Peter Kiefer
KLEINES KINO
Action, Thriller, Mystery 4


Peter Kiefer
KLEINES KINO
Action, Thriller, Mystery 4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2019
p.machinery Michael Haitel
Titelabbildung: Hochzeitsfotograf Florian Braatz, mit Christina & Simon Hafemann
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi
Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda, Xlendi
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN Paperback: 978 3 95765 029 0
ISBN E-Book: 978 3 95765 912 5


*


Bali heißt das Kino. Wer dabei an Palmenstrände denkt und an biegsame Mädchen, die beim Tanzen mit den Augen rollen, irrt. Bali ist nichts weiter als die Abkürzung für Bahnhofslichtspiele, auch wenn es hier schon lange keinen Bahnhof mehr gibt.
Die Frau, die die Karten verkauft, wohl die Betreiberin, ist im fortgeschrittenen Alter. Die orangebraune Tönung über den grauen Haarwurzeln ist wie zu einer Haube zusammengeschmolzen, Lippenstift verzeichnet ihren Mund etwas spitz nach oben.
Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich spielen werde, sagt sie und es hört sich an, als ob an dieser Ankündigung nichts Ungewöhnliches sei.
Das Plakat im Schaukasten zeigt als heutige Vorstellung Der Zementgarten an, einen kurios anrührenden Film aus den 90ern mit Charlotte Gainsbourg, in dem vier Teenager den Tod ihrer Eltern vor der Öffentlichkeit verbergen und von dieser abgeschirmt ihr Leben selbst organisieren.
Was wäre die andere Möglichkeit?, frage ich.
Harry meint es gut mit dir.
Harry – was ist das für einer?
Mord und so was. Eine Komödie.
Sie gibt mir das Wechselgeld heraus.
Über einer Doppeltür, deren einer Flügel offen steht, leuchtet das Wort Eingang. Drinnen im Kinosaal hat sich jetzt kurz vor Beginn der Vorstellung nicht mehr als ein knappes Dutzend Leute eingefunden. Ich gehe ganz nach vorn, weil ich da immer am liebsten sitze, irgendwo am Rand.
Der Bühnenvorhang steht offen, vermutlich ist der elektrische Mechanismus defekt. Die Wände sind mit roten Velourstapeten beklebt, die noch aus Vorkriegszeiten stammen könnten, im unteren Teil glänzen sie speckig und haben kein erkennbares Muster mehr. Zusammen mit den schmetterlingsförmigen, grasgrün getupften rosa Wandlampen stellt sich die Frage, ob hier überhaupt anständige Filme gezeigt werden.
Und was heißt noch nicht entschieden? Vielleicht gibt es einen technischen Grund, vielleicht auch einen, der nicht genau zu benennen ist und den außer dieser Frau niemand wirklich verstünde. Ich stelle zumindest einen gedanklichen Versuch an: Der Mann, der oben in der vorletzten Reihe sitzt, dürfte etwas älter sein als ich, Anfang vierzig oder so, die anderen sind um einiges jünger, vielleicht sind es Studenten von der nahe gelegenen Uni. Mord ist eher etwas für ältere Damen, und wenn die Betreiberin ihre Auswahl aufs Publikum ausrichten sollte, spräche alles für den angekündigten Zementgarten.
Die Eingangstür wird geschlossen, dann dauert es noch eine Weile, bis der Saal sich verdunkelt. Ein Werbespot läuft, dann noch einer und noch ein dritter. Dann erst mal nichts mehr, auch keine Filmvorschau. Das Licht geht wieder an, wenn auch nicht in voller Stärke, deshalb wartet man jetzt darauf, dass gleich ein Gong ertönt, dass es ein zweites Mal dunkel wird und der Hauptfilm beginnt. Aber nichts geschieht.
Es dauert noch eine Weile, bis jeder begriffen hat, dass es tatsächlich nicht mehr weitergeht.
Eine Frau, die am nächsten zum Ausgang sitzt, erhebt sich und geht hinaus ins Foyer. Schulterzuckend kehrt sie schon kurz darauf wieder zurück. Da ist niemand, sagt sie.
Ganz hinten wird ein Mann aktiv. Er steigt über seinen Sessel von der vorletzten in die letzte Sitzreihe hinauf und geht zu dem schmalen Fenster, durch das man in die Vorführkabine blicken kann. Mit der Handfläche schirmt er seine Augen ab.
Da hinten brennt zwar irgendwo Licht, verkündet er, aber sehen kann ich niemanden.
Zur Sicherheit klopft er zweimal gegen die Scheibe und wartet kurz auf Antwort. Nichts, sagt er schließlich, sie ist offenbar nicht da drin. Er kneift die Lippen zusammen, reißt die Augen auf – eine Geste heiterer Ratlosigkeit.
Ein anderer sagt: Könnte ja sein, dass sie Dünnpfiff hat. Jemand lacht darüber. Dann schweigen wieder alle.
Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen, meint eine Frau, aber diese Befürchtung scheint niemand zu teilen. Mit flapsigen Bemerkungen und nervösem Gelächter vergehen weitere Minuten. Bis die besagte Frau sich schließlich aus ihrer Sitzreihe hangelt und allen verkündet, dass sie draußen noch einmal nachsehen wird.
Also wenn jemand mitkommen möchte …, sagt sie und passiert dabei zufällig die Stelle, wo ich sitze. Da sich offenbar niemand entschließen will, ihr zu folgen, fühle ich mich auf irgendeine Weise in die Pflicht genommen und erhebe mich ebenfalls.
Sie ist etwas größer als ich. Wer ihr Äußeres beschreiben müsste, würde vermutlich ihre Nase hervorheben, eine Nase von klassischer Prägung, wie man sie von Marmorstatuen kennt. Eingerahmt wird ihr Gesicht von einer akkurat geschnittenen Bubifrisur. Zählt man den schwarzen Pullover und die hellen Jeans, die sie trägt, hinzu, ist diese Frau kaum der Typ für Harry meint es gut mit dir. Wie eine besorgte Krankenschwester wirkt sie freilich auch nicht.
Wir werfen einen Blick ins Foyer, in der lediglich eine verwaiste Theke steht und davor zwei leere Tische. In der entgegengesetzten Richtung, wo sich die Toiletten befinden, könnte man eher fündig werden.
Sehen wir nach, sagt die Frau und geht bereits mit großen Schritten voraus. Gleich hinter den Toiletten führt tatsächlich eine schmale Treppe nach oben. Statt einer Tür ist lediglich eine Kette davor gespannt, an der ein Schild mit der Aufschrift Privat – kein Zutritt! baumelt.
Das war’s dann wohl, sage ich und wir sehen uns beide an, denken aber vermutlich nicht das Gleiche, denn die Frau beugt sich ein Stück weit über die Kette und ruft: Ist jemand da oben?
Eine Antwort erhält sie nicht.
Zugestoßen ist ihr bestimmt nichts, meine ich, um den Eifer der Frau ein wenig zu bremsen.
Der Film ist aber auch noch nicht angelaufen, sagt sie. Sie hat recht. Wir haben die Eingangstür zum Kinosaal nur halb geschlossen und hören von dort die Stimmen der Besucher, die sicher noch ein paar Witze reißen, vielleicht warten sie auch darauf, dass wir ihnen etwas mitteilen werden.
Wieder sehen wir uns an. Die fürsorgliche Entschlossenheit der Frau lässt sich leicht aus ihrem Blick herauslesen. Ohne mich weiter zu fragen, löst sie die Kette vom Haken und drückt mir das Ende in die Hand.
Wir sollten es wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen, sagt sie. Wenn sich da oben niemand meldet, kehren wir natürlich gleich wieder um.
Etwas überrumpelt nehme ich das Ende dieser leicht angerosteten Kette in Empfang und hänge sie hinter mir wieder an den Haken zurück, als ob ich damit unsere Spur verwischen könnte. Dann gehe ich, wenn auch voller Skrupel, mit der Frau die Treppe hinauf. Ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, ihrer klassischen Nase etwas abzuschlagen.
Der Korridor, in den wir dort oben gelangen, ist weder lang noch breit, dafür springt er einen geradezu an. Kaum anders als der Kinosaal scheint auch er auf skurrile Weise aus der Zeit gerutscht. Grund sind die Tapeten, ganz im Stil der sechziger Jahre haben sie psychedelische Muster. Zwei Poster mit den Konterfeis von Jimi Hendrix und der Politikone Angela Davis runden dieses Bild ab, bräunliche Flecken inklusive.
Ich nenne der Frau meinen Namen, für alle Fälle. Sie verrät mir ihren: Rho.
Rho?
Wie der griechische Buchstabe.
Also mit einem H in der Mitte. Das hat sie da sicher hineingeschmuggelt. Ursprünglich heißt sie vielleicht Rosamunde oder Roswitha oder einfach Rosi. Aber ihre Nase lässt gar nichts anderes zu als dieses H.
Ich klopfe mal, sagt sie und deutet auf die einzige Tür, die von dem Flur abgeht. Hallo!, ruft sie mit aufgeputzter Munterkeit, aber es erfolgt auch diesmal keine Antwort. Auch als sie die Tür ein klein wenig öffnet, hört man nichts, kein Schnaufen, kein Röcheln, dem man zu Hilfe eilen müsste.
Rho zieht die Tür weiter auf und macht einen Schritt nach vorn. Komisch hier, sagt sie.
Eigentlich ist das Zimmer weit weniger komisch als der Flur. Das Verblüffende daran ist jedoch der Kontrast. Die Wände sind weiß gestrichen, rechteckige helle Flecken verteilen sich über die Stellen, wo früher einmal Möbel standen, Bilder oder weitere Poster hingen. Ein Bett ist das Einzige, was noch vorhanden ist. Darauf liegt eine billige E-Gitarre. Sie bringt mich auf den etwas verwegenen Gedanken, dass dieses Zimmer einmal von einem Jugendlichen bewohnt wurde, der dem schwülstigen Farbenrausch seiner Eltern eine gehörige Portion Nüchternheit entgegensetzen wollte. Dass es also eine Art Protestzimmer sei.
Plötzlich eine Stimme. Jemand ruft etwas von unten. Wir eilen wieder auf den Flur hinaus.
Ist jemand da?, ruft Rho.
Seid ihr das? Die Frage kommt von unterhalb der Treppe.
Das ist einer von uns da unten, sagt Rho.
Komm ruhig rauf, ruft sie. Is’ eh keiner da.
Es dauert auch nicht lange, bis ein Kopf sichtbar wird und ich erkenne den Mann wieder, der in der oberen Sitzreihe versucht hat, einen Blick in den Vorführraum zu werfen.
Keiner da?, fragt er und grinst geheimnisvoll.
Rho schüttelt den Kopf.
Die ist bestimmt mit unserem Geld abgehauen, sagt er und produziert dazu ein schnaubendes Lachen. Ambitionen, die Treppe noch weiter heraufzusteigen, hat er augenscheinlich nicht.
Ich sag dann mal Bescheid, meint er noch, winkt verlegen und macht wieder kehrt.
Wir kommen auch, rufe ich hinterher und fragend wandert mein Blick zu Rho.
Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, sagt sie müde.
Nun aber bin ich es, der die Dinge – ohne besondere Absicht, vielleicht nur der Dynamik des Augenblicks folgend – weiter im Fluss hält. Mir ist nämlich etwas aufgefallen. Ich weise Rho darauf hin, indem ich auf einen Porzellanknopf zeige, der in einer muldenartigen Vertiefung der Wand steckt. Es könnte ein Drehschalter oder dergleichen sein, es ist aber etwas anderes, ein Knauf, und er gehört zu einer Tür, wie sie in viktorianischen Krimis gelegentlich eine Rolle spielt. Ihre Umrisse sind in dem Farbdelirium der Tapete bei näherem Hinsehen sogar unschwer zu erkennen. Und da wir bereits Übung darin besitzen anderer Leute Türen zu öffnen, versuchen wir es jetzt auch mit dieser selten gewordenen Spezies einer Tapetentür.
Der Raum dahinter ist auf den ersten Blick ein Wohnzimmer, er ist ebenso spärlich erleuchtet wie unten der Kinosaal. Beiläufig wird mir dabei bewusst, dass draußen im Flur das Licht angeschaltet ist. Vielleicht wegen der Kinobesucher, denen man damit signalisieren will, dass sie hier oben nichts zu suchen haben. Eine Tür einzubauen, wäre bestimmt die einfachere Lösung.
Ich habe gerade zwei Schritte vorwärts gemacht, als ich wie angewurzelt stehen bleibe und Rho neben mir kräftig am Handgelenk fasse.
Was …?
Etwas irritiert folgt sie meinem Blick, nun aber sieht sie es ebenfalls, eine männliche Gestalt. Im Gegenlicht ist sie nur als Silhouette sichtbar.
Vielleicht ebenso überrascht wie wir ist der Mann erst einmal sprachlos. Dann dreht er leicht seinen Kopf zur Seite und man erkennt ein breites Gesicht mit hoher Stirn. Seine glänzend schwarzen Haare erscheinen wie angeklebt, als habe er gerade einen zu engen Hut vom Kopf genommen.
Entschuldigen Sie, wir wollten nicht bei Ihnen eindringen, meine ich.
Rho ergänzt: Wir suchen nur die Besitzerin. Da unten läuft nämlich der Film nicht an, auf den alle warten.
Der Mann sagt: Ist sie mal wieder verhindert?, und dieses verhindert bringt er in einem spöttischen Tonfall, geradezu tuntenhaft vor. Darüber fängt er an zu kichern. Drei, vier Sekunden nur, dann werden seine Knie weich und er fällt wie ein Sack in verrenkter Haltung zu Boden.
Wir eilen beide zu ihm hin.
Ist das ein Anfall? Was ist los mit ihm?, frage ich.
Rho sagt: Epileptiker scheint er nicht zu sein, sonst hätte er krampfartige Zuckungen.
Sie hat recht, er liegt nur reglos da, wie tot. Doch er atmet.
Er schläft, sagt Rho.
Schläft? Einfach so?
Ich habe nie zuvor jemanden beobachtet, der auf der Stelle schlafend zusammengebrochen wäre.
Wir legen ihn am besten hier auf die Couch, sagt Rho, die sich von diesem Auftritt weniger beeindrucken lässt als ich. Sie tätschelt den Mann auf die Wange, erst sanft, dann etwas kräftiger. Hören Sie mich?
Der Mann hat die Augen geschlossen, bewegt aber leicht die Lippen. Ein klarer Laut kommt dabei nicht zustande.
Wir schleifen ihn den kurzen Weg zur Couch. Seine Glieder sind unverspannt, völlig schlaff. Dick ist er nicht, trotzdem haben wir unsere liebe Mühe ihn auf das Polster zu hieven.
Rho spricht ihn erneut an, tätschelt wieder. Da ist im Augenblick nicht viel zu machen, meint sie. Wie es aussieht, ist er Narkoleptiker. Die haben solche plötzlichen Einschlafattacken.
Rho kennt sich offenbar aus. Vielleicht ist sie doch Krankenschwester oder hat sonst etwas mit Medizin zu tun.
Wie lange dauert so was?, frage ich.
Zu lange, um aufs Aufwachen zu warten.
Meinst du, wir sollten ihn einfach so liegen lassen?
Wenn wir seiner Mutter begegnen, können wir ihr ja Bescheid sagen, meint Rho. Sie denkt das Gleiche wie ich: dass er der Sohn dieser Kinobesitzerin ist. Die Ähnlichkeit ist augenfällig.
Sachte lässt Rho seinen Unterarm los, den sie die ganze Zeit umklammert hatte, und richtet sich neben mir aus ihrer Hockstellung wieder auf. Wir blicken stumm auf den vor uns liegenden, gleichmäßig atmenden Körper. Erst nach einer Weile wenden wir uns ab.
Eigentlich haben wir uns schon viel zu weit vorgewagt, meine ich.
Rho scheint wieder anderer Ansicht zu sein, denn sie geht bereits neugierig auf den angrenzenden Flur hinaus. Der ist lang und schmal. Außer aufgereihten Schuhen am Boden und einer Garderobe, die von Kleidungsstücken begraben wird, ist nicht viel vorhanden. Aber selbst wenn es anders wäre, würde es kaum auffallen, denn der mit lila und orangefarbenen Rosenblüten und schlanken Paradiesvögeln überzogene Wandbelag saugt alle Blicke auf. Es ist das nächste Farbspektakel und ich frage mich, wie man es über Jahre und Jahrzehnte mit so etwas aushält. Die Kinofrau wird mir etwas unheimlich.
Hallo-ho!, ruft Rho mit Singsang in der Stimme. Ist denn niemand da?
Wieder erhält sie keine Antwort.
Wenn wir dahinten durch die Tür die Wohnung verlassen, gelangen wir vielleicht durch eine gegenüberliegende Tür ins Kino zurück, schlägt Rho vor.
Wo genau befinden wir uns überhaupt?, frage ich. Sind wir nicht auf dem Weg zu den Toiletten noch mal nach rechts um die Ecke gebogen? Dann wären wir doch hier, warte mal, auf der falschen Kinoseite gelandet.
Ich ziehe einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber aus meinem Jackett.
Also das da ist der Kinosaal …
Dabei zeichne ich ein Rechteck auf den Block und versuche mit weiteren Strichen unseren Weg zu rekonstruieren. Aber Rho korrigiert mich, behauptet, ich hätte eine Ecke zu kurz gedacht, weil auch die Treppe noch einen Bogen machen würde, genau den, der wieder zu dem Kinosaal zurückführen würde.
So richtig klar ist es aber auch ihr nicht, dennoch befeuert sie den Gedanken, dass wir unserem Ziel, dem Vorführraum, ganz nahe sind. Von der Wohnung aus könnte oder sollte es eine direkte Verbindung geben.
Lass es uns ausprobieren, beharrt Rho und sie meint damit, dass es vis-à-vis der Wohnungstür eine Tür geben müsse, die zum Vorführraum leitet.
Offen gesagt, habe ich ziemlich geringe Lust weiter durch Flure wie diesen da zu pirschen, sage ich. Umkehren ist einfacher. Noch haben wir nichts mitgehen lassen, haben niemanden ernsthaft bedroht und könnten mit der Begründung, nur einen Kinofilm sehen zu wollen, den Kopf jederzeit wieder aus der Schlinge ziehen. Nur falls man uns zufällig danach fragt.
Komm schon, sagt sie. Wir wollen doch nicht kurz vor dem Ziel wieder aufgeben.
Rho sieht mich mit kleinmädchenhaften Augen an. Aber vor allem ist da noch ihre griechische Nase.
Reicht es nicht, dass wir jemanden erschreckt haben?, sage ich trotzig.
Erschreckt? Glaub ich nicht. Er hat gelacht.
Das hat immerhin ausgereicht. Danach ist er umgekippt.
Man hört aus geringer Entfernung sein leises Schnarchen.
Ich seufze laut und theatralisch und meine es auch so, lenke aber ein und nun gehen wir in Richtung Wohnungstür. Ich hätte Lust, Rho an der Hand zu nehmen: Hänsel und Gretel spazieren staunend und ein bisschen eingeschüchtert durch die Wunder des tropischen Urwalds.
Draußen das Treppenhaus wirkt in seiner grauen Nüchternheit beinahe entspannend. Eine von Rho vermutete Tür unmittelbar gegenüber existiert allerdings nicht. Da ist nur die glatte Wand. Also müssen wir die paar Stufen hinunterlaufen zur Straße. Es ist anzunehmen, dass die Haustür direkt neben dem Eingang zum Kino liegt. Wir werden, wenn wir dann wieder den kleinen Saal betreten, entweder erleben, dass der Film inzwischen angelaufen ist, oder wir müssen den anderen verkünden, dass es keinen Sinn hat, länger darauf zu warten. Sicher wird man das Ticket dann mit dem nächsten Besuch verrechnen können. Einige werden jedoch weiter ausharren, weil sie nun einmal nicht glauben wollen, dass man sie so leicht um ein bezahltes Vergnügen bringt.
Meine Vorausgedanken erweisen sich jedoch als voreilig, unten die Haustür ist nämlich abgeschlossen.
Rho versetzt ihr andeutungsweise einen wütenden Fußtritt. Weil wir die Tür zur Wohnung des Schläfers hinter uns haben ins Schloss fallen lassen, hängen wir nun im Niemandsland des Treppenhauses. Rho nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie wieder nach oben rennt. Dort drückt sie, sicher genauso wütend, auf die Wohnungsklingel. Der lange anhaltende Ton ist auch von hier unten deutlich zu hören. Der Schläfer hört ihn nicht.


*


Rho hat ihr Handy aus der Hosentasche gezogen.
Das dürfte nicht viel helfen, sage ich. Wer soll denn ohne einen Schlüssel in der Lage sein, uns hier rauszuholen.
Es muss ja nur einer den gleichen Weg gehen wie wir. Der kann uns diese Tür da – die Wohnungstür vor sich meint sie – wieder aufmachen.
Sie tippt schon auf ihrem Handydisplay herum, als uns im nächsten Moment schon derselbe Gedanke kommt. Er ist naheliegend.
Rho, die Ungestüme, stürmt eine weitere Treppe nach oben. Ich will ihr nicht gleich wieder hinterherlaufen und warte erst mal ab, ob sie Erfolg hat. Man hört den schnarrenden Ton einer Klingel und es dauert nicht lange, bis geöffnet wird. Ich höre Rho etwas sagen, sie wird aber rasch von der Stimme eines Mannes unterbrochen. Gleich darauf entfernt die Stimme sich schon wieder ins Innere der Wohnung, mit ihr Rho.
Nun gehe ich ebenfalls hinauf und stehe zwei halbe Treppen später vor einer angelehnten Wohnungstür. Vorsichtig öffne ich sie und ebenso vorsichtig trete ich ein.
Es riecht nach Kampfer und ein kleines bisschen nach Klo. Alles, was herumsteht, ist verschrammt und furchtbar aufgeräumt. Die Stimmen sind nicht mehr weit entfernt. Ich fühle mich etwas ungemütlich, als ich nun eine Küche betrete, in der ein älteres Ehepaar sitzt. Auch Rho nimmt gerade Platz.
Sind Sie der … der andere Kommissar?, fragt mich der Mann, der sich mir beflissen zuwendet. Einiges über siebzig mag er sein, seine Augen sind leicht zusammengekniffen.
Kommissar?, stutze ich.
Wir sind eigentlich mehr aus Versehen hier, versucht Rho zu erklären, wir …
Lassen Sie ruhig den Kommissar reden, unterbricht sie der Mann, der wohl ein bisschen schwerhörig ist. Er hat eine scheppernde Aussprache, als sei im Radio der Sender nicht richtig eingestellt.
Die Frau, die neben ihm sitzt, sagt: Er sieht sich jeden Krimi im Fernsehen an. Dabei verzieht sie den Mund, als würde das schon alles erklären.
Rho redet wieder, fragt: Was meinen Sie denn mit Kommissar?
Es ist nur so eine launige Anwandlung, dass ich ihr perfide ins Wort falle und den Mann frage: Also, was haben Sie gesehen?
Rho blickt überrascht zu mir auf, aber ich sehe über sie hinweg und auch der Mann scheint sie nicht weiter beachten zu wollen.
Ich bin Bryologe, erklärt er mir.
Bryologe, ah ja.
Ich beschäftige mich nämlich mit Moosen.
Manche sagen Mooses zu ihm, ergänzt seine Frau und verzieht wieder ihren Mund.
Und was ist Ihnen an Ihren Moosen Besonderes aufgefallen?, frage ich. Fragt der Kommissar.
An den Moosen doch nicht. Das wäre dann ja kein Fall für die Polizei!
Stimmt, sage ich, was also kann die Polizei für Sie tun?
Rho, neben der ich nun auch Platz genommen habe, hält immerhin still. Vielleicht ist es genau wie bei mir die schlichte Neugier, was nun folgt.
Sie sollten wissen, dass es Laub-, Leber- und Hornmoose gibt, sagt der alte Mann.
Welchen sind Sie auf der Spur?
Den Marchantiophyten, sagt er, hält den Kopf etwas schief und sieht mich herausfordernd an.
Den Laub…?
Den Lebermoosen. Sie haben einen leberförmigen Thallus, belehrt er mich. Im Mittelalter wurde er in Wein gekocht und als Medizin genossen, verstehen Sie?































sofort





































er
















knall ich Ihnen eine