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2019
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ISBN 978-88-6839-393-9
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Für Ulrike, die mich zu diesem Werk ermutigte,
und für Marlies,
die ihm den letzten Schliff gab.
Silvano Longhi mühte sich den steilen Weg von Folgaria nach Palera hinauf und ließ seine Gedanken im Nichts treiben. Seine Mutter hatte ihm noch seinen breitkrempigen Sonnenhut aufsetzen wollen, aber er hatte ihn verschmäht, weil seine Schultern und sein Gesicht dadurch noch schmaler wirken würden. Jetzt brannten ihm der Schweiß und die Sonne in den Augen, und immer wieder musste er sich die verschwitzten Strähnen seiner langen schwarzen Haare aus dem Gesicht wischen. Der Mittagsdunst ließ die Konturen der Landschaft zerfließen. Der Grund des Terragnolotals zu seiner Rechten war kaum mehr zu ahnen, und der lang gezogene Rücken des Monte Pasubio auf der anderen Seite des Tals löste sich in den Wolken auf. Das monotone Zirpen der Heuschrecken auf den Almwiesen, das Summen der Fliegen über den Kuhfladen und der schwere Duft nach frischem Heu verbreiteten schläfrige Schwere.
Silvano hatte in Folgaria acht Pfund Nägel für seinen Vater gekauft. Er trug schwer an der Tasche, die ihm gegen seine nackten, staubgepuderten Beine schlug, und immer wieder musste er die Hand wechseln, weil ihn der schmale Griff in die Finger schnitt. Meist brachte Paolo Morelli solche Sachen mit seinem Fuhrwerk mit, aber diesmal hatte Silvano seinen Vater überredet, selbst gehen zu dürfen, um sich mit dem gesparten Geld eine von den rot-weiß gestreiften Zuckerstangen kaufen zu können, die in dicken Bündeln auf der Theke der Kooperative standen. Außerdem war dieser Ausflug allemal besser, als nach der Schule in der Schreinerei helfen zu müssen, wo er doch nur im Weg stand, die Nägel krumm haute und sich Vorhaltungen über seine Ungeschicklichkeit anhören musste.
Ein Brummen und Knallen ließ ihn aufhorchen. Das Geräusch kam von hinten und wurde langsam lauter, als folge es ihm den Weg hinauf. Als er sich umdrehte, sah er aus einer Staubwolke heraus ein Automobil mit offenem Verdeck auf sich zurumpeln. Mit einem unfreundlichen Hupen drohte der Fahrer an, dass er seinetwegen nicht ausweichen oder gar anhalten würde. Silvano sprang im letzten Augenblick zur Seite, wobei ihm die Nägel einen blauen Fleck am Knie bescherten.
Was mochte ein Automobil hier oben am Ende der Welt wollen? Der 1.000 Meter tiefe Abstieg nach Piazza im Terragnolotal war nur zu Fuß zu bewältigen, und andere Wege führten von hier aus nur auf die Weiden ringsum. Wer hier herauf kam, hatte etwas in Palera zu besorgen, und das kam wahrlich selten vor: einmal in der Woche der Gendarmerie-Wachtmeister aus Folgaria, der vor der Gemeindekanzlei unverständliche Ankündigungen verlas, einmal im Jahr der Bezirksveterinär, um nach dem Vieh zu sehen, und ab und zu einige Sommerfrischler, die aus der Gluthitze des Etschtales flohen, um sich im luftigen Klima der Hochebene zu erholen.
Als Silvano sah, dass der schwerfällige Wagen in der engen Serpentine vor ihm zurücksetzen und rangieren musste, presste er die schwere Tasche mit beiden Armen gegen seine Brust und schnitt die Kurve über einen Trampelpfad ab. Wieder auf der Straße angekommen winkte er dem Automobil zu, das nun im ersten Gang auf die nächste Spitzkehre zukroch, aber die Insassen würdigten ihn keines Blickes. Noch dreimal kreuzte er den Fahrweg, aber obwohl er sein Äußerstes gab, um das Fahrzeug einzuholen, gewann es immer mehr an Vorsprung.
Als Silvano im Dorf ankam, hatte sich auf dem Markplatz vor dem Albergo Stella Alpina schon eine Menschentraube um das Automobil gebildet. Vier Soldaten waren ausgestiegen und klopften sich gerade den Staub von ihren Uniformen. Sie hatten ihre Automobilbrillen abgenommen, deren Konturen auf den staubgrauen Gesichtern wie Insektenaugen wirkten. Der elegante Schnitt ihrer Uniformen ließ auch Ungediente sofort erkennen, dass sie Offiziere waren.
»Grüß Gott, können Sie mir sagen, wie wir von hier auf die Martinella kommen?«, fragte der Chauffeur den Wirt des Albergo. Sergio Toller konnte noch fließend Deutsch sprechen, so wie die Longhis, Zobeles und Perprunners, aber eben nur im Dialekt der Welschtiroler. Diese Soldaten kamen nicht von hier, das war nicht zu überhören. Sergio überlegte. Anders als der Pasubio oder die Becco di Filadonna hatten die Almhügel und Bergkuppen hier entweder gar keine Namen, ober sie wurden in jedem Dorf anders benannt. Mit Martinella war wahrscheinlich der Bergrücken südlich des Dorfes gemeint, auf dem die Almen der Gemeinde lagen. Man musste von der Straße nach Folgaria auf den Forstweg nach rechts abbiegen und dann hinter dem Gemeindewald ein Stück zu Fuß weiter hinauf über den Weidepfad gehen. Irgendwann sah man den Gipfel, von da an ging es nur noch querfeldein hinauf über die Almen. Sergio gab sich Mühe, ihnen den Weg zu beschreiben, ohne sich dabei allzu sehr festzulegen.
»Kommt man da auch mit dem Wagen hoch?«, fragte der Chauffeur misstrauisch.
Woher sollte er das wissen? In Palera besaß niemand ein Automobil oder war auch nur je mit einem gefahren. Aber immerhin wurde der Forstweg im Winter mit den schweren Schlitten zur Holzabfuhr befahren, und jetzt im August waren die Almen bestimmt trocken und der Boden fest.
»Mag schon sein«, erwiderte Sergio vorsichtig.
»Könnte uns vielleicht jemand den Weg dorthin zeigen?«
»Ich kenne den Weg«, rief Silvano und reckte seinen Zeigefinger über die Köpfe der anderen.
Den Weg zur Martinella kannten natürlich auch die anderen Jungen, schließlich mussten sie oft genug ihren Eltern das Essen zur Waldarbeit oder auf die Almen bringen. Aber Silvano war der Erste, dessen Neugierde über die Ehrfurcht vor den Uniformen gesiegt hatte. Der Fahrer winkte ihn zu sich und deutete den Umstehenden mit einer Handbewegung an, dass sie nun keine weiteren Sensationen mehr zu erwarten hätten.
Der Chauffeur kurbelte den Wagen an und die Fahrt begann. Silvano durfte sich auf das Trittbrett stellen, von wo aus er dem Fahrer vorlaute und überflüssige Anweisungen gab. Seine verschwitzten Haare begannen im Fahrtwind zu trocknen und wirbelten ihm lustig um die Stirn. Als sie die Abzweigung zum Forstweg erreicht hatten, hielt der Fahrer kurz an, um die Aussichten des Aufstiegs abzuschätzen. ›Das Kühlwasser habe ich gerade frisch aufgefüllt, im ersten Gang könnte es klappen. Außerdem ist der Wagen eine Leihgabe der Armee-Erprobungsstelle, wieso sollte ich ihn schonen‹, dachte er und ließ die Kupplung kommen.
Silvano musste sich am Rückspiegel festklammern, um bei der Fahrt durch die Schlaglöcher und über die Baumwurzeln nicht abgeworfen zu werden. Weiter oben wurde der Weg so eng, dass ihm die Äste der Tannen ins Gesicht schlugen, aber bald war der Wald zu Ende und sie sahen die grasbewachsene Kuppe der Martinella. Bis hierher war der Wagen durchgekommen, aber man entschloss sich, das letzte Stück doch lieber zu Fuß zu gehen, denn der Weg zum Gipfel war steiler, als er von ferne gewirkt hatte.
Die Offiziere redeten miteinander in kurzen, abgehackten Sätzen, die so anders klangen als die weiche, melodische Sprache der Leute aus dem Dorf. Silvano fielen die kirschroten Streifen an ihren Hosennähten und Ärmelaufschlägen auf, die er noch nie an einer österreichischen Uniform gesehen hatte. Der Älteste hatte einen eindrucksvoll nach oben gebogenen Schnurrbart, der seinem Gesicht etwas Trotziges verlieh. Nach den breiten Goldbordüren am Kragen und den Ärmelaufschlägen des Waffenrocks zu urteilen musste er der Ranghöchste sein. Zudem wurde er als Einziger mit »Exzellenz« angesprochen. Die anderen redeten sich untereinander mit Herr Major, Oberleutnant oder Leutnant an. Silvano konnte sich später nur an einen der Namen erinnern: Oberleutnant Haschek. Ein Mann Anfang dreißig, mit blonden Haaren, wie sie hier in der Trentiner Gegend gar nicht selten waren, und Locken, die eher zu einem Künstler als zu einem Offizier gepasst hätten. Oberleutnant Haschek sollte an diesem Tag der Einzige bleiben, dem Silvano ein Lächeln abringen konnte.
Die Soldaten hielten sich an feste, undurchschaubare Regeln. Murmelte die Exzellenz etwas, gab der Major zackige Befehle an die beiden Jüngeren, die dann entweder Karten aufrollten, Fotografien machten oder mit einem seltsamen Gerät auf einem Stativ hantierten. Der Leutnant machte sich ständig Notizen, besonders, wenn die Exzellenz etwas sagte. Silvano sah ein, dass er jetzt überflüssig war, übte schweigende Zurückhaltung und versuchte, von den Unterhaltungen der Soldaten so viel aufzuschnappen wie möglich.
»He, Kleiner«, rief Oberleutnant Haschek zu ihm herüber. Er kam angerannt und versuchte eine stramme Haltung einzunehmen. Haschek schaute ihn wohlwollend an und strich ihm über das Haar.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Silvano Longhi, mein Herr.«
»Du kennst dich doch bestimmt gut aus hier. Weißt du, wie die Berge dort heißen?«
Silvanos Blick folgte der ausgestreckten Hand des Oberleutnants. »Monte Pasubio«, erklärte er und deutete mit dem Finger auf den hohen Gebirgszug auf der anderen Seite des Terragnolotals. Sein Blick wanderte weiter über den Borcolapass am Ende des Tals zu den sanften Waldhügeln, die den Rücken der Martinella mit Italien verbanden. »Monte Maronia, Monte Maggio«, er drehte sich weiter nach Osten, »und der Monte Coston.« Silvano blickte erwartungsvoll zu Haschek auf.
»Und dahinten die Berge im Dunst?«
»Die liegen schon in Italien, die kenne ich nicht, mein Herr.«
Der Offizier schaute abwechselnd auf die Karte und auf die Berge und war anscheinend zufrieden mit dem, was er sah.
»Weißt du, ab wann hier oben Schnee liegt und wann er wieder weggetaut ist?«
Wozu wollte der Offizier das denn wissen? Die Leute aus dem Dorf kamen nur hier herauf, wenn sie zu den Kühen wollten, vom Veitstag bis Mariä Geburt. Davor war der Boden noch zu aufgeweicht für die schmalen Klauen der Kühe, danach wuchs das Gras nicht mehr schnell genug nach, und man musste die Kühe wieder von den Almen holen. Und von Palera aus konnte man den Gipfel – ob mit Schnee oder ohne – nicht sehen. Der Oberleutnant schaute ihn ungeduldig an. Silvano schüttelte verlegen den Kopf.
»Weißt du wenigstens, ob es hier in der Nähe Wasser gibt, eine Quelle vielleicht?«
Silvano deutete eingeschüchtert auf einen brackigen Tümpel, den man für das Weidevieh angelegt hatte. Nach der Schneeschmelze war er voll, danach war es ein stetiges Auf und Ab, je nachdem, ob der Regen oder die Sonne die Oberhand behielt. Haschek schüttelte missbilligend den Kopf.
»Nein, eine Quelle gibt es hier oben nicht«, ergänzte Silvano. »Und der Brunnen im Dorf war im Sommer vor zwei Jahren sogar schon einmal versiegt, sodass Paolo das Wasser mit seinem Fuhrwerk aus Folgaria holen musste«, schob er nach.
Der Oberleutnant verzog die Mundwinkel. ›Allein die Zementmischmaschine wird 10.000 Liter Wasser verschlingen – jeden Tag‹, dachte er, ›da werde ich mir wohl etwas einfallen lassen müssen.‹
Silvano beobachtete, wie der Leutnant im Zickzack auf dem Gipfel umherging und dabei seine Schritte zählte, während Oberleutnant Haschek unentwegt in der Landkarte herumzeichnete. Irgendetwas Besonderes sollte auf diesem Almhügel passieren, aber was? Zu gern hätte Silvano danach gefragt, aber der Respekt vor den Uniformen, den Fremden und dem Automobil hielt ihn davon ab.
»Zweimal habe ich mit dem Generalstabschef schon hier auf den Bergen gestanden«, sagte die Exzellenz zu dem Major, »und jedes Mal hat er mir langatmig auseinandergesetzt, wie er von hier aus in die italienische Tiefebene bis nach Venedig durchmarschieren will. Wenn es nach ihm ginge, würden wir hier auf jedem Hügel ein Fort bauen, je näher an der Reichsgrenze, desto besser.«
»Haben Sie das notiert?«, fragte der Major den Leutnant.
»Gott bewahre!«, fuhr die Exzellenz dazwischen. »Das ist doch nicht für die Akten!« Er reichte dem Major sein Fernglas und zeigte mit der Hand auf die Berge im Süden.
»Sehen Sie, dort liegt der Monte Campomolon, und rechts davon der Monte Toraro, beide schon in Italien und keine acht Kilometer von hier. Wenn die Italiener dort ihre Belagerungsgeschütze aufstellen, können sie das Fort hier in aller Ruhe zusammenschießen, und wir können uns nicht dagegen wehren, weil unsere Festungsgeschütze nicht bis dorthin reichen. Unser Kundschafterdienst berichtete kürzlich, dass neue Straßen auf diese beiden Berge gebaut werden; da tut sich schon was.«
Er schaute den Major ernst an. Der Offizier schaute angestrengt zurück. Sollte er das jetzt aufschreiben lassen oder besser nicht? Sollte er dem Generalgenieinspektor der k. u. k. Armee Recht geben oder dem Generalstabschef? Er stellte erleichtert fest, dass die Exzellenz keine Antwort erwartete, sondern ihre Betrachtungen fortsetzte.
»Und hier, schauen Sie mal.« Seine Exzellenz fuhr mit der Spitze seines Spazierstocks den bewaldeten Bergkamm südlich von ihnen entlang. »Lauter Senken und Deckungen, in denen sich die Italiener unbehelligt von unseren Festungsgeschützen festsetzen können. Von wegen freies Schussfeld!« Er schnaubte verächtlich und schaute den Major triumphierend an.
»Außerdem gibt es hier weder Wasser für den Bau noch für die Besatzung, wir werden also aufwendige Leitungen legen müssen, und zu guter Letzt müssen wir auch noch eine elend lange Armierungsstraße den Berg hinauf bauen. Einen schlechteren Platz hätte er sich nicht aussuchen können!« Die Exzellenz drehte sich um und zeigte mit dem Spazierstock auf die hohen Felsmauern der Becco di Filadonna im Norden.
»Dort wäre der richtige Platz für ein Fort gewesen. In sicherem Abstand hinter der Grenze hätte es die Übergänge nach Trient sperren können, die Straße nach Calliano und die Wege nach Caldonazzo. Aber meinetwegen soll der Conrad das Fort hier haben, schließlich ist er es, der dem Kriegsministerium das Geld dafür aus dem Rücken leiern muss. Die Geniedirektion in Trient wird sich ein weiteres sinnloses Denkmal setzen, und er wird seiner glorreichen Offensive gegen den Erzfeind wieder ein Stück näherkommen.«
Die Offiziere hatten für heute genug erkundet und machten sich auf den Heimweg.
»Ach, Herr Major«, sagte die Exzellenz, »das könnten Sie noch für die Erprobungsstelle notieren lassen: Das Automobil, das sie uns überlassen haben, eignet sich überhaupt nicht für das Gebirge. Mit unseren Pferden hingegen hätten wir bequem bis auf den Gipfel reiten können.«
Auf der Rückfahrt war das Automobil für Silvano schon keine Sensation mehr. Die Offiziere setzten ihn am Dorfplatz aus, von wo er nachdenklich nach Hause schlenderte.
»Kein Wort davon, was du gesehen und gehört hast«, klang die Ermahnung Hascheks in seinen Ohren nach, »das sind alles streng militärische Geheimnisse. Und im Gefängnis nützt du uns nichts, schließlich brauchen wir dich später noch einmal für ein wichtiges Unterfangen.«
Silvano konnte nicht ahnen, wie oft er noch an diesen Tag zurückdenken würde.
Der dicke Ugo Zobele, der in Palera die kleine Poststation führte, hatte als Erster seinen angestammten Platz im Albergo Stella Alpina eingenommen. Wie immer schob er sein Weinglas auf das braune, sternförmige Astloch in dem langen Lärchenholztisch, so wie er auch hinter dem Postschalter seinen Stempel immer exakt auf die gleiche Stelle legte. Fabrio Longhi war der Nächste in der Runde. Er verströmte den Geruch von Kernseife und frischem Fichtenholz, und als er sich schweigend setzte, rieselten ein paar Sägespäne aus seinen schwarzen Locken. Basil Perprunner, der junge Bauernsohn, ließ sich als Letzter schwerfällig neben ihnen nieder. Ugo wollte gerade die Spielkarten austeilen, als Paolo Morelli eintrat.
»Schau an, welch seltener Gast!«, stichelte Ugo und hob zur Begrüßung sein Glas. »Was führt dich denn hierher?«
»Wollte mal hören, was es Neues gibt im Dorf.« Paolos Stimme war wie immer lauter als angemessen. Er konnte sagen, was er wollte, es klang immer wie eine Anklage oder gar wie eine Drohung. Er fuhr sich mit der Hand durch die langen schwarzen Haare, setzte sich an das andere Ende des Tischs und bestellte ein Glas Rotwein.
»Wer kommt denn immer so viel rum in der Gegend, du oder ich? Sonst weißt du doch immer alles aus erster Hand.«
»Da hast du recht, Ugo. Im Gegensatz zu dir kriege ich bei meinen Fuhren schon was von der Welt zu sehen, aber dafür geht die gesamte Post des Dorfes durch deine Hände.«
Die Lippen des Postmeisters wurden schmal. Ugo blickte in die Runde und spürte, dass er jetzt besser nicht auf die Gerüchte über seinen Umgang mit dem Briefgeheimnis eingehen sollte.
Paolo versuchte das Gespräch auf ergiebigere Themen zu bringen und wandte sich Fabrio zu.
»Weißt du noch, als dein Silvano letzten Sommer mit den Offizieren auf die Martinella gefahren ist? Was hat sich da oben eigentlich abgespielt?«
»Wenn ich das nur selber wüsste. Der Junge rückt nicht raus damit. Die Offiziere hätten ihm verboten, darüber zu reden, weil es ein Militärgeheimnis sei.«
Keiner konnte sich vorstellen, dass Silvano gegenüber seinem Vater tatsächlich ein Geheimnis bewahren würde. Eher schien es ihnen, als wolle Fabrio es ihnen nicht weitererzählen. Aber warum nicht?
»Was sollte es hier, am Ende der Welt, schon Wichtiges zu verraten geben? Hier hat sich doch noch nie etwas Bedeutendes ereignet.« Basil stellte seine Frage mit schleppender, fast resignierender Stimme in den Raum.
Sergio Toller, der die ganze Zeit hinter dem Schanktisch beschäftigt gewesen war, gesellte sich zu ihnen an den Tisch.
»Wieso Ende der Welt? Heute sollen sie entschieden haben, dass demnächst mit dem Bau der neuen Straße hinab nach Piazza ins Terragnolotal begonnen wird. Dann liegen wir nicht mehr am Ende der Welt, sondern sind in zwei Stunden in Rovereto. Und die Straße nach Folgaria soll jetzt doch verbreitert und befestigt werden.« Für einen Augenblick wurde es totenstill in der Gaststube. Sergio wusste sehr wohl um die Wirkung seiner Worte, und seine kleinen, unruhigen Augen huschten von Gesicht zu Gesicht, während er seinen Triumph genoss.
»Woher willst denn ausgerechnet du das wissen?« Basil sah ihn halb spöttisch, halb misstrauisch an.
»Ich war heute auf dem Gemeindeamt in Folgaria, da redet man so allerhand. Auch darüber, dass demnächst Handwerker und Fuhrleute für den Bau gesucht werden«, trumpfte Sergio auf.
Das war nun wahrlich eine Sensation! Seit dem Bau des Brunnens und des Waschhauses vor zehn Jahren lag Palera im Dornröschenschlaf. Jegliche Neuerung war an ihnen vorübergegangen, und nun das. Es entstand eine kurze Pause, und jeder versuchte sich auszumalen, was diese neuen Straßen bedeuten konnten, ihre Vorzüge, aber vielleicht auch ihre möglichen Nachteile für das Dorf und für sich selbst.
»Endlich nicht mehr eine Tagesreise, wenn wir mal zur Bezirkshauptmannschaft oder auf den Viehmarkt müssen«, versuchte Fabrio eine erste Analyse.
»Noch mehr Fremde, die mit ihren Automobilen das Vieh auf den Almen scheu machen!«, stöhnte Basil.
»Gegen ein paar Gäste mehr, die nicht den ganzen Abend vor nur einem Roten hocken, hätte ich nichts einzuwenden«, entgegnete Sergio und sah vorwurfsvoll auf Basils leeres Glas.
»Ach was, um uns geht’s dabei überhaupt nicht. Wegen uns nimmt der Staat bestimmt nicht so viel Geld in die Hand. Das hängt irgendwie mit dem Militär zusammen!«, fiel Ugo ein. »Überlegt doch mal: Die Offiziere von der Geniedirektion waren nicht nur bei uns auf der Martinella, auch aus Sebastiano, Öseli und Lusern hört man ganz ähnliche Geschichten. Und dann soll es noch die neue Straße durch die Friccaschlucht herauf nach Carbonare geben, und noch eine sprengen die Pioniere der Kaiserjäger gerade zwischen Caldonazzo und Monte Rover in die Felsen. Überall laufen Landvermesser und Erkundungstrupps der Armee herum. Ich sage euch, da steckt noch was ganz anderes dahinter.«
Die Männer nickten zustimmend, jeder von ihnen hatte in der letzten Zeit ähnliche Beobachtungen gemacht. An der Quelle des Astico hatte man mit dem Bau einer Pumpstation begonnen, von der aus sich ein Geäst von Wasserleitungen scheinbar ziellos auf den Almen der Hochebene verlor, und in Carbonare erzählte man sich von Geometern der privaten Valsugana-Eisenbahn-Gesellschaft, die dort durch die Wälder gestreift sein sollten. Und nun also auch hier bei ihnen.
Paolo war aufgestanden und hatte sich neben Ugo gesetzt. »Wenn wir schon beim Thema Neuigkeiten sind, was sind das eigentlich für Holzmasten, die an der Straße nach Folgaria liegen?«, fragte er ihn. »Glatt gehobelte Tannenhölzer mit geteerten Spitzen. Weißt du vielleicht etwas darüber?«
Ugo schaute verlegen in sein Glas. ›Über kurz oder lang würden sie es sowieso erfahren, und das Postgeheimnis bezog sich schließlich nur auf Briefinhalte, aber nicht auf die Baumaßnahmen der k. u. k. Reichspost‹, dachte er. ›Ich bekomme ein Telefon – also die Poststation bekommt einen Telefonanschluss, damit können dann alle hier im Dorf telefonieren – gegen Gebühr natürlich. Aber das dauert noch etwas, bis es so weit ist.‹
Das war jetzt schon die zweite Sensation an diesem Abend. Bisher mussten sie für jedes Telefonat nach Folgaria auf das Postamt gehen, und wenn ihr Gesprächspartner dann gerade nicht erreichbar war, war der ganze Weg umsonst gewesen.
»Jetzt fehlt nur noch, dass wir auch noch Strom bekommen«, scherzte Basil, indem er ein Gerücht über angebliche Verhandlungen mit der Elektrizitätsgesellschaft in Trient aufgriff. Man trank noch eine Runde Roten auf diese Neuigkeiten, diskutierte das Für und Wider und zog sich alsbald nach Hause in den Kreis der Familie zurück.
Als Paolo früh am nächsten Morgen auf seinem schweren Kaltblüter den Weg nach Folgaria hinunterritt, um dort weitere Erkundigungen über den Straßenbau einzuholen, war ihm, als sähe er weit vor sich auf dem Weg Fabrio Longhi gehen, aber als er um die nächste Kehre kam, war niemand mehr zu sehen.
Es war im Juni des gleichen Jahres, als Paolo mit einem Lastwagen die Straße heraufgefahren kam und vor dem Albergo hielt. »Autotrasportatori Morelli«, stand an der Fahrertür, und auf dem Kühlergrill glänzte der Schriftzug »FIAT Werke Wien«. Als er ausstieg, wirkte er noch etwas wackelig auf den Beinen. Seine erste Fahrt mit dem Laster hatte ihn sichtlich angestrengt. Angelockt von dem ungewohnten Lärm kamen die Leute aus ihren Häusern und umringten den Lastwagen. Anfangs hielten sie noch respektvollen Abstand, aber nach und nach begannen sie die Karosserie, die Scheinwerfer und die Gummireifen zu betasten, als stünden sie vor einem exotischen Tier.
»Was machst du denn mit dem Ungetüm hier?«, frage Basil Perprunner.
»Das Ungetüm ist ein Lastauto mit 38 Pferdestärken, das 70 Zentner laden kann«, dozierte Paolo stolz. »Montag geht es los, ich werde Material für den Bau der Straße nach Folgaria fahren.«
»Du hast dich also als Fahrer anstellen lassen?«, wollte Sergio Toller wissen.
»Seit wann lässt sich ein Paolo Morelli anstellen? Bin ich Kutscher oder bin ich Fuhrunternehmer? Natürlich fahre ich mit meinem eigenen Wagen!« Dabei schlug er mit der flachen Hand ein paarmal gegen die Fahrertür, die sein Name zierte.
Sergio war baff. Sollte Paolo wirklich einen eigenen Lastwagen gekauft haben? Und nur wegen dem Stück Straße, die noch bis zum Winter fertig sein sollte? Der Wagen war nicht mehr neu, so viel war leicht zu sehen. Man erzählte sich, die Armee würde solche Lastwagen subventionieren, um im Kriegsfall darüber verfügen zu können. Aber dennoch, wie sollte sich das denn rechnen? Sergio schluckte seine Fragen herunter, um Paolo keine weitere Gelegenheit zum Prahlen zu geben, hier vor dem halben Dorf.
Der Fiat verschwand bis Montag in Paolos Scheune, die er sorgfältig abschloss – als wäre hier in Palera außer ihm noch jemand in der Lage, mit so einem Lastwagen davonzufahren.
Schon Sonntag Abend reisten die ersten Arbeiter an und quartierten sich im Albergo Stella Alpina ein. Sergio Toller konnte sich nicht erinnern, dass seine wenigen Kammern jemals alle belegt gewesen waren, und dann noch gleich für einen ganzen Sommer. Das brachte nicht nur Geld, sondern auch viel Arbeit. Er ließ einen Waschraum mit einem Badeofen anbauen, legte einen Eiskeller an und ließ aus Rovereto Bier in Fässern ankarren. Mehr als einmal musste er in der Nacht seine Frau wegen des neu aufgenommenen Kredits beruhigen.
»Alberta«, sagte er dann zu ihr und zog sie dabei an seine Schulter, »das ist alles für die Zukunft. Du wirst es sehen, durch die neue Straße wird alles anders.«
Wenn Paolo frühmorgens den Lastwagen startete, hüllte dieser die Scheune in dichten Qualm und weckte mit ohrenbetäubendem Knattern sogar die Hühner. Es sollte ein alltägliches Geräusch für das Dorf werden, damit begann und endete von nun an der Tag. An so manchem Morgen orgelte der Motor vergebens. Sowohl die Batterie als auch Paolos Kräfte an der Handkurbel waren nicht unerschöpflich, und so war er froh, dass er noch seine beiden schweren Zugpferde behalten hatte, mit denen er dann den Wagen anschleppen konnte.
Erst hatte er vorgehabt, die beiden Gäule zu verkaufen, aber dann hatte er kalkuliert, dass es sich doch lohnen würde, das Gespann weiter einzusetzen und sogar einen Kutscher zu bezahlen. Ein Tagelöhner der Baukolonne erwies sich dafür als geeignet, und für wenig Geld, abzüglich der Unterkunft, die Paolo ihm in seiner Scheune eingerichtet hatte, kümmerte er sich von nun an um diesen Teil des Geschäfts. Abgesehen von dem Neid, den Paolos Unternehmergeist im Dorf hervorrief, waren einige auch darüber empört, dass er diese Aufgabe nicht an jemanden aus Palera vergeben hatte. Fortunato Carbonari beispielsweise, der Totengräber der Gemeinde, hätte das Geld gut gebrauchen können, gerade jetzt, wo sein Sohn Roberto zur Welt gekommen war. Aber der fremde Tagelöhner, dessen Dialekt nach dem italienischen Mezzogiorno klang, war noch billiger gewesen – und trank zudem auch nicht so viel wie Fortunato.
Nachdem sich einige Fuhrunternehmer aus Trient darüber beklagt hatten, dass es hier oben keinen Treibstoff gäbe, hatte Paolo einige Benzinfässer und eine Handpumpe organisiert und vor seinem Hof eine kleine Tankstelle improvisiert. Hier bot er bald auch Motorenöl und andere nützliche Dinge an und spendierte sogar großzügig das Kühlwasser für die schweren Wagen.
Zehn Stunden pro Tag, sechs Tage in der Woche schaufelten die Arbeiter in sengender Hitze Schutt von der Trasse und hämmerten auf dem Boden kniend Steine in den Straßenuntergrund. Die Almen entlang der neuen Straße nach Folgaria waren von einer dichten weißen Staubschicht überzogen. Auf dem Weg nach Piazza verstummte das monotone Klopfen nur, wenn die Sprengschüsse durch das Terragnolotal rollten, mit denen sich die Männer den Weg durch den Fels bahnten.
Die beiden neuen Straßen nahmen langsam Gestalt an. In gleichmäßigen Steigungen und weit ausholenden Kurven erklommen sie von zwei Seiten die Höhe nach Palera. Die Trassen kürzten einige enge Spitzkehren ab, indem sie steile Gebirgsbäche überbrückten, wozu die Maurer mit viel Aufwand Stützmauern und Brückenbögen emporzogen. Unmengen von Steinen mussten deshalb für teures Geld von Folgaria herangekarrt werden. Angesichts der steigenden Kosten fragte einer der Bauingenieure Paolo, ob es keinen Steinbruch in der Nähe gebe.
»Herr Ingenieur, gestatten Sie mir eine Frage. Wozu braucht man denn für den Bau einer Straße in dieses unbedeutende Dorf überhaupt so viele Steine?«, fragte Paolo.
Der Ingenieur rieb sich das Kinn.
»Na ja, man sieht es ihr vielleicht nicht an, aber sie muss Wagen von fünfhundert Zentnern Gewicht tragen können, ohne den Abhang hinunterzurutschen.«
Paolo zog die Augenbrauen hoch.
»Fünfhundert Zentner, mein Gott! Mein Laster wiegt vollbeladen gerade mal hundertfünfzig Zentner. Wozu braucht Palera denn so schwere Wagen?«
Der Ingenieur zuckte die Achseln und hielt lächelnd seinen Kopf schief. Paolo verstand, hier gab es etwas, das der Mann ihm nicht sagen durfte. Er kam also wieder auf den Anfang ihres Gesprächs zurück.
»Was für Steine brauchen Sie denn, genügt Ihnen der Kalkstein aus der Gegend hier?«
»Wenn er hart genug ist, würde das für unsere Zwecke völlig ausreichen«, erwiderte der Ingenieur.
Paolo überlegte. Natürlich besaß die Gemeinde einen kleinen Steinbruch, aus dem das Material für die Häuser und Gartenmauern stammte. Er selbst besaß nur einen kargen Acker unterhalb eines Felsbandes am Terragnolotal. Dieser Acker war von hier gut zu erreichen, und soviel er wusste, gehörte das unnütze Felsband dazu.
»Ja, ich könnte Ihnen da etwas anbieten, aber der Weg dorthin müsste noch befestigt werden, und vielleicht braucht es auch noch eine Erlaubnis des Gemeindeamtes«, sagte Paolo.
»Die Sache mit dem Weg und der Erlaubnis ist unser tägliches Geschäft«, antwortete der Ingenieur, »wenn es weiter nichts ist.«
Und so kam es, dass der Fuhrunternehmer Paolo Morelli auch noch Steinbruchbesitzer wurde.
Ugo Zobele setzte sein Glas ab und schaute in die Runde, die sich am langen Tisch im Albergo versammelt hatte.
»Ihr werdet es sehen, die beiden neuen Straßen werden das Dorf verändern. Vor allem werden sie uns Wohlstand bringen.«
»Oder den Tod.« Basil Perprunner ließ seine Worte etwas wirken, bevor er die Erklärung nachschob: »Ich habe gestern einen Pionier von den Kaiserjägern beobachtet, wie er in einem Straßentunnel zum Terragnolotal einen Seitenstollen ausgemessen hat. Ich habe ihn gefragt, was diese Kaverne für eine Bedeutung hat. Und was, glaubt ihr, hat er geantwortet?« Basil lehnte sich triumphierend zurück.
»Eine Mautstation?«
»Kalt.«
»Ein Unterstand gegen den Regen?«
»Ganz kalt. Eine Sprengkammer! 100 Kilogramm Dynamit, und die Straße saust in den Abgrund. Die Armee hat sie in Auftrag gegeben, falls die Welschen einmal auf die Idee kommen sollten, hier hinaufzuwollen.«
»Moment mal. Wenn die Straße dort gesprengt wird, rutscht dann nicht das halbe Dorf hinterher ins Tal?«, wollte Ugo wissen.
»Genau das habe ich den Pionier auch gefragt. ›Im Krieg gibt’s halt immer Verluste‹, hat er mir geantwortet. Der klang wie ein Oberösterreicher, dem kann es ja egal sein.«
»Trotzdem, ich bleibe dabei, unter dem Strich wird es uns Wohlstand bringen«, beharrte Ugo trotzig.
»Dem einen mehr, dem anderen weniger«, erwiderte Basil und versuchte, seiner Stimme einen vielsagenden Ton zu verleihen. »Vor allem aber dem Paolo Morelli.«
»Da hast du allerdings recht. Das mit seinem Lastwagen ist sein Beruf, das kann man ihm nicht übel nehmen, aber dass er jetzt auch noch zu seinem eigenen Steinbruch gekommen ist und die Gemeinde dadurch auf ihrem eigenen Geröll sitzen bleibt, das ist unverdientes Glück«, schnaubte Ugo verächtlich. »Geschmeidig und glatt wie eine Schildviper ist der Paolo. Ihr müsst einmal auf seine Arme schauen, kein Härchen werdet ihr darauf finden.«
»Jetzt übertreibst du aber, Ugo. So giftig wie eine Schildviper ist er nun wirklich nicht. Aber Schlingnatter fände ich passend, die ist auch glatt und bekommt den Hals nicht voll.« Basil grinste selbstgefällig über seinen gelungenen Vergleich.
»Seid nicht so ungerecht, ihr Neidhammel. Der Paolo riskiert halt etwas, so was wird eben belohnt«, warf Gemeindevorsteher Enzo Capeletti ein. »Aber das mit dem Steinbruch ärgert mich auch. Die Gemeinde hätte das Geld gut gebrauchen können.«
» ›Dar taüvl schaist herta at’n groas hauf‹ – der Teufel scheißt immer auf einen großen Haufen –, sagt mein Vater immer. Wo der Paolo seine Augen hat, da hat er auch die Hände. Aber so ein Glückspilz war der Paolo auch nicht immer gewesen«, holte Basil aus. »Erinnert ihr euch noch, als er um Anselma geworben hat. Was hat er sie angeschmachtet, gebalzt hat er wie ein Pfau!«
»Da war er nicht der Einzige in Palera«, sagte Ugo und schaute Basil von unten herauf an. »Aber der Fabrio Longhi, der hat es am Ende geschafft. Ruhig, beständig, zuverlässig, so müsste der Mann für Anselma sein. Kein Windhund und Angeber.«
›Hat er jetzt über Paolo oder über sich selber gesprochen‹, dachte Basil, aber er wollte die Stimmung nicht weiter aufheizen und behielt seine Frage für sich.
»Ja, das war ein schwerer Schlag für Paolo. Ich glaube, das hat er Fabrio niemals verziehen«, seufzte Enzo.
»Mit seiner Francesca hat Paolo aber auch keinen schlechten Fang gemacht«, meinte Basil. »Manchmal tut sie mir schon ein wenig leid mit ihrer bescheidenen und stillen Art. Als Lehrerstochter hätte ihr ein Schöngeist besser gestanden. Paolo ist oft sehr grob zu ihr. Ob er sie wohl schlägt?«
Sergio Toller räumte den leeren Krug vom Tisch, die Sperrstunde nahte. »Wenn man euch so reden hört, könnte man wirklich meinen, ihr seid alle neidisch auf Paolo«, sagte er in die Runde. Dann schaute er Enzo von der Seite an: »Was unternimmt der Herr Gemeindevorsteher jetzt wegen dem Steinbruch?«
»Vor das Kreisgericht in Rovereto werde ich ihn dafür nicht bringen können, aber ich werde einmal mit Hochwürden Fontana sprechen.« Enzo Capeletti erhob sich und gab damit das Zeichen zum Aufbruch.
Im Herbst wurden die Straßen nach Folgaria und Piazza eingeweiht. Die Musikkapelle des Dorfes spielte den Kaiserjägermarsch, die Standschützen aus Folgaria mit ihren breitkrempigen Andreas-Hofer-Hüten und weißen Wollstutzen paradierten mit ihren Gewehren und schwenkten Fahnen mit den habsburgischen und Tiroler Wappen, und Ugos Frau Lucia, die Dorflehrerin, ließ ihre Schüler heimatliche Lieder singen. An Ugos Paradeuniform glänzten die polierten Messingknöpfe, und seine frisch gewichsten Schnurrbartspitzen standen genauso senkrecht in die Höhe wie die neuen Telegrafenmasten. Sogar Fortunato Carbonari hatte ein sauberes Hemd angezogen und wartete geduldig auf das angekündigte Freibier.
Paolo Morelli hatte sich mit seiner Frau Francesca und seinem Sohn Dino bei den Herren von der Bauleitung und der Bezirksverwaltung platziert. Mit erhobenem Haupt, die Daumen in die Armlöcher der Weste eingehakt, zeigte er sich in Siegerpose. Seine Augen suchten in der Menge nach Anerkennung, blieben aber immer wieder an Anselma Longhi hängen, die mit ihrer Familie auf der anderen Seite der Straße stand. Als diese seinen hungrigen Blick auffing, hakte sie sich fest bei ihrem Mann Fabrio ein, zog Silvano an sich und wandte sich mit betonter Aufmerksamkeit dem festlichen Geschehen zu. ›Wann wird er endlich aufhören mir nachzustellen? Er muss doch irgendwann einsehen, dass ich für so etwas nicht zu haben bin‹, dachte sie. Paolo kannte diese Reaktion zur Genüge. Er drehte sich zu seinem Nebenmann und begann ein belangloses Gespräch, aber mit seinen Gedanken blieb er bei ihr.
Aus Rovereto und Trient waren hohe Herrschaften mit schwarzen Zylindern angereist, die Lobesreden auf Kaiser Franz Joseph hielten, und nachdem Hochwürden Fontana die neue Straße geweiht hatte, wurde sie unter Hochrufen feierlich ihrer Bestimmung übergeben. Jetzt begann der gemütliche Teil des Festes. Paolo hatte sich hierzu von Fabrio Sitzbänke auf die Ladefläche seines Lastautos zimmern lassen und veranstaltete Lustfahrten nach Folgaria und Piazza. Während sein Sohn Dino auf seinem Schoß saß und fleißig mit an dem großen Lenkrad zog, träumte Paolo davon, irgendwann einmal eine eigene Omnibuslinie nach Palera zu eröffnen.
Paolo Morelli hatte das Fest genossen, aber neidvolle Blicke und manche doppeldeutige Bemerkung hatten ihn nachdenklich gestimmt. Er beschloss noch vor dem nächsten Sonntag zur Beichte zu gehen.
Sanft setzte er seine Füße auf den Kies vor der Kirche, als hätte er Angst, entdeckt zu werden. Mehr als vor der Beichte graute ihm vor dem feuchten Geruch nach altem Holz und kaltem Weihrauch, der dem Beichtstuhl die beklemmende Atmosphäre eines Sarges gab. Innen erwartete ihn Hochwürden Fontana.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen«, sagte Paolo.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.«
»Amen.«
»Du hast Sorgen, Paolo. Erleichtere dein Herz, nur dann kann der Herr dir deine Sünden vergeben.«
»Ja, Hochwürden Fontana, wo soll ich anfangen? Es ist wegen der neue Straße. Alle haben gute Arbeit gehabt, und das Dorf wird viele Vorteile durch sie bekommen. Aber anstatt sich darüber zu freuen, tun sie so, als ob ich der Einzige wäre, der davon profitiert hat. Ich glaube, sie schneiden mich deswegen.«
»Sie sagen, du hättest auch einen Fahrer aus Palera für deinen Laster einstellen können.«
»Ja, Hochwürden.«
»Und die Steine hätten auch aus dem Steinbruch der Gemeinde verkauft werden können.«
»So ist es, Hochwürden.«
»Sie meinen, es sei ungerecht, dass du so große Vorteile hast, so viel größere als die anderen, die genau wie du ihre zehn Stunden am Tag auf der Baustelle gearbeitet haben.«
»Sehen Sie das etwa auch so, Hochwürden?«
»Es spielt keine Rolle, wie ich das sehe. Das Einzige, was zählt, ist, wie Gott es sieht.«
»Und, wie sieht er es?«
»Tue nicht nur Buße, tue Gutes.«
»Was zum Beispiel?«
»Die Kirchentreppe ist völlig schief geworden, das Taufbecken hält das Wasser nicht mehr und die Mauer des Friedhofs droht einzustürzen.«
Paolo dachte nach. Die Worte des Paters erschienen ihm weise.
»Bei näherem Nachdenken würde mir sicher noch mehr einfallen«, setzte Fontana nach.
»Danke, Hochwürden. Ich denke, ich habe die Botschaft verstanden«, erwiderte Paolo rasch, bevor Fontana seine Drohung wahrmachen konnte.
»Hast du noch mehr auf dem Herzen, Paolo?«
»Nein, Hochwürden, das war alles.«
»Wie geht es Francesca?«
»Wieso?«
»Ist sie glücklich?«
»Ist sie etwa hier gewesen?«, brauste Paolo auf.
»Ich will dir ersparen zu hören, was die Leute im Dorf hierzu erzählen, Paolo. Aber lass dir eines gesagt sein: Du wirst keinen einzigen ihrer blauen Flecken mit Kirchentreppen oder Friedhofsmauern gutmachen können, so viele Steine hat dein Steinbruch nicht.«
Paolo schaute auf den Boden des Beichtstuhls. Er fühlte sich elend und hilflos. Ja, Francesca brachte ihn mit ihrer Art immer wieder aus der Fassung: Wurde er laut, wurde sie leise und klein und behielt am Ende doch immer recht, begehrte er sie, ließ sie sich willen- und leidenschaftslos nehmen; er wusste sich dann einfach nicht mehr anders zu helfen. Aber wie sollte er das dem Pater erklären, dessen Haushälterin Sofia eine sanftmütige, unattraktive alte Frau war? Paolo beschloss, dass Reue und Zerknirschung jetzt besser angebracht seien und schwieg.
»Denk einmal darüber nach, Paolo. Schenk Francesca ab und zu ein Lächeln, das kann Wunder bewirken. Und denk nicht immerzu an Anselma.«
Paolo zuckte zusammen, ihre Blicke trafen sich trotz Dunkelheit und Gitterwand.
»Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme dich meiner, o Herr«, leitete Paolo das Ende der Beichte ein.
»Danke dem Herrn, denn er ist gütig.«
»Sein Erbarmen währt ewig.«
»Der Herr hat dir die Sünden vergeben, Paolo. Geh hin in Frieden.«
Als die Baustelle an der Straße geräumt war, übernahm Paolo von der Baufirma für geringes Geld noch einen alten Lastwagen, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte.
»Sag mal, Paolo, was willst du denn jetzt, wo die Straße fertig ist, mit einem zweiten Lastauto?«, stichelte Basil am gleichen Abend in der Gaststube.
Paolo setzte ein bedeutsames Gesicht auf. »Habt ihr nicht bemerkt, wie die Landvermesser durch den Gemeindewald unter der Martinella gezogen sind und rote Pflöcke eingeschlagen haben? Dort wird bald die nächste Straße gebaut.«
Paolo schaute in eisige Gesichter, im Albergo wurde es totenstill.
»Wozu soll man denn eine Straße auf die Martinella bauen? Etwa, um das Vieh dort hinaufzufahren?«, fragte Basil, um die Situation zu entspannen. Unter großem Gelächter und Schenkelklopfen versuchten sie sich vorzustellen, wie man Kühe in einem Lastauto auf die Almen fahren würde. Wozu hatten diese denn schließlich vier Beine?
Als wieder Stille eingekehrt war, hakte Basil nach: »Nun sag schon Paolo, wozu wird die Straße wirklich gebraucht?«
Paolo lehnte sich entspannt zurück, und um die Spannung auf die Spitze zu treiben, zählte er im Geiste langsam bis drei. »Um dort oben eine Festung zu bauen!«
Dieses Mal lachte niemand. Wozu sollte das gut sein? War Italien nicht ein Verbündeter Österreichs im Dreibund? Und was war überhaupt eine Festung? In Trient gab es einige, aber gesehen hatte sie eigentlich noch niemand. Die Absperrungen des Militärs ließen keine neugierigen Blicke zu, es gab nur Gerüchte über tiefe Gänge, dunkle und feuchte Kasematten und riesige Kanonen. Könnte man dabei etwa auch Geld verdienen? Und was wäre mit den Soldaten, die zu einer Festung gehörten? Wer sollte das sein, und wo sollten die wohnen? Es waren einfach zu viele Fragen, und man wollte die Antworten dieses Mal nicht von Paolo hören, der augenscheinlich nur darauf wartete, sein Ansehen mit der Preisgabe weiterer Geheimnisse ins Unermessliche zu steigern.
»Ach, übrigens, ist euch eigentlich aufgefallen, dass die Treppe der Kirche schon ganz schief geworden ist und die Friedhofsmauer bald umstürzen wird? Und das Taufbecken scheint mir auch nicht mehr dicht zu sein. Ich bräuchte noch jemanden, der mir helfen könnte, das wieder zu richten«, sagte Paolo in die Runde, und als von den überraschten Männern nicht gleich eine Antwort kam, setzte er mit sanfter Stimme nach: »Gegen gute Bezahlung natürlich.«
Als Ugo Zobele und Basil Perprunner die Gaststube des Albergo betraten, erwartete sie am Kopfende des langen Tischs ein Fremder. Er blätterte in einem Schreibheft und wirkte auf den ersten Blick wie ein Handlungsreisender, der sein Auftragsbuch ausfüllt. Er trug, was man ihm in Deutschland als alpenländische Kleidung verkauft hatte: eine feine Lodenjacke mit Hornknöpfen, eine lederne Kniebundhose und weiße Wollstutzen. Sein Italienisch war zu langsam und zu deutlich, sein Tonfall klang hart und unmelodisch. »Mein Name ist Gruber, Professor Gruber«, sprach er in die Runde. »Ich bin aus Berlin angereist, um hier an meinem Wörterbuch über alte Sprachen zu arbeiten. Ich habe gelesen, dass in Palera noch das altdeutsche Zimbrisch gesprochen wird. Vielleicht ist hier ja jemand, der mir in dieser Angelegenheit weiterhelfen kann.«
Vor hundert Jahren hätte er seine Studien hier noch ohne Probleme betreiben können, aber der italienische Einfluss aus dem Etschtal hatte auch vor Palera keinen Halt gemacht. Zimbrisch sprach man nur noch in den abgelegensten Dörfern der Hochebene, die im Winter wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten waren. Immerhin war der Auftritt des Professors eine willkommene Abwechslung, und so setzten sich immer mehr Männer zu ihm, um mit ihm bei einem Krug Teroldego Sprachkunde zu betreiben.
Was Gruber für Zimbrisch hielt, war noch schlechter zu verstehen als sein Italienisch. Umständlich und stockend versuchte er seine Kenntnisse und sein Anliegen anzupreisen.
»Kümmar biar de prechtest, un ich küdedar, fon bene lante tu pist« [Sag mir, wie du sprichst, und ich sag dir, aus welchem Land du bist], lachte Basil den Professor an und schlug sich vor Freude über seinen Scherz auf den Oberschenkel.
»Nicht so schnell, der Herr. Wie schreibt man ›kühetar‹?«, fragte Gruber und setzte den Stift an.
»Nicht ›kühetar‹. Kü-de-dar«, korrigierte Basil.
»Quatsch, du Bauer. Kütetar. Mit hartem t«, verbesserte ihn Ugo.
Die Männer warfen sich listige Blicke zu, zitierten immer weitere Sprichworte aus Palera, korrigierten Grubers holprige Aussprache durch übertriebene und widersprüchliche Betonungen und torpedierten seine Wortwahl durch falsche oder gar zotige Begriffe.
»Mit bassere fon ferne leschet sich net koán fóar!« [Mit Wasser aus der Ferne löscht man kein Feuer], rief Ugo und winkte Alberta Toller mit dem leeren Weinkrug.
Die Veranstaltung gipfelte schließlich in dem Streit der Einheimischen, ob mit »tunzan« nun eine Hure oder das männliche Geschlechtsteil gemeint sei. Gruber konnte sich augenscheinlich nicht entscheiden, was er hierzu in sein Heft schreiben sollte. Als sie sahen, wie der Teroldego seine Zunge zunehmend schwerer machte, prosteten sie ihm immer häufiger und auffordernder zu. Zur Sperrstunde trugen sie ihn und seine Hefte die Treppe hinauf in seine Stube.
»In narren und in kindern is net foroazen« [Narren und Kindern kann man nicht raten], schloss Ugo den abendlichen Sprachunterricht ab.
Gegen Mittag hatte Gruber seine Handlungsfähigkeit weitgehend wiedererlangt. Er hatte gehört, der Tagelöhner und Totengräber Fortunato Carbonari würde die alte Sprache noch am besten beherrschen. Die Carbonaris wohnten in einem kleinen Häuschen am Eingang des Dorfes. Eine Küche mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte, ein Schlafzimmer und ein Stall für die Ziege, mehr besaßen sie nicht. Als Gruber die verqualmte Küche betrat, begannen seine Augen sofort zu tränen.
»Machme nètt darzürnen! Ma mage nètt hèrta gaüln!« [Mach mich nicht wütend! Man kann nicht immer weinen!] Maria drohte dem kleinen Robert, der heulend auf dem Lehmboden saß, mit dem Zeigefinger. Sie war erkennbar schwanger und rührte in einem kupfernen Polentatopf herum, der über der Glut hing.
»Guten Morgen, mein Name ist Gruber.«
»Guatn mòrgan!«
»Was hat er denn, der Kleine?«
»’Z püable hatt gèzzt kartza vil båmbela« [Der Bub hat zu viele Bonbons gegessen], klang Fortunatos müde Stimme hinter der Feuerstelle hervor.
Gruber sah sich in der Stube um, aber nach Süßigkeiten oder sonstigen zivilisatorischen Annehmlichkeiten sah es hier nicht aus.
»Ah ja, ich verstehe. Man hat mir gesagt, dass Sie die alte Sprache der Hochebene noch gut sprechen. Darf ich Ihnen ein paar Fragen dazu stellen?«
Fortunato wurde hellwach. Wer etwas von ihm wollte, war bestimmt auch bereit, etwas dafür zu geben.
»Trinkhpar an pudl pråmpoi?« [Trinken wir ein Glas Schnaps?]
Fortunato kramte eine halb volle Flasche aus einer Kiste und winkte ihm freundlich damit zu. Angesichts seiner gestrigen Erfahrung mit der Trinkfestigkeit der Männer von Palera und seines dicken Kopfes zog Gruber es jedoch vor, den linguistisch verheißungsvollen Besuch abzubrechen. Er machte sich noch schnell ein paar Notizen in sein Heft, und bevor Fortunato noch zwei Gläser mit einem schmutzigen Handtuch ausreiben konnte, verabschiedete er sich und eilte davon.
Als Nächstes versuchte Gruber es in dem Haus, in dem die Gemeindekanzlei, die Poststation und die Dorfschule untergebracht waren. Hier hoffte er von der Lehrerin mehr über die Entwicklung der deutschen Sprache auf der Hochebene zu erfahren. Lucia Zobele wirkte von Weitem zierlich und harmlos, aber wer sie einmal erlebt hatte, wusste, dass sie klug und unbestechlich war. Sie kannte die Welt aus dem Lehrerseminar in Trient und Palera