Aus dem Chinesischen,
mit einem Vorwort und
Anmerkungen von
Richard von Schirach
AUFZEICHNUNGEN AUS EINEM FLÜCHTIGEN LEBEN
I. DIE FREUDEN DER BRAUTKAMMER
II. DIE KLEINEN FREUDEN DES LEBENS
III. WEHMUT
IV. VON DEN FREUDEN DES UMHERSTREIFENS
Anmerkungen des Übersetzers
Die Fee unter dem Lotusblatt
1877 zog ein gewisser Yang Yinchuan in Suzhou bei einem Straßenhändler, der in einem wenig frequentierten sogenannten »kalten« Bücherstand auf Kundschaft wartete, ein handgeschriebenes Buch ans Licht. Es hieß Sechs Kapitel aus einem flüchtigen Leben. Geschrieben hatte es ein gewisser Shen Fu, ein verarmter Literat, Maler sowie leidenschaftlicher Garten- und Blumenliebhaber, der 1763 in Yuanhe, nahe Suzhou, in der Provinz Jiangsu geboren wurde. Der literarisch versierte Entdecker erkannte sofort die Qualität dieses Buches. Mit einer Ausnahme hatte bis zu diesem Zeitpunkt offenbar noch niemand von dem Buch und seinem Verfasser gehört. Als der glückliche Finder das handgeschriebene Werk seinem Schwager Wang Tao (1828–1887), dem renommierter Literaturwissenschaftler und Herausgeber einer Shanghaier Zeitung, übermittelte, erinnerte sich dieser daran, es Jahrzehnte zuvor gelesen zu haben. Unglücklicherweise habe er damals aber keine Abschrift davon angefertigt. Offensichtlich war eben dieses verschollene einzige Exemplar nach vielen Jahren wiederaufgetaucht. Dann ging alles sehr schnell. Wang Tao, einer der Begründer des modernen Journalismus in China, sorgte dafür, dass die »Aufzeichnungen« noch im selben Jahr in Shanghai gedruckt wurden. Für die chinesische Literatur war es ein Fund mit weitreichenden Folgen.
Durch die Druckvorlage war der Weg frei für eine größere Verbreitung in einem Land, das keinen Begriff von »Copyright« hatte. Viele Verlage nutzten die Vorlage und brachten eigene Ausgaben heraus. Die erstaunliche, bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte dieses Buches war allerdings nicht vorherzusehen. Heute weist die Suchmaschine Baidu einhundertzweiundzwanzig Verlagsversionen nach. Alleine in Taiwan erschienen 2017 zwei neue Nachdrucke. Der Autor hatte das Werk vermutlich 1808 mit sechsundvierzig Jahren verfasst. Fast alles, was wir über ihn wissen, hat er uns selbst erzählt. Wann und wo er gestorben ist, lässt sich nur vermuten. Zeitgenössische Quellen haben von ihm keine Notiz genommen. Historische Aufzeichnungen weisen darauf hin, dass der Autor die heutige japanische Insel Okinawa wahrscheinlich 1807 besucht hat, möglicherweise als Mitglied einer offiziellen chinesischen Delegation. Im vierten »Reisekapitel« findet sich dazu jedoch nichts.
Es war ein von Misserfolgen und Brüchen gezeichnetes Leben – selbst das Buch ist nur ein Torso, denn von den ursprünglich sechs Kapiteln sind nur noch vier erhalten. Von den verlorenen Kapiteln fünf, »Leben in Zhongshan« (gemeint sind die Ryūkyū-Inseln, das heutige Okinawa), und sechs, »Vom richtigen Leben mithilfe des Dao«, kennen wir lediglich die Überschriften. Möglicherweise sind diese Kapitel auch nie geschrieben worden, und es handelt sich um bloße Absichtserklärungen, denn schon in der Urfassung waren sie nicht enthalten gewesen.
1924 hatte sich der bekannte Literaturhistoriker Yu Pingbo (1900–1990) erstmals in verschiedenen Artikeln für das Werk eingesetzt. Yu war außerdem Essayist, Kritiker und Komponist und hatte als Lyriker bahnbrechende Gedichte in der chinesischen Umgangssprache geschrieben. Politisch stand er der demokratisch-freiheitlichen (Studenten-)»Bewegung des 4. Mai« von 1919 nahe. Mit einer Gruppe gleichgesinnter Intellektueller hatte er sich in der »Neuen Kulturbewegung« für eine zeitgenössische chinesische Umgangssprache eingesetzt. 1924 brachte er in Beijing erstmals eine interpunktierte Ausgabe der »Aufzeichnungen« heraus, die maßgeblich für alle weiteren Fassungen wurde.
Vielleicht noch entscheidender trug die Stimme Lin Yutangs dazu bei, keinen Zweifel mehr am Rang der »Aufzeichnungen« zu lassen. Der auch in Europa und Amerika mit seinen Büchern über chinesisches Leben und Denken namhafte Gelehrte und Literaturkenner – der in Leipzig promoviert hatte – zollte dem Buch höchstes Lob. 1931 übersetzte er als Erster die »Aufzeichnungen« mit dem Titel Six Chapters of a Floating Life ins Englische.
Mit großem Getöse erschien 1935 überraschenderweise eine Ausgabe mit den beiden fehlenden Kapiteln. Schnell erwies sich allerdings, dass die ergänzten Texte aus anderen Büchern abgeschrieben oder pure Erfindungen waren. Doch wie erklärt sich der enorme Erfolg der »Aufzeichnungen«? Zunächst verfügt der Autor über eine klare und einfache Sprache. Sie war auch für Nichtliteraten zugänglich und entsprach weitgehend dem, was man sich in China von einer Sprachreform erhoffte.
Der Freimut indessen, mit dem Shen Fu über sich und seine Familie spricht, brach alle Tabus und brachte einen völlig neuen Ton in die chinesische Literatur. »Unerhört« war es auch, dass ein Mann in aller Offenheit und dazu noch mit großer Zartheit über die lesbische Liebe seiner Gattin zu einer blutjungen Frau spricht. Und wer konnte sich nicht mit dem Autor, dem so vieles in seinem Leben missraten ist, identifizieren? Welche Leserin sah in Chen Yun kein Vorbild?
Nicht zuletzt ist der Autor ein origineller und witziger Erzähler, der den Leser nicht mehr loslässt. Nie zuvor wurde in der chinesischen Literatur ein Liebespaar geschildert, das vom Wesen und Charakter her so grundverschieden ist und damit umso reizvoller auf uns wirkt. Es scheint, als hätten die Leser nur auf diese autobiographischen Einblicke gewartet. Schon bald war der Verfasser aus der chinesischen Literatur nicht mehr wegzudenken. Literarhistorisch werden die »Aufzeichnungen« heute als die klassische Autobiographie in der Übergangszeit zwischen der traditionellen Literatur und dem Aufbruch in die Moderne gewürdigt.
Für den Prager Sinologen Jaroslav Průšek, der die »Aufzeichnungen« 1944 erstmals ins Tschechische übersetzt hat, haben nicht nur die »Originalität« und der »moderne Charakter« das Werk populär gemacht. Es sei zweifelsohne auch das literarisch »interessanteste Dokument« dieser Epoche, da sich in ihm bereits Qualitäten wie »Subjektivismus, Individualismus, Missachtung traditioneller Fesseln und Denkvorstellungen« finden lassen. Und erstmals sei hier das »Bewusstsein der Tragödie des Lebens« zur Sprache gebracht worden.
Der Autor mit dem persönlichen Namen Fu stammt aus der Familie Shen und wird daher Shen Fu genannt. Mit sechzehn Jahren scheitert er an einer der regelmäßigen regionalen Staatsprüfungen, die ihm den Aufstieg in die höhere Laufbahn eines kaiserlichen Beamten ermöglicht hätte. Einen zweiten Versuch unternimmt er mit neunzehn Jahren. Als er wieder nicht besteht, sieht er von weiteren Anstrengungen ab.
Zum Glück, können wir als Leser nur sagen! Die Bibliotheken waren damals voll mit den blutleeren Schriften hochgebildeter Literaten, denen jahrelange Exerzitien zur Vorbereitung auf die »Prüfungshölle« jede Kreativität ausgetrieben hatten.
»Leider muss ich gestehen«, sagt Shen Fu dazu einmal rückblickend, »meine Ausbildung in der Jugend vernachlässigt zu haben. So ist die Sprache, über die ich verfüge, nur einfach, aber ich werde versuchen, damit die wahren Tatsachen und wirklichen Umstände wiederzugeben.« Offenbar ist er sich nicht im Geringsten darüber klar, welchen Beitrag er mit seinen Erinnerungen für die Literatur leistet. Shen Fu hinterlässt uns eine bestechend lebensnahe Schilderung der Qing-Zeit in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, eine historische Quelle ersten Ranges, und verwebt sie mit seiner eigenen, bittersüßen Liebesgeschichte.
Im Alter erscheint ihm sein Leben als das eines Menschen, der sich treiben ließ und abdriftete. Arglos und naiv hat er als Träumer und Streuner oft das Nachsehen. Nichts will ihm gelingen, und am Ende wird er auch noch von seinem jüngeren, abgefeimten Bruder um das väterliche Erbe geprellt. Er ist der anziehendste Loser der chinesischen Literatur. Angespannt und besorgt verfolgen wir, wie es mit ihm stetig bergab geht. Er rührt uns in seiner Hilflosigkeit, gleichzeitig beginnen wir ihn zu beneiden um seine Liebe zum Leben und sein frohgemutes Wesen. Shen Fu ist kein tiefschürfender Philosoph, auch seine Sprache ist einfach und anspruchslos, aber unversehens erteilt er uns eine Lektion darüber, mit welcher Haltung wir das Leben ergreifen sollten. Das Verlangen nach einer ehrenvollen Stellung in der patriarchalischen, strikt hierarchisch organisierten Gesellschaft hat er schon früh abgelegt. Dazu kommen ein passives Naturell und der mangelnde Ehrgeiz eines Tagträumers, die ihn gleichmütig hinnehmen lassen, was ihm widerfährt.
Darin bestärkt ihn auch das daoistische Lebensgefühl, das geprägt ist von der angenommenen Hinfälligkeit und Flüchtigkeit des Daseins und seiner Erscheinungen. Gleich zu Beginn zitiert er einen berühmten Vers des Dichters Su Dongpo (1037–1101), wonach das Leben zerstiebt wie ein Frühlingstraum, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dieses Gefühl, nichts festhalten zu können, führt zur Empfindung eines traumhaften Zerfließens des Lebens. Diesem melancholischen Lebensgefühl begegnen wir immer wieder in der Literatur Asiens. Der 1954 in Japan geborene britische Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro beschrieb 1986 die ephemere Natur der flüchtigen, »fließenden« Welt in seinem zweiten Roman, An Artist of the Floating World.
In dem Begriff fou, den Shen Fu zur Charakterisierung seines Lebens verwendet hat, schwingt dieses Gefühl mit. So bezeichnet der daoistische Philosoph Zhuangzi (ca. 365 v. Chr.– 290 n. Chr.) damit die Art und Weise, wie ein Schiff, das sich von der Vertäuung gelöst hat, ziellos auf dem Wasser dahintreibt. Das Reisen wird zum Ausdruck seines Lebensgefühls, das keine Fessel erträgt. Dieser Reisende ist ein Lebenskünstler, der weiß, dass der Reiz des Reisens darin besteht, nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Es sind Fluchten vor der Welt in phantastische Abenteuer. Aber viele der kleineren und größeren Fluchten Shen Fus haben etwas Unfertiges. Und am Ende bleibt ihm ein lang herbeiersehntes Erlebnis versagt.
Shen Fu wirkt wie ein krummer Nagel, der sich nicht einfach ins Holz schlagen lässt. Bei alledem ist er neugierig, humorbegabt und widerborstig gegenüber den Zumutungen einer bürgerlichen Existenz. Er ist offen für die Welt und voller Hingabe an ein ungezwungenes, ungebändigtes Leben. Er entflieht der Bürgerlichkeit, weil er seine Träume braucht und sich nur spielerisch verwirklichen kann. Daraus entspringen sein Freiheitssinn, sein Drang zum Herumstreunen, seine heitere Gelassenheit, ja Sorglosigkeit. Sie ermöglichen es ihm, Natur und Leben zu genießen. Auf seine Weise ist er ein Vorkämpfer für persönliche Freiheit und menschliche Würde.
Shen Fu hatte Chen Yun, die zehn Monate ältere Tochter seines Onkels mütterlicherseits, näher kennengelernt, als er dreizehn Jahre alt war. Als er sie zum ersten Mal bewusst wahrnimmt, ist es um ihn geschehen.
»Sie war von schlanker Gestalt, hatte schmale Schultern und einen ziemlich langen, mageren Hals, und aus ihren Augen unter den geschwungenen Brauen blitzte ein wacher Geist. Der einzige kleine Makel waren die beiden leicht vorstehenden oberen Schneidezähne, was als kein günstiges Vorzeichen gilt. Aber sie hatte eine Art seidener Anmut, die mich gänzlich in ihren Bann zog.«
Die Ehe mit Chen Yun erscheint als Beginn eines verheißungsvollen Lebensglücks. Yun, die sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, ist originell, schlagfertig, handwerklich geschickt und auf höchst anregende Weise kapriziös. Schon sehr früh sorgte sie für ihre verwitwete Mutter. Selbst das Schulgeld für ihren jüngeren Bruder musste sie durch ihre Arbeit aufbringen, denn außer »vier kahlen Wänden« besaßen sie nichts.
Mit einfachsten Mitteln versteht Chen Yun es, zu Hause eine stimmungsvolle Atmosphäre zu schaffen. Das junge Paar teilt die Liebe zur Literatur und zum Theater, man erprobt außergewöhnliche Gerichte, erfindet Spiele, schätzt bizarre Felsformationen und die Gesellschaft ehrwürdiger Baumpersönlichkeiten, zieht Zwergbäumchen, übt sich in der Kunst, Blumen zu arrangieren, und pflegt Freundschaften. Die unternehmungslustige Chen Yun begleitet Shen Fu gerne in Männerkleidern zu Veranstaltungen, zu denen Frauen nicht zugelassen sind.
Shen Fu und Chen Yun haben eine Begabung zum Glücklichsein und sind erfüllt von einer aus dem Herzen kommenden Fröhlichkeit. Anders als im Westen, wo das Glück eher im Denken gesucht wird, verströmen hier sinnliche Genüsse Glücksempfinden und Wohlbehagen. Einen köstlichen Nachmittag lang untätig im Gras zu liegen und den vorbeiziehenden Wolken nachzusehen, bedächtig einen Pfirsich zu schälen oder eine Melone aufzuschneiden, alles zurückzulassen und die Zeit zu vergessen – selten wird uns ein einfaches, bescheidenes Leben so verlockend vor Augen gestellt. Alles wird Anlass zu feiern. Sie sind arm, aber reich an Geschmack, Kultur, jugendlichem Liebreiz, Heiterkeit, Witz und sprühendem Geist, den sie verschwenderisch verschenken, ohne etwas dafür zu erwarten.
Etliche glückliche Jahre sind ihnen gegönnt. Doch der Moment kommt, da eine Katastrophe sie einholt, die Chen Yun das Herz bricht und die Idylle zerstört. Es kommt ihr in den Sinn, eine Konkubine für ihren Mann zu suchen, da alle seine Freunde oder Bekannten sich schon längst so eine junge Nebenfrau zugelegt haben. Arme Mütter, die froh waren, ihre geringgeachteten Töchter loswerden zu können, verkauften diese für wenig Geld oft an Prostituierte, welche diese sorgsam aufzogen und zu Konkubinen ausbildeten. Mit 16 wurden diese Mädchen dann von ihren neuen »Müttern« an ausgewählte, gut betuchte Interessenten verkauft. Der Erlös diente den alternden Prostituierten als Altersvorsorge. Etliche Konkubinen haben an Kaiserhöfen größte Karrieren gemacht. Nach der Entrichtung des Kaufpreises verlieren die Töchter sämtliche Rechte. Sie werden Eigentum des Käufers und sind auf Gedeih und Verderb dessen Launen oder denen seiner Ehefrau ausgeliefert. Diese Praxis ist in der Zeit Shen Fus so gang und gäbe, dass man kein Aufhebens davon macht; auch sein Vater, ein cholerischer Haustyrann, hat sich kurz zuvor eine Konkubine angeschafft.
Als Chen Yun die noch nicht einmal sechzehn Jahre alte Hanyuan kennenlernt, verfällt sie dem bestrickenden Zauber dieses jungen, gebildeten Mädchens mit den durchdringenden, klaren Augen, »die einen frösteln machen können«. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte, bei der es um Leben und Tod geht. Die eigenwillige Yun erregt mit ihrer unverhohlen heftigen Liebe zu der jungen Hanyuan Anstoß. Chen Yun wird Opfer einer Familienintrige, und der ehrwürdige Herr Jiafu jagt das Paar mit harten Worten aus dem Elternhaus. Ein unaufhaltsamer Abstieg nimmt seinen Lauf.
Das dritte Kapitel, der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Buches, beschreibt, wie Chen Yun buchstäblich an Elend und Kummer zugrunde geht. Yun befindet sich im letzten Stadium einer Lungenschwindsucht, und wir spüren bald, dass sie ihr ärmliches Lager in der Fremde wohl nicht mehr verlassen wird. Shen Fu hadert mit sich, da er nicht einmal die kleinste Kupfermünze für Medizin, geschweige denn für einen Arzt hat. Die vergeblichen Hilferufe im Schatten der Krankheit einer totgeweihten Geliebten kommen uns bekannt vor. Hat nicht auch Rodolfo sie am Sterbebett seiner Mimi ausgestoßen? Sie klingen jedem Opernliebhaber im Ohr, der einmal Puccinis La Bohème gehört hat. Rodolfo zählt wie Shen Fu zur Brüderschaft der Bohemiens, jenen prekären künstlerischen Existenzen am Rande der Gesellschaft, welche die Geldnot wie ein rotes Band verbindet. Bei Shen Fu wird aber nicht das »eiskalte Händchen« der Geliebten besungen, sondern der Übergang seiner großen Liebe in die daoistische Anderwelt geschildert. Er versteht es, die Schritte dieses intimen Rituals mit einer Magie zu verweben, die uns auf einmal das Gefühl gibt, in einem Tagebuch zu lesen, das zu öffnen uns gar nicht zustand.
Chen Yuns Gestalt wirkt nach der Lektüre noch lange nach. Sie ist es, die Shen Fus »Aufzeichnungen« die Seele einhaucht. Ihr natürlicher Liebreiz, ihre Kühnheit, Leidenschaft und Widersprüchlichkeit überstrahlen das Werk und machen sie allen Lesern unvergesslich. Für Lin Yutang und Generationen von chinesischen Leserinnen, die in Chen Yun ihr Vorbild gesehen haben, ist Chen Yun die liebreizendste und schönste Frauengestalt der Literatur Chinas. Zweifellos ist sie eine der berühmtesten – Dutzende Male wurde die bittersüße Liebesgeschichte in Fernsehserien nacherzählt.
Während der Kulturrevolution wurde die Verbreitung der »Aufzeichnungen« unterbunden. Menschen wie Shen Fu, verträumte, eigenwillige und noch dazu humorvolle Geschöpfe, die sich nicht vereinnahmen ließen, eigneten sich nicht als Vorbilder für Klassenkampf und -hass.
Rainer Schwarz, dem eine sehr kundige wissenschaftliche Bearbeitung und Übersetzung der »Aufzeichnungen« zu danken ist, weist dazu auf eine Verlautbarung der Herausgeber des Pekinger Verlags hin, die 1980 eine limitierte Ausgabe für einschlägige Dienststellen veröffentlichten. Darin wird behauptet, das Buch zeige allzu freizügig, dass »durch die Beschränktheit des Zeitalters [der Qing-Zeit] auch einige ungesunde Neigungen vorhanden seien. Es solle aber den Mitarbeitern der Forschung als Referenzquelle dienen«. Das lustige Geplänkel mit der trinkfesten Schiffertochter wurde offenbar als zu bedrohlich für die Moral der Befreiungsarmee empfunden.
Heute sind immerhin Teile der ersten beiden Kapitel – wie in Taiwan schon seit Langem – Schullektüre. Shen Fus Elternhaus wurde aufwendig restauriert und dient inzwischen als Museum, das dazu einlädt, sich noch einmal in die verschwundene Welt hineinzuversetzen, in der die beiden Liebenden aufgewachsen sind.
Richard von Schirach
Im Jahre 1763, zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Qianlong, kam ich im siebenundzwanzigsten Jahr seiner Regierung am zweiundzwanzigsten Tag des elften Mondes zur Welt. Damals herrschte tiefer Friede, und überdies wurde ich in eine Gelehrtenfamilie hineingeboren, die in der Nähe des Blauwellen-Pavillons* in Suzhou lebte. Su Dongpo sagte einst:
Das Leben zerstiebt wie ein Frühlingstraum,
ohne eine Spur zu hinterlassen.
Der Himmel meinte es gut mit mir, und ich würde mich undankbar erweisen, wenn ich nicht versuchte, mein Leben mit Pinsel und Tusche aufzuzeichnen.
Da das erste Kapitel des Buchs der Lieder mit einem Gedicht über die eheliche Liebe zwischen Mann und Frau anfängt, gedenke auch ich, damit zu beginnen und dann andere Ereignisse folgen zu lassen.
Leider muss ich gestehen, meine Ausbildung in der Jugend vernachlässigt zu haben. So ist die Sprache, über die ich verfüge, nur einfach, aber ich werde versuchen, damit die wahren Tatsachen und wirklichen Umstände wiederzugeben. Wer nicht davon lassen kann, meine Sprache auf Fehler zu durchsuchen, dem wird es wie jemandem ergehen, der erwartet, in einem blinden Spiegel etwas Glänzendes zu erblicken.
Als Kind war ich mit einem Fräulein Yu aus Jinsha verlobt gewesen, die starb jedoch mit acht Jahren, und ich heiratete ein Mädchen aus dem Chen Clan. Sie hieß Yun, und ihr literarischer Name lautete Shuzhen. Sie war die Tochter meines Onkels Xinyu mütterlicherseits. Schon von klein auf war sie besonders aufgeweckt. Als sie, kaum dass sie sprechen konnte, die Mandolinen-Ballade (Pipa xing) hörte, konnte sie das Stück auf Anhieb fast vollständig nachsprechen. Als sie vier Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Mutter, die aus dem Jin Clan stammte, und ihr jüngerer Bruder Kechang waren völlig verarmt und besaßen nichts außer vier kahlen Wänden.
Als Yun älter wurde, war sie sehr geschickt mit Näharbeiten und musste mit ihren zehn Fingern drei Mäuler stopfen; darüber hinaus schaffte sie es auch noch, das Unterrichtsgeld für ihren jüngeren Bruder aufzubringen.
Eines Tages fand sie in der Bücherschachtel ihres Bruders eine Abschrift der Mandolinen-Ballade und brachte sich mithilfe der Worte, die sie schon auswendig kannte, ein Schriftzeichen nach dem anderen bei. In den freien Stunden, die ihr blieben, lernte sie nach und nach zu dichten. In einem ihrer Gedichte stehen die Verse:
Der Herbst lässt deinen Schatten schmäler werden, aber im Frosthauch gedeiht die Chrysantheme zu voller Blüte.
Als ich dreizehn Jahre alt war, begleitete ich meine Mutter in ihr Elternhaus und sah dort meine Cousine zum ersten Mal. Da Yun und ich in kindlicher Unschuld miteinander umgingen, ließ sie mich sehen, was sie verfasst hatte. Wiewohl ich über ihr Talent vor Bewunderung aufstöhnen musste, befürchtete ich doch insgeheim, dass ihr im Leben nicht allzu viel Glück beschieden sein könnte. Aber in Gedanken kam ich nicht von ihr los und sagte meiner Mutter:
»Und selbst wenn Ihr eine Frau für mich aussucht, so werde ich keine andere heiraten als Schwester Shu.«
Auch meine Mutter schätzte ihre Anmut und streifte, ohne Zeit zu verlieren, ihren Goldring vom Finger, um ihn Yun zum Zeichen dafür zu geben, dass wir verlobt seien. Das geschah am sechzehnten Tag des siebten Mondes im zweiunddreißigsten Jahr des Sechzigerzyklus der Ära Qianlong [1775].
In diesem Winter stand gerade eine von Yuns Cousinen vor ihrer Verheiratung, und ich begleitete meine Mutter erneut zu ihrem Elternhaus. Yun war im gleichen Jahr wie ich geboren, nur zehn Monate früher, und da wir uns schon von klein auf mit »Jüngerer Bruder« und »Ältere Schwester« angesprochen hatten, behielt ich die Anrede »Schwester Shu« selbst nach unserer Verlobung bei.
In der Halle waren lauter helle, farbenfrohe Kleider zu sehen, nur Yun trug einfache, unaufdringliche Farben, dazu neue Schuhe. Mir fiel auf, dass diese überaus fein bestickt waren, und ich nahm an, dass sie sie selbst angefertigt hatte. Da wurde mir klar, dass sich ihre Talente nicht nur auf Pinsel und Tusche beschränkten. Sie war von schlanker Gestalt, hatte schmale Schultern, einen langen Hals, und aus ihren Augen unter den geschwungenen Brauen blitzte ein wacher Geist. Der einzige kleine Makel waren siehe Vorwort Schneidezähne, was als kein günstiges Vorzeichen gilt. Aber sie hatte eine Art seidener Anmut, die mich gänzlich in ihren Bann zog.
Ich bat sie, mir zu zeigen, was sie geschrieben hatte, und stellte mit Bedauern fest, dass oft nur der Anfangsvers dastand und auch die meisten der aus drei, vier Zeilen bestehenden Gedichte unvollendet geblieben waren. Nach dem Grund gefragt, antwortete sie:
»Niemand hat mir das Komponieren von Gedichten beigebracht. Ich wünsche mir einen Freund und Lehrer, der mir helfen würde, mein Geschreibsel nachsichtig und liebevoll zu glätten.«
Nur so zum Spaß schrieb ich mit dem Pinsel die Schriftzeichen aufs Titelblatt: Erlesene Verse zur Aufbewahrung in einem bestickten Beutel, ohne zu ahnen, dass sich hierin bereits eine Anspielung auf ihren frühzeitigen Tod verbarg.*
Als ich an diesem Abend von außerhalb der Stadt, wohin ich der Braut das Geleit ins Haus des Bräutigams gegeben hatte, ins Elternhaus meiner Mutter zurückkehrte, war es bereits Mitternacht, und mich plagte ein mächtiger Hunger. Eine Dienerin brachte mir getrocknete Datteln, die mir aber zu süß waren. Heimlich zog mich Yun am Ärmel in ihre Kammer, und ich sah, dass sie dort eine Schüssel mit Reisbrei und verschiedene kleine Gerichte auf die Seite geschafft hatte. Voller Freude griff ich nach den Essstäbchen und wollte mich mit großem Appetit über die Speisen hermachen, als ich plötzlich Yuns Cousin Yuheng laut ausrufen hörte:
»Schwester Shu, komm schnell!«
Yun schloss geschwind die Tür und rief zurück:
»Ich bin müde und will gerade zu Bett gehen.«
Da zwängte sich Yuheng schon mit Gewalt durch die Tür, und als er sah, dass ich mich anschickte, den Reisbrei zu essen, maulte er mit einem schiefen Lächeln zu Yun:
»So steht es also! Als ich vorhin etwas Reis haben wollte, sagtest du, dass keiner mehr übrig sei. Du hast ihn aber beiseitegeschafft, um ihn deinem Gemahl zu geben!«
Alle, auch der einfachste Diener, machten sich nun über sie lustig, und Yun wusste nicht wohin vor Verlegenheit; das versetzte auch mich nicht gerade in beste Stimmung, sodass ich einen alten Diener drängte, vorzeitig nach Hause aufzubrechen.
Seit dieser Reisgeschichte ging mir Yun jedes Mal aus dem Weg, wenn ich ihr Zuhause besuchte, aber ich wusste, dass sie das nur tat, um nicht wieder zum Gespött zu werden.
Fünf Jahre später, an unserem Hochzeitstag, dem Zweiundzwanzigsten des ersten Mondes im vierundvierzigsten Jahr der Regierung des Kaisers Qianlong [1780], sah ich im Schein der Hochzeitskerzen, dass sie ihre schlanke Gestalt behalten hatte. Als ich ihr den Brautschleier abnahm, lächelten wir uns an. Nachdem wir die traditionellen, für Braut und Bräutigam bestimmten Zwillingsschalen mit Wein getrunken hatten und uns zum Nachtmahl nebeneinander niedersetzten, hielt ich unter dem Tisch verstohlen ihre Hand. Sie fühlte sich warm, klein und geschmeidig an, und mein Herz begann laut zu pochen.
Ich ermunterte sie zu essen, aber sie hielt gerade ihre Fastenzeit ein. Ich erfuhr, dass sie schon seit einigen Jahren vegetarisch lebte. Ich rechnete nach und fand heraus, dass sie mit dem Fasten genau dann angefangen hatte, als meine Pocken ausgebrochen waren, und sagte scherzend zu ihr:
»Könnte meine ältere Schwester nicht jetzt auch ihre Fastenzeit beenden, nachdem bei mir keine Pockennarben zurückgeblieben sind und mein Gesicht wieder glatt und rein ist?« Yun lächelte mir zu und nickte.
Da meine leibliche ältere Schwester zwei Tage später, am Vierundzwanzigsten, heiraten sollte und für den Dreiundzwanzigsten ein Tag der nationalen Trauer festgesetzt war, an dem keine Musikaufführungen stattfinden durften, war für sie am Zweiundzwanzigsten, meinem Hochzeitstag, ein Abschiedsmahl in der Halle vorgesehen, an dem auch Yun teilnahm.
Ich spielte indessen mit den Brautjungfern in der Brautkammer das Fingerknobelspiel, und da ich in einem fort verlor – und zur Strafe jedes Mal einen Becher Wein trinken musste –, wurde ich sturzbetrunken und fiel auf der Stelle in Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Yun schon mit ihrer Morgentoilette beschäftigt.
Tagsüber gingen Freunde und Verwandte unablässig ein und aus, um uns zu gratulieren, und erst später am Abend, nachdem die Laternen angesteckt worden waren, spielte die Musik auf. Um Mitternacht geleitete ich als Bruder der Braut diese zu ihrem neuen Heim und kehrte erst gegen drei Uhr nachts zurück. Die Kerzen in der Halle waren bereits heruntergebrannt, und im ganzen Haus hatte sich Stille ausgebreitet. Als ich leise unser Zimmer betrat, sah ich, dass die Brautmagd am Fuß unseres Bettes zusammengesunken und eingenickt war, doch Yun, die schon ihren Brautschmuck abgelegt hatte, war noch nicht zu Bett gegangen. Ihr wunderschöner puderweißer Nacken war über den Silberschein der aufflackernden Kerze gebeugt, und sie las selbstvergessen in einem Buch, dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Ich klopfte ihr sanft auf die Schulter und fragte:
»Schwester, was liest du da so unermüdlich nach diesen anstrengenden Tagen?« Yun wandte mir schnell ihren Kopf zu, erhob sich und sagte:
»Ich wollte mich gerade hinlegen, als ich den Bücherkasten öffnete und dieses Buch sah, und über dem Lesen habe ich ganz vergessen, wie müde ich war. Von dem Stück Das Westzimmer* hatte ich schon oft gehört, aber heute habe ich es zum ersten Mal lesen dürfen. Kein Wunder, dass es als das Werk eines Genies gilt, dennoch ist es für mein Gefühl etwas zu sarkastisch …«
»Nur ein Genie kann sich so sarkastisch ausdrücken«, erwiderte ich.
Die Brautmagd drängte uns, zu Bett zu gehen, aber wir hießen sie, die Tür zu schließen und sich zurückzuziehen.
Ich setzte mich neben Yun, und wir scherzten miteinander wie vertraute Freunde, die nach langer Trennung endlich wieder zusammentrafen. Flüchtig berührte ich ihre Brust. Ihr pochendes Herz schien ebenso heftig wie meines zu schlagen, und ich flüsterte ihr ins Ohr:
»Warum pocht dein Herz so …?«
Yun drehte mir den Kopf zu und lächelte mich sanft an, unsere Seelen wurden von einem Taumel der Leidenschaft fortgerissen. Eng umschlungen zog ich sie hinter die Bettvorhänge. Als wir schließlich erschöpft in den Schlaf fielen, ging im Osten bereits die Sonne auf.
Als frischverheiratete Ehefrau war Yun sehr in sich gekehrt; nie ließ sie sich etwas anmerken, stets lächelte sie, wenn sie mit anderen sprach. Höherstehenden erwies sie Respekt, ihren Untergebenen begegnete sie freundlich und erlaubte sich nicht den kleinsten Fehler. Wenn es dämmerte und das graue Morgenlicht ins Zimmer fiel, erhob sie sich wie auf Befehl und kleidete sich hastig an.
»Aber du musst doch keine Angst mehr haben, dich zu blamieren, wie damals, als du mir den Reis gegeben hast …«, sagte ich einmal besänftigend zu ihr, worauf sie antwortete:
»Damals zogen die Leute über mich her, weil ich die Reisschale heimlich für dich aufgespart hatte. Jetzt geht es mir nicht um das Gerede der Leute. Ich will nur vermeiden, dass deine Eltern glauben könnten, ihre Schwiegertochter sei faul.«
Obwohl ich mir gewünscht hatte, dass sie länger im Bett bliebe, musste ich ihr doch recht geben, und ich stand ebenfalls früh mit ihr auf. Wir wurden so vertraut miteinander wie ein Körper mit seinem Schatten, und manche Einzelheiten unserer Liebesbeziehung lassen sich kaum in Worte fassen.
Diese glückliche Zeit verging jedoch schnell; ein Wimpernschlag nur, und schon war ein ganzer Monat vergangen.
Mein Vater, der ehrenwerte Herr Jiafu, der damals in Diensten der Präfektur stand, hatte eigens einen Boten geschickt, der mich auf dem Weg zur Aufnahme meiner Studien bei Herrn Zhao Shengzhai aus Wulin [Hangzhou] begleiten sollte. Herr Zhao war ein sehr umsichtiger und geduldiger Mentor, dem ich es ganz allein verdanke, dass ich heute überhaupt imstande bin, etwas zu Papier zu bringen. Eigentlich war vorgesehen, dass ich mich nach der Heirat zum Amtssitz meines Vaters begeben solle, um ihm zur Seite zu stehen. Als die Hochzeitszeremonien vorüber waren, bestimmte mein Vater jedoch, dass ich meine Studien wieder aufnehmen solle.
Als ich davon erfuhr, war ich sehr enttäuscht und befürchtete, dass Yun deswegen vor allen Leuten in Tränen zerfließen könnte. Aber ganz im Gegenteil; sie zeigte sich gefasst, sprach mir gut zu und machte sich daran, meine Sachen zusammenzupacken. Am Abend meiner Abreise verriet mir ihre Miene eine gewisse Unruhe. Als wir Abschied nehmen mussten, flüsterte sie mir zu:
»Pass gut auf dich auf, denn es wird niemanden geben, der nach dir sieht!«
An Bord sah ich, dass die Pfirsich- und Pflaumenbäume am Ufer in voller Blüte standen, und fühlte mich wie ein Waldvogel, der seinen Schwarm verloren hat. Nichts war mehr wie zuvor.
Kaum, dass wir in Wulin angekommen waren, setzte mein Vater über den Fluss und brach zu einer Reise in den Osten auf.
Die drei Monate, die ich fern von Yun verbrachte, kamen mir vor wie zehn Jahre. Obwohl sie mir häufig schrieb, erhielt ich doch immer nur einen Brief zurück für zwei, die ich geschrieben hatte. Die meisten ihrer Briefe enthielten außer vielen Ermunterungen für mein Studium nur leere Floskeln, was mich sehr verärgerte.
Immer, wenn der Wind über die Bambusblätter im Hof strich oder der Mond durch die grünen Blätter des Bananenbaums in mein Fenster schien, sah ich nach draußen und vermisste sie so furchtbar, dass Träume von ihr meine Seele ergriffen.
Als mein Lehrer Herr Zhao erfuhr, wie es um mich stand, schrieb er einen Brief an meinen Vater, in dem er ihm mitteilte, dass er mir zehn Aufsatzthemen stellen und mich damit vorübergehend nach Hause entlassen würde. Da kam ich mir vor wie ein Soldat, der überraschend begnadigt wird, nachdem er zuvor in eine Strafkolonie verbannt worden war. Auf dem Schiff heimwärts schien sich jede Viertelstunde wie ein ganzes Jahr hinzuziehen.
Zu Hause angekommen, erwies ich zuerst meiner Mutter den ihr gebührenden Respekt, und als ich dann mein Zimmer betrat, stand Yun auf, um mich willkommen zu heißen. Wie wir uns stumm an den Händen hielten, schienen sich unsere Seelen in Rauch und Nebel aufzulösen. Urplötzlich dröhnte es in meinen Ohren, meine Sinne schwanden, und mir war, als hörte mein Leib auf zu existieren.
Es war damals der sechste Mond, und im Haus herrschte drückende Schwüle. Glücklicherweise wohnten wir damals westlich der »Lotusblüten-Liebhaber«-Halle nahe des Blauwellen-Pavillons. Dicht daneben befand sich eine Holzbrücke, von der ein Pavillon auf den Strom blickte. Dieser trug den Namen »Wie es beliebt« – eine Anspielung auf die Verse:
Ist das Wasser klar, wasche ich die Quasten meiner Kappe, ist das Wasser trüb, so wasche ich meine Füße.
Unter der Dachtraufe stand ein alter Baum, dessen Schatten die Fenster verdunkelte und alle Gesichter grün färbte. Jenseits des Flusses sah man einen unaufhörlichen Strom von Spaziergängern am Ufer entlangwandern. Dies war der Ort, an dem mein Vater, Herr Jiafu, seine von Bambusvorhängen abgeschirmten Gäste zu bewirten pflegte. Ich erbat und erhielt von meiner Mutter die Erlaubnis, den Sommer über mit Yun dort bleiben zu können.