ALABAMA
ALABAMA
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Peter Peschke
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Since I Laid My Burden Down bei Feminist Press, New York.
© 2017 by Brontez Purnell
1. Auflage
© 2019 Albino Verlag
Salzgeber Buchverlage GmbH
Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin
info@albino-verlag.de
Aus dem Amerikanischen von Peter Peschke
Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth
Satz: Robert Schulze
Umschlagabbildung: stocksy.com /
Addie Mannan Photography
Printed in Germany
ISBN 978-3-86300-289-3
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Hass ist ein starkes Wort. Aber manchmal ist es nicht stark genug. DeShawn hasste das.
Er wusste, was ihn zurück nach Alabama geführt hatte. Es war diese ganze Sauferei, es waren die Drogen und das Rumgeficke mit all diesen bescheuerten Männern, die nichts taugten. Der Grund für sein Hiersein war keine konkrete Katastrophe, sondern sein Scheitern insgesamt. Der Tod seines Onkels war nur der Auslöser.
Der Anruf war gekommen, als DeShawn im Bett lag, in Kalifornien: Dein Onkel ist tot. Der Satz schlug ihm in die Magengrube – und zwar heftig. Zwei Tage lang blieb er im Bett, dann stand er auf, packte, stieg in ein Flugzeug, landete in Nashville und fuhr von dort noch eine Stunde bis zur Kirche. Sie lag versteckt tief in den Wäldern, auf einem grasbewachsenen Hügel hinter den Baumwollfeldern. Am Fuß des Hügels verlief der Bach, in dem er beinahe dreißig Jahre zuvor getauft worden war. Er erinnerte sich an das kalte, schmutzige Wasser und den einbeinigen Priester, der ihn wie eine kleine Stoffpuppe untertauchte.
DeShawn warf einen kurzen Blick in die Kirche, in der er aufgewachsen war, und war schockiert, wie wenig sich verändert hatte. Vielleicht lief die Zeit hier sogar rückwärts. Er trat ein und einer der Kirchendiener reichte ihm einen Fächer; dieselbe Art von Fächer, die man ihm auch vor rund dreißig Jahren gereicht hatte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Auf dem hölzernen Griff prangte ein Bild von Martin Luther King Jr., Frederick Douglas oder Booker T. Washington. Er konnte nicht fassen, dass diese Fächer noch immer verwendet wurden. Sie waren eine rein symbolische Geste, da sie gegen die drückende Schwüle nichts ausrichten konnten. Außerdem hatte die Kirche eine Klimaanlage. In den späten Achtzigern, den Jahren seiner Kindheit, bevor es in der Kirche eine Kühlvorrichtung oder auch nur eine Lautsprecheranlage gab, hatten sie als Hilfsmittel gegen die subtropische Sommerhitze nur diese Fächer gehabt. Die Hitze war eine Plage. Als Kind hatte er in der ersten Reihe gesessen und beim Blick nach hinten in ein Meer von schwarzen Gesichtern inmitten heftig wedelnder Fächer geschaut.
Vor der Anschaffung der Lautsprecheranlage war die Grundvoraussetzung für die Aufnahme in den Kirchenchor nicht gewesen, dass jemand wirklich singen konnte, sondern dass die Stimme bis in die hinteren Reihen der Kirche trug. Deshalb hatte DeShawn bei vielen Liedern des Kinderchors die Hauptstimme gesungen. Er konnte ums Verrecken keinen Ton halten, aber seine Stimme trug. Das war eine Lektion, die DeShawn bald verinnerlicht hatte: Eine Stimme, die trug, war alles – egal, ob man sie tatsächlich oder auf dem Papier zum Einsatz brachte. Und Gleiches galt für den besonnenen Einsatz ihres göttlichen Gegenparts, des Schweigens.
DeShawn saß gut sechs Meter vom Leichnam seines Onkels entfernt und dachte darüber nach, dass Beisetzungen bei offenem Sarg eine elende Zumutung waren. Er hatte seiner Mutter gesagt, dass er eingeäschert werden wollte, sollte ihm irgendetwas zustoßen.
«Wohin soll deine Asche verstreut werden?», hatte seine Mutter gefragt.
«IN DIE AUGEN MEINER FEINDE!»
In seiner Familie schien krankhafte Hysterie erblich zu sein. Als er jung war, hatte DeShawn erlebt, wie sein Großvater und sein Onkel wie zwei Verrückte völlig aus dem Ruder liefen. Beide Männer waren häufig betrunken, voller Gefühle, ständig am Weinen, total überspannt und leicht erregbar. Er erinnerte sich, wie die beiden sich prügelten, weil sein Großvater nicht erlauben wollte, dass der Onkel ein kleines Hündchen bekam; sein Onkel war damals achtzehn. Die Hölle brach los, bald kämpften zwei Parteien gegeneinander, und es endete mit Faustkampf, blutiger Nase und gezogener Pistole. Manche Kinder waren für diese Hysterie empfänglicher als andere. DeShawn wuchs heran und fing sich den Familienvirus ein wie ein gottverdammter Hurensohn. Hier in der Kirche, mit seinem kleinen Neffen auf dem Schoß, fragte DeShawn sich, ob auch aus ihm solch ein armer Irrer werden würde. Er konnte nur abwarten. Er weinte und drückte das Baby fester an sich.
Onkel war ein verflucht schöner Mann gewesen, verdammt. Und supermännlich. Der kleine DeShawn hatte viel Zeit damit zugebracht, auf der Veranda zu sitzen und darauf zu warten, dass sein Onkel von der Highschool nach Hause kam. Er fuhr einen grünen 67er Dodge-Pickup. Als kleiner Junge war DeShawn ihm ins Badezimmer nachgeschlichen, um ihn nackt zu sehen. So sieht ein Mann aus. Und jetzt war Onkel wirklich tot, mit gerade mal vierzig Jahren. Er hatte Krebs gehabt seit er zweiunddreißig war, hatte sich aber geweigert, mit dem Rauchen aufzuhören. Es war ihm egal gewesen.
In Erwartung von Sister Pearl wurde die Gemeinde unruhig. Sister Pearl leitete seit ewig und drei Tagen den Kirchenchor. Sie behauptete oft, die Stimme verloren zu haben, weil sie für den Teufel gesungen hatte. Irgendwann in ihren Zwanzigern hatte sie beschlossen, wie Aretha Franklin den schmutzigen Blues zu singen. Sie hatte der Kirche den Rücken gekehrt und in den Clubs des Chitlin’ Circuits gesungen, in Chattanooga, Nashville und Louisville, bis rauf nach Chicago. Aber eines Tages, so sagte sie, hatte der Herr ihr die Stimme genommen, und da war sie dann zur Kirche zurückgekehrt. Selbst als kleiner Junge schon hatte DeShawn seine Singstimme nach dem Vorbild von Sister Pearl geformt. Ihre Stimme war nicht schön – sie war echt. Sie klang kratzig und abgeschlagen und pulsierte nur so vor Überzeugung, als wollte sie böse Geister vertreiben. DeShawn scherte sich nicht wirklich um ihre Teufelsgeschichte; wie jeder unverbesserliche verlorene Sohn fand er, dass das Durchbrennen mit dem Teufel hochgradig unterschätzt wurde. Sister Pearls Stimme erhob sich, und sie sang Since I Laid My Burden Down, dasselbe Lied, dass sie auch zu seiner Taufe im Alter von fünf Jahren gesungen hatte.
Als die Prozession Richtung Friedhof begann, wurde DeShawns Tante Margaret auf einmal vom Heiligen Geist heimgesucht – und das nicht zu knapp. Sie ließ sich zu Boden fallen und fing an zu schreien, sie umklammerte den Sarg und wollte ihn nicht wieder loslassen. Tantchen entzündete den Funken, und dann verlor jeder in der gottverdammten Kirche den Verstand; die reinste Symphonie aus Schreien und Gebrüll. Irgendwie schafften sie es zum Friedhof. DeShawn sah den Grabstein mit der Inschrift ‹JATIUS McCLANSY›. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn. Aber Jatius war eine Erinnerung, die er aufschieben musste. Er schaute weg, den Hügel hinab, auf den Bach. In diesem Moment sollte er sich besser an seine Taufe erinnern.
DeShawn wusste noch, wie er mit fünf Jahren auf den Stufen zur Kirche stand, in einem weißen Taufkittel und dazu passender Haube. All die Erwachsenen um ihn herum trugen ebenfalls Weiß. Großmutter küsste seinen Kopf, und dann zogen sie in einer Prozession den Hügel hinunter bis zum Bach. Zwei seiner Cousinen hielten ihn an den Händen, die Erwachsenen um ihn herum trugen die Kerzen und führten ihn hinunter zum Bach, während sein Onkel alle Schlangen und Schnappschildkröten verscheuchte, die noch irgendwo herumlungerten. Der Priester damals hatte wegen Diabetes ein Bein verloren und man musste ihm ins Wasser helfen. DeShawn erinnerte sich an das schwebende Gefühl, als man ihn zur Mitte des Baches brachte, wo seine Onkel, die Diakone der Kirche waren, und der einbeinige Priester auf ihn warteten. «Dieses Kind glaubt mit seinem Herzen und sein Mund hat davon gezeugt», sagte der Priester, als er DeShawns Gesicht bedeckte und ihn untertauchte; es war höllisch kalt. DeShawn stand da, den Kopf unter Wasser und in sich ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.
Am Ufer setzte Sister Pearl zu einem Lied an.
Burden down, Lord. Burden down.
People don’t treat me like they used to since I laid my burden down.
Every round goes higher and higher…
DeShawns kleine Seele ploppte wieder aus dem Wasser hervor, kalt und nass und nicht so neu, wie er es erwartet hatte.
Bevor DeShawn nach Alabama aufgebrochen war – und vor dem Tod seines Onkels –, waren andere gegangen. Arnold zum Beispiel war tot. So tot, tot, tot wie Latein. Er war mit der Titanic untergegangen. Hatte sich aus dem Staub gemacht. This monkey’s gone to heaven. Es schien, dass all die wilden Männer um ihn herum zu schnell starben, als dass er noch den Überblick behalten konnte. Arnold war nicht der erste gewesen, aber er war wichtig.
DeShawn hatte die Nachricht von Arnolds Tod morgens im Zug erhalten, auf dem Weg zu seinen Vorlesungen in Oakland. Daraufhin nahm er den nächsten Zug zurück nach Nirgendwo. Es gab keinen Ort, um den toten Jungen zu betrauern. Arnold hatte nirgends allzu lang gelebt, und er hatte so viel Scheiße gebaut, dass ihn keiner mehr so richtig liebte. Vielleicht warteten sie auch nur darauf, ihn wieder zu lieben, wenn er aus der Grube gestiegen war, die er sich selbst gegraben hatte. Als ob er plötzlich aus dem Nichts auftauchen würde, der Assistent eines Zauberers, ein Diadem auf dem Kopf und eine Schärpe um die Brust, auf der ‹Geheilt› stand oder so. Aber der tote Junge war gestorben, bevor er diesen Zaubertrick vollbringen konnte. Die Erinnerung an ihn war von der Sorte: den kannste vergessen. Er weinte drei Tage, dann kam ein Anruf. Arnolds letzter Mitbewohner bat ihn sehr freundlich, das Zimmer des toten Jungen zu entrümpeln. DeShawn sagte ja.
Das würde der letzte Gefallen sein, den er Arnold tat. Er hatte Arnold geliebt. Niemand hatte gewusst, dass sie es miteinander trieben. Von außen hatte es vermutlich wie eine lockere Freundschaft gewirkt. Abgefuckter Junge liebt noch abgefuckteren Jungen. Es war ein regnerischer Tag, und DeShawn kam mit Putzmitteln, um das Zimmer des toten Jungen zu putzen.
Er fand alte Klamotten, frische Nadeln, Crackpfeifen, Gedichtbände von Lorca und Bücher von Bukowski. Der tote Junge hatte sanfte Gesichtszüge und war sehr, sehr schön. Ein letztes Mal hatte er versucht, clean zu werden, er hatte es nicht geschafft und sich vor ein Auto geworfen.
DeShawns Gedanken wanderten in seine weitentfernte Jugend, zu einer toughen Lady mit hochtoupierter Dauerwelle, die ihre Meinung zum Selbstmord kundtat. Sie sog an der Zigarette und sagte: «Wenn du mutig genug bist, von einem Haus zu springen oder dir in den Kopf zu schießen, dann bist du MUTIG. GENUG. ZU. LEBEN.»
Er hatte das für die Wahrheit gehalten, weil es aus dem Mund einer Erwachsenen kam. Und er hatte daran geglaubt, bis zu dem Zeitpunkt, als jemand, den er kannte, sich vor ein Auto warf. Bevor er sich vor dieses Auto geworfen hatte, war Arnold kein mutiger Mensch gewesen. Er war erschöpft gewesen, und er hatte eine Entscheidung getroffen. DeShawn beugte sich über ein ungeöffnetes Puzzle. Er fragte sich, was Arnold gefühlt haben mochte, als das Auto ihn erfasste. Hatte er es bereut? DeShawn glaubte an Energien, und er glaubte an ein Jenseits. Er zündete Kerzen an, brachte den acht Ecken des Zimmers seine Ehrerbietung entgegen und betete – besser gesagt: hoffte –, dass der schöne, dahingeschiedene Junge in den guten Mächten ruhte. Er bat jedweden Gott, der ihm gerade zuhörte, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, und errichtete Arnolds Altar – eine weiße Kerze und ein Glas Wasser – am höchsten Punkt seines Zimmers.
Natürlich gab es in der Stadt Leute, die gerne redeten. Sie nannten den schönen toten Jungen einen Junkie und außerdem einen Dieb. Beides traf zu. «Er war ein geliebtes Kind Gottes», sagte Arnolds Mutter. Vielleicht traf auch das zu.
Neben den Leuten, die sich das Maul zerrissen, gab es noch die kriminell gesinnten, weitgehend harmlosen Jungs aus Arnolds und DeShawns engerem Freundeskreis. Es ist eine wunderbare Sache, sich mit Leuten zu umgeben, die zu viel zwielichtigen Mist abgezogen haben, um über andere zu urteilen. Die Art von Leuten, die man über den Tisch ziehen kann, solange klar ist, dass es nicht persönlich gemeint war. Wo immer Arnold auftauchte, verschwanden Dinge – Bargeld, Schallplatten, Briefmarkensammlungen. Natürlich gab es da böses Blut. Aber dann wiederum erkannte jeder, dass Arnold ein Bruder war, der schweres Leid trug. Das machte seine Vergehen nicht vergessen, aber sie konnten ihm vergeben werden. Irgendwo hatte Arnold Flügel.
Aber noch immer galt es, das Zimmer auszuräumen. DeShawn wusste, dass er das nicht mit einem Mal schaffen würde. Es würde Tage dauern, und das war in Ordnung. Er würde nie mehr im Handy das Lachen des toten Jungen hören. Arnold würde nicht mehr physisch präsent sein, am Fenster auf der Gitarre klimpern oder eine Zigarette rauchen, und auch nie mehr einfach nur nackt dastehen, mit der allerschönsten Erektion, die man sich nur vorstellen konnte. Arnolds rüder Abgang hatte ein schwarzes Loch hinterlassen, eine Abnutzung auf der Filmrolle. Diese Lücke erinnerte an die Macht der Zeit. Ein Chaos zu beseitigen braucht Zeit. DeShawn wusste, dass er die Rüstung innerer Distanz anlegen musste, wenn er das Zimmer des toten Jungen aufräumen wollte, richtig aufräumen. Distanz war eine wunderbare Sache. Nur mit Distanz konnte man es schaffen, andere nicht zu verurteilen. Er wollte nicht sagen, dass Arnold ein selbstsüchtiges Stück Scheiße war, weil er sich umgebracht hatte. Er wollte in dieser Angelegenheit Größe zeigen. Neutral und unvoreingenommen bleiben, das war seine Strategie, um weitermachen zu können, ein Mittel, um die dunkleren Gedanken in Zaum zu halten. Aber Menschen sind voreingenommen, sie fällen Urteile. Und zwar besonders gern.
DeShawn hatte zirka hundert tragische Hurensöhne geliebt, und Arnold stellte keine Ausnahme dar. Diese Art Mann zu lieben, hieß, auf Meinungen, Urteile oder Erwartungen zu verzichten. Es hieß, dass man Erfahrung brauchte, die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren. DeShawn verinnerlichte das Wesen all dieser Jungs, ihre Ängste, Hoffnungen und Fehler. Er studierte sie so eingehend, dass er sie nicht mehr sah; er sah nur noch sich selbst. Das war entweder eine wunderbare Erfahrung oder derselbe Fehler, den alle Empathen machten. Einen der tragischen Jungs zu verurteilen, die er liebte, würde heißen, sich selbst zu verurteilen. Er fand das jetzt schon kraftraubend, denn er wollte die Gefühle des toten Jungen spüren, das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte. Was hatte Arnold wirklich gefühlt, als er sich vor dieses Auto stellte? In der Sekunde, als er den Schritt machte, hatte er es da bereut? Oder war er erleichtert gewesen?
Leute neigen dazu, sich von ihren Erfahrungen leiten zu lassen. DeShawn selbst hatte nie über Selbstmord nachgedacht, aber er konnte die Genervtheit verstehen, dieses Gefühl, dass das Leben ewig und enorm ist, dass aber keiner weiß, was das alles soll. An diesen wirklich schwierigen Tagen fühlte DeShawn sich wie ein einzelnes Spermium, das im Arschloch irgendeines schwulen Typen herumschwamm und verzweifelt nach einem Ei suchte, das schlicht nicht da war. Aber Selbstmord? Niemals. Mord? Ja. Verdammte Scheiße, ja, dachte er. Die Vorstellung, irgendeine unverschämte Kackbratze kaltzumachen, die es nicht anders verdient hatte, war so orgastisch, dass er einen Ständer bekam. Aber das war natürlich nur ein Gedanke. Jemanden umzubringen kam ihm wie eine furchtbar komplizierte mathematische Gleichung vor. Es gab Zeitvariablen, X und Y, und wo würde man sich heutzutage einer Leiche entledigen? Ein Mörder musste autark sein und seine Spuren beseitigen. Ein Selbstmörder hinterließ eine Sauerei, um die sich irgendein anderer zu kümmern hatte. Er fragte sich, ob der Rettungssanitäter, der Arnolds Leiche von der Straße geputzt hatte, irgendetwas dabei gefühlt hatte oder ob ein Job für ihn einfach nur ein Job war. Es ist ganz bestimmt nie erfreulich, wenn man von montags bis freitags zerschmetterte Körper vor sich liegen hat, aber nach dem hundertsten Mal musste sich da doch etwas ändern. Für gewöhnlich schafft es jedes Trauma, sich abzukühlen, wenn nur genug Zeit vergeht.
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Unter einem Haufen leerer Farbtuben fand DeShawn Arnolds Nirvana-Shirt. Es stank barbarisch und weckte mehr Erinnerungen, als ihm lieb war. Abgesehen davon, dass das Arnolds Lieblingsband und eins seiner Lieblingsshirts gewesen waren, war dieses Stück Stoff auch noch mit historischem Ballast beladen. DeShawn erinnerte sich an den 4. April 1994. Er war in der sechsten Klasse. Der Frühling hatte noch nicht richtig begonnen. Er erinnerte sich an diesen kühlen, windigen Tag, daran, wie sehr er den Schulbus hasste, der ihn zu Hause absetzte. Er erinnerte sich, wie er MTV eingeschaltet und seinen verfickten Verstand verloren hatte. Kurt Loder sprach in die Kamera; Kurt Cobain hatte sich umgebracht. Sich direkt in den Kopf geschossen.
In der siebten Klasse schmiss DeShawn Sonntagsschule und Bibelstunde und begann mit der ersten Gruppe von Headbanger-Girls von seiner Schule abzuhängen: Margret Lopez, Amelia Andrews, R’ella Bollers und ein Mädchen, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Genau ein Jahr nach Kurts Tod hielt die Clique eine satanische Séance unter der Treppe zur Schauspielklasse – ein gründlich gescheiterter Versuch, den Geist von Kurt Cobain zu beschwören. DeShawn machte es nichts, dass die Séance nicht erfolgreich war, er war einfach nur froh, dass die Mädchen ihn dazu eingeladen hatten – quasi die offizielle Beglaubigung, dass er cool war. Sie trugen alle Schwarz, rauchten Gras, waren irgendwie schon sexuell aktiv (Margret hatte sich Gerüchten zufolge im vergangenen Sommer fingern lassen), und sie praktizierten Satanismus. Wie scheiße cool war das denn?
Es war eine ziemlich lausige Séance. Der Hexenzirkel hockte unter der Treppe so gut es ging im Kreis. Margret zündete eine schwarze Kerze an und legte ein Foto von Kurt auf den Boden. Alle (außer DeShawn) trugen schwarzen Lippenstift. Sie hielten sich an den Händen und glaubten gemeinsam.
Nach zwei Minuten wurde DeShawn klar, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, auf was für ein ‹Zeichen› sie warteten, um zu wissen, dass Cobain ihre Nachricht im Reich der Geister tatsächlich erreicht hatte. Er wusste nur, dass nach einer weiteren Minute des Glaubens die Schulglocke läutete. Sie würden zu spät zum Unterricht kommen und ganz sicher nachsitzen müssen.
Niedergeschlagen krochen sie unter der Treppe hervor. Warum hatte Kurt nicht geantwortet?
In allen Kleinstädten gibt es viel Gerede. Eine von DeShawns Cousinen, ein richtiges Miststück von einer Christin, haute ihn in die Pfanne und erzählte seiner Mutter, dass er mit weißen Mädchen rumhing, die Satan anbeteten. Seine Mutter, wie immer fuchsteufelswild, platzte noch am selben Abend mit einem Gürtel in der Hand in sein Zimmer und schrie mit Schaum vorm Mund: «BIST DU EIN HEAD-BANGER? WACKELST DU AN DER SCHULE DIE GANZE ZEIT MIT DEM KOPF?» Sie betonte das Wort ‹Headbanger› mit der beißenden Verachtung einer Frau, die ein Wort aussprach, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Sie versohlte ihm den Arsch, nahm ihm sämtliche Nirvana-Platten weg und verschwand, um die Nacht bei ihrem Freund zu verbringen.
Der kleine Held, der in DeShawn steckte, erhob sich nach dieser Tracht Prügel zornerfüllt, sein Körper mit roten Striemen überzogen. Er hatte Mühe, wieder zu Atem zu kommen. «MEINE MOM IST SOOOO EINE SCHLAMPE!» Mit diesem einen Satz begann für ihn ein neues Leben. Erst viel später verstand er, dass er eine Erleuchtung gehabt hatte: Er mochte Nirvana nicht deshalb, weil er kapiert hatte, wovon zur Hölle Kurt da sprach. Er mochte Nirvana, weil sein Miststück von einer Mutter deswegen sauer war. Hölle. Hölle. Rock’n’Roll. Die Musik des Teufels erfüllte nach wie vor ihren Zweck, junge Menschen aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Die Nacht, in der ihm seine Mutter den Arsch versohlt hatte, klang in ihm nach und wies ihm seine Aufgabe, seine Gemeinschaft, seine Bestimmung.