2Michel Foucault
Sexualität und Wahrheit
Vierter Band
3Michel Foucault
Die Geständnisse des Fleisches
Herausgegeben von Frédéric Gros
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Suhrkamp
1976 veröffentlicht Michel Foucault – unter dem Titel Der Wille zum Wissen1 – den ersten Band von Sexualität und Wahrheit,2 dessen Umschlagrückseite weitere fünf Bände ankündigt, die folgende Titel tragen: 2. Das Fleisch und der Körper; 3. Der Kinderkreuzzug; 4. Die Frau, die Mutter und die Hysterische; 5. Die Perversen; 6. Bevölkerung und Rassen. Keines dieser Werke wird je realisiert werden. Dank des Foucault-Archivs,3 das sich in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France befindet, weiß man jedoch, dass zumindest zwei Titel (Das Fleisch und der Körper4 und Der Kinderkreuzzug5) bereits Gegenstand einer umfangreichen ersten Fassung waren.
1984, kurz vor Michel Foucaults Tod, erscheinen die Bände 2 und 36 dieser acht Jahre zuvor7 begonnenen Unter8suchung von Sexualität und Wahrheit, deren Inhalt vom ursprünglichen Projekt allerdings sehr weit entfernt ist, wie sowohl das Kapitel »Modifizierungen« von Der Gebrauch der Lüste (»Diese Untersuchungen erscheinen später als vorgesehen und in einer ganz anderen Form …«8) als auch der bei ihrem Erscheinen in die Bände eingelegte »Waschzettel« ankündigen. Der Plan, das biopolitische Dispositiv der Sexualität der Moderne (16.-19. Jahrhundert) zu untersuchen – welches teilweise in den Vorlesungen am Collège de France behandelt wird –, wurde aufgegeben, um einer Problematisierung – meist in Form einer Relektüre der Philosophen, Mediziner, Redner etc. der griechisch-römischen Antike – der sexuellen Lust aus der historischen Perspektive einer Genealogie des Subjekts des Begehrens innerhalb des begrifflichen Horizonts der Lebenskünste Platz zu machen. Band 4, der der Problematisierung des Fleisches durch die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte (von Justin bis zum heiligen Augustinus) gewidmet ist, ist Teil der Fortsetzung dieser neuen Histoire de la sexualité, die gegenüber dem ursprünglichen Vorhaben um gut zehn Jahrhunderte verschoben wurde und ihren Gravitationspunkt in der Konstituierung einer Ethik des Subjekts hat. Der »Waschzettel« von 1984 schließt wie folgt:
9Daher letztlich eine generelle Neuausrichtung dieser umfangreichen Studie zur Genealogie des Begehrensmenschen von der klassischen Antike bis zu den ersten Jahrhunderten des Christentums. Und ihre Aufteilung in drei Bände, die eine Einheit bilden:
– Der Gebrauch der Lüste untersucht die Art und Weise, wie im klassischen griechischen Denken das Sexualverhalten reflektiert wurde […]. Auch wie das medizinische und philosophische Denken den »Gebrauch der Lüste« – chresis aphrodision – ausgearbeitet und einige Gegenstände der Austerität formuliert hat, die auf vier großen Achsen der Erfahrung ständig wiederholt wurden: der Beziehung zum Körper, der Beziehung zur Ehefrau, der Beziehung zu Knaben und der Beziehung zur Wahrheit.
– Die Sorge um sich analysiert diese Problematisierung in den griechischen und lateinischen Texten der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung und die Veränderung, die sie in einer Lebenskunst erfährt, die von der Beschäftigung mit sich selbst beherrscht ist.
– Die Geständnisse der Fleisches schließlich werden die Erfahrung des Fleisches in den ersten christlichen Jahrhunderten behandeln und die Rolle, die die Hermeneutik und reinigende Entschlüsselung des Begehrens dabei spielen.
Die Entstehung dieses letzten Werkes ist komplex. Man muss daran erinnern, dass in der »ersten Form« von Sexualität und Wahrheit die christlichen Praktiken und Lehren des Bekenntnisses des Fleisches in einem Band mit dem Titel Das Fleisch und der Körper Gegenstand einer historischen Untersuchung sein sollten.9 Damals ging es darum, »die Entwicklung der katholischen Pastoral und des Bußsakraments nach dem Konzil von Trient« zu studieren.10 Einen 10ersten Einblick in diese Untersuchungen gewährte die Vorlesung am Collège de France vom 19. Februar 1975.11 Sehr schnell entscheidet sich Foucault jedoch, in der Zeitachse weiter zurückzugehen, um in der Geschichte des Christentums den Ausgangspunkt, den Entstehungsmoment der ritualisierten Wahrheitspflicht, der Aufforderung zur Verbalisierung eines Wahr-Sprechens über sich selbst durch das Subjekt, zu erfassen. So sammelt er in den Jahren 1976-1977 eine Reihe von Notizen zur Lektüre von Tertullian, Cassian etc.12 Daniel Defert schreibt über den August 1977: »Foucault ist in Vendeuvre. Er schreibt über die Kirchenväter und beginnt, seine Geschichte der Sexualität um einige Jahrhunderte zu verschieben.«13 Im Rahmen einer Untersuchung der »Gouvernementalitäten« am Collège de France (Vorlesungen vom 15. und 22. Februar 1978)14 nutzt er diese ersten Lektüren der Kirchenväter, um das christliche Moment der »pastoralen Gouvernementalität«15 zu beschreiben: »Wahrheitsakte« (über sich selbst die Wahrheit sagen), die mit Gehorsamspraktiken verbunden sind. Die Ergebnisse werden im Oktober 1979 wieder aufgegriffen und zusammengefasst, um damit die ersten beiden Vorlesungen im Rahmen der Tanner Lectures an der Universität Stanford zu bestreiten.16
11Das Jahr 1980 stellt bei der Fortsetzung der Recherchen, die zur Abfassung des Manuskripts der Geständnisse führen, einen entscheidenden Moment dar. Michel Foucault präsentiert am Collège de France, in den Monaten Februar und März 1980 – ohne jemals darauf hinzuweisen, dass sie in eine Geschichte der Sexualität Eingang finden –, eine Reihe von präzisen historischen Untersuchungen und Dokumenten, die sich auf die Vorbereitung der Taufe, die Bußriten und die klösterliche Führung zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung beziehen.17 Im Herbst desselben Jahres hält er in den Vereinigten Staaten, an der Universität von Kalifornien (Berkeley) und am Dartmouth College, zwei Vorlesungen, die dieselben Themen in einer großen begrifflichen Allgemeinheit darlegen,18 und vor allem präsentiert er im Rahmen eines Seminars mit Richard Sennett in New York, wenn auch in einer noch schematischeren Form, vieles von dem, was zu den Geständnissen des Fleisches werden wird.19 In der Tat findet man in diesem Seminar Ausführungen über die Ehelehre des Clemens von 12Alexandrien, die christliche Kunst der Jungfräulichkeit (ihre Entwicklung vom heiligen Cyprian über Methodius von Olympus bis zu Basilius von Ankyra) sowie eine Untersuchung der elementaren Bedeutung, die der Begriff der libido – nach dem Sündenfall und in der Ehe – mit dem heiligen Augustinus für unsere Kultur gewonnen hat.20 Man kann somit sagen, dass Foucault seit Ende 1980 nicht nur eine feste Vorstellung von der Architektur und den Hauptthesen der Geständnisse des Fleisches hat, sondern dass er auch bereits eine bedeutende Recherchearbeit zu den Quellen geleistet hat, zumindest hinsichtlich des Studiums der Bußrituale und der klösterlichen Führung.
Die Zeit der endgültigen Abfassung des Texts der Geständnisse kann man auf die Jahre 1981 und 1982 datieren. Für eine Ausgabe der Zeitschrift Communications21 legt Foucault im Mai 1982 etwas vor, das er als »Teil des dritten Bandes der Geschichte der Sexualität« präsentiert.22 Parallel dazu vollzieht er in seinen Vorlesungen am Collège de 13France jedoch immer massiver seine antike »Wende«. Das griechisch-lateinische Moment wurde bis dahin zwar nicht völlig außer Acht gelassen, doch wurde es, von 1978-1980, auf die Rolle eines Kontrapunkts reduziert, der vor allem wichtig war, um zu bestimmen, in welchen Punkten die christlichen Praktiken der Veridiktion und Gouvernementalität irreduzibel sind (die Unterschiede zwischen: der Regierung [gouvernement] der Stadt und der pastoralen Gouvernementalität [gouvernementalité], der Lebensführung bei den griechisch-römischen philosophischen Sekten und der in den ersten Klöstern praktizierten, der stoischen und der christlichen Gewissensprüfung etc.). Nun aber wird das, was ein bloßer Kontrapunkt war, immer mehr zu einem konsistenten und insistenten Forschungsgegenstand an sich. Diese Tendenz zeichnet sich seit 1981 ab: Die in diesem Jahr am Collège de France gehaltene Vorlesung ist vollkommen von Bezugnahmen auf die Antike beherrscht (das Problem der Ehe und der Knabenliebe in der Antike23), während die Vortragsreihe an der Universität von Löwen im Mai noch ein Gleichgewicht zwischen antiken und christlichen Bezugnahmen zu wahren versuchte.24 1982 steht die typisch christliche Form der Wahrheitspflichten und der anderen Askesen nicht länger im Mittelpunkt seiner großen Vortragsreihen oder Seminare auf der anderen Seite des Atlantiks (»Dire vrai sur soi-même« im Juni an der Universität von Toronto,25 »Les techniques de soi« im Oktober an der Universität von Vermont26), und in seinen Vorlesungen am Collège de 14France werden sie sogar nur noch am Rande, als bloßer Fluchtpunkt erwähnt.27
Um den gesamten Weg seit Der Wille zum Wissen (1976) nachzuzeichnen, kann man also sagen, dass seit 1977-1978 das Projekt einer Geschichte der modernen Sexualität (16.-19. Jahrhundert) in einer ersten Phase (1979-1982) zugunsten einer Rezentrierung auf eine historische Problematisierung des Fleisches – anhand der »Hauptwahrheitsakte« (Exomologese und Exagoreusis), der Künste der Jungfräulichkeit und der Ehelehre bei den christlichen Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte – aufgegeben wurde, dann in einer zweiten Phase (1982-1984) zugunsten einer Dezentrierung hin zu den griechisch-römischen Lebenskünsten und dem Platz, den die aphrodisia darin einnehmen.
Die Abgabe des Manuskripts über das christliche Fleisch bei Gallimard und die Anfertigung des Typoskripts muss im Herbst 1982 erfolgt sein.28 Pierre Nora erinnert sich, dass Foucault ihn bei dieser Gelegenheit warnte, dass die Veröffentlichung der Geständnisse des Fleisches nicht unmittelbar ansteht, da er sich, ermuntert von Paul Veyne, entschlossen habe, diesem Buch, das er transkribieren ließ, einen der griechisch-römischen Erfahrung der aphrodisia gewidmeten Band vorausgehen zu lassen. Der Umfang der zusammengetragenen Recherchen ist jedoch so groß, dass Foucault die15ses Buch in die beiden Bände teilen wird, die wir kennen: Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich. Die Ausarbeitung und Abfassung dieser beiden Bände – während der er am Collège de France wieder ein neues Forschungsfeld aufmacht: das Studium der parrhesia29 – verzögern seine Korrektur der Geständnisse des Fleisches und halten ihn vielleicht sogar davon ab, eine Neufassung in Betracht zu ziehen. Von März bis Mai 1984, während die redaktionelle Arbeit an den Bänden 2 und 3 abgeschlossen wird, nimmt er, erschöpft und schwer krank, die Korrektur des Typoskripts der Geständnisse des Fleisches wieder auf. Am 3. Juni wird er aufgrund eines Schwächeanfalls in die Salpêtrière eingeliefert, wo er am 25. Juni 1984 stirbt.
Für die Erstellung dieser Ausgabe verfügten wir somit über das handschriftliche Manuskript Michel Foucaults und das Typoskript.30 Dieses Typoskript, das von den Éditions Gallimard auf Grundlage des Manuskripts angefertigt, dann Michel Foucault zur Korrektur übergeben wurde,31 ist recht fehlerhaft – es war nicht möglich, die Sekretärin damit zu betrauen, die seine Texte gewöhnlich abtippte 16und seine Schrift gut kannte, da sie nicht zur Verfügung stand. Um den Text zu erstellen, sind wir folglich vorrangig auf das Originalmanuskript zurückgegangen32 und haben dabei die Korrekturen berücksichtigt, die Foucault am Typoskript noch vornehmen konnte, zumindest an den ersten beiden Teilen des Texts.33 Wir haben die Zeichensetzung verändert, um den Text lesefreundlicher zu machen, wir haben die Zitierweise vereinheitlicht und die Veröffentlichungsrichtlinien für die Bände 2 und 3 der Histoire de la sexualité übernommen (L'Usage des plaisirs, Le Souci de soi). Wir haben die Zitate überprüft (und gegebenenfalls korrigiert). Die eckigen Klammern, die in der Druckfassung zu sehen sind, verweisen auf Interventionen unsererseits.34 Diese Eingriffe sind unterschiedlicher Art: Sie bestehen im Verfassen von Fußnoten, wenn das Manuskript nur ein Fußnotenzeichen ohne Inhalt aufweist,35 im Einfügen von Fußnoten und Fußnotenzeichen, wenn Zitate nicht ausgewiesen sind; im Ausfüllen von Leerstellen, der Berichtigung grammatikalisch holpriger, unrichtiger oder offensichtlich fehlerhafter Sätze; der Korrektur falscher Eigennamen; der Einfügung 17einer Übersetzung bei Passagen, die direkt in Griechisch, Latein oder Deutsch zitiert werden;36 der Einfügung von Kapitelüberschriften, wenn diese fehlen.37 Bei dieser herausgeberischen Arbeit haben wir die archivierten Kartons mit Foucaults Lektürenotizen zu den ersten Kirchenvätern zu Hilfe genommen.38 Immense Dienste hat uns auch die hervorragende Arbeit Michel Senellarts39 geleistet sowie die 18Philippe Chevaliers in seiner Dissertation.40 Ich danke Daniel Defert und Henri-Paul Fruchaud für das geduldige und fruchtbare Korrekturlesen des Texts. Die abschließende »Bibliographie« wurde nach den Prinzipien der Ausgabe von Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich angefertigt: Sie nimmt – in Form eines »Verzeichnisses der zitierten Werke« – nur die Werke auf, die im Haupttext genannt werden. Gleichwohl muss man hervorheben, dass die »zitierten Werke«, wie die archivierten Kartons mit den Lektürenotizen Michel Foucaults zu den christlichen Kirchenvätern zeigen,41 nur einen kleinen Teil der gelesenen und durchgearbeiteten Referenzen darstellen (vor allem was die modernen Autoren anbelangt).42 Auf Wunsch der Rechteinhaber enthält der Text keine Fußnoten des Herausgebers, die einen Kommentar, einen internen Verweis auf das Werk Foucaults oder die eigenen Kenntnisse darstellen würden. Unsere Arbeit beschränkte sich auf die Erstellung des Texts.
Wir haben am Ende des Textes vier Anhänge hinzugefügt, die einen unterschiedlichen Charakter haben. Bei den ersten drei handelt es sich um einzelne Seiten, die in separaten Mappen zum Vorschein kamen und sich im Manuskript Foucaults physisch am Ende des ersten Teils der Geständnisse befanden.43 Anhang 1 ist eine knappe Wiederholung der all19gemeinen Ziele (»Es gilt zu zeigen«) und kann mit der Konzipierung einer Einleitung oder vielmehr mit einer Klarstellung für den persönlichen Gebrauch in Verbindung stehen.44 Anhang 2 besteht in einer kritischen Untersuchung der Beziehungen zwischen »Exomologese« und »Exagoreusis«. Diese Untersuchung ist eine strikte Fortsetzung der letzten Ausführungen des ersten Teils des Texts, doch kann man unmöglich wissen, ob Foucault diese Seiten geschrieben und dann letztlich davon abgesehen hat, sie mit aufzunehmen, oder ob er sie verfasst hat, nachdem er sein Manuskript transkribieren ließ. Anhang 3 ist die Vertiefung einer Notiz, die in knapperer Form in Kapitel 3 von Teil I (»Die zweite Buße«) erscheint und die Verfluchung Kains betrifft, die vor allem mit seiner Weigerung, das Verbrechen zu ge20stehen, verbunden gewesen sei. Anhang 4 entspricht den letzten Ausführungen des Manuskripts und Typoskripts. Wir haben es vorgezogen, sie in den Anhang zu verlegen, da sie Thematiken ankündigen, die tatsächlich bereits weiter vorne dargelegt wurden. Nachdem diese Absätze nun an das Ende des Buches verschoben wurden, erkennt man, dass sie einen wirklichen Abschluss bilden.
Die Inhaber der Rechte an Michel Foucaults Werk waren der Meinung, dass der Moment und die Voraussetzungen für die Publikation dieses unveröffentlichten Hauptwerks gekommen waren. Es erscheint, wie die drei vorherigen Bände, in der von Pierre Nora herausgegebenen »Bibliothèque des Histoires«. Der »Waschzettel« von 1984 zeigte an:
Band 1: Der Wille zum Wissen
Band 2: Der Gebrauch der Lüste
Band 3: Die Sorge um sich
Band 4: Die Geständnisse des Fleisches (im Erscheinen).
Dies ist nunmehr erfolgt.
Frédéric Gros
1 Erschaffung, Zeugung
[2 Die mühevolle Taufe]
[3 Die zweite Buße]
[4 Die Kunst der Künste]