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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-008-8
»Herr Ober, bitte bringen Sie dem Herrn da drüben am Ecktisch auch ein Eis mit Früchten. Aber ohne Sahne und auf meine Kosten, damit er endlich aufhört, mich wie ein Weltwunder anzustarren«, sagte Luana von Woerden.
Über das olivfarbene Gesicht des jungen Aushilfskellners glitt ein Grinsen. Die gleichfalls am Tisch sitzende Anke Wiebrecht wurde verlegen.
»Das kannst du doch nicht tun, Luana«, stammelte sie entsetzt. Dabei blickte sie verstohlen zu dem Ecktisch hin, an dem ein einzelner Herr saß. Dessen wachsbleiches Gesicht und seine korrekte dunkle Kleidung fiel unter den braungebrannten Touristen auf. Es ging etwas von dem Fremden aus, das Anke beeindruckte. War es seine Haltung? War es der Blick, mit dem er unentwegt zu Luana herüberstarrte?
»Du machst mir angst«, murmelte das blonde Mädchen, das neben Luana wie eine hübsche, überaus schlanke Riesin wirkte.
»Angst? Dieses Wort kenne ich nicht mehr«, behauptete Luana. Mit schmalen Augen beobachtete sie nun, wie der Kellner das Eis am Ecktisch servierte. Er beugte sich ein wenig vor, sprach ein paar Worte und deutete dann mit einer leichten Kopfbewegung und einem verschwörerischen Lächeln in ihre Richtung.
»Du wirst Schwierigkeiten bekommen, wenn du einen Fremden so herausforderst«, bemerkte Anke.
»Noch mehr Schwierigkeiten?« höhnte Luana. »Ich glaube kaum, daß mir noch mehr zustoßen kann, Anke.«
»Du bist mit schuld – an allem«, warf ihr das blonde Mädchen vor. »Sicher magst du es nicht hören, aber sagen muß ich es dir endlich – daß ich nicht mit dir übereinstimme.«
Luana schien nicht hinzuhören. In ihren grünbraunen Augen glitzerte es kurz auf, als der Mann am Ecktisch endlich den Blick abwandte und das Eis zu löffeln begann. »Siehst du?« frohlockte sie grimmig. »Es schmeckt ihm sogar. Möge er daran ersticken!«
»Luana!« rief Anke erschrocken.
»Ja, alles ist meine Schuld«, bestätigte das braunhaarige Mädchen voller Bitterkeit und Spott. »Es liegt allein an mir, daß mein Erbonkel mich hinausgeworfen hat. Und es ist auch nur mir zuzuschreiben, daß ich die schöne Stellung plötzlich verloren habe. Was meinen lieben Freund Julian betrifft, so lag es ebenfalls nur an mir, daß er mich im Stich gelassen hat. Und dann dieser…«
»Hör auf! Ich kenne die Geschichte bereits«, unterbrach Anke sie schnell. »Du hättest deinen Erbonkel ja nicht so vor den Kopf zu stoßen brauchen. Es ist doch verständlich, daß er dir einen guten Ehemann aussuchen wollte.«
»Sehe ich aus, als würde ich dabei Unterstützung brauchen?« fauchte Luana. Nun war sie es, die den Mann am Ecktisch anstarrte. Immer mehr zeichnete sich Verblüffung auf ihrem rassig schönen Gesicht ab. »Wie der reinhaut!« staunte sie. »Nicht einmal bedanken tut er sich.«
»Ich schäme mich für dich, Luana«, flüsterte Anke und senkte kurz den Kopf. Als sie ihn hob, fuhr sie fort: »Er hatte einen netten jungen Mann für dich gefunden. Daß du ihn nicht mochtest, war ebenso bedauerlich wie das, was dann folgte. Da jener junge Mann der Sohn und Erbe deines Chefs war, ist es doch verständlich, daß er sich durch diese schnelle Kündigung für deine Abfuhr zu revanchieren suchte.«
»Nachträglich ist manches zu begreifen«, gab Luana mürrisch zu, »aber nicht zu verzeihen.«
Nun schauten sie beide zu dem Fremden hin, der so gelassen dasaß und sein kostenloses Eis verspeiste.
»Das hat ihn umgehauen, daß ich ihm ein Eis mit Früchten spendierte«, sagte Luana.
»Drück dich nicht so gewöhnlich aus«, tadelte die blonde Freundin. »Es imponiert mir nicht, wenn eine Luana von Woerden sich derart benimmt.«
»Dann solltest du zum Bahnhof gehen und mich allein lassen.«
»Mein Zug fährt erst in zwei Stunden. Bis dahin wirst du meine Gesellschaft wohl oder übel ertragen müssen.«
»Und warum sollte ich das tun?« fragte Luana in herausforderndem Ton. »Weil du zufällig die einzige bist, die mir gegenüber ein bißchen Mitleid geheuchelt hat?«
»Wie redest du nur, Luana?«
»Oder weil du mir Geld leihen mußtest, damit ich die erste Zeit besser überstehe?« ereiferte sich das Mädchen weiter. Es griff nach der blauen Schultertasche, die an der Stuhllehne hing, öffnete sie mit einem Ruck, zerrte Geldscheine hervor, warf sie vor der erblassenden Anke auf den Tisch und sagte: »Hier, nimm alles zurück! Ich will nicht behalten, was man mir unter Vorbehalt gab. Ich will keine bedauernden Blicke und keine pastoralen Reden. Ich will keine Vorwürfe und Anklagen. Ich will endlich meine Ruhe haben und die Freiheit genießen!«
»Das meinst du doch nicht im Ernst, Luana?« sagte Anke und hatte schon tränenfeuchte Augen.
Einen Herzschlag lang nur zögerte das braunhaarige Mädchen, dann sagte es trotzig: »Laß mich allein! Ich bin das alles so leid, daß mir übel wird, wenn ich euch sehe.«
Das war für Anke Wiebrecht zuviel. Wie eine Maske wirkte ihr hübsches Gesicht, als sie hochmütig erklärte: »Ich werde dich jetzt deinem Schicksal überlassen. Ich bin ja nur deshalb so schnell gekommen, weil dein Anruf so verzweifelt klang. Die paar Geldscheine darfst du behalten, Luana. Dein Onkel, den ich noch immer sehr schätze, hat früher einmal so viel für meine Familie getan, daß ich froh bin, auf diese Weise etwas gutmachen zu können. Du wirst das Geld brauchen. Du bist fremd hier, kannst keinem vertrauen. Es wird nicht leicht für dich sein, hier Fuß zu fassen. Doch du wirst es schaffen. Nur hüte dich, in deinem Zorn auf alle Männer zu weit zu gehen. Es könnte dir schaden.«
»Pah, was könnte mir jetzt noch schaden?« stieß Luana hervor. Sie lachte, um nicht zu zeigen, wie weh ihr ums Herz war. Die Tränen, die in ihren Augen glitzerten, sah Anke nicht.
Anke schwieg und schaute die Freundin abwartend an. Doch deren Augen blieben auf den leeren Eisbecher gerichtet. »Es ist also dein Ernst, daß ich gehen soll, Luana?« fragte sie leise.
»Seit wann bist du schwerhörig?« kam es grollend zurück.
Da stand das blonde Mädchen mit einem Ruck auf. Es war blaß und zitterte ein wenig. Doch mit fester Stimme sagte sie: »Eines tut mir nicht leid, daß Julian sich von dir abgewandt hat.«
»Wie lieb von dir!« höhnte Luana, hob den Blick und grinste. »Zwar habe ich ihn geliebt, aber das macht ja nichts. Ich kann mich hier jederzeit mit dem erst besten trösten. Vielleicht sogar mit dem da drüben. Er sieht nicht übel aus. Und wenn er auch mein Eis löffelt, so scheint er doch nicht mittellos zu sein.«
So etwas zu hören, verschlug Anke die Sprache. Entsetzt glitt ihr Blick zwischen Luana und dem Fremden hin und her. Der Mann hatte sich zurückgelehnt und schaute wieder zu Luana herüber. Doch die grinste zu Anke hinauf und fragte:
»Worauf wartest du noch? Auf ein Abschiedsküßchen?«
Das gab Anke den Rest. Sie schien zu wachsen in dem Bemühen, sich einen ruhigen, würdevollen Abgang zu verschaffen.
»Leb wohl«, sagte sie. »Hoffentlich tut dir nichts leid, wenn du in der Lage bist, deine Situation so zu sehen, wie sie ist.«
»Nie wird mir etwas leid tun! Nie!« erwiderte Luana.
Da wandte sich Anke ab und ging mit erhobenem Kopf über die Terrasse des Restaurants. Tränen liefen über ihre Wangen. Vom Ausgang blickte sie noch einmal zu Luana zurück. Doch die schaute nicht zu ihr hin. Sie lächelte gerade dem Kellner zu und schien mit ihrem neuen, so unsicher gewordenen Leben zufrieden zu sein. Anke seufzte und ging auf den kleinen Bahnhof zu.
Unterdessen bezahlte Luana von Woerden die drei Eisbecher und hoffte vergebens darauf, der junge Kellner möge verraten, wie sich der Fremde am Ecktisch zu ihrer Spende geäußert hatte. Doch sie fragte auch nicht. Sie verbot sich, noch einmal zu dem dunkelgekleideten Fremden hinzusehen, rauchte nervös zwei Zigaretten und saß da wie ein Mensch, der kein Ziel mehr hat, dem alles recht gleichgültig geworden ist.
Nach dem durchstandenen Aufruhr der Verzweiflung war es seltsam leer und still in ihr – wie ausgebrannt von den Erlebnissen, die sie fortgetrieben hatten.
Von den fernen Bergen her wehte es kühl. Ein paarmal zog Luana fröstelnd die Schultern zusammen. Sie wollte vor sich selbst nicht zugeben, daß sie schon bereute und der Freundin am liebsten nachgelaufen wäre. Als sie schließlich einen Blick auf die Uhr warf, verzog sie bitter den Mund. Es war auch dazu zu spät: sich mit der Freundin auszusöhnen und zu gestehen, daß man das alles eigentlich nicht so hart hatte sagen wollen.
Und nun ging ihr Blick doch wieder zu dem Ecktisch hinüber. Eine leise Neugier war in ihr, ausgelöst vielleicht durch die Verblüffung, den Fremden weder überrascht noch dankbar zu sehen. Er saß da und rauchte wie sie. Sein Gesicht war der Straße zugewandt, wo Urlauber promenierten. Hatte er es endlich aufgegeben, sie anzustarren? Auch das setzte sie in Verwunderung.
»Herr Ober«, fragte sie dann doch, als der junge Aushilfskellner den Tisch vor dem ihren abräumte und ihr verschmitzt zugelächelt hatte, »was hat jener Herr eigentlich gesagt, als Sie mit dem Früchteeis kamen?«
»Nichts, mein Fräulein. Er hat sich meine Erklärung angehört und nur genickt. Er scheint überhaupt nicht gern zu sprechen.«
Der Fremde war aufgestanden. Er wirkte ungeheuer groß und imponierend. Alles an ihm wirkte sehr lässig, aufreizend ruhig. Gewiß setzte ihm keiner so zu, wie man ihr zugesetzt hatte. Und zweifellos war er auch nicht allein, sich selbst überlassen oder zutiefst enttäuscht. So wie er aussah.
Luana geriet ins Grübeln, während sie ihn beobachtete. Der Mann paßte ihrer Meinung nach nicht in diesen kleinen, etwas abgelegenen Urlaubsort, in dem sie Arbeit und Vergessen zu finden hoffte. Was mochte ihn hergeführt haben?
Er wandte sich vom Tisch ab, doch ihr Herz klopfte nicht schneller, als er sich näherte. Wie Kohlen wirkten seine Augen. Sie hatte Bewunderung darin zu sehen gehofft und erschrak über den sonderbar leeren Blick. Hatte es ihn am Ende doch getroffen, von einer Fremden ein Eis spendiert zu bekommen?
Ich könnte mich entschuldigen, dachte sie. Doch schon siegte der Trotz. Sie warf den Kopf in den Nacken und lächelte spöttisch. Er sollte erkennen, wie sehr sie die Männer verachtete. Daß sie den Blick des Mannes festzuhalten versuchte, wurde ihr nicht bewußt. Auffallend blaß war sein gutgeschnittenes, kühnes Gesicht.
Der Fremde hatte ihren Tisch erreicht und blieb stehen. Luana sah nicht hoch. Sie wartete, spürte, wie die Spannung in ihr zu knistern begann. Doch nichts geschah. Der Mann stand regungslos neben ihr. Sie glaubte seinen Blick wie ein Brennen auf der Haut zu spüren.
Entschlossen hob sie den Kopf, schaute zu ihm auf und wich unwillkürlich zurück, als sie seinem dunkel glühenden Blick begegnete.
»Danke«, sagte er und ging schnell weiter. Seine Stimme hatte so sonor und sympathisch geklungen, daß Luana sich auf ihrem Stuhl umdrehte und ihm erstaunt nachblickte. Er hatte die Terrasse bereits verlassen und ging in die Richtung, in der kurz zuvor Anke verschwunden war. Groß und elegant überragte er alle anderen Passanten. Seine Schultern neigten sich leicht nach vorn, als trüge er an einer unsichtbaren Last.
Reue erfaßte Luana. Am liebsten wäre sie dem ersten Impuls gefolgt: aufzuspringen, dem Mann zu folgen und für ihre Keckheit um Verzeihung zu bitten. Doch schon meldete sich wieder der Trotz in ihr und ließ sie spöttisch lächeln. Nein, sie würde nie mehr einem Mann nachlaufen. Und wäre es auch nur, um ganz harmlos mit ihm zu sprechen.
Die Männer waren alle gleich verachtungswürdig. Man mußte sie meiden. Und ließ sich das nicht immer durchführen, dann mit Verachtung und Spott strafen. Nie mehr würde sie, Luana, einem Mann glauben und ihm vertrauen.
Nach einer Weile erhob auch sie sich und ging davon – in entgegengesetzter Richtung, obwohl sie dadurch einen Umweg zu der leinen Pension machen mußte, in der sie für drei Tage ein Zimmer gemietet hatte. Drei Tage! In dieser Zeit mußte sich herausstellen, ob sie hier Arbeit und eine neue Heimat fand. An diesem Ort war ihre Mutter einst glücklich gewesen. Und Luana war hierher geflüchtet, weil sie hoffte, hier den Seelenfrieden wiederzufinden.
Sie schlenderte dahin. Gar mancher Blick streifte sie bewundernd. Aber daß Jugend und Schönheit keine Sicherheit boten, hatte sie am eigenen Leib erfahren. Ein reicher Onkel hatte ihr die Tür gewiesen, als sie aufbegehrte und nur Julian heiraten wollte. Und Julian? Nun, für ihn war sie in dem Augenblick ohne Interesse gewesen, als feststand, daß mit dem Wohlwollen des Onkels auch dessen Erbe dahin war. Und was die Stellung betraf – nun, sie würde hier gewiß etwas finden. Es gab eine große Meierei und ein neues Werk, das hübsches Geschirr aus Keramik herstellte. Dort würde und mußte es eine neue Aufgabe für sie geben. man durfte nur die Hoffnung nicht verlieren.
*
Nach einer fast schlaflosen Nacht machte sich Luana von Woerden am nächsten Morgen auf den Weg zur Meierei. Dort wollte sie ihr Glück zuerst versuchen. Sie hatte sich telefonisch angemeldet. In der Meierei würde sie sich ein bißchen heimisch fühlen, denn ihr Onkel hatte einen Riesenexport in Käse.
Als sie angekommen war, wandte sie sich an einen entgegenkommenden, etwa vierzigjährigen Mann.
»Können Sie mir sagen, wie ich zu Herrn Sternbichler komme?«
»Der bin ich«, erwiderte er, lächelte dröhnend und musterte sie mit listigem Blick.
»Ich bin Luana von Woerden«, stellte sie sich vor. »Ich habe heute morgen angerufen.«
»Ja, ich weiß Bescheid.« Wieder glitt sein Blick über sie hin.
»Sie haben doch eine Stelle frei«, drängte sie.
»Sind Sie mit den Woerden verwandt, bei der Leuwarden…«
»Ja«, sagte sie hastig und lenkte dann ab: »Aber ich habe anderswo gearbeitet, Herr Sternbichler.«
»Weshalb haben Sie Ihre Tätigkeit aufgegeben?« wollte er wissen.
»Ich möchte einmal woanders arbeiten, die Fremde kennenlernen.«
»Haben Sie Empfehlungen mit, Zeugnisse, Unterlagen, die Ihre Tüchtigkeit belegen?« erkundigte er sich in nüchtern-sachlichem Ton.