Peter
Kiefer
KLEINES KINO
Action,
Thriller, Mystery 4
Bibliografische
Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche
Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de
abrufbar.
© dieser
Ausgabe: Juni 2019
p.machinery Michael Haitel
Titelabbildung:
Hochzeitsfotograf Florian Braatz, mit Christina & Simon Hafemann
Layout & Umschlaggestaltung:
global:epropaganda, Xlendi
Lektorat: Michael Haitel
Herstellung:
global:epropaganda, Xlendi
Verlag: p.machinery
Michael Haitel
Norderweg 31, 25887
Winnert
www.pmachinery.de
ISBN Paperback: 978 3
95765 029 0
ISBN E-Book: 978 3 95765
912 5
Bali heißt das Kino. Wer dabei an
Palmenstrände denkt und an biegsame Mädchen, die beim Tanzen mit den Augen
rollen, irrt. Bali ist nichts weiter als die Abkürzung für Bahnhofslichtspiele,
auch wenn es hier schon lange keinen Bahnhof mehr gibt.
Die Frau, die die Karten
verkauft, wohl die Betreiberin, ist im fortgeschrittenen Alter. Die
orangebraune Tönung über den grauen Haarwurzeln ist wie zu einer Haube
zusammengeschmolzen, Lippenstift verzeichnet ihren Mund etwas spitz nach oben.
Ich habe mich noch nicht
entschieden, was ich spielen werde, sagt sie und es hört sich an, als ob an
dieser Ankündigung nichts Ungewöhnliches sei.
Das Plakat im
Schaukasten zeigt als heutige Vorstellung Der Zementgarten an, einen
kurios anrührenden Film aus den 90ern mit Charlotte Gainsbourg, in dem vier
Teenager den Tod ihrer Eltern vor der Öffentlichkeit verbergen und von dieser
abgeschirmt ihr Leben selbst organisieren.
Was wäre die andere
Möglichkeit?, frage ich.
Harry meint es gut
mit dir.
Harry – was ist das für einer?
Mord und so was. Eine
Komödie.
Sie gibt mir das
Wechselgeld heraus.
Über einer Doppeltür,
deren einer Flügel offen steht, leuchtet das Wort Eingang. Drinnen im
Kinosaal hat sich jetzt kurz vor Beginn der Vorstellung nicht mehr als ein knappes
Dutzend Leute eingefunden. Ich gehe ganz nach vorn, weil ich da immer am
liebsten sitze, irgendwo am Rand.
Der Bühnenvorhang steht
offen, vermutlich ist der elektrische Mechanismus defekt. Die Wände sind mit
roten Velourstapeten beklebt, die noch aus Vorkriegszeiten stammen könnten, im
unteren Teil glänzen sie speckig und haben kein erkennbares Muster mehr.
Zusammen mit den schmetterlingsförmigen, grasgrün getupften rosa Wandlampen
stellt sich die Frage, ob hier überhaupt anständige Filme gezeigt werden.
Und was heißt noch
nicht entschieden? Vielleicht gibt es einen technischen Grund, vielleicht
auch einen, der nicht genau zu benennen ist und den außer dieser Frau niemand
wirklich verstünde. Ich stelle zumindest einen gedanklichen Versuch an: Der
Mann, der oben in der vorletzten Reihe sitzt, dürfte etwas älter sein als ich,
Anfang vierzig oder so, die anderen sind um einiges jünger, vielleicht sind es
Studenten von der nahe gelegenen Uni. Mord ist eher etwas für ältere Damen, und
wenn die Betreiberin ihre Auswahl aufs Publikum ausrichten sollte, spräche
alles für den angekündigten Zementgarten.
Die Eingangstür wird
geschlossen, dann dauert es noch eine Weile, bis der Saal sich verdunkelt. Ein
Werbespot läuft, dann noch einer und noch ein dritter. Dann erst mal nichts
mehr, auch keine Filmvorschau. Das Licht geht wieder an, wenn auch nicht in
voller Stärke, deshalb wartet man jetzt darauf, dass gleich ein Gong ertönt,
dass es ein zweites Mal dunkel wird und der Hauptfilm beginnt. Aber nichts
geschieht.
Es dauert noch eine
Weile, bis jeder begriffen hat, dass es tatsächlich nicht mehr weitergeht.
Eine Frau, die am
nächsten zum Ausgang sitzt, erhebt sich und geht hinaus ins Foyer.
Schulterzuckend kehrt sie schon kurz darauf wieder zurück. Da ist niemand, sagt
sie.
Ganz hinten wird ein
Mann aktiv. Er steigt über seinen Sessel von der vorletzten in die letzte
Sitzreihe hinauf und geht zu dem schmalen Fenster, durch das man in die
Vorführkabine blicken kann. Mit der Handfläche schirmt er seine Augen ab.
Da hinten brennt zwar
irgendwo Licht, verkündet er, aber sehen kann ich niemanden.
Zur Sicherheit klopft er
zweimal gegen die Scheibe und wartet kurz auf Antwort. Nichts, sagt er
schließlich, sie ist offenbar nicht da drin. Er kneift die Lippen zusammen,
reißt die Augen auf – eine Geste heiterer Ratlosigkeit.
Ein anderer sagt: Könnte
ja sein, dass sie Dünnpfiff hat. Jemand lacht darüber. Dann schweigen wieder
alle.
Vielleicht ist ihr etwas
zugestoßen, meint eine Frau, aber diese Befürchtung scheint niemand zu teilen.
Mit flapsigen Bemerkungen und nervösem Gelächter vergehen weitere Minuten. Bis
die besagte Frau sich schließlich aus ihrer Sitzreihe hangelt und allen
verkündet, dass sie draußen noch einmal nachsehen wird.
Also wenn jemand
mitkommen möchte …, sagt sie und passiert dabei zufällig die Stelle, wo ich
sitze. Da sich offenbar niemand entschließen will, ihr zu folgen, fühle ich
mich auf irgendeine Weise in die Pflicht genommen und erhebe mich ebenfalls.
Sie ist etwas größer als
ich. Wer ihr Äußeres beschreiben müsste, würde vermutlich ihre Nase
hervorheben, eine Nase von klassischer Prägung, wie man sie von Marmorstatuen
kennt. Eingerahmt wird ihr Gesicht von einer akkurat geschnittenen Bubifrisur.
Zählt man den schwarzen Pullover und die hellen Jeans, die sie trägt, hinzu,
ist diese Frau kaum der Typ für Harry meint es gut mit dir. Wie eine
besorgte Krankenschwester wirkt sie freilich auch nicht.
Wir werfen einen Blick
ins Foyer, in der lediglich eine verwaiste Theke steht und davor zwei leere
Tische. In der entgegengesetzten Richtung, wo sich die Toiletten befinden,
könnte man eher fündig werden.
Sehen wir nach, sagt die
Frau und geht bereits mit großen Schritten voraus. Gleich hinter den Toiletten
führt tatsächlich eine schmale Treppe nach oben. Statt einer Tür ist lediglich
eine Kette davor gespannt, an der ein Schild mit der Aufschrift Privat –
kein Zutritt! baumelt.
Das war’s dann wohl,
sage ich und wir sehen uns beide an, denken aber vermutlich nicht das Gleiche,
denn die Frau beugt sich ein Stück weit über die Kette und ruft: Ist jemand da
oben?
Eine Antwort erhält sie
nicht.
Zugestoßen ist ihr
bestimmt nichts, meine ich, um den Eifer der Frau ein wenig zu bremsen.
Der Film ist aber auch
noch nicht angelaufen, sagt sie. Sie hat recht. Wir haben die Eingangstür zum
Kinosaal nur halb geschlossen und hören von dort die Stimmen der Besucher, die
sicher noch ein paar Witze reißen, vielleicht warten sie auch darauf, dass wir
ihnen etwas mitteilen werden.
Wieder sehen wir uns an.
Die fürsorgliche Entschlossenheit der Frau lässt sich leicht aus ihrem Blick
herauslesen. Ohne mich weiter zu fragen, löst sie die Kette vom Haken und
drückt mir das Ende in die Hand.
Wir sollten es
wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen, sagt sie. Wenn sich da oben
niemand meldet, kehren wir natürlich gleich wieder um.
Etwas überrumpelt nehme
ich das Ende dieser leicht angerosteten Kette in Empfang und hänge sie hinter
mir wieder an den Haken zurück, als ob ich damit unsere Spur verwischen könnte.
Dann gehe ich, wenn auch voller Skrupel, mit der Frau die Treppe hinauf. Ich
muss zugeben, dass es mir schwerfällt, ihrer klassischen Nase etwas
abzuschlagen.
Der Korridor, in den wir
dort oben gelangen, ist weder lang noch breit, dafür springt er einen geradezu
an. Kaum anders als der Kinosaal scheint auch er auf skurrile Weise aus der
Zeit gerutscht. Grund sind die Tapeten, ganz im Stil der sechziger Jahre haben
sie psychedelische Muster. Zwei Poster mit den Konterfeis von Jimi Hendrix und
der Politikone Angela Davis runden dieses Bild ab, bräunliche Flecken
inklusive.
Ich nenne der Frau
meinen Namen, für alle Fälle. Sie verrät mir ihren: Rho.
Rho?
Wie der griechische
Buchstabe.
Also mit einem H in der
Mitte. Das hat sie da sicher hineingeschmuggelt. Ursprünglich heißt sie
vielleicht Rosamunde oder Roswitha oder einfach Rosi. Aber ihre Nase lässt gar
nichts anderes zu als dieses H.
Ich klopfe mal, sagt sie
und deutet auf die einzige Tür, die von dem Flur abgeht. Hallo!, ruft sie mit
aufgeputzter Munterkeit, aber es erfolgt auch diesmal keine Antwort. Auch als
sie die Tür ein klein wenig öffnet, hört man nichts, kein Schnaufen, kein
Röcheln, dem man zu Hilfe eilen müsste.
Rho zieht die Tür weiter
auf und macht einen Schritt nach vorn. Komisch hier, sagt sie.
Eigentlich ist das
Zimmer weit weniger komisch als der Flur. Das Verblüffende daran ist jedoch der
Kontrast. Die Wände sind weiß gestrichen, rechteckige helle Flecken verteilen
sich über die Stellen, wo früher einmal Möbel standen, Bilder oder weitere
Poster hingen. Ein Bett ist das Einzige, was noch vorhanden ist. Darauf liegt
eine billige E-Gitarre. Sie bringt mich auf den etwas verwegenen Gedanken, dass
dieses Zimmer einmal von einem Jugendlichen bewohnt wurde, der dem schwülstigen
Farbenrausch seiner Eltern eine gehörige Portion Nüchternheit entgegensetzen
wollte. Dass es also eine Art Protestzimmer sei.
Plötzlich eine Stimme.
Jemand ruft etwas von unten. Wir eilen wieder auf den Flur hinaus.
Ist jemand da?, ruft
Rho.
Seid ihr das? Die Frage
kommt von unterhalb der Treppe.
Das ist einer von uns da
unten, sagt Rho.
Komm ruhig rauf, ruft
sie. Is’ eh keiner da.
Es dauert auch nicht
lange, bis ein Kopf sichtbar wird und ich erkenne den Mann wieder, der in der
oberen Sitzreihe versucht hat, einen Blick in den Vorführraum zu werfen.
Keiner da?, fragt er und
grinst geheimnisvoll.
Rho schüttelt den Kopf.
Die ist bestimmt mit
unserem Geld abgehauen, sagt er und produziert dazu ein schnaubendes Lachen.
Ambitionen, die Treppe noch weiter heraufzusteigen, hat er augenscheinlich
nicht.
Ich sag dann mal
Bescheid, meint er noch, winkt verlegen und macht wieder kehrt.
Wir kommen auch, rufe
ich hinterher und fragend wandert mein Blick zu Rho.
Bleibt uns wohl nichts
anderes übrig, sagt sie müde.
Nun aber bin ich es, der
die Dinge – ohne besondere Absicht, vielleicht nur der Dynamik des Augenblicks
folgend – weiter im Fluss hält. Mir ist nämlich etwas aufgefallen. Ich weise
Rho darauf hin, indem ich auf einen Porzellanknopf zeige, der in einer
muldenartigen Vertiefung der Wand steckt. Es könnte ein Drehschalter oder
dergleichen sein, es ist aber etwas anderes, ein Knauf, und er gehört zu einer
Tür, wie sie in viktorianischen Krimis gelegentlich eine Rolle spielt. Ihre
Umrisse sind in dem Farbdelirium der Tapete bei näherem Hinsehen sogar unschwer
zu erkennen. Und da wir bereits Übung darin besitzen anderer Leute Türen zu
öffnen, versuchen wir es jetzt auch mit dieser selten gewordenen Spezies einer
Tapetentür.
Der Raum dahinter ist
auf den ersten Blick ein Wohnzimmer, er ist ebenso spärlich erleuchtet wie
unten der Kinosaal. Beiläufig wird mir dabei bewusst, dass draußen im Flur das
Licht angeschaltet ist. Vielleicht wegen der Kinobesucher, denen man damit
signalisieren will, dass sie hier oben nichts zu suchen haben. Eine Tür
einzubauen, wäre bestimmt die einfachere Lösung.
Ich habe gerade zwei
Schritte vorwärts gemacht, als ich wie angewurzelt stehen bleibe und Rho neben
mir kräftig am Handgelenk fasse.
Was …?
Etwas irritiert folgt
sie meinem Blick, nun aber sieht sie es ebenfalls, eine männliche Gestalt. Im
Gegenlicht ist sie nur als Silhouette sichtbar.
Vielleicht ebenso
überrascht wie wir ist der Mann erst einmal sprachlos. Dann dreht er leicht
seinen Kopf zur Seite und man erkennt ein breites Gesicht mit hoher Stirn.
Seine glänzend schwarzen Haare erscheinen wie angeklebt, als habe er gerade
einen zu engen Hut vom Kopf genommen.
Entschuldigen Sie, wir
wollten nicht bei Ihnen eindringen, meine ich.
Rho ergänzt: Wir suchen
nur die Besitzerin. Da unten läuft nämlich der Film nicht an, auf den alle warten.
Der Mann sagt: Ist sie
mal wieder verhindert?, und dieses verhindert bringt er in einem
spöttischen Tonfall, geradezu tuntenhaft vor. Darüber fängt er an zu kichern.
Drei, vier Sekunden nur, dann werden seine Knie weich und er fällt wie ein Sack
in verrenkter Haltung zu Boden.
Wir eilen beide zu ihm
hin.
Ist das ein Anfall? Was
ist los mit ihm?, frage ich.
Rho sagt: Epileptiker
scheint er nicht zu sein, sonst hätte er krampfartige Zuckungen.
Sie hat recht, er liegt
nur reglos da, wie tot. Doch er atmet.
Er schläft, sagt Rho.
Schläft? Einfach so?
Ich habe nie zuvor
jemanden beobachtet, der auf der Stelle schlafend zusammengebrochen wäre.
Wir legen ihn am besten
hier auf die Couch, sagt Rho, die sich von diesem Auftritt weniger beeindrucken
lässt als ich. Sie tätschelt den Mann auf die Wange, erst sanft, dann etwas
kräftiger. Hören Sie mich?
Der Mann hat die Augen
geschlossen, bewegt aber leicht die Lippen. Ein klarer Laut kommt dabei nicht
zustande.
Wir schleifen ihn den
kurzen Weg zur Couch. Seine Glieder sind unverspannt, völlig schlaff. Dick ist
er nicht, trotzdem haben wir unsere liebe Mühe ihn auf das Polster zu hieven.
Rho spricht ihn erneut
an, tätschelt wieder. Da ist im Augenblick nicht viel zu machen, meint sie. Wie
es aussieht, ist er Narkoleptiker. Die haben solche plötzlichen
Einschlafattacken.
Rho kennt sich offenbar
aus. Vielleicht ist sie doch Krankenschwester oder hat sonst etwas mit Medizin
zu tun.
Wie lange dauert so
was?, frage ich.
Zu lange, um aufs
Aufwachen zu warten.
Meinst du, wir sollten
ihn einfach so liegen lassen?
Wenn wir seiner Mutter
begegnen, können wir ihr ja Bescheid sagen, meint Rho. Sie denkt das Gleiche
wie ich: dass er der Sohn dieser Kinobesitzerin ist. Die Ähnlichkeit ist
augenfällig.
Sachte lässt Rho seinen
Unterarm los, den sie die ganze Zeit umklammert hatte, und richtet sich neben
mir aus ihrer Hockstellung wieder auf. Wir blicken stumm auf den vor uns
liegenden, gleichmäßig atmenden Körper. Erst nach einer Weile wenden wir uns
ab.
Eigentlich haben wir uns
schon viel zu weit vorgewagt, meine ich.
Rho scheint wieder
anderer Ansicht zu sein, denn sie geht bereits neugierig auf den angrenzenden
Flur hinaus. Der ist lang und schmal. Außer aufgereihten Schuhen am Boden und
einer Garderobe, die von Kleidungsstücken begraben wird, ist nicht viel
vorhanden. Aber selbst wenn es anders wäre, würde es kaum auffallen, denn der
mit lila und orangefarbenen Rosenblüten und schlanken Paradiesvögeln überzogene
Wandbelag saugt alle Blicke auf. Es ist das nächste Farbspektakel und ich frage
mich, wie man es über Jahre und Jahrzehnte mit so etwas aushält. Die Kinofrau
wird mir etwas unheimlich.
Hallo-ho!, ruft Rho mit
Singsang in der Stimme. Ist denn niemand da?
Wieder erhält sie keine
Antwort.
Wenn wir dahinten durch
die Tür die Wohnung verlassen, gelangen wir vielleicht durch eine
gegenüberliegende Tür ins Kino zurück, schlägt Rho vor.
Wo genau befinden wir
uns überhaupt?, frage ich. Sind wir nicht auf dem Weg zu den Toiletten noch mal
nach rechts um die Ecke gebogen? Dann wären wir doch hier, warte mal, auf der falschen
Kinoseite gelandet.
Ich ziehe einen kleinen
Schreibblock und einen Kugelschreiber aus meinem Jackett.
Also das da ist der
Kinosaal …
Dabei zeichne ich ein Rechteck
auf den Block und versuche mit weiteren Strichen unseren Weg zu rekonstruieren.
Aber Rho korrigiert mich, behauptet, ich hätte eine Ecke zu kurz gedacht, weil
auch die Treppe noch einen Bogen machen würde, genau den, der wieder zu dem
Kinosaal zurückführen würde.
So richtig klar ist es
aber auch ihr nicht, dennoch befeuert sie den Gedanken, dass wir unserem Ziel,
dem Vorführraum, ganz nahe sind. Von der Wohnung aus könnte oder sollte es eine
direkte Verbindung geben.
Lass es uns
ausprobieren, beharrt Rho und sie meint damit, dass es vis-à-vis der
Wohnungstür eine Tür geben müsse, die zum Vorführraum leitet.
Offen gesagt, habe ich
ziemlich geringe Lust weiter durch Flure wie diesen da zu pirschen, sage ich.
Umkehren ist einfacher. Noch haben wir nichts mitgehen lassen, haben niemanden
ernsthaft bedroht und könnten mit der Begründung, nur einen Kinofilm sehen zu
wollen, den Kopf jederzeit wieder aus der Schlinge ziehen. Nur falls man uns
zufällig danach fragt.
Komm schon, sagt sie.
Wir wollen doch nicht kurz vor dem Ziel wieder aufgeben.
Rho sieht mich mit
kleinmädchenhaften Augen an. Aber vor allem ist da noch ihre griechische Nase.
Reicht es nicht, dass
wir jemanden erschreckt haben?, sage ich trotzig.
Erschreckt? Glaub ich
nicht. Er hat gelacht.
Das hat immerhin
ausgereicht. Danach ist er umgekippt.
Man hört aus geringer
Entfernung sein leises Schnarchen.
Ich seufze laut und
theatralisch und meine es auch so, lenke aber ein und nun gehen wir in Richtung
Wohnungstür. Ich hätte Lust, Rho an der Hand zu nehmen: Hänsel und Gretel
spazieren staunend und ein bisschen eingeschüchtert durch die Wunder des
tropischen Urwalds.
Draußen das Treppenhaus
wirkt in seiner grauen Nüchternheit beinahe entspannend. Eine von Rho vermutete
Tür unmittelbar gegenüber existiert allerdings nicht. Da ist nur die glatte
Wand. Also müssen wir die paar Stufen hinunterlaufen zur Straße. Es ist
anzunehmen, dass die Haustür direkt neben dem Eingang zum Kino liegt. Wir
werden, wenn wir dann wieder den kleinen Saal betreten, entweder erleben, dass
der Film inzwischen angelaufen ist, oder wir müssen den anderen verkünden, dass
es keinen Sinn hat, länger darauf zu warten. Sicher wird man das Ticket dann
mit dem nächsten Besuch verrechnen können. Einige werden jedoch weiter
ausharren, weil sie nun einmal nicht glauben wollen, dass man sie so leicht um
ein bezahltes Vergnügen bringt.
Meine Vorausgedanken
erweisen sich jedoch als voreilig, unten die Haustür ist nämlich abgeschlossen.
Rho versetzt ihr
andeutungsweise einen wütenden Fußtritt. Weil wir die Tür zur Wohnung des
Schläfers hinter uns haben ins Schloss fallen lassen, hängen wir nun im
Niemandsland des Treppenhauses. Rho nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie
wieder nach oben rennt. Dort drückt sie, sicher genauso wütend, auf die Wohnungsklingel.
Der lange anhaltende Ton ist auch von hier unten deutlich zu hören. Der
Schläfer hört ihn nicht.
Rho hat ihr Handy aus
der Hosentasche gezogen.
Das dürfte nicht viel
helfen, sage ich. Wer soll denn ohne einen Schlüssel in der Lage sein, uns hier
rauszuholen.
Es muss ja nur einer den
gleichen Weg gehen wie wir. Der kann uns diese Tür da – die Wohnungstür vor
sich meint sie – wieder aufmachen.
Sie tippt schon auf
ihrem Handydisplay herum, als uns im nächsten Moment schon derselbe Gedanke
kommt. Er ist naheliegend.
Rho, die Ungestüme,
stürmt eine weitere Treppe nach oben. Ich will ihr nicht gleich wieder
hinterherlaufen und warte erst mal ab, ob sie Erfolg hat. Man hört den
schnarrenden Ton einer Klingel und es dauert nicht lange, bis geöffnet wird.
Ich höre Rho etwas sagen, sie wird aber rasch von der Stimme eines Mannes
unterbrochen. Gleich darauf entfernt die Stimme sich schon wieder ins Innere
der Wohnung, mit ihr Rho.
Nun gehe ich ebenfalls
hinauf und stehe zwei halbe Treppen später vor einer angelehnten Wohnungstür.
Vorsichtig öffne ich sie und ebenso vorsichtig trete ich ein.
Es riecht nach Kampfer
und ein kleines bisschen nach Klo. Alles, was herumsteht, ist verschrammt und
furchtbar aufgeräumt. Die Stimmen sind nicht mehr weit entfernt. Ich fühle mich
etwas ungemütlich, als ich nun eine Küche betrete, in der ein älteres Ehepaar
sitzt. Auch Rho nimmt gerade Platz.
Sind Sie der … der
andere Kommissar?, fragt mich der Mann, der sich mir beflissen zuwendet.
Einiges über siebzig mag er sein, seine Augen sind leicht zusammengekniffen.
Kommissar?, stutze ich.
Wir sind eigentlich mehr
aus Versehen hier, versucht Rho zu erklären, wir …
Lassen Sie ruhig den
Kommissar reden, unterbricht sie der Mann, der wohl ein bisschen schwerhörig
ist. Er hat eine scheppernde Aussprache, als sei im Radio der Sender nicht
richtig eingestellt.
Die Frau, die neben ihm
sitzt, sagt: Er sieht sich jeden Krimi im Fernsehen an. Dabei verzieht sie den
Mund, als würde das schon alles erklären.
Rho redet wieder, fragt:
Was meinen Sie denn mit Kommissar?
Es ist nur so eine
launige Anwandlung, dass ich ihr perfide ins Wort falle und den Mann frage:
Also, was haben Sie gesehen?
Rho blickt überrascht zu
mir auf, aber ich sehe über sie hinweg und auch der Mann scheint sie nicht
weiter beachten zu wollen.
Ich bin Bryologe,
erklärt er mir.
Bryologe, ah ja.
Ich beschäftige mich
nämlich mit Moosen.
Manche sagen Mooses zu
ihm, ergänzt seine Frau und verzieht wieder ihren Mund.
Und was ist Ihnen an
Ihren Moosen Besonderes aufgefallen?, frage ich. Fragt der Kommissar.
An den Moosen doch
nicht. Das wäre dann ja kein Fall für die Polizei!
Stimmt, sage ich, was
also kann die Polizei für Sie tun?
Rho, neben der ich nun
auch Platz genommen habe, hält immerhin still. Vielleicht ist es genau wie bei
mir die schlichte Neugier, was nun folgt.
Sie sollten wissen, dass
es Laub-, Leber- und Hornmoose gibt, sagt der alte Mann.
Welchen sind Sie auf der
Spur?
Den Marchantiophyten,
sagt er, hält den Kopf etwas schief und sieht mich herausfordernd an.
Den Laub…?
Den Lebermoosen.
Sie haben einen leberförmigen Thallus, belehrt er mich. Im Mittelalter wurde er
in Wein gekocht und als Medizin genossen, verstehen Sie?
sofort
er
knall ich Ihnen
eine