2018 · Dritte Auflage
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© by Athesia Buch GmbH, Bozen (2011)
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Umschlagfoto: www.fotolia.de
Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag
Druck: Athesia Druck, Bozen
ISBN 978-88-6839-351-9
Band 3 aus der Reihe »Südtirolkrimi«
www.athesia-tappeiner.com
buchverlag@athesia.it
Meran, Freitag, Anfang Februar, 10.15 Uhr
Als sie den Mann aus der Passer zogen, hatte er keine Augen mehr.
Der Carabiniere, der an den Armen des Mannes zog, hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Der Untergrund war rutschig. Seine Kameraden hatten ihn mit einem Seil gesichert. Das reißende Wasser des Flusses strömte an dieser Stelle ruhiger und mit weniger Druck als in der Mitte des Flusses. Der Carabiniere führte die Schlinge des mitgeführten Seiles über die Arme und zog sie zu, als er sie um den Oberkörper gelegt hatte. »Jetzt vorsichtig ziehen!«, brüllte er gegen die tosenden Wassermassen der Passer zum Ufer hin. Seine Kameraden zogen vorsichtig. Der Carabiniere versuchte, die Leiche über die Steine zu heben, sobald sich ein Körperteil verfing. Dabei sah er dem Toten ins Gesicht. Die Augenhöhlen starrten ihm leer entgegen.
Die beiden Commissari froren, als sie beobachteten, wie die Männer von der Spurensicherung die Fundstelle nach brauchbaren Spuren absuchten. Es pfiff ein eisiger Wind unter der MEBO-Brücke, die die Passer überspannte (MEBO: Schnellstraße von Meran nach Bozen). Der Winter war noch nicht vorbei. Das spürte an diesem Morgen jeder. Der Himmel war verhangen, es lag ein Licht aus Blei über Meran, der Passer und der Etsch. Die Szene war grau. Grau die Passer, grau die Steine, grau wirkten auch das Gras und die Gerippe der blattlosen Bäume. Die weißen Schutzanzüge der Spurensucher bewegten sich in diesem Grau wie Astronauten auf dem Mond. Langsam und mit dem Blick auf den Boden gerichtet, bewegten sie sich in einer Fächerformation, ausgehend von der Fundstelle der Leiche.
Fabio Fameo und Francesca Giardi hatten sich zunächst die Leiche angesehen, nachdem man sie zu dem Fundort gerufen hatte. Wasserleichen sahen nie gut aus. Je nachdem wie lange der Körper im Wasser gelegen hatte, quollen die Leichen wegen der sich bildenden Gase unterschiedlich stark auf. Außerdem verlor der Körper an Farbe. So, als ob das Wasser alle Farbe herauswaschen würde. Die Haut war fahl. Die Haare waren oft verschlammt. Die Kleidung war ebenfalls meist verschlammt. Hier war alles grau. Die Leiche, die Umgebung, der Himmel. Wintergrau. Dottore Phillipi, der Gerichtsmediziner, hatte die beiden in Empfang genommen. »Das gibt Arbeit«, so hatte er sie begrüßt. Und das sollte wohl heißen, dass er der Meinung war, dass dieser Mensch keinen Unfall gehabt hatte.
»Lass uns was essen gehen.« Fabio nickte Francesca zu. Er hatte Hunger. Ihm war kalt. Sie hatten auch genug gesehen. Dr. Phillipi würde ihnen, so schnell er konnte, seinen Bericht schicken. Dann wussten sie mehr. Es war kurz vor 12 Uhr und Fabio hatte keine Zeit für ein Frühstück gehabt. Er hatte verschlafen. Und Tommaso war wie immer pünktlich um 7.30 Uhr vor seinem Haus vorgefahren, um ihn abzuholen. Tommaso Caruso war ein Maresciallo und sein Freund. Sie wohnten beide in Tisens, einem Dorf in den Bergen, die das Etschtal einschlossen. Sie arbeiteten beide in Bozen. Fabio in der Questura als Erster Commissario und Tommaso in der benachbarten Carbinierikaserne. Tommaso hatte es heute früh eilig und so reagierte er ungehalten auf Fabios Versuch, ihn zu einem Kaffee zu überreden. Es ärgerte ihn ein wenig, dass Fabio sich immerzu auf seine Fahrdienste verließ. Sicher, es war praktisch, eine Fahrgemeinschaft zu bilden. Aber Fabio konnte sich nicht revanchieren. Er hatte kein Auto. »Wozu brauche ich ein Auto? Du hast doch eins«, war sein Standardsatz, wenn Tommaso in darauf ansprach. Fabio hatte einfach keine rechte Lust, sich ein Auto zuzulegen. Bisher war er ganz gut ohne Auto ausgekommen. Als er noch in der Questura in Rom gearbeitet hatte, war er es gewohnt gewesen, immer über einen Fahrer zu verfügen. Das war in der kleinen Questura in Bozen nicht so. Aber als eine glückliche Fügung dazu führte, dass die beiden Freunde im selben Dorf eine Wohnung fanden, da hatte er keinen Gedanken mehr darauf verschwendet, sich um ein eigenes Auto zu kümmern. Tommaso hatte ja eins.
Jedenfalls ließ Tommaso es nicht zu, dass er in Ruhe frühstücken konnte, sondern drängte zum Aufbruch. In der Questura fand Fabio heute auch keine Gelegenheit, kurz zu entwischen, um in Fredericos Bar eine Kleinigkeit zu essen. Denn kaum angekommen, musste er zum Chef.
»Mein lieber Fameo«, fing der an, »Sie müssen sich ab heute intensiv mit den Berichten über den Textilienschmuggel beschäftigen. Wir bekommen hohen Besuch. Ein deutscher Oberstaatsanwalt hat sein Kommen angezeigt. Er will mit Staatsanwalt Dottore Filippo Infedele und Ihnen über den Fall sprechen. Wie es scheint, haben die Kollegen in Düsseldorf ein paar Ladungen mit gefälschten Textilien beschlagnahmt und stochern in der gleichen Suppe herum wie wir. Zusammenarbeit ist jetzt angesagt. Sonst zerfleddern wir uns gegenseitig die Ermittlungen. Das wollen die Deutschen nicht und wir auch nicht. Also: Avanti, ran an die Arbeit. Der Kollege reist am Samstag an. Sie werden ihn am Bahnhof abholen und für eine angemessene Unterkunft sorgen. Das habe ich versprochen. Und am Montag werden Sie zusammen mit ihm und Staatsanwalt Infedele die Dinge besprechen.«
An dem Textilienschmuggel war Fameo seit Herbst letzten Jahres dran. Dabei ging es um die Fälschung von Markentextilien. Bozen schien der Umschlagplatz für die Lieferungen zu sein, die aus ganz Europa hierher gelangten. Mit falschen Papieren wurde von Bozen aus die Verteilung in ganz Italien organisiert. Fameo hatte in dieser Sache einiges ermittelt. Aber für einen Zugriff war die Sache noch zu heikel. Wenn jetzt die Deutschen einige Ladungen beschlagnahmt hatten, konnte das ein Problem für seine Ermittlungen bedeuten. »Mist«, dachte er. Zum einen sah er die Problematik deutlich vor sich, die entstehen konnte, wenn verschiedene Staaten an der gleichen Sache dran waren. Und zum anderen hatte er wenig Lust, sich am Wochenende um einen Gast zu kümmern, von dem er nicht wissen konnte, wie er war. Vielleicht war er ein Langweiler? Und wie sollte er Elisabeth erklären, dass er möglicherweise am Wochenende arbeiten musste? Er hatte ihr versprochen, etwas Schönes zu unternehmen. Essen gehen oder in die Meraner Therme, in die Sauna oder zur Massage. Etwas für Körper und Seele halt. Sie hatten im Oktober geheiratet und bisher noch keine Zeit für Flitterwochen gehabt. Das wollten sie im Frühjahr nachholen. Aber er hatte sich noch keine konkreten Gedanken über die Reise gemacht. Und viele der Wochenenden im Winter waren mit Familienbesuchen besetzt gewesen. So richtig viel Zeit füreinander war bis heute nicht gewesen. Kurz und knapp: Es passte ihm überhaupt nicht, dass er am Wochenende einen Fremden betreuen sollte.
Das sah der Vizequestore ihm wohl an. »Ich lege großen Wert darauf, dass dieser Mann von uns gut behandelt wird, mein lieber Fameo.« Wie er die Worte »mein lieber Fameo« betonte, zeigte, dass jeglicher Widerspruch zwecklos war. Fameo presste die Lippen zusammen und sagte nichts, nickte nur mit dem Kopf. »Wann kommt er an?« Der Vice nickte zufrieden. »Das alles kann Ihnen Carlotta sagen.«
Er war entlassen.
Carlotta, die Sekretärin vom Chef, wusste um Fabios neuen Auftrag. Sie wusste alles, was im Zimmer des Vicequestore vorging. Das war ihr Job. Und den erledigte sie gut. »Ich habe bereits ein Hotel für den Gast gebucht. Du brauchst dich darum nicht mehr zu kümmern. Im ›Figl‹ habe ich ein Zimmer bekommen. Sogar zu Sonderkonditionen! Ein Zimmer mitten in der Stadt. Das Hotel ist nicht weit vom Bahnhof und unser Gast kann alles zu Fuß machen. Ist das für dich in Ordnung?« Fabio nickte. Carlotta war ein Organisationstalent. »Und wann kommt er genau?« Carlotta blättere in ihren Unterlagen. »Er kommt morgen mit dem 11.34-Uhr-Zug aus München. Gleis 1. Ich habe nach Deutschland geschrieben, dass der Mann, der den Oberstaatsanwalt abholt, einen Hut trägt und eine Zeitung in der rechten Hand hält. Kriegst du das hin? Fabio knurrte. »Hut und Zeitung?« Carlotta grinste: »Besser als ein Schild mit der Aufschrift: Questura Bozen!« Jetzt musste auch Fabio lächeln. »Was wissen wir über den Mann?« Carlotta blätterte wieder in ihren Unterlagen. »Er heißt Hagen Bös, ist Oberstaatsanwalt und kommt von der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf. Das ist alles.« Sie las noch die Rückseite. »Hier steht noch, dass er als Experte auch für Europol arbeitet. Schwerpunkt ist ›Markenpiraterie‹«
Fabio nahm die Notiz entgegen, die Carlotta für ihn bereithielt. »Und wann treffen wir Staatsanwalt Infedele?« »Am Montag um zehn. Er kommt hierher.« Fabio nickte. »Da habe ich den deutschen Staatsanwalt das ganze Wochenende am Hals«, dachte er. »Elisabeth wird nicht begeistert sein, wenn ich ihr das erzähle.« Er musste einen gequälten Gesichtsausdruck gemacht haben, denn Carlotta sah ihn ein wenig mitleidvoll an. »Und außerdem habe ich noch nichts gegessen«, erklärte er ihr. Sie zuckte nur mit den Schultern, lächelte ihn aber an. »Wenn Du zu Frederico gehst, bring mir ein Croissant mit, ja?«
Aber zuerst ging er in sein Büro, das er sich mit seiner Assistentin teilte. Francesca war erst seit einem halben Jahr bei ihm. Er hatte eigentlich Anspruch auf ein eigenes Büro und hatte sie nur aufgenommen, weil für sie kein Zimmer frei war, als sie hier anfing. Aber inzwischen hatte er sich nicht nur an sie gewöhnt. Sie war eine tolle Assistentin. Schnelle Auffassungsgabe, gute Kombinationsfähigkeit, sehr fleißig, immer einsatzfreudig, einfach perfekt. Außerdem sah sie toll aus. Aber das war nicht ausschlaggebend, nur angenehm. Sie verstanden sich sehr gut auf fachlicher Ebene. Privat ging jeder seiner Wege. Fabio hatte erst im Oktober des vergangenen Jahres geheiratet und daher keinen Blick für andere Frauen. Francesca wohnte noch immer in einer dieser Polizeidienstwohnungen, die sich nicht gerade durch Gemütlichkeit auszeichneten. Sie schien aber damit zufrieden. Vielleicht hatte sie auch vor, nach ihrer Probezeit, die sie in Bozens Questura leisten musste, woanders hinzugehen. Sie hatten bisher nicht darüber gesprochen.
Als Fabio das Büro betrat, telefonierte Francesca. Sie winkte ihn heran, was nur bedeuten konnte, dass das Gespräch auch ihn betraf. »Der Commissario kommt gerade zur Tür herein, ich stelle mal auf Lautsprecher«, hörte er sie sagen. Sie drückte einen Knopf und er konnte die Stimme von Dr. Phillipi über den Lautsprecher hören. »Hallo Commissario, es gibt Arbeit!«, krähte es ihm aus dem Lautsprecher entgegen. Man konnte Windgeräusche vernehmen. Fabio beugte sich über den Apparat. »Was haben Sie denn für uns?« Es rauschte, dann vernahmen die beiden Phillipis Stimme erneut. »Fürs Erste eine Wasserleiche. Aber Sie sollten sich die Leiche ansehen. Kann sein, dass dem Mann Gewalt angetan worden ist.« Francesca wechselte einen Blick mit Fabio.
Phillipi war ein gewissenhafter Arzt und Pathologe. Er arbeitete eng mit der Polizei zusammen und seine Arbeit war unentbehrlich. Er fand Spuren, die andere nicht sahen. Und er hatte einen untrüglichen Instinkt für Verbrechen. »Wo?« Das war Francesca. Sie hatte längst entschieden hinzufahren. »Ich bin in Meran. Da, wo die Passer in die Etsch mündet. Genau unter der MEBO stehe ich.« Francesca nickte. »Wir sind in einer halben Stunde da.« Dann legte sie auf und schaute Fabio erwartungsvoll an. »Wollen wir?«
Fabio fügte sich. Frühstück war heute nicht drin. Sie nahmen einen der Wagen der Questura, setzten Blaulicht und fuhren los.
Den Platz, an dem die Leiche geborgen worden war, fanden sie schnell. Phillipi zeigte ihnen den Toten. »Mann, ca. 40 bis 50 Jahre, schätze ich. Teurer Anzug, würde ich sagen. Papiere haben wir keine gefunden. Todesursache weiß ich noch nicht. Kann sein, dass er ertrunken ist. Das weiß ich, wenn ich mir die Lunge angesehen habe. Aber das hier ist schon komisch.« Er deutete auf das Gesicht. Die Augenhöhlen waren leer. Schlamm und Modder überzogen das Gesicht, so dass es wie eine braungräuliche Masse aussah. »Ich glaube nicht, dass er lange im Wasser war. Vielleicht ein oder zwei Tage. Und dabei wird er seine Augen kaum verloren haben. Das werde ich mir genau ansehen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe. Ansonsten kann ich noch keine Verletzungen sehen. Die Leiche ist vollständig bekleidet. Könnte also in die Passer gestoßen worden sein oder er ist hineingefallen. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass es kein Unfall war.« Phillipi beendete seinen Vortrag. Das war es, was er sagen konnte. Mehr würde er auch nicht sagen. So kannten sie ihn. Er erzählte ihnen noch, dass die Carabinieri ihn gerufen hatten. Eine Passantin hatte die Leiche durch Zufall entdeckt, als sie mit ihrem Hund heute Morgen unterwegs war. An dieser Stelle der Passer war es eher ungemütlich. Diese Gegend war unwirtlich. Der Hund hatte angeschlagen und die Besitzerin war neugierig geworden und hatte dann die Leiche entdeckt. Über ihr Handy hatte sie die Carabinieri informiert. Sie war aber schon gegangen, nachdem ihre Personalien aufgenommen worden waren.
»Lass uns was essen gehen«, sagte er, als Francesca wieder zu ihm stieß. Sie hatte sich noch die Stelle zeigen lassen, an der die Leiche gefunden worden war. Sie hatte zwischen zwei Felsen in der Nähe des Ufers geklemmt. Der Carbiniere, der als Erster bei der Leiche gewesen war, hatte ihr gesagt, dass die Leiche, wäre sie dort nicht eingeklemmt gewesen, sicher in die Etsch gespült worden wäre. Zwischen den dicken Steinen sei sie ihm erst gar nicht aufgefallen. Eigentlich habe man nur ein Bein sehen können, der Rest des Körpers sei vom Wasser überspült worden.
»Dann lass uns mal was essen gehen«, sagte Francesca und übernahm die Führung. Fabio trottete hinter ihr her. Er hatte Hunger. Und wenn er Hunger hatte, dann konnte er nicht gut denken. Außerdem gingen ihm die Gedanken an das Wochenende nicht aus dem Kopf. Was sollte er bloß mit dem Gast aus Deutschland unternehmen? Warum kam der überhaupt schon am Samstag, wenn der Besprechungstermin mit Staatsanwalt Infedele erst am Montag war? Er nahm in Gedanken auf dem Beifahrersitz Platz und erwachte erst wieder aus seinem Schweigen, als Francesca bereits nach kurzer Fahrt stoppte. Sie waren am Pferderennplatz vorbeigefahren. Das hatte er noch registriert. Sie hatte den Wagen durch den Kreisverkehr am Untermaiser Bahnhof gesteuert und ihn dann recht keck auf dem Bürgersteig vor einem großen Haus geparkt. Natursteine sah er, als er durch die Frontscheibe sah. Und Bogenfenster im Hochparterre. Durch die Rückscheibe sah Fabio den Bahnhof, links den Kreisverkehr. Nachdem sie ausgestiegen waren, konnten sie die ganze Gampenstraße entlang blicken. Dabei standen sie schon direkt vor dem Eingang. S’Rössl stand genau an der Ecke Gampenstraße/Rennstallweg. Sie standen vor einem Anbau, niedriger als das Haupthaus. Dieses ragte über drei Etagen in den Himmel. Die Fassade war hell gestrichen. Das freundliche Gebäude trotzte dem Wintergrau. Gekrönt war das S’Rössl mit leuchtend roten Dachpfannen.
Francesca ging voraus, über die Eingangsstufen in das Restaurant. Es war noch früher Mittag und Fabio sah keine anderen Gäste. Der niedrigere Anbau lag links vom Eingang und hatte einen locker mediterranen Charme. Sessel, die auch auf eine Sommerterrasse gepasst hätten, standen auf modernen, in warmen Rottönen gehaltenen Fliesen. Die Wandfarbe, in Wischtechnik aufgetragen, schaffte mit ihrem Sandton eine sommerliche Atmosphäre. Dabei musste sie im Februar allerdings von den vielen kleinen Downlights aus der Decke unterstützt werden. Denn Sonnenlicht war heute nicht zu erwarten.
Als sie durch die Tür traten, wurden sie von einem Mann um die vierzig sehr herzlich begrüßt. »Ciao Francesca!« Bussi links, Bussi rechts. Wie es schien, kannte er Francesca. »Ciao, David!«, begrüßte Francesca den jugendlich wirkenden Mann mit einem spitzbübisch blickenden, rundlichen Gesicht und kurz geschorenen Haaren. Eine Brille schmückte sein Gesicht. Seine Augen blitzten munter und dadurch strahlte der ganze Mann einfach gute Laune aus. Fabio überlegte, ob es die unglaublich positive Ausstrahlung dieses Mannes war, die ihm das Lokal so strahlend erscheinen ließ. Aber er kam nicht dazu, diese Gedanken zu Ende zu spinnen, denn jetzt lachte ihn der Mann, den Francesca David nannte, an: »Du hast einen neuen Gast mitgebracht? Wie schön!«, jubelte er. »Ihr seid früh. Das ist gut. Denn es wird gleich noch recht voll werden. Wollt ihr hier sitzen?« Dabei zeigte er hinter sich auf eine Reihe von hohen Tischen, an denen man auf passenden hohen Stühlen gemütlich sitzen konnte. Im Hintergrund waren eine runde Theke und der Arbeitsplatz des Pizzaiolo zu sehen.
»Es gibt also Pizza hier«, stellte Fabio fest.
David nickte, sagte aber: »Ja, klar. Aber Sie sollten unsere Fischgerichte probieren! Und natürlich das hausgemachte Tiramisu. Francesca wird Sie schon gut beraten.«
Damit machte er eine einladende Bewegung zu einem der Tische und verschwand.
»Hier wird es dir schmecken«, grinste Francesca ihn an. »Soll ich mal was bestellen?«, fügte sie hinzu. Fabio nickte. Es war zwar erst früher Mittag, aber für ihn war es Zeit, höchste Zeit sogar, endlich etwas zu essen.
»Ich habe auch einen Mordshunger.«
»Wieso hast du denn so einen Hunger? Keine Zeit für ein Frühstück gehabt?« Francesca hatte längst kombiniert, dass Fabio heute in den Tag hineingefallen war, seiner Gewohnheiten beraubt und überhaupt nicht so in Form wie sonst. Er seufzte leicht. Und er bemerkte in diesem Moment, dass Francesca ihn schon ganz gut kannte. Dabei fiel ihm auf, dass er sie eigentlich gar nicht kannte, jedenfalls nicht viel über sie wusste. »Ja. Du hast es richtig erraten. Ich hatte noch kein Frühstück. Und das alles, weil ich kein Auto habe.« Francesca schaute ihn fragend an. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, kam David wieder an ihren Tisch, um die Speisekarten zu bringen.
»Francesca, ich freue mich richtig, dich wieder hier zu sehen. Dann hat es euch gefallen bei uns? Und heute in Begleitung eines jungen Mannes, wie nett.«
Francesca zog eine ihrer Augenbrauen hoch. Ein Zeichen, dass ihr etwas nicht gefiel, wie Fabio wusste. Aber sie entspannte sich sofort wieder und bestellte zunächst für sie beide »Spaghetti alle cozze« (Miesmuscheln), Wasser und Wein. David schnalzte mit der Zunge und ging. »David ist das Herz und die Seele des Restaurants«, raunte Francesca Fabio zu. »Auch sein Vater und seine Schwester arbeiten hier mit. Alles richtig sympathische Leute, locker drauf.
Und die ›Spaghetti alle cozze‹ hier sind ein Gedicht. Zubereitet mit Knoblauch und Chilischoten. Ich nehme an, dass sie die Muscheln in heißem Olivenöl scharf anbraten, dann mit Wein ablöschen. Dann kommen die Gewürze dazu. Leise köcheln lassen, abschmecken. Ich glaube, da ist auch ein Hauch Thymian dabei. Jedenfalls ist der Sud echt lecker. Und das hausgemachte Pizzabrot erst! Du wirst es schon erleben.«
Sie schien zufrieden, dass sie ihrem Chef etwas bieten konnte, das er noch nicht kannte. Ihr Verhältnis war zwar das eines Chefs zu seiner Assistentin. Aber seit ihrem letzten Fall waren sie auch Freunde geworden. Sie durfte also so vertraulich mit Fabio umgehen.
Inzwischen füllte sich das Restaurant und noch bevor ihre Spaghetti kamen, waren fast alle Plätze belegt und der Pizzaiolo wirbelte einen Teigfladen nach dem anderen durch die Luft.
Die Spaghetti waren sensationell. Und das Tiramisu zum Abschluss war grandios. Eigentlich war Fabio kein Fan von süßen Desserts. Aber heute hatte er Hunger und Lust auf ein wenig Sünde. Beim Espresso grübelte Fabio über den Leichenfund nach. »Was meinst du? Unfall oder Verbrechen?« Francesca rührte in ihrem Espresso. »Genaues wissen wir nach der Obduktion. Aber ich glaube nicht an einen Unfall. Keine Papiere. Kein Geld. Keine Augen. Sieht nicht danach aus, als sei da einer betrunken in die Passer gefallen. Und wie kann es passieren, dass ihm dabei die Augen herausfallen?« Sie wiegte den Kopf. »Fische gehen doch nicht an so eine große Leiche, oder doch? Und wenn doch, fressen sie dann zuerst die Augen? Also, ich weiß nicht.« Sie schauten sich an. »Das ist auch meine erste Wasserleiche. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich weiß eigentlich nichts darüber, was im Wasser mit einem toten Körper passiert.« Fabio nickte. »Geht mir genauso. Ich hatte auch noch nie eine Wasserleiche. Ansonsten sah der Mann doch ganz normal aus. Komplett bekleidet. Was hat der Dottore gesagt? ›Teurer Anzug‹ hat er gesagt. Also kein Stadtstreicher, der betrunken in die Passer gefallen ist.« Sie schwiegen. Fabio schaute Francesca an. »Kannst du mir den Gefallen tun und dich um die Sache allein kümmern? Ich habe anderes zu tun.«
Und er erzählte ihr von dem Besuch des deutschen Oberstaatsanwalts und dass er heute die alten Akten studieren wollte, damit er sich ab morgen um den Gast kümmern konnte. Francesca stimmte freudig zu, denn sie nutzte gerne jede Gelegenheit, um zu zeigen, was sie konnte. Außerdem hatte sie ohnehin nicht viel vor, denn ihr Privatleben war hier in der Fremde noch sehr übersichtlich. Außer Fabio, seiner Frau Elisabeth, Tommaso und seiner Frau Anna hatte sie keine Freunde und Bekannten. Und Fabio war ihr Vorgesetzter. Auch wenn sie ihn als Mensch sehr mochte, so war er doch ihr Chef.
Anders war es mit Tommaso und Anna. Sie stammten wie sie selber aus Sardinien. Das hatte sie vom ersten Tag an miteinander verbunden. Anna war so etwas wie eine ältere, mütterliche Freundin geworden. Mit den Carusos traf sie sich hin und wieder. Sie kochten zusammen und hatten viel Spaß miteinander. Aber darüber hinaus hatten sich in dem halben Jahr, seitdem sie in Bozen war, nur einige wenige private Kontakte ergeben. Es waren zwar verschiedene Männer aufgetaucht. Frederico, der Inhaber von Fabios und Tommasos Lieblingsbar, zum Beispiel. Und ein junger Untersuchungsrichter hatte auch sehr deutlich sein Interesse signalisiert. Aber da hatte sie sich bisher zurückgehalten. Sie suchte etwas anderes.
Der Freitagnachmittag und das Wochenende lagen also vor ihr und sie hatte noch keinen Plan, was sie mit der Zeit anfangen sollte. Da kam ihr Fabios Bitte, sich um die Wasserleiche zu kümmern, gerade recht. Sie wusste, dass Dottore Phillipi heute Nachmittag, spätestens morgen die Leiche sezieren würde. Der Pathologe hatte nicht oft Leichen auf seinem Tisch, die spannend waren. Und er war ein begnadeter Pathologe. Sie beschloss, bei der Obduktion dabei zu sein. Phillipi würde sich über ihre Gesellschaft freuen, da war sie sich sicher. Und vielleicht konnte sie über das Wochenende in Erfahrung bringen, wer der Tote war. »Das ist doch ein nettes Ziel für eine Commissaria auf Probe«, dachte sie.
Zu Fabio gewandt sagte sie: »Mach ich Commissario. Mach ich sogar gerne. Ich werde Phillipi über die Schulter schauen, wenn er das zulässt. Von ihm kann ich noch viel lernen.«
Fabio erinnerte sich, dass Francesca erzählt hatte, dass sie Dottore Phillipi von einem Vortrag an der Polizeiakademie kannte. Sie schätzte seine Art, etwas zu erklären, und fand auch die Pathologie spannend. »Schön, dass ich mich nicht um diese unappetitlichen Dinge kümmern muss«, dachte Fabio, »sondern dass Francesca Spaß daran hat.«
David kam mit der Rechnung und Fabio musste den Widerstand seiner Assistentin überwinden, um für beide bezahlen zu dürfen. Beim Aufstehen rückte David für Francesca den Stuhl nach hinten. »Ich freue mich, dass es Dir bei mir gefallen hat. Beehre mich bald wieder.«
»Woher kennst Du das S’Rössl? Ist wirklich gut hier!« Francesca nickte. »Finde ich auch. Eine Bekannte hat es mir empfohlen.« Dabei blickte sie auf den Boden und ging schnellen Schrittes zum Wagen.
»Na, das ist ja toll.« Elisabeths Gesicht zeigte deutlich, dass sie es keineswegs toll fand, dass Fabio sich am Wochenende um einen Gast aus Deutschland kümmern sollte.
»Und was hast du mit ihm vor?«, wollte sie wissen.
Ob sie das wirklich interessierte, konnte Fabio nicht heraushören. Deutlich verstand er aber ihre Enttäuschung, dass mal wieder ein Wochenende nicht für sie beide reserviert war. Da sie sich erst seit dem Frühjahr kannten, hatten sich für Elisabeth nur wenige Gelegenheiten geboten, ihren Favoriten der Familie und ihren Freunden vorzustellen. Das hatten sie dann im Winter nachgeholt. Elisabeths Familie war im Vergleich zu Fabios Familie groß. Fabio hatte nur seine Eltern und einen Onkel in München. Elisabeth stammte aus dem Ultental und hatte eine weit verzweigte Verwandtschaft. Das hatte zur Folge, dass die Wochenenden seit ihrer Hochzeit im Oktober bis heute mit Besuchen, gegenseitigem Kennenlernen und einigen Familienfesten ausgefüllt gewesen waren. Eine richtige Hochzeitreise hatten sie auf das kommende Frühjahr verschoben. Elisabeth hatte es Fabio überlassen, sich darum zu kümmern. Aber bis jetzt hatte er noch nicht gesagt, was er sich vorstellte. Das allein hätte sie nicht geärgert. Aber dass er seinem Chef nicht klipp und klar gesagt hatte, dass er am Wochenende nicht für »Gästebetreuung« zur Verfügung stand, überraschte sie dann doch. Oder war es so, dass ihm die Arbeit wichtiger war als ihre junge Ehe?
Fabio war sich dessen bewusst. Er konnte Elisabeths Gedanken förmlich von ihrer Stirn ablesen. Ihre Stirnfalten sprachen zu ihm – laut und deutlich.
Aber es war schon wichtig, dass man sich mit dem deutschen Staatsanwalt traf. Das war ihm bewusst geworden, als er sich die Akten am Nachmittag noch einmal durchgelesen hatte. Francesca hatte auf der Autofahrt mit Dottore Phillipi einen Termin für den späten Nachmittag vereinbart, um bei der Leichensektion dabei zu sein. »Der ist von einem Eifer beseelt«, hatte sie gesagt, als sie das Gespräch beendet hatte. »Er will sich die Leiche unbedingt noch heute ansehen. Dafür lässt er sogar an einem Freitag alles stehen und liegen.« Francesca machte aber keinen unglücklichen Eindruck, dass jetzt auch ihr Feierabend in weite Ferne rückte. Fabio vermutete, dass sie ohnehin nichts Besonderes vorhatte. Sie setzte ihn in der Questura ab und fuhr dann gleich anschließend ins Institut.
Fabio ließ sich die Akten des Falles bringen, der ihn seit geraumer Zeit beschäftigte. Er studierte die wichtigsten Notizen und Protokolle zu einem Fall, bei dem er und seine Kollegen noch nicht wussten, was sie da eigentlich vor sich hatten.
»Ich konnte dem Vice nicht verweigern, den Gast aus Deutschland zu betreuen«, begann er. Elisabeths Stirnfalten wurden ein wenig tiefer. Fabio registrierte, dass sie ihm das nicht abnahm. »Der hat darauf bestanden.« Pause. »Und er war sehr deutlich.«
Elisabeth warf den Kopf in den Nacken und sah Fabio streng an. »Aber der weiß schon, dass du frisch verheiratet bist und dich am Wochenende um deine junge Frau kümmern musst?« Fabio musste lachen. Elisabeth war immer sehr direkt. Das gefiel ihm an ihr.
»Ja, das weiß er. Aber wie es scheint, nimmt er darauf keine Rücksicht. Und sieh mal, so oft gibt es nicht Besuch aus Deutschland. Also mach ich das halt. Lust habe ich keine. Aber dem Vice ist es wichtig, dass sich jemand um ihn kümmert.« Fabio merkte, dass seine Argumente den Unmut eher größer machten. Deshalb fügte er hinzu: »Ich mache das wieder gut. Versprochen.« »Wie?«
Eine kurze knappe Frage. »Jetzt muss die richtige Antwort kommen«, dachte Fabio.
»Wir gehen ganz toll essen, sobald ich diese Aufgabe erledigt habe.«
Elisabeth zog die Luft hörbar durch die Nase.
»Also gut.«
Fabio nahm sie in den Arm. Sie machte sich erst etwas steif. Aber nicht sehr lange. »Ich weiß, dass wir für uns bisher wenig Zeit hatten. Und die Hochzeitsreise steht auch noch aus. Lass uns doch Pläne dafür schmieden. Wo möchtest du denn hin?« Elisabeth schmiegte sich an ihn. »Lass dir was einfallen. Irgendwohin, wo es schön ist. Nur wir zwei. Keine Familie, keine Störungen, keine Arbeit.« Sie schaute ihn an: »Kriegst du das hin?« Fabio drückte sie an sich. Er nickte.
»Das kriege ich hin. Sicher.«
Fabio nahm Elisabeths Wagen, um am Samstagmorgen nach Bozen zu fahren. Das war irgendwie blöd. Jetzt saß seine Frau in Tisens fest, während er sich um den Gast aus Deutschland kümmerte. Sie konnte weder ihre Familie im Ultental besuchen, noch irgendwo anders hin. Die Busverbindung auf dem Dorf war am Wochenende sehr dürftig. Sie hatte deshalb beschlossen mit Anna zusammen zu kochen. Das machte beiden Spaß und Elisabeth konnte viel lernen, denn Anna war eine begnadete Köchin. Fabio hatte zunächst überlegt Tommaso zu fragen, ob er ihm seinen Wagen lieh, diesen Gedanken aber sogleich verworfen. Ihm war der wachsende Unmut Tommasos nicht entgangen, dass er ihn immer als Chauffeur ausnutzte. Auf der Fahrt nach Bozen beschloss er daher, sich einen eigenen Wagen zu kaufen.
»Aber was für ein Auto soll ich mir nur zulegen?«, überlegte er. Er betrachtete die Autos, die vor ihm auf der MEBO fuhren. »Welcher Wagen passt zu mir?« Er grübelte. Das, was er sah, gefiel ihm nicht. »Irgendwie sehen die alle gleich aus. Gibt es denn keinen Wagen mit Charakter?«, sinnierte er vor sich hin: »Einen, der anders ist, als die Autos, die auf der Straße so herumfahren?« Er hatte sich noch nie damit beschäftigt. Autos fand er nicht interessant. Und jetzt wusste er nicht recht, wie er an die Sache herangehen sollte. »Ich frage am Montag Tommaso. Der hat bestimmt eine Idee«, schloss er seine Gedanken ab.
Er parkte in der Questura. Bis zum Eintreffen des Gastes hatte er noch zwei Stunden Zeit. Kurz ins Büro, oder zu Frederico? Da fiel ihm ein, dass Carlotta dem Gast mitgeteilt hatte, dass ein Mann mit Hut und einer Zeitung unter dem Arm ihn abholen werde. »Ich habe gar keinen Hut«, dachte er. »Blöde Abmachung.« Er schaute zum Himmel. Wolkengebirge trieben über Bozen. Es sah nach Regen aus. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch. »Dann kaufe ich mir eben einen Hut«, dachte er ein wenig trotzig und er ging Richtung Lauben. Am Samstagvormittag ging es geschäftig zu in Bozen. Auch bei schlechtem Wetter. Im Februar waren die Bozner und die Leute aus der Umgebung unter sich. Die Touristen kamen erst im März, April. Im Februar konnte man daher gemütlich durch die Stadt schlendern. Fabio fand den Hutmacher sofort. Es gab reichlich Auswahl. Die Entscheidung fiel leicht. Der Hut passte gut zu seinem langen Mantel. »Ein bisschen verkleidet fühle ich mich schon. Aber vielleicht gewöhne ich mich dran.« Fabio bemerkte, wie ihn die Leute musterten. Man sah selten Männer, die Hüte trugen. Es amüsierte ihn ein wenig, damit aufzufallen. »Jetzt brauche ich noch eine Zeitung.« Er kaufte die neue Ausgabe von 24DerTag24. »Mal sehen, ob etwas über unseren Toten von gestern drinsteht.« Es war noch Zeit für einen Espresso. Der Obstmarkt. Das bei den Touristen und Boznern beliebte Vögele. »Sehr gut. Da ist es warm.« Den Hut platzierte er vorsichtig auf dem Stuhl neben dem seinen, den Mantel hing er über die Lehne. Das Vögele war ordentlich besucht. Er hatte den letzten freien Tisch bekommen. Die Bozner saßen hier am Samstagmorgen vor oder nach ihren Einkäufen. Manche nur auf einen Kaffee, manche, um sich auf ein Gespräch mit ihren Freunden zu treffen. Ein munteres Reden, Lachen und Scherzen. Fabio bekam seinen Espresso und schlug die Zeitung auf. Auf Seite drei gab es einen kleinen Artikel über den Toten. Fabio musste schmunzeln. Die Reporterin kannte er. Es war diese junge Frau, die er im letzten Jahr kennengelernt hatte. »Die scheint sich jetzt auf Mord und Totschlag spezialisiert zu haben«, dachte er. Inhaltlich gab der Artikel nicht viel her. Es wurde berichtet, dass die Carabinieri eine männliche Leiche aus der Passer geborgen hätten. Und dann spekulierte die junge Reporterin, dass der Leichnam möglicherweise nicht in Meran, sondern weiter flußaufwärts in die Passer gefallen sein könnte. Jedenfalls wolle die Zeitung »an dem Fall dranbleiben.« Fabio seufzte. »Na klar. Die werden jetzt wieder jeden Tag anrufen und fragen, was es Neues gibt. Die haben ›Saure-Gurken-Zeit‹. Da ist so ein Toter schon was Besonderes.« Er legte die Zeitung weg und schaute auf die Uhr. Es war Zeit, zum Bahnhof zu gehen.
Der Zug hatte Verspätung.
Fabio fror trotz Mantel. Er setzte sich in die Bahnhofshalle und dachte über den Fall nach, für den der Oberstaatsanwalt aus Düsseldorf kam.
Im Dezember des vergangenen Jahres hatte es eine Einbruchserie in der Zone gegeben. Die Zone war das Industriegebiet von Bozen und lag links des Eisacks. Hier hatten sich viele Firmen niedergelassen. Teils wurde produziert, teils wurde gehandelt oder nur gelagert. Hallen, Werkstätten, Produktionsanlagen – wie ein Raster waren sie angelegt. Die Straßen kreuzten in einem rechten Winkel. Die Einbruchsserie hatten die Carabinieri bearbeitet. Fabio hatte es von Tommaso beiläufig gehört. Auf einem ihrer gemeinsamen Fahrten in Tommasos Auto. Diese Sache war nicht ungewöhnlich. Aber bei der wegen dieser Einbruchserie angeordneten Objektüberwachung war etwas Merkwürdiges aufgefallen. Und das hatte Fabio interessiert. Die Carabinieri fuhren damals verstärkt nachts Streife. Außerdem hatten sie einige geschützte Parkbuchten, von wo aus sie in unregelmäßigen Abständen einzelne Objekte bewachten. Eines der Objekte, das die Carabinieri beobachteten, war eine große Lagerhalle. Sie gehörte einer Import-Exportfirma. Also Warenumschlag im großen Stil. Ein lohnendes Objekt für Diebe. Es war normal, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit große LKWs diese Lagerhallen verließen oder dort eintrafen. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. In der Nacht war allerdings ein deutlich geringeres Aufkommen zu beobachten. Als einer der Carabinieri bei einer der unregelmäßigen Kontrollfahrten mit seinem Wagen an der Lagerhalle vorbeifuhr, entdeckte er einen Karton, der auf der Fahrbahn lag. Vermutlich war er von einem der LKWs gefallen. Der Karton war aufgeplatzt und der Inhalt quoll hervor. Es handelte sich um Designer-Jeans einer sehr bekannten italienischen Marke. Das Stück kostete im Handel zwischen 200 und 350 Euro, je nach Ausführung. Die Aufschrift auf dem Karton deklarierte den Inhalt allerdings mit einem ganz anderen Namen. »ULK-Fashion« stand darauf. Der Carabiniere hatte den Karton an der Pforte des Lagers abgegeben. Aber Tags darauf hatte ein Angestellter des Lagers den Karton bei der Carabinieriwache wieder zurückgegeben. Man konnte den Karton keiner ein- oder abgehenden Lieferung zuordnen. Daher war es ausgeschlossen, dass der Karton von einem der LKWs gefallen war, die in diesem Warenlager abgefertigt worden waren. Diese Geschichte hatte Tommaso seinem Freund Fabio erzählt, als sie nach Dienstschluss gemeinsam von Bozen nach Tisens fuhren. Fabio witterte dahinter gleich wieder eine interessante Geschichte. Teure Markenjeans, verpackt in einem Karton mit dem Logo eines vergleichsweise billigen Labels. Er fragte Tommaso, was die Carabinieri zu tun gedachten. Tommaso meinte, dass sie wegen des Kartons vorerst nichts unternehmen würden. Auch ihm war der Gedanke gekommen, dass Markenfälschung dahinterstecken könnte. Aber er hatte damit gar keine Erfahrung. Und außerdem war das nach seiner Einschätzung eher Aufgabe der Guardia di Finanza, der Finanz- und Zollpolizei. Fabio fragte, ob er diese einschalten wollte. Aber wie es schien, hatte Tommaso dazu keine rechte Lust.
»Du weißt doch, wie das ist. Das gibt nur Arbeit. Ich habe keine Lust, mich mit der Finanzpolizei abzustimmen. Wir machen unseren Job, die machen ihren Job. Am Ende sind die schon längst an der Sache dran und dann wirkt es so, als wollten wir uns einmischen.«
So war Tommaso eben. Ein wenig stur. Ein wenig dickköpfig. Ein wenig eigen. Jedenfalls hatte er den Karton einfach in ein Fundbüro bringen lassen. Fertig.
Fabio hatte aber gerade nicht viel Interessantes zu tun und so beschäftigte er sich mit den beiden Markennamen. Unter dem Markennamen »ULK-Fashion« wurden verschiedene Arten von Billigtextilien vertrieben. Man konnte sie in Billigketten überall in Europa erwerben und auf den Wochenmärkten, wie es sie noch viele in Italien gab. Die Designer-Jeans, die in bewusstem Karton von »ULK-Fashion« verpackt waren, gehörten zu einer Marke, die Lifestyle-Produkte vertrieb. Vor allem Jeans und jede Menge Accessoires, wie Mützen, Hüte, Gürtel, Sonnenbrillen. Irgendwo in der Zone wurde also Markenware falsch verpackt oder auch umgeschlagen. War das ein Hinweis auf Produktpiraterie? Gab es in der Zone einen Umschlagplatz? Wenn ja, wo? Fabios Interesse war geweckt. Mehr noch. Seine Leidenschaft gehörte der Verfolgung von Wirtschaftskriminellen. Diejenigen, die andere betrogen, die Subventionen erschwindelten, die Steuern hinterzogen, den Staat und seine Bürger ausnutzten, selber nichts gaben und dann noch als »Stützen der Gesellschaft« auftraten. Als er Tommaso seine Überlegungen mitteilte, stöhnte dieser leise auf.
»Hätte ich dir besser nichts davon erzählt. Jetzt willst du bestimmt wieder alles haben, was ich darüber weiß, richtig?« Fabio nickte und schaute Tommaso belustigt an. Sie saßen wieder zusammen in Tommasos Auto und tuckerten über die MEBO. Auf der Schnellstraße war viel Verkehr und es ging nicht so schnell voran wie normalerweise.
»Es ist doch so. Ihr habt einen Zufallsfund gemacht. Deine Carabinieri wollen sich damit nicht beschäftigen. Und du hast keine Lust, mit der Finanzpolizei zusammenzuarbeiten. Und ich habe gerade Kapazitäten frei. Eigentlich langweile ich mich sogar ein bisschen. Und ehrlich gesagt, einen Mörder zu jagen, wie letztes Jahr, wird hier in der Gegend wohl nicht so häufig wieder vorkommen. Also, warum gönnst du mir nicht, dass ich mich mit meinen Hobbythemen beschäftige? Vielleicht finden wir hier in Bozen das Zentrum eines international operierenden Fälschersyndikats.« Bei diesen Worten grinste Fabio über das ganze Gesicht. Er übertrieb. Tommaso durchschaute das sofort. »Klar, wir finden einen dusseligen Karton und du enttarnst ein weltweites Kartell der Produktpiraten.« Er brummte: »Eine Nummer kleiner geht bei dir nicht, oder?«
Beide mussten jetzt lachen.
»Aber im Ernst, ich möchte da gerne ein bisschen drin herumstochern. Du hast doch nichts dagegen?«
Und so kam es, dass von Dezember an die Carabinieri bei ihren Überwachungs- und Beobachtungsaufgaben auch immer ein Auge auf verdächtigte Lastwagen hatten. Und tatsächlich wurde Mitte Januar gemeldet, dass man einen Lastwagen mit der Aufschrift »ULK-Fashion« gesichtet habe. Er sei in ein Gelände am Rande der Zone eingebogen.
Fabio hatte sich das Gelände daraufhin von außen angesehen. Es war schäbig. Hohe rostige Zäune schlossen es ein. Buschwerk und niedrig wachsendes Unkraut fristeten ihr kümmerliches Dasein vor und hinter dem Zaun. Kein repräsentatives Gebäude, sondern eine große heruntergekommene Lagerhalle war zu sehen. Dahinter noch einige Gebäude, die an Büros erinnerten. Einige Container, sonst nichts. Ein Schild hing schräg neben dem Tor, das lediglich mit einer Kette gesichert war. Das Schild war ausgebleicht, verbeult, und der Text war kaum zu entziffern. »Keine gute Visitenkarte«, dachte Fabio. Bewegungen waren keine auszumachen.
Er fragte Tommaso, ob er herausfinden könne, wem das Gelände gehörte. Der hatte geseufzt und versprochen sich darum zu kümmern. Einige Tage später überreichte Tommaso ihm wortlos einen Zettel.
»Salvatore D’Amigo Groß- und Einzelhandel« stand darauf. Das war alles. »Und was wissen wir über diesen Herren?« Caruso schaute Fabio an. Sie saßen wie jeden Morgen in Tommasos Wagen und fuhren nach Bozen. Der Blick sprach Bände. Tommaso hatte keine Lust, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Er hatte genug Arbeit. Die Diebstahlserie in der Zone war noch nicht aufgeklärt. Seine Leute hatten bisher nichts Greifbares. Immer kamen sie zu spät. Es schien, als wüssten die Täter, wann die Streifen unterwegs waren. Außerdem gab es in Bozen Ärger mit dem illegalen Straßenstrich. »Fabio«, mit einem tiefen Ton sprach er den Namen aus, »Fabio, es ist doch schön, wenn bei dir gerade nicht viel los ist. Genieße doch einfach die Zeit und widme dich Elisabeth. Was jagst du diesen Textilien hinterher? Ein Karton. Mehr haben wir nicht. Der war vielleicht falsch verpackt. Und niemand will ihn abholen. Also, was soll das?« Sie schwiegen. Tommaso war im Moment überarbeitet. Seit seiner Versetzung in die Hauptwache und seiner Beförderung hatte er einige neue Aufgaben übernommen. Viel neue Verantwortung für das Personal und eine Menge Fälle. Manchmal, so schien es, vermisste er das geruhsame Leben, das er als Maresciallo auf dem Land gehabt hatte.
Fabio räusperte sich: »Ja, vielleicht hast du ja recht.« Er machte eine Pause. »Aber ich stochere gerne in solchen Geschichten. Weißt du, es ist mehr so ein Bauchgefühl, das mir sagt, Stochern lohnt. Und bisher, das musst du zugeben, hat es mich nie betrogen.«
Tommaso brummte etwas vor sich hin. Dann deutlicher: »Dieser Salvatore, der ist kein Unbekannter. Ist aber ein kleines Licht. War früher Lastwagenfahrer. Hat dann eine kleine Spedition aufgemacht. Hat sich so durchgeschlagen. Das Übliche, Überschreiten der Lenkzeiten, abgefahrene Reifen, kaputte Bremsen. Einmal hatten wir ihn wegen Schmuggels hochgenommen. Er konnte aber nachweisen, dass er keine Ahnung hatte, was er fuhr. Die Papiere waren gefälscht. Er war nur der Frächter. Das war es. Mehr haben wir nicht über ihn. Ihm gehört dieses Gelände seit drei Jahren. Was er dort genau macht, weiß ich nicht. In den Papieren steht nur Groß- und Einzelhandel. Ansonsten unauffällig.«
Fabio war zufrieden. Fürs Erste jedenfalls. Nach einem großen Fall sah das wirklich nicht aus. Aber er wollte noch einen Versuch starten.
Er telefonierte mit der Geschäftsleitung der Firma, die diese teuren Designerjeans vertrieb. Dort war man zunächst unangenehm berührt. Schließlich sprach er mit dem Justiziar. Der Mann war zugänglich. Er gestatte Fabio einen Einblick in die Vertriebsstrukturen. »Wir produzieren unsere Textilien schon lange nicht mehr in Italien. Wie die meisten Modehäuser lassen wir in Ländern produzieren, in denen das Lohnniveau und die Lohnnebenkosten nicht so hoch sind. Und natürlich gibt es immer wieder Fälle von Produktpiraterie. Wir kontrollieren unsere Vertragspartner zwar streng, aber niemand in der Branche kann ausschließen, dass die eine »vierte Schicht« fahren, also eine Überproduktion, die sie über andere Kanäle vertreiben. Und diese Textilien finden dann über so manchen Umweg ihren Weg nach Italien und werden hier über Boutiquen oder über das Internet angeboten. So mancher Sonderposten, der zu deutlich reduzierten Preisen angeboten wird, stammt aus solchen Vertriebswegen. Das alles macht uns großen Kummer, denn wir haben die Entwicklungskosten, die Kosten der Markenpflege.« Der Mann sicherte Fabio seine Unterstützung zu und sie vereinbarten, dass man ihm einige der Jeans schicken würde, die sich in dem Karton befunden hatten. So geschah es. Der Karton wurde vom Fundbüro abgeholt und Fabio ließ ihn samt Inhalt in der Questura einlagern. Anfang Januar meldete sich der Justiziar wieder bei Fabio und teilte mit, dass das Labor der Firma sicher sei, dass diese Jeans in einer der Fabriken in der Türkei produziert worden seien, die für die Marke arbeiteten. Doch wie kam diese Markenjeans in eine Verpackung für Billigtextilien? Und wieso fiel so ein Karton in der Industriezone in Bozen von einem LKW? Und was hatte Salvatores Lager damit zu tun, in das immerhin einmal ein LKW der Billigfirma hineingefahren war? War Bozen ein Umschlagplatz für Plagiate? Fabio ordnete daraufhin eine Observation von Salvatores Lager an. Eine Woche lang wurden alle Fahrzeuge registriert, die auf das Gelände fuhren und es verließen. Es war ein reger Verkehr festzustellen. Besonders nachts. Das war nicht ungewöhnlich, denn in der Industriezone wurde Tag und Nacht angeliefert. Bei der Auswertung der Listen war dann aufgefallen, dass LKWs mit dem Aufdruck »ULK-Fashion« nur drei Stunden, nachdem sie auf das Gelände gefahren waren, wieder herausfuhren. Alle anderen blieben länger. Die LKWs kamen aus Deutschland und hatten ein Düsseldorfer Kennzeichen.
Fabio hatte seinen Onkel in München angerufen. Der war ein hoher Polizeibeamter im bayerischen Innenministerium. Der ranghöchste Beamte für die Polizei in München. Er half Fabio. Das durfte niemand erfahren – niemals. Und von ihm erfuhr er, auf wen die LKWs mit dem Düsseldorfer Kennzeichen zugelassen waren. Ein gewisser Uwe Ludwig Kapplingdorf. Der betrieb ein Import-Export-Geschäft in Düsseldorf, unter seinen Initialen ULK. Mehr wusste Fabios Onkel auch nicht. Der Polizeicomputer kannte den Mann nicht.
Und dann gab es diese Entdeckung.
Einer von Fabios Assistenten hatte den Karton in die Asservatenkammer gebracht und ihn durchsucht. War wohl aus Gewohnheit geschehen, denn es deutete nichts darauf hin, dass etwas anderes als weitere Jeans darin waren.
Er fand zwischen den Lagen ein mit braunem Papier umwickeltes Paket. Der Chef der Asservatenkammer informierte daraufhin die Sprengstoffspezialisten, die einen speziell auf Sprengstoffgeruch abgerichteten Hund daran riechen ließen. Dieser zeigte jedoch keine Reaktion. Daraufhin wurde das Päckchen in der Asservatenkammer geöffnet.
Heraus kamen ein Dutzend Arzneimittelpackungen, die Schlankheitspillen enthielten. Wie sich bei der Untersuchung herausstellte, waren es Plagiate mit teils gefährlichen Inhaltsstoffen. Sie enthielten eine hohe Konzentration verbotener Arzneistoffe wie des Appetitzüglers Sibutramin und des abführend wirkenden Phenolphthaleins. Bei Einnahme konnten Probleme mit dem Herzen auftreten.
Fabio bekam den Bericht mit dem Hinweis auf den Tisch, dass die Staatsanwaltschaft Bozen seit rund einem Jahr in ähnlich gelagerten Fällen ermittelte. Dabei ging es um den Tod einiger junger Männer, die vermutlich wegen der Einnahme von Anabolika gestorben waren. Die Staatsanwaltschaft Bozen hatte Erkenntnisse, dass sich die Männer auf dem grauen Markt mit Muskelpräparaten versorgt hatten. Was sie alles geschluckt hatte, ließ sich nicht mehr ermitteln, aber es gab Hinweise, dass es einen schwunghaften Handel mit »Wundermitteln« gab.
Fabio nahm daraufhin Kontakt zur Staatsanwaltschaft auf und berichtete von dem Fund. Und dabei hatte er anscheinend nicht nur deren Interesse geweckt, denn anders konnte man sich den Besuch aus Deutschland nicht erklären. Die waren in Düsseldorf offensichtlich an derselben Sache dran. Ob die Sache doch größere Dimensionen hatte? Wieso informierte die Bozner Staatsanwaltschaft jemanden aus Düsseldorf? Wie kamen die zusammen?