationen und Gestalten sowie zu den Herausforderungen, vor denen liturgische Praxis heute steht.

Dr. Alexander Deeg ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD.

Dr. David Plüss ist Professor für Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern/Schweiz und Co-Leiter des dortigen Kompetenzzentrums Liturgik

Lehrbuch Praktische Theologie

Herausgegeben von
Albrecht Grözinger, Christoph Morgenthaler
und Friedrich Schweitzer

Band 5
Liturgik

Alexander Deeg und David Plüss

Liturgik

Lehrbuch Praktische Theologie
Band 5

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Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81 673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19549-6
V001

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

1.1 Ziel und Konzept dieses Lehrbuchs

1.2 Liturgik und Homiletik: eine vorläufige Verhältnisbestimmung

1.3 Liturgik und Liturgiewissenschaft: Begriffsklärungen

1.4 Genese, Geltung und Gestaltung

1.5 Gottesdienst und Konfessionalität

1.6 Sprach- und Kontextbezug

2. Methoden der Liturgiewissenschaft

2.1 Vielfalt liturgiewissenschaftlicher Methoden

2.2 Methoden der Wahrnehmung

2.2.1 Methoden qualitativer Religionsforschung

2.2.2 Quantitative Methoden

2.3 Methoden der Reflexion

2.3.1 Historische Methoden

2.3.2 Systematisch-theologische Methoden: Fundamentalliturgik

3. Wahrnehmungen

3.1 Gottesdienste im Plural

3.2 Wahrnehmungen

3.2.1 Beispiel 1: Leidenschaftliches Gebet und überraschende Feier – eine journalistische Gottesdienstwahrnehmung aus einem Hamburger Hochhausviertel

3.2.2 Beispiel 2: Sieben Brüder und die Macht der Liturgie – die Wahrnehmung einer katholischen Feier im Kloster Sant’Antimo

3.2.3 Beispiel 3: Liturgie, die trotz allem die Welt(-Wahrnehmung) verändert

3.2.4 Beispiel 4: Von der Herausforderung, als Liturg im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen

3.2.5 Vorläufiges Fazit aus den vier liturgischen Vignetten

3.3 Empirische Befunde

3.3.1 Entwicklung empirischer Forschung zum Gottesdienst

3.3.2 Ausgewählte Ergebnisse empirischer Gottesdienstforschung

3.3.3 Zur Rolle der Empirie in der Liturgiewissenschaft

4. Die Bibel und der Gottesdienst

4.1 Theologische und hermeneutische Vorbemerkungen

4.2 Die Gottesdienste der Bibel

4.2.1 Gottesdienstliche Phänomene im Alten Testament

4.2.2 Gottesdienstliche Phänomene im Neuen Testament

4.3 Biblische Gottesdienste

4.3.1 Die erste biblische Achse: Das Handeln Gottes und der Menschen

4.3.2 Die zweite biblische Achse: Die Gemeinschaft im Gottesdienst und die Beziehung zur Welt

4.3.3 Die dritte biblische Achse: Gottes Zeit in der Weltzeit

4.4 Die Bibel als Gottesdienstbuch

4.4.1 Die biblischen Lesungen im christlichen Gottesdienst

4.4.2 Gottesdienste als Inszenierung der Bibel

5. Geschichte der Gottesdienste

5.1 Alte Kirche

5.1.1 Aus der Lehre der 12 Apostel (Didache)

5.1.2 Brief von Plinius an Kaiser Trajan

5.1.3 Die Apologie von Justin dem Märtyrer

5.1.4 Traditio Apostolica

5.1.5 Die weitere Entwicklung der Gottesdienste in der Alten Kirche

5.2 Die westkirchlichen Gottesdienste des Mittelalters

5.2.1 Die religiösen und liturgischen Umbrüche im frühen Mittelalter (6.–11. Jh.)

5.2.2 Die liturgischen Reformen der Scholastik (12./13. Jh.)

5.2.3 Die Liturgien des Spätmittelalters

5.3 Die Gottesdienste der Reformationszeit

5.3.1 Die lutherischen Gottesdienste

5.3.2 Die reformierten Gottesdienste

5.4 Weitere Entwicklung des Gottesdienstes bis in die Gegenwart

5.4.1 Lutherische und reformierte Gottesdienste im Zeitalter von Orthodoxie und Pietismus (16. und 17. Jh.)

5.4.2 Aufklärung und Romantik

5.4.3 Liturgische Bewegungen, Bekennende Kirche und empirische Wende

6. Theologie der Gottesdienste

6.1 Modelle in Geschichte und Gegenwart

6.1.1 Situative Reflexionen zum Gottesdienst von der Bibel bis zur Zeit der Reformation und das Wechselspiel von Theologie und Liturgie

6.1.2 Gottesdiensttheologien der Reformationszeit

6.1.3 Theologien der Gottesdienste

6.2 Eckpfeiler einer Theologie der Gottesdienste

6.2.1 Versammlung

6.2.2 Präsenz und Absenz

6.2.3 WortKult

7. Anthropologie und Soziologie des Gottesdienstes

7.1 Gottesdienst und Religion

7.1.1 Cultus und Heilsversprechen: Martin Riesebrodt

7.1.2 Die fünf Dimensionen von Religion: Charles Y. Glock

7.1.3 Primäre und sekundäre Religion: Theo Sundermeier

7.2 Gottesdienst und Gesellschaft

7.2.1 Die Geburt der Gesellschaft aus der Religion: Emile Durkheim

7.2.2 Die Formen des Religiösen in der Gegenwart: Charles Taylor

7.2.3 Religiös-soziale Konkurrenz: Jörg Stolz, Judith Könemann

7.3 Gottesdienst und Anthropologie

7.3.1 »Wir spielen alle Theater«: Erving Goffman

7.3.2 Homo liturgicus: James K. A. Smith

7.3.3 Homo resonans: Hartmut Rosa

7.4 Gottesdienst und Ritual

7.4.1 Ritual und Urvertrauen: Erik H. Erikson

7.4.2 Ritual und Communitas: Victor Witter Turner

7.4.3 Ritual und emotionale Energie: Randall Collins

7.5 Gottesdienst und Erfahrung

7.5.1 Die Vielfalt religiöser Erfahrung: William James

7.5.2 Religiöse Rollenspiele: Hjalmar Sundén

7.5.3 Erfahrungen der Selbsttranszendenz: Hans Joas

7.6 Gottesdienst und Körper

7.6.1 Gesten und Mimesis: Gunter Gebauer und Christoph Wulf

7.6.2 Theater und Gottesdienst

7.6.3 Geschlechtertheorien

8. Die Wirkkräfte und Kontexte von Gottesdiensten

8.1 Die Bildungskräfte der Liturgie

8.2 Die seelsorglichen Kräfte der Liturgie

8.3 Gottesdienste und Gemeindeentwicklung

8.4 Die ökumenische Dimension von Gottesdiensten

8.5 Die kulturelle Dimension von Gottesdiensten

9. Liturgische Grundformen, Elemente, Rollen, Orte, Räume und Zeiten

9.1 Liturgische Feierformen

9.1.1 Messe

9.1.2 Predigtgottesdienst

9.1.3 Stundengebet

9.1.4 Freie Gruppenformen

9.1.5 Kasualien und Anlässe

9.1.6 Die verschiedenen Gestalten und der eine Gottesdienst

9.2 Liturgische Elemente

9.2.1 Eröffnung und Anrufung

9.2.2 Verkündigung und Bekenntnis

9.2.3 Abendmahl/Herrenmahl/Eucharistie

9.2.4 Sendung und Segen

9.2.5 Die Struktur der Gottesdienste

9.3 Liturgische Rollen

9.4 Orte und Räume

9.4.1 Heilige Räume?

9.4.2 Zur Geschichte des (Kirchen-)raumes

9.4.3 Gegenwärtige Herausforderungen und Fragestellungen

9.5 Zeiten und Zyklen

10. Praktiken des Gottesdienstes

10.1 Gottesdienste als Arrangements sozialer Praktiken

10.2 Was ist eine soziale Praxis?

10.3 Sich versammeln

10.3.1 Liturgische Vollzüge des Sich-Versammelns

10.3.2 Theologische Aspekte des Sich-Versammelns

10.3.3 Kriterien der Gestaltung

10.4 Beten

10.4.1 Liturgische Vollzüge des Betens

10.4.2 Theologische Aspekte des Betens

10.4.3 Kriterien der Gestaltung

10.5 Singen

10.5.1 Liturgische Vollzüge des Singens

10.5.2 Theologische Aspekte des Singens

10.5.3 Kriterien der Gestaltung

10.6 Lesen

10.6.1 Liturgische Vollzüge des Lesens

10.6.2 Theologische Aspekte des Lesens

10.6.3 Kriterien der Gestaltung

10.7 Auslegen

10.7.1 Elemente der Praktik des Auslegens

10.7.2 Theologische Aspekte des Auslegens

10.7.3 Kriterien der Gestaltung

10.8 Hören

10.8.1 Liturgische Vollzüge des Hörens

10.8.2 Theologische Aspekte des Hörens

10.8.3 Kriterien der Gestaltung des Hörens

10.9 Bekennen

10.9.1 Liturgische Vollzüge des Bekennens

10.9.2 Theologische Aspekte des Bekennens

10.9.3 Kriterien der Gestaltung des Bekennens

10.10 Opfern

10.10.1 Liturgische Vollzüge des Opferns

10.10.2 Theologische Aspekte des Opferns

10.10.3 Kriterien des Vollzugs des Opferns

10.11 Teilen, Essen und Trinken

10.11.1 Liturgische Vollzüge

10.11.2 Theologische Aspekte

10.11.3 Kriterien der Gestaltung

10.12 Senden und Segnen

10.12.1 Liturgische Praxis

10.12.2 Theologische Aspekte

10.12.3 Kriterien der Gestaltung

11. Medien

11.1 Die Sprache

11.1.1 Sprache im Gottesdienst und die Frage nach der Sagbarkeit Gottes oder: Das theologische Grundproblem

11.1.2 Sprache im Gottesdienst zwischen Kommunikationssoziologie, Sprechakttheorie und Rezeptionsästhetik

11.1.3 Sprachgestalt im Gottesdienst

11.1.4 Sprachpraxis im Gottesdienst

11.1.5 Kriterien für liturgische Sprache: »Simple, fresh, relevant, not too doctrinal in tone or unreal in expression«

11.1.6 Gesungene und gesprochene Sprache im Gottesdienst

11.1.7 Die Liturgiesprache im Katholizismus

11.1.8 Die Sprache des gemeinsamen Gebets im Judentum

11.1.9 Stille im Gottesdienst und Stille als Dimension des Gottesdienstes

11.2 Gesang und Musik

11.2.1 Gesang und Musik im evangelischen Gottesdienst

11.2.2 Funktionen und Wirkungen von Musik und Gesang

11.2.3 Gesang und Musik in der gegenwärtigen liturgischen Praxis

11.3 Die Symbole/Zeichen/Elemente

11.3.1 Die Wiederentdeckung von Symbolen, Zeichen und Elementen in evangelischer Liturgiewissenschaft und Gottesdienstpraxis

11.3.2 Ein kurzer Blick auf einige gottesdienstliche Symbole, Elemente und Zeichen

11.4 Herausforderungen für die Feier von Gottesdiensten im Zeitalter der Digitalität

12. Klangfarben des Gottesdienstes

12.1 Einleitung

12.1.1 Zwischen liturgischer Vielfalt und ›Beheimatung‹

12.1.2 Exemplarische Typologisierungen des Gottesdienstes

12.2 Gottesdienste als Klangräume

12.3 Die liturgische Klangfarbe der Klassik

12.4 Die liturgische Klangfarbe des Jazz

12.5 Die liturgische Klangfarbe des Rock und Pop

12.6 Die liturgische Klangfarbe der Volksmusik (inklusive Folk und Neo-Folk)

13. Liturgische Fragen im ökumenischen, christlich-jüdischen und interreligiösen Horizont

13.1 Ökumenische Liturgiewissenschaft

13.2 Liturgische Fragen im christlich-jüdischen und interreligiösen Kontext

13.2.1 Jüdische Liturgie und Liturgiewissenschaft im christlich-jüdischen Dialog

13.2.2 Liturgische Perspektiven im interreligiösen Kontext

14. Gottesdienstbücher, Hilfsmittel und Literatur

14.1 Gottesdienstbücher und Agenden (in Auswahl)

14.2 Lehrbücher, Handbücher und Einleitungen zum Studium der Liturgiewissenschaft

14.3 Liturgiewissenschaftliche Fachzeitschriften

14.4 Internetressourcen

Liturgiewissenschaftliches Glossar

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Register (Bibelstellenregister/Namensregister/Sachregister)

Vorwort

Ausgerechnet im Frühjahr 2021 erscheint unser Lehrbuch Liturgik – zu einer Zeit, in der die Corona-Pandemie das gottesdienstliche Leben seit etwa einem Jahr herausfordert. Vieles ist in Bewegung. Das gilt zunächst für die massive Ausweitung digitaler Gottesdienst- und Predigtangebote zwischen Livestream und Youtube, Instagram und Zoom. Aber auch überall dort, wo in physischer Kopräsenz gefeiert wurde und wird, haben sich Gottesdienste verändert: Sie mussten kürzer werden. Vielerorts durfte und darf nicht gesungen werden. Und das Abendmahl wurde in vielen Gemeinden seit dem März 2020 nicht mehr gefeiert. Vor allem in den Sommermonaten, aber auch an Weihnachten erfreuten sich Open-Air-Gottesdienste großer Beliebtheit. Hinzu kamen unzählige weitere kreative Formen wie Wandelgottesdienste, Gottesdienste unterwegs, Anregungen für Hausgottesdienste, Gottesdienste am Telefon etc. Noch ist es zu früh zu sagen, welche der Innovationen Bestand haben werden. Aber es scheint uns klar, dass es liturgisch kein einfaches Zurück zu einer Situation vor der Pandemie geben wird.

Ist das nun eine gute oder eine hoch problematische Zeit, um ein Lehrbuch zu allen Fragen des Gottesdienstes vorzulegen? Wir hoffen, dass sich unser Buch gerade jetzt als hilfreich erweisen kann. Denn die Krise macht sichtbar, welche Überzeugungen das gottesdienstliche Leben in unseren Kirchen prägen, und sie stellt grundlegende Fragen, die neu beantwortet werden müssen: Was macht eigentlich einen evangelischen Gottesdienst aus und was gehört unbedingt dazu? Warum ist es sinnvoll, das Abendmahl überhaupt zu feiern, und wie ist das in der Geschichte der Kirche geschehen? Welche Praktiken prägen das gottesdienstliche Geschehen? Welche sind verzichtbar und welche lassen sich auch im digitalen Raum gestalten? Wie bestimmen unterschiedliche Medien überhaupt die Feier von Gottesdiensten?

In diesem Buch verbinden wir gegenwärtige Wahrnehmungen und Fragestellungen mit historischen, theologischen sowie sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven. Wir haben uns bemüht, zugleich Grundwissen und Impulse zum Weiterdenken zu bieten – und freuen uns auf alle Rückmeldungen unserer Leser*innen, ob und inwiefern dies gelungen ist und dieses Lehrbuch Studierenden der Theologie, Pfarrer*innen und ehrenamtlich Verkündigenden, Fachkolleg*innen an Fachhochschulen und Universitäten, Dozierenden in den Einrichtungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung und allen an Fragen des Gottesdienstes Interessierten hilfreich ist.

Etwa acht Jahre haben wir an diesem Buch gearbeitet. Es ist keine Frage: Hätte nur einer von uns das Buch geschrieben, wäre es schneller gegangen. Aber gerade durch die Zusammenarbeit eines Schweizer Reformierten und eines Lutheraners aus Deutschland ist das Buch perspektivenreicher und hoffentlich auch für die Leser*innen spannender geworden, als es dies gewesen wäre, wenn nur einer von uns geschrieben hätte.

In all den Jahren waren wir nicht allein bei der Arbeit an dem Buch. Wir danken all denen, die mit uns über Fragen des Gottesdienstes nachgedacht und einzelne Kapitel oder Vorentwürfe gelesen haben, besonders Ferenc Herzig (Leipzig), Katrin Kusmierz (Bern) und Kirsten Jäger (Bern). Die Runden der Doktoranden in Bern und Leipzig haben Impulse beigesteuert, eben-so Mitglieder der Liturgischen Ausschüsse der VELKD und UEK sowie Christian Lehnert vom Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD in Leipzig.

Herzlich danken wir unseren ökumenischen Gesprächspartnerinnen und -partnern, exemplarisch erwähnen wir nur die Kollegen Angela Berlis (Bern), Albert Gerhards (Bonn), Stefan Kopp (Paderborn), Benedikt Kranemann (Erfurt), Martin Stuflesser (Würzburg), Stephan Winter (Tübingen). Bei Konferenzen der Societas Liturgica und der Societas Homiletica durften wir Überlegungen in einem internationalen Horizont vorstellen und Anregungen aus aller Welt aufnehmen.

Akribische Korrekturarbeit haben Annekathrin Böhner und Pfrin Susanne Mathis-Meuret geleistet und uns bei den letzten Schritten der Fertigstellung des Manuskripts wertvolle Anregungen gegeben. Die Register hat Benjamin Fuchs erstellt. Großen Dank für alles dies!

Unser Dank gilt auch den Reihenherausgebern für ihr Vertrauen in unsere Arbeit. Für ein stets offenes Ohr, anregende Hinweise und seine schier unermessliche Geduld danken wir Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus. Den Satz des umfangreichen Buches haben Stefanie Klingelberg und Gudrun Krieger erstellt. Danke!

Leipzig und Bern, im Februar 2021

Alexander Deeg und David Plüss

1. Einleitung

1.1 Ziel und Konzept dieses Lehrbuchs

Liturgische Bildung, Reflexions- und Handlungskompetenz erwirbt man nicht allein durch die Lektüre von Lehrbüchern, sondern mehr noch durch das Feiern von Gottesdiensten. Dies gilt für alle, die in einem Gottesdienst mitwirken, ob sie ihn vorbereiten, gestalten und anleiten oder nur teilnehmen. Wir alle wurden durch vielerlei Gottesdienste geprägt, die uns beeindruckt oder irritiert haben. Liturgische Bildung erwirbt man zunächst mittels mimetischer Prozesse: durch Wahrnehmen und Wiederholen, Variieren und Aneignen liturgischen Verhaltens. Prägender als Lehrbücher und Vorlesungen über liturgiewissenschaftliche Themen sind für die Vikar*innen ihre Ausbildungspfarrer*innen und deren liturgischer Habitus: die Art und Weise, wie sie den Gottesdienst eröffnen und sich der Gemeinde zuwenden, wie sie beten und predigen, wie sie das Abendmahl austeilen und den Segen spenden. Entscheidend für die liturgische Bildung und deren Entwicklung sind darüber hinaus die Rückmeldungen aus der Gemeinde, von der Ausbildungspfarrerin oder vom Kollegen.

Für die professionelle Bildung von Liturg*innen ist indes von entscheidender Bedeutung, dass sowohl die eigene biographische Prägung als auch die in sie eingeschriebenen körperlich-mimetischen Lernprozesse und Normen reflektiert und bearbeitet werden. Rückmeldungen aus der Gemeinde oder von Kolleg*innen gilt es auf deren Kriterien hin zu befragen und theologisch zu reflektieren. Dazu sind historische und systematisch-theologische, anthro-pologische und soziologische, materiale und gestalterische Kenntnisse in Bezug auf den Gottesdienst unabdingbar. Um diese soll es hier gehen. Sie sollen in einer verständlichen und zugleich hinreichend differenzierten Weise vorgestellt werden.

Und damit nicht genug. Denn wichtiger als die Vermittlung historischer Kenntnisse, theologischer Grundsätze und sozialwissenschaftlicher Theorien sind die Einübung und Schärfung liturgischer Wahrnehmungsfähigkeit. Darauf sind die folgenden Ausführungen letztlich ausgerichtet. Es geht uns um die Einübung in die Kunst der sensiblen und differenzierten Wahrnehmung und Reflexion liturgischer Vollzüge. Für den theologisch reflektierten Umgang mit Liturgie sind darum dichte Beschreibungen, die eine solche Wahrnehmung schulen, allemal dienlicher als Erklärungen. Wir werden deshalb die dargestellten Wissensbestände und Theorien immer wieder mit Beschreibungen exemplarischer Vollzüge verbinden.

Der Gegenstand dieses Lehrbuches ist die Gottesdienstkultur unserer Kirchen und Gemeinden, wie sie sich entwickelt hat und die liturgische Gegenwart bestimmt. Als Schweizer Reformierter und deutscher Lutheraner sind unsere Perspektiven beschränkt und zunächst auf die evangelische Gottesdienstlandschaft im deutschsprachigen Bereich bezogen (so sehr wir uns in diesem Buch immer wieder um Ausblicke und Seitenblicke in andere Gottesdienstkulturen bemühen). Aber bereits diese Landschaft ist vielfältig und umfasst nicht nur den traditionskontinuierlichen Sonntagsgottesdienst, sondern auch lebenszyklische Kasualfeiern (vor allem Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung) und jahreszyklische Festgottesdienste (Weihnachten, Ostern, Kirchweih), Stundengebete und Wochenpredigten, Gruppenfeiern und Segnungsgottesdienste, Schuleröffnungsgottesdienste oder eine Tsunami-Gedenkfeier. Die Liste wäre noch lange fortzusetzen. Es handelt sich um einen vielfältigen Gegenstand mit offenen Rändern. Diese liturgische Pluralität soll weder ignoriert noch vorschnell kritisiert und auf eine Normalform zurückgestutzt, sondern zunächst und vor allem aufmerksam wahrgenommen, reflektiert und evaluiert werden.

Wer vom Gottesdienst im Singular spricht, versieht den Singular mit einem doppelten Sinn: mit einer generischen und einer theologischen Bedeutung. Einerseits ist damit die Gattung Gottesdienst gemeint, die diesen als solchen beschreibbar und vergleichbar macht. Andererseits bringt die Rede vom Gottesdienst im Singular den Glauben oder die Hoffnung zum Ausdruck, dass die vielfältigen Gottesdienste verschiedener Kirchen, Denominationen und Gemeinden weltweit und durch die Jahrhunderte verbunden sind und eine theologisch bestimmbare Identität aufweisen.

Wir gehen in diesem Lehrbuch von der vorfindlichen liturgischen Praxis aus, identifizieren deren Eigenarten, Wirkkräfte und Problemlagen, reflektieren diese mit Bezug auf die biblischen Grundlagen und die Liturgiegeschichte, die Grammatik des Glaubens (Systematische Theologie) und die Anthropologie, um dadurch Kriterien zu gewinnen, die dazu verhelfen, den jeweiligen Gottesdienst, das liturgische Konzept einer Gemeinde oder liturgische Abläufe und Texte zu analysieren, zu beurteilen und gegebenenfalls zu verbessern.

Der Anspruch dieses Lehrbuchs ist somit bescheiden und ehrgeizig zugleich. Es verzichtet darauf, umfassend zu informieren, stellt aber den in der Liturgiewissenschaft erarbeiteten Wissensstoff in elementarisierter und konzentrierter Form dar. Wir schlagen in den folgenden Kapiteln Schneisen, die den kaum überblickbaren Wald christlicher Gottesdienste erkunden helfen und das Bewusstsein dafür schärfen, in welcher liturgischen Tradition eine bestimmte Feierform steht, welche theologischen Akzente realisiert und welche liturgischen Rollen wie besetzt und gespielt werden. Wer diesen Schneisen folgt, stößt auf historische und theologische, anthropologische und gestalterische Einblicke, Theorien und Analysen. Für die liturgische Bildung ist es unabdingbar, die erworbenen Kenntnisse und die verstandenen Theoriemodelle auf die konkrete liturgische Praxis zu beziehen. Wer darüber hinaus liturgiewissenschaftlich forschen und ins Unterholz historischer oder zeitgenössischer Liturgien eindringen will, muss weitere Literatur zur Hand nehmen und sich mit historischen, systematisch-theologischen oder sozialwissenschaftlichen Methoden der liturgischen Praxis annähern. Leseempfehlungen dazu geben wir in diesem Buch am Ende jeder thematischen Einheit.

1.2 Liturgik und Homiletik: eine vorläufige Verhältnisbestimmung

Liturgik, die Lehre vom Gottesdienst, und Homiletik, die Lehre von der Predigt, haben sich in der evangelischen Theologie der Moderne als zwei unterschiedene Disziplinen ausdifferenziert. Dies dokumentiert auch die Reihe, in der dieses Lehrbuch erscheint. Während sich die Homiletik mit der Predigt befasst, ist die Liturgik auf den Gottesdienst insgesamt bzw. auf sämtliche Teile desselben mit Ausnahme der Predigt bezogen. Allerdings hat sich im Protestantismus zunächst einzig die Homiletik als akademische Disziplin zu etablieren vermocht. Diese Fokussierung auf die Predigt hat historische Gründe, die bis in die Reformationszeit zurückreichen. Die Erneuerung des Gottesdienstes in Wittenberg und Zürich, Straßburg und Genf war von Anfang an weniger eine rituelle, als vielmehr eine theologische und hermeneutische. Das neue Verständnis des Evangeliums als Rechtfertigungsbotschaft, als Verkündigung der gottgegebenen Freiheit eines Christenmenschen, soll im Gottesdienst gehört, verstanden und beherzigt werden und bedarf somit der verständlichen Vermittlung. Die Predigt erhält dabei eine Zentralstellung. Das Abendmahl steht zwar im Zentrum des innerreformatorischen Streits zwischen Wittenberg und Zürich, erweist sich in der liturgischen Praxis der evangelischen Kirchen vielerorts aber als randständig und wurde bis ins 19. Jahrhundert in vielen Gegenden – lutherischen wie reformierten! – nur noch selten gefeiert. Eine gewisse Katechisierung und Pädagogisierung hielten Einzug in die Gottesdienstkultur Wittenbergs, aber auch in Zürich, Genf und Straßburg – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. Der Grundtypus des evangelischen Gottesdienstes war bis zu den konfessionellen Erneuerungen und liturgischen Aufbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach der Predigtgottesdienst und ist es in zahlreichen evangelischen Kirchen bis heute.

Diese protestantische Fokussierung auf die Verkündigung in Gestalt der Predigt wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Liturgik als praktisch-theologische Reflexion der rituellen oder sakramentalen Dimension des Gottesdienstes im etablierten Fächerkanon der theologischen Ausbildung bis vor wenigen Jahren kaum vorkam. Die protestantische theologische Grundbildung ist zunächst eine exegetische, historische und dogmatische. Sie soll die angehenden Verbi Divini Ministri bzw. Ministrae, die Diener und Dienerinnen des Wortes Gottes, zu schrift- und sachgemäßer Auslegung der Bibel befähigen. Dass diese Auslegung im Rahmen eines Gottesdienstes oder von Andachten und Unterrichtslektionen erfolgt, ist dabei so selbstverständlich wie – vermeintlich! – unproblematisch. Denn, so die Voraussetzung, wer den Inhalt erfasst hat, findet auch die passende Form der Vermittlung und der liturgischen Rahmung. Oder aber diese Rahmung ist als immer gleicher Ablauf behördlich erlassen und in Kirchenordnungen festgelegt.

Homiletische Seminare sind seit dem 19. Jahrhundert Bestandteil der meisten theologischen Curricula, allerdings als Appendix zur eigentlichen theologischen Bildung und als praktische Anwendung derselben – in Bern und Basel verantwortet durch den ersten Münster-Pfarrer oder den Inhaber eines exegetischen oder dogmatischen Lehrstuhls, je nach Fähigkeit, Neigung und Konstellation. Liturgik-Seminare dagegen gehörten bis vor Kurzem nicht zum Pflichtbestand evangelischer theologischer Bildung.

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Höherschätzung der Predigt gegenüber dem Rest des Gottesdienstes auch insofern sprachlich verfestigt, als nicht selten »Predigt« und »Liturgie« als die beiden Teile des Gottesdienstes bezeichnet werden. Die Kanzelrede als eigentliche Mitte des Gottesdienstes wird gehalten, nachdem die Eingangsliturgie »abgesungen« ist. Es folgt eine kurze Schlussliturgie.

Demgegenüber erkannte etwa der evangelische Theologe Wolfgang Trillhaas (1903–1995) bereits in der ersten Auflage seiner »Predigtlehre« aus dem Jahr 1935, dass »die christliche Predigt […] im Hauptgottesdienst nicht ein Gegenstück zur Liturgie, sondern ein wesentlicher Teil derselben« ist (Trillhaas 1935, 11). Inzwischen ist diese Einsicht in der liturgischen Forschung weit verbreitet. So bezeichnet Peter Cornehl das Auseinanderfallen von homiletischer und liturgischer Reflexion als eines der größten Probleme einer evangelischen Lehre vom Gottesdienst (vgl. Cornehl 2006, 12 f.), und Michael Meyer-Blanck legte 2011 eine »Gottesdienstlehre« vor, in der er aus der notwendigen Verschränkung von Predigt und Liturgie auch diejenige von Homiletik und Liturgik fordert.

Wenn wir hier dennoch nur ein Lehrbuch der Liturgik vorlegen, so hat das einerseits pragmatische Gründe: Das Lehrbuch »Homiletik« liegt in dieser Reihe bereits vor (Grözinger 2008). Andererseits aber weisen wir immer wieder auf das Miteinander und Ineinander von Predigt und Liturgie hin, die den evangelischen Gottesdienst prägen. Die Predigt ist Rede im Ritual und die liturgische Gestalt wird durch die Predigtrede auf markante Weise weitergeführt und unterbrochen (vgl. Deeg 2014b; 2014c; 2020b).

Dabei lässt sich das Wechselspiel von Predigt und Liturgie nicht zu schnell auf einfache Formeln verkürzen – etwa so, dass die Predigt für die Diskursivität, die Liturgie für das Ritual stünde. Auch die Predigt gehört zum Ritual des Gottesdienstes, und umgekehrt gibt auch die Liturgie zu denken. Ritualität und Diskursivität, Praxis und Deutung bestimmen wechselseitig das gesamte Geschehen des Gottesdienstes. Auch wenn wir daher kein weiteres Lehrbuch zur Homiletik vorlegen, ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass die Predigt als Teil des Gottesdienstes in den folgenden Ausführungen immer wieder eine Rolle spielen wird ( Kap. 6.2).

1.3 Liturgik und Liturgiewissenschaft: Begriffsklärungen

Unter Liturgik verstehen wir die praktisch-theologische Reflexion des Gottesdienstes im oben genannten Sinn. Liturgik und Liturgiewissenschaft verwenden wir synonym, ebenso wie Gottesdienst und Liturgie. Diese Verwendungsweise unterscheidet sich von derjenigen der katholischen Theologie, in der fast ausschließlich von Liturgiewissenschaft die Rede ist, welche als solche sowohl die historische Erforschung als auch die systematisch-theologische Reflexion und die pastorale Gestaltwerdung umfasst (historische, systematische und praktische Liturgiewissenschaft). Liturgiewissenschaft ist in den römisch-katholischen Fakultäten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) ein Hauptfach mit eigenen, oft historisch ausgerichteten Professuren.

Aus der praktisch-theologischen Ausrichtung der Liturgik folgt in keiner Weise, dass es ihr nur um Anwendungswissen gehen würde, also um die Orientierung liturgischen Verhaltens. Historische Kenntnisse, theologisches Reflexionsvermögen und kulturwissenschaftliche Einsichten scheinen uns gleichermaßen unabdingbar für die sachgemäße Gestaltung eines Gottesdienstes. Zudem verfolgt auch jede historische und systematisch-theologische Beschäftigung mit dem Gottesdienst ein bestimmtes Erkenntnisinteresse, welches sich in der jeweiligen Gegenwart der Forschenden lokalisieren lässt und im besten Fall auf diese in erhellender und förderlicher Weise einwirkt. Der Zusammenhang zwischen aktuellem Erkenntnisinteresse und liturgiewissenschaftlicher Forschung soll nicht erst im Nachwort Erwähnung finden, sondern im Zentrum stehen. Darum wird gleich zu Beginn die liturgische Gegenwart in den Blick genommen, werden anthropologische, sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien aufgenommen und ins Spiel gebracht und Fragen der liturgischen Gestaltung diskutiert.

1.4 Genese, Geltung und Gestaltung

Wir unterscheiden, wie bereits erwähnt, vier unterschiedliche Reflexionsperspektiven der Liturgik: eine historisch-genetische, eine theologisch-normative, eine anthropologisch-sozialwissenschaftliche und eine performativ-handlungsbezogene.

In historisch-genetischer Perspektive wird nach der Entstehung, Entwicklung und Veränderung liturgischer Gebete und Formen gefragt: nach den biblischen und religionsgeschichtlichen Vorformen des Gottesdienstes; nach den Vorformen und Modellen etwa der Taufe oder des Abendmahls; nach den jeweiligen Konstitutionsbedingungen und zentralen Vollzügen; nach den liturgischen Weichenstellungen, seien diese theologisch oder religionspolitisch begründet; nach der Entwicklung der großen Liturgiefamilien. Die historische Perspektive offenbart eine schier unüberblickbare Vielfalt liturgischer Entwicklungen und Formen. Sie verweist auf die Kontextualität und Kontingenz liturgischer Formsprachen. Selbst wenn die eigentliche Liturgie – wie etwa in der Orthodoxie – im Himmel lokalisiert wird, ist das irdische Abbild derselben eines, das nicht anders als in den Sprachen und Gestalten der jeweiligen Kultur erfolgen kann. Liturgien, so wird in dieser Perspektive deutlich, sind kulturelle Sachverhalte und nur vor dem Hintergrund der jeweiligen ästhetischen, religionspolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Großwetterlagen zu dechiffrieren.

In theologisch-normativer Perspektive besteht die Aufgabe darin, theologische Wegmarkierungen für die Vielfalt historisch gewordener und gegenwärtig gefeierter Gottesdienste zu entwickeln. Schon seit biblischer Zeit gehört die Kritik am gefeierten Gottesdienst zu den ständigen Begleitern des gottesdienstlichen Handelns. Diese Kritik aber braucht Kriterien. Nach evangelischem Verständnis sind diese zunächst aus dem biblischen Zeugnis zu entwickeln, das allerdings in einem hermeneutischen Prozess erarbeitet und mit gegenwärtigen theologischen Weichenstellungen und Reflexionsperspektiven verbunden werden muss. Es ist ja nicht so, dass sich in der Bibel eindeutige Leitsätze für den Gottesdienst der Gegenwart finden ließen. Im Gegenteil wurden, durch die Geschichte hindurch, mit Hilfe der Bibel äußerst unterschiedliche Gottesdienste begründet. Uns scheint es hilfreich, das Bild eines theologischen Koordinatensystems zu verwenden, dessen Achsen Kriterien benennen ( Kap. 4.3). Wichtig ist, dass der Gottesdienst in theologischer Perspektive sowohl als Gegenstand theologischer Beschäftigung betrachtet werden kann als auch als Quelle für die Theologie (vgl. Arnold 2008). Die Art und Weise, wie Gottesdienst gefeiert wird, die Lieder, die gesungen, die Worte, die gesprochen, die Gesten, die verwendet werden – all dies gibt der Theologie zu denken und prägt die Art und Weise, wie theologisch reflektiert wird. Manche sprechen auch davon, dass der Gottesdienst selbst gefeierte Theologie sei und in dieser Hinsicht als theologia prima bezeichnet werden könne, der dann die theologia secunda nur nachzudenken habe ( Kap. 6.1).

Die theologisch-normative Perspektive bedarf der Ergänzung durch eine anthropologisch-sozialwissenschaftliche Perspektive. Diese Einsicht ist spätestens seit den 1970er-Jahren Gemeingut im praktisch-theologischen Diskurs. Weil es im Gottesdienst um menschliches Verhalten und Wahrnehmen geht und weil dieses immer den Bedingungen kultureller und gesellschaftlicher Prägungen und Entwicklungen unterworfen ist, erweist es sich als unabdingbar, soziologische und kulturanthropologische, psychologische und philosophische Perspektiven zu rezipieren und auf das Geschehen des Gottesdienstes zu beziehen. In den vergangenen Jahrzehnten waren es vor allem Theorien zu Ritualen und zum Gebrauch von Zeichen, die das liturgische Nachdenken herausgefordert und bereichert haben. So war und bleibt es anregend, die Ergebnisse der Ritualforschung oder etwa der Praxistheorie auf liturgische Vollzüge zu beziehen. Die Frage, was ein Ritual oder eine soziale Praxis sei und leiste, gehört ebenso dazu wie die Frage nach der Veränderung von Ritualen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Die Semiotik als Wissenschaft vom Gebrauch und Verstehen verbaler und non-verbaler Zeichen lehrte die Liturgik, das Geschehen jenseits der Worte als relevant zu betrachten und selbst das Wortgeschehen der Verkündigung nicht nur auf seine Inhalte, sondern auch auf seine Wirkungen hin zu befragen. In jüngerer Zeit kamen Performanz- und Praxistheorien hinzu, die helfen, die körperlichen und sozialen Aspekte des gottesdienstlichen Geschehens sowie die liturgischen Dramaturgien wahrzunehmen.

So öffnet sich der Blick auch auf die handlungsbezogen-performative Perspektive des Gottesdienstes, die auf die konkrete Gestaltung fokussiert. Dabei kann es – nach allem, was bereits ausgeführt wurde – nicht darum gehen, Handlungsvorgaben für einen gelingenden Gottesdienst zu machen (so lautete das erklärte Ziel mancher älterer liturgischer Lehrbücher). Es geht vielmehr darum, liturgische Gesten und Medien so wahrzunehmen, dass Einzelne zu verantwortlichen und begründeten Entscheidungen angeleitet werden und ihr eigenes Handeln vor dem Hintergrund historischer, theologischer und anthropologisch-sozialwissenschaftlicher Überlegungen reflektieren können.

1.5 Gottesdienst und Konfessionalität

Dieses Lehrbuch weist eine deutliche konfessionelle Prägung auf. Sein Gegenstand ist zunächst und in besonderer Weise der evangelische Gottesdienst, wobei »evangelisch« hier in einem konfessionellen Sinn gemeint ist. Die beiden Autoren haben evangelische Theologie studiert, sind aber in unterschiedlichen Liturgiekulturen aufgewachsen: der eine in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der andere in einer reformierten Kirche der Deutschschweiz. Die beiden Kulturen weisen erhebliche Unterschiede auf: Während sich die Liturgie des bayerischen Luthertums an der Grundform der Messe und am Kirchenjahr orientiert, hat die Messe für den reformierten Predigtgottesdienst der Deutschschweiz keine strukturierende und die Inhalte bestimmende Funktion, ebenso wenig wie das Kirchenjahr für die Sonntage zwischen den Festzeiten. In der Wahl der Lesungs- und Predigttexte, der Gebete und Gesänge sind die reformierten Deutschschweizer frei und nehmen diese Freiheit auch gerne in Anspruch. So orientieren sich die einen an der »Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder« von VELKD und UEK ( Abkürzungsverzeichnis), andere an der Perikopenordnung der EKS und wieder andere wählen die liturgischen Texte anlass- und situationsbezogen. Die Kirchen des Reformierten Bundes Deutschlands und der Suisse Romande nehmen hier eine Mittelstellung ein, wie etwa an den Grundformen der Reformierten Liturgie (RL) deutlich wird.

Die Unterschiede dieser beiden Konfessionskulturen in einem Lehrbuch zu integrieren ist ein herausforderndes, aber auch anregendes Unterfangen.

Das Lehrbuch richtet sich in besonderer Weise an Theologiestudierende, Vikar*innen und Liturgieverantwortliche lutherischer, unierter und reformierter Kirchen, aber natürlich auch an weitere Interessierte.

Dieser Prägung und Ausrichtung eingedenk, ist es uns ein großes Anliegen, andere Gottesdienstkulturen wahrzunehmen und uns von ihnen anregen zu lassen. So nehmen wir insbesondere katholische, freikirchliche, orthodoxe und jüdische Gottesdienste mit ihrer Geschichte, ihren Theologien und Feierformen immer wieder in den Blick und bringen sie mit evangelischen Formen und Deutungen ins Gespräch. Denn die Vielfalt der Gottesdienstlandschaft verstehen wir als Reichtum, den es darzustellen und zu reflektieren gilt. Entsprechend werden wir – wo immer möglich – auf den generischen oder kollektiven Singular verzichten und von Gottesdiensten im Plural sprechen. Das ist manchmal etwas ungewohnt und umständlich, scheint uns aber der Mühe wert.

1.6 Sprach- und Kontextbezug

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Unser Lehrbuch ist nicht nur konfessionell, sondern auch durch einen bestimmten Sprachraum geprägt. Wer schon frankophone oder englischsprachige Gottesdienste mitfeierte, weiß, wie sehr die Sprache die Liturgie prägt: sowohl Rhetorik und Prosodie (= Sprachmelodie und Wort- bzw. Satzbetonung) als auch Inhalte, Gesten und liturgischer Habitus. Wir sind uns dieser Differenzen bewusst und fokussieren darum auf den deutschen Sprachraum und seine Eigenheiten, seine Potenziale und Herausforderungen.

Allerdings ist es uns wichtig wahrzunehmen, dass andernorts anders gefeiert wird: mit stärkerem Traditionsbezug und Pathos oder mit charismatischer Emotionalität, spontaner oder mittels ausgefeilter und aufwändiger Musik- und Videotechnik, hochkirchlicher oder niederschwelliger. Solche anderen Gottesdienstkulturen finden sich auch in unseren Städten und Dörfern: Migrationsgemeinden und Hip-Hop-Kirchen, charismatische Bewegungen und Kommunitäten, die ein intensives liturgisches Leben pflegen. Insbesondere die weltweit stark wachsenden Pfingstkirchen feiern anders, als in diesem Buch beschrieben und reflektiert: emotionaler und weniger liturgisch geregelt. Darum wissen wir und wollen diese Vielfalt im Blick behalten, uns auch von ihr herausfordern und anregen lassen.