Daniel-Pascal Zorn
Das Geheimnis der Gewalt
Warum wir ihr nicht entkommen &
was wir trotzdem dagegen tun können
Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96239-0
E-Book: ISBN 978-3-608-19179-0
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Reden wir von Gewalt, denken wir an das Naheliegende. Gewalt ist ein Schlag ins Gesicht, ein Tritt in die Magengrube, eine vorgehaltene Waffe. Zwingt der Überlegene dem körperlich Schwächeren seinen Willen auf, sprechen wir von Gewalt. Gewalt ist das Recht des Stärkeren. Er muss seine Stärke nicht rechtfertigen, sondern er kann sie einfach einsetzen, um seinen Willen durchzusetzen.
Diese Gewalt ist kein Geheimnis. Jeder von uns kennt sie. Viele von uns haben sie erfahren. Sie findet sich in allen sozialen Beziehungen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden, zwischen Eheleuten. Gewalt ist uns näher, als wir es oft wahrhaben wollen. Denn Eltern und Kinder, Freunde und Eheleute sind keine Feinde. Sie sind Menschen, die in einer Gemeinschaft zusammenleben. Und doch kann sie sich in diese Gemeinschaft einschleichen. Sie kann so dominant werden, dass sie diese Gemeinschaften beherrscht.
Neben diesen alltäglichen Erfahrungen von Gewalt kennen wir auch ihre – vergleichsweise »normalen« – Formen. Menschen tun einander in vielfältigen Kontexten Gewalt an, ohne dass diese Kontexte uns so naherücken wie die Gewalt in unseren nächsten sozialen Beziehungen. Dazu gehört, ganz allgemein, der Krieg. In einem Krieg wird Gewalt zu einem Mittel, um einem anderen Staat oder einem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Ein Krieg findet üblicherweise zwischen »regulären Kampfeinheiten«, also zwischen Armeen statt.
Aber es gibt auch »irreguläre Kriege«, zum Beispiel solche, die in »totale Kriege« umschlagen, die sich aller Lebensbereiche bemächtigen und die Gewalt so allgegenwärtig werden lassen, dass ganze Generationen durch sie traumatisiert werden. Um den Feind zum Einlenken zu zwingen, übt man Druck auf die Zivilbevölkerung aus. Man schneidet ihr den Zugang zu Vorräten und Wasser ab, man entführt ihre Kinder oder man zerstört gleich ganze Dörfer und Städte und massakriert ihre Einwohner.
Aber auch ohne einen Krieg mit einem anderen Staat kann die eigene Gesellschaft in den Kriegszustand verfallen. Der Bürgerkrieg ist eine der brutalsten Formen des Krieges, womöglich sogar die grauenhafteste, weil in einem Bürgerkrieg keine Regel gilt und jeder um das nackte Überleben kämpft. Die Bürger entwinden dem Staat das Gewaltmonopol, das sie ihm einst übertragen haben. Im Bürgerkrieg wird jeder zu einem potenziellen Heerführer oder Soldaten. Die ganze Gesellschaft versinkt im Krieg mit sich selbst.
Auch Gesellschaften, die im Frieden leben, sind keineswegs friedlich. Gewalt gehört zu ihrem Alltag. Das beginnt bei organisierter Kriminalität und endet in unserem sozialen Nahbereich. Befriedete Gesellschaften ächten Gewalt und verfolgen Gewalttaten strafrechtlich. Gewalt muss dann lernen, sich zu verbergen. Sie findet folglich dort statt, wo gerade niemand hinsieht.
Wenn man die Gewalt auf ihre physischen Formen reduziert, dann könnte man eine einfache Überlegung anstellen: Gewalt ist dort am sichtbarsten, wo sie durch Regeln normalisiert ist oder wo sie als Ereignis über die Menschen hereinbricht, ein Ereignis, das sich jeder Regel entzieht. Wo eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft auf friedliche Übereinkunft angelegt ist, muss die Gewalt unsichtbar werden. Ihr steht die Strafe gegenüber, die die Gesellschaft oder Gemeinschaft über den Gewalttäter verhängt. Je friedvoller Gesellschaften also sind, desto schwieriger ist es, ungestraft Gewalttaten zu begehen.
Das wäre jedoch ein sehr einfaches Verhältnis von Gewalt und Geheimnis. Die Gewalt muss dort zu einem Geheimnis werden, wo sie nicht entdeckt werden soll. Sie ist dann Ausdruck eines Willens, der sich keinem anderen Willen beugt, auch nicht dem der Gesellschaft, der Gemeinschaft oder des Staates. Der Gewalttäter nimmt sich eine Freiheit heraus, die nur und ausschließlich für ihn gilt. Seine Gewalt schränkt die Freiheit seine Opfer vollkommen ein. Gewalt, die andere Gewalt, die selbst erlittene Gewalt rächen will, setzt sich über das Recht hinweg, nimmt das Recht in die eigene Hand und übt Selbstjustiz.
Gewalt erscheint darin als Willkür, absolute Freiheit – ein Gewalttäter beansprucht, und sei es nur für einen Moment, zugleich Exekutive, Legislative und Judikative zu sein. Er legt die Regeln fest, er verurteilt sein Opfer nach diesen Regeln und er vollzieht das Urteil. Der Gewalttäter steht dem Staat gegenüber, dem die Bürger das Gewaltmonopol überantwortet haben. Der Staat muss sich für die Gewalt, die er anwendet und ausübt, rechtfertigen. Er ist an das Recht gebunden.
Der Gewalttäter muss das nicht, jedenfalls so lange nicht, wie nicht der Staat seiner habhaft wird und ihn bestraft. Er hat sich zur Gewalt ermächtigt. Seine Gewalt übersteigt die Gewalt, die der Staat anwendet. Willkür und gerechtfertigter Wille, absolute Freiheit und gleiche Freiheit für alle stehen sich so gegenüber. Kein Wunder, dass eine friedvolle Gesellschaft oder Gemeinschaft die Gewalt ächtet: Diese stellt ihr genaues Gegenteil dar, den Zusammenbruch aller Gemeinschaft in Willkürmonaden, die jederzeit und ohne Regel in einen Krieg aller gegen alle ziehen können.
Eine Grundstruktur von Gewalt besteht in diesem Verhältnis von Willkür und gerechtfertigtem Willen, absoluter und gleicher Freiheit. Sie entspricht der absoluten Entgegensetzung von Eigenem und Gemeinsamem, von Dogma und Anerkennung gleicher Rechte. Aus dieser Perspektive wird die Frage nach der Gewalt allerdings ungleich komplizierter. Denn so betrachtet erscheint die physische Gewalt nur als eine Sonderform von Gewalt. Sie ist, genauer, diejenige Sonderform von Gewalt, die uns, scheinbar, am nächsten geht. Diese Form der Gewalt tut weh, sie fügt dem Opfer Schmerzen zu oder beendet seine Existenz. Sie richtet sich auf den Körper, auf seine Leidensfähigkeit und seine Verfügbarkeit gleichermaßen. Sie spielt kontingente Stärke gegen kontingente Schwäche aus oder bedient sich solcher Mittel, die das Opfer schwer verletzen oder töten.
Dass Gewalt für uns alltäglich ist und uns zugleich nahegeht, hautnah, schmerzhaft, unerträglich, traumatisierend ist, führt zu einer seltsamen Spannung. Wir blenden aus, was unangenehm ist. Manchmal blenden wir dabei aber auch das mit aus, was uns besonders nah ist. Dadurch aber ermöglichen wir gerade die Gewalt, die wir ausblenden wollen. Weil das, was nah und unangenehm ist, selbst wie eine Form von Gewalt erscheint, schieben wir es, oft mit Gewalt, von uns. Und dadurch machen wir andere Formen von Gewalt möglich, die genau damit rechnen, dass wir es von uns schieben, sie verdrängen.
Auch hier verbindet sich die Gewalt mit dem Geheimnis, in einer Verbindung, die aber komplexer ist als bei einem Täter, der die Bestrafung vermeiden will und deswegen seine Gewalt verbirgt. Aus Angst vor Gewalt legen wir fest, dass Gewalt bei uns nicht stattfindet. Diejenigen, die trotzdem Gewalt erfahren, erleben diese Festlegung als eine weitere Gewaltform, die ihnen ihre Erfahrung abspricht. Das kann so weit gehen, dass einem Opfer nicht geglaubt wird, sondern dass ihm die Schuld an der Gewalt gegeben wird, die es erfahren hat.
So abstrakt, wie Sie vielleicht denken, ist das keineswegs: Eine Vergewaltigung? In unserer Gesellschaft? Das hat die Frau doch selbst provoziert! Warum zieht sie sich auch so an? Warum geht sie nach 22 Uhr noch auf die Straße? Die Abwehr von Gewalt kann Gewalt erzeugen, die die eigentliche Gewalttat um eine schwer fassliche Dimension erweitert. Eine Dimension von Gewalt, die nicht mehr so leicht zu begreifen ist wie ein Schlag ins Gesicht oder ein Tritt in die Magengrube.
Diese neue Dimension von Gewalt ist keine, die man in Schlägen oder Tritten zählen oder messen kann. Sie ereignet sich in der Kommunikation über die Gewalttat. Dabei spielt die oben genannte Grundstruktur eine ganz ähnliche Rolle wie bei der physischen Gewalt: Gewalt möchte man nicht im eigenen Nahbereich haben – auch weil man vielleicht fürchtet, dass sie auf diesen Nahbereich übergreift –, und so macht man diesen Willen zur Nichtexistenz von Gewalt zu einem Gesetz, das auch das Opfer zu akzeptieren hat, das Gewalt erfährt. Anders als bei der physischen Gewalt bewegt man sich hier jedoch nicht in einem Bereich, der strafrechtlich so klar fassbar ist wie dort.
Im Gegenteil – die Meinungsfreiheit garantiert die allermeiste kommunikative Gewalt: Sie deckt gleichsam diese Gewalt. Und diese Meinungsfreiheit ist ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat, also eine Abwehr von dessen (möglicher) Gewalt. Meinungsfreiheit nimmt dem Staat das Recht, das Gewaltmonopol, das die Bürger dem Staat übertragen haben, beispielsweise auszunutzen, um seinen Bürgern zu verbieten, ihre Meinung zu äußern. Sie ist ein Recht, das gegen eine mögliche Form staatlicher Gewalt gerichtet ist. Und zugleich ermöglicht dieses Recht Formen öffentlicher Gewalt: Opfer der von ihnen erlittenen Gewalt zu beschuldigen oder Gewalt kategorisch auszuschließen, obwohl Menschen diese angeblich nicht existente Gewalt tagtäglich erleben und erleiden.
Bestimmte Gewalttaten hingegen blendet die Öffentlichkeit überhaupt nicht aus, so etwa abstoßende Gewalttaten oder anormale Täter. Überdies bestätigen etliche Gewaltformen persönliche Überzeugungen: Man ist so ›frei‹, sich ein (Vor-)Urteil über einen Täter oder eine Gruppe bilden zu dürfen.
In solchen Fällen bietet oft schon der Verdacht im Hinblick auf einen Täter den Anlass, ein Urteil zu sprechen. Die Öffentlichkeit wird zur Legislative, denn sie gibt die Regeln vor, nach denen geurteilt wird, und dieselbe Öffentlichkeit wird zur Judikative, denn sie spricht das Urteil. Sich zur Exekutive zu machen, ist freilich strafbar – und doch scheint der Volksgerichtshof, scheinen Lynchjustiz und Pogrom oft nur einen Steinwurf entfernt zu sein. Findige Demagogen nutzen dann solche Stimmungen, reden eine Staatskrise herbei und raten den Bürgern, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen.
Diese hier genannte Grundstruktur ist fast ständig präsent; jedenfalls liegt sie nie weit entfernt. Sie arbeitet in der öffentlichen Vorverurteilung vermeintlicher Täter ebenso wie in der Willkür des Verbrechers. Sie zeigt sich in der verabsolutierten Selbsterzählung der Bürger wie im Verhältnis des Verbrechers zum Staat. Denn das Gewaltmonopol des Staates erscheint jederzeit prekär. Auch der Staat kann sich Lücken zunutze machen, um Gewalt auszuüben. Das ist deswegen besonders problematisch, weil die Bürger dem Staat das Gewaltmonopol in verantwortliche Hände übergeben haben. Der Staat ist für seine Gewalt rechenschaftspflichtig – aber dafür muss man diese Gewalt erst einmal sichtbar machen und, vor Gericht, nachweisen, dass diese Gewalt nicht rechtens war und ist.
Wenn sogar Kommunikation gewalttätig sein kann, wenn es eine Gewaltdimension gibt, die nicht auf das Physische reduziert werden kann, dann rückt uns diese Gewalt auf gewisse Weise noch näher als die physische Gewalt gegen den Körper. Kommunikation findet ständig statt. Sie strukturiert, sie organisiert, sie gestaltet, sie moduliert unseren gesamten Alltag. Plötzlich ist Gewalt, die schon als physische zum Alltag gehört und die einerseits verdrängt, andererseits skandalisiert wird, wirklich überall. Wir können uns ihrer gar nicht mehr erwehren, denn sie beschränkt sich nicht mehr auf den Schlag ins Gesicht. Im Gesagten und im Ungesagten findet sich unvermutet, scheinbar unvermeidlich: Gewalt.
Kommunikation vermittelt nicht nur den Sinn, den wir in Bezug auf die Welt teilen. Kommunikation begründet, wie und warum wir so und nicht anders handeln, macht unsere administrativen und bürokratischen Abläufe nachvollziehbar, rechtfertigt unsere Leitfäden und formalen Regelwerke und verteidigt unsere gemeinschaftlichen Traditionen, die unsere Erziehung und unsere Erzählungen fortschreiben. Das betrifft pragmatische Normen ebenso wie moralische – wer schon einmal mit den Behörden oder dem Amt zu tun hatte, weiß das genauso gut wie jemand, der sich auf dem Land in eine Dorfgemeinschaft einfügen musste.
Ist Gewalt flächendeckend, ubiquitär, global, universal? Es scheint so. Jedes beliebige Verhältnis, in dem Menschen sich bewegen, jede menschliche Beziehung und jede Form der Organisation ihres Lebens, kann zu einem Verhältnis gerinnen, das als gewalttätig wahrgenommen wird. Physische Gewalt, kommunikative Gewalt, psychische Gewalt, strukturelle Gewalt – so könnte man diese Gewaltformen unterscheiden und hat doch nur Aspekte aus der Vielfalt herausgegriffen: So wird Gewalt angetan und erfahren, gedankenlos vollzogen und taktisch eingesetzt.
Wenn wir schon physische Gewalt, weil sie uns unangenehm nahegeht, auszublenden versuchen, was ist dann mit dieser Allgegenwart? Können wir ihr überhaupt entkommen? Oder sind wir darauf angewiesen, bestimmte Formen von Gewalt zuzulassen, um über andere Stillschweigen zu bewahren, weil diese Gewalt sonst jedes Maß des Erträglichen sprengen würde? Müssen wir Formen von Gewalt umetikettieren, damit sie wie Pragmatismus, gesunder Menschenverstand, Durchsetzungsvermögen, Gerechtigkeit – und damit als gesellschaftlich annehmbar – erscheinen? Wie aber steht es dann um unsere verständliche Empörung über Gewalt, wenn wir uns selbst nicht frei machen können von dem Vorwurf, auf die eine oder andere Weise gewalttätig zu sein?
Diese Fragen deuten darauf hin: Gewalt und das Geheimnis stehen miteinander in einem wesentlichen Zusammenhang, der elementar und folgenreich zu sein scheint. Das betrifft den, vergleichsweise einfachen, Umstand, dass Gewalttäter durchgängig dazu neigen, ihre Tat zu verbergen, weil diese gesellschaftlich geächtet ist. Es betrifft aber auch unsere Neigung, manche Gewaltformen auszublenden, um andere Formen dafür umso greller auszuleuchten und zu vergrößern. Der Zusammenhang von Gewalt und Geheimnis reicht aber tiefer. Gewalt zielt auf ein Geheimnis, das der Gewalt einstweilen gar nicht zugänglich ist.
Das Private und Persönliche, der Besitz und das Eigentum gehören zu diesem Geheimnis. Der Begriff kehrt wieder in Vereinbarungen, die unseren privaten und persönlichen Bereich betreffen: die geheime Wahl, das Bankgeheimnis, das Postgeheimnis, das Passwort. Der Begriff des Geheimnisses verweist auf unser Recht, Dinge für uns zu behalten, sofern sie Gesellschaft oder Gemeinschaft nicht bedrohen. Doch woher will man das so genau wissen, wenn doch der Bereich, anhand dessen man beurteilen könnte, ob etwas gefährlich oder schädlich ist, allen anderen entzogen bleibt? Auf der einen Seite stehen explizite und implizite Normen, Normen, auf die wir uns geeinigt haben, und solche, die wir uns – sei es staatlich, sei es gesellschaftlich – ganz selbstverständlich verordnen. Auf der anderen Seite steht die private Lebenswelt des Einzelnen und seiner Familie, seiner Wohnung und seines Lebensentwurfs, seiner Freiheit und seiner Würde.
Das Geheimnis und die Gewalt ringen dort, wo diese beiden Seiten einander gegenüberstehen, miteinander. Dieses Ringen betrifft nicht nur die offensichtlichen Konflikte zwischen Gewalt und Geheimnis, etwa bei einem Verbrechen. Gewalt dringt auch in das Geheimnis des Privaten und Persönlichen ein und eignet sich etwas gegen den Willen ihres Opfers an. Aber hier liegen die Verhältnisse so offen zutage, dass eine Gerichtsverhandlung die Schuld des Täters feststellen und den Opfern Entschädigung zusprechen kann.
Was aber ist, wenn das Verhältnis zwischen Normen und Lebenswelt, zwischen Gewalt und Geheimnis nicht so klar entscheidbar ist? Nicht jede Norm impliziert Gewalt, sondern nur diejenigen Normen, die willkürlich und ohne jede Chance auf gemeinsame Einigung festgelegt werden. Kann man hier aber immer so klar entscheiden, welche Norm auf Willkür und welche auf Einigung basiert? Wenn ein Gesetzesentwurf, zum Beispiel zu einer Reform des Arbeitsmarktes, vom Parlament verabschiedet wird, geschieht das letzten Endes durch den Willen der Bürger. Sie haben schließlich das Parlament gewählt.
Was aber ist mit denen, die mit dem Gesetz nicht einverstanden sind? Was mit denen, die tatsächlich darunter leiden, dass und wie ein Gesetz durch- und umgesetzt wird? Schon die Differenz zwischen dem abstrakten Gesetz und der konkreten Umsetzung eröffnet einen Bereich, in dem Gewalt möglich ist. Kein Gesetz regelt jeden denkbaren Bereich der Wirklichkeit. Wenn aber schon hier, im vergleichsweise normalen Ablauf einer Gesetzgebung, Gewalt möglich ist, wie sieht es dann mit den Bereichen aus, die durch keine explizite Norm, durch kein Recht und durch keinen Leitfaden geregelt sind?
Gewalt muss sich verbergen und sie strebt zugleich danach, das Geheimnis zu lüften, es zu ihrem Eigentum zu machen. Und umgekehrt kann das Geheimnis Gewalt verbergen, kann das Private und Persönliche der Ort sein, an dem Umstürze, Revolutionen, Mord und Totschlag geplant werden. Das Geheimnis kann sogar selbst zu einer Gewaltform werden, wenn man das Geheimnis einsetzt, um die Einlösung eines Versprechens immer weiter hinauszuzögern.
Gurus und Sektenführer versprechen eine Wahrheit, die nur den Eingeweihten einsichtig und damit zugänglich ist. Wer noch nicht eingeweiht ist, muss (dem Guru oder Sektenführer) dienen. Man strebt danach, das Geheimnis zu lüften und auf dem Weg dorthin wird man zum Sklaven desjenigen, der immer wieder in verlockenden Worten davon spricht. So lässt sich auch die Verzweiflung von Kranken ausnutzen, wenn man ihre Heilung ins Geheimnisvolle entrückt und ihnen schrittweise das Geld aus der Tasche zieht. Aber das Versprechen einer Endzeit, in der alle Geheimnisse gelüftet werden und allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, hat nicht nur Sekten dazu legitimiert, diejenigen auszumerzen, die für diese Endzeit als entbehrlich oder überflüssig betrachtet werden.
Diese Technik des gewalttätigen Geheimnisses beherrschen nicht nur Sektenführer. Auch in einer Partnerschaft kann einer sich ständig entziehen und damit dafür sorgen, dass der andere ihm folgt und gehorcht. Auf die verzweifelte Frage »Liebst du mich?« kommt dann die Antwort »Ich weiß es nicht«. Wer sowieso schon schwach und hilflos ist, kann dann möglicherweise alles tun, damit aus dem »Ich weiß es nicht« ein »Ja, ich liebe dich« wird. Das Uneigentliche, stets Entzogene, auch das Ironische, die eigentümliche Beweglichkeit manipulativer Charaktere sichern diesen die Aufmerksamkeit und die Energie derjenigen, die Sicherheit in festem Sinn und in endgültigen Antworten suchen.
Wir bewegen uns in einem Spiegelkabinett, in dem Gewalt und Geheimnis unaufhörlich miteinander streiten, sich gegenseitig instrumentalisieren. In diesem Spiegelkabinett erscheint die Gewalt als Ereignis, als Einbruch in die Normalität, ohne ihren Ursprung preiszugeben, und die Normalität scheint als eine Form der Gewalt auf, die sich verbirgt, indem sie sich als etwas anderes ausgibt. Im Spiegel dieses binetts scheint das Geheimnis im Privaten und Persönlichen Gewaltfreiheit zu versprechen. Im Gegenspiegel desselben Kabinetts manipuliert das Gewaltinstrument des Geheimnisses die Verzweiflung der Menschen, beutet ihre Sehnsucht aus und unterstützt ihr Streben nach Wissen und Macht.
Die mögliche Allgegenwart der Gewalt (ver)führt uns dazu, manche ihrer Formen vor uns und anderen zu verbergen, damit uns das Leben erträglicher erscheint. Und umgekehrt erscheint dieses Verbergen selbst als eine Form der Gewalt, die wir denen aufzwingen, die Erfahrungen mit derjenigen Gewalt machen, die wir nicht sehen wollen. Andererseits machen wir die Gewalt immer wieder zum Thema, empören uns über sie und benutzen sie, um unseren Willen durchzusetzen. Doch die Art und Weise der Thematisierung kann ebenfalls gewalttätig sein, kann sich über die Erfahrung der Opfer hinwegsetzen und sie für die eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Wir lesen Kriminalromane und Thriller über Serienmörder, führen Theaterstücke auf und drehen Filme, in denen die Gewalt in ihren mannigfaltigen Formen erscheint. Die Gewalt, auf der unsere Gesellschaft gründet, die unseren Alltag mitbestimmt und die unseren Wohlstand ermöglicht, sehen wir nicht. Wir lesen Sachbücher und wissenschaftliche Werke, die uns erklären, wo die Gewalt herkommt, wie sie entsteht, wie sie in unserem genetischen Code verankert ist oder durch unsere Erziehung auf die nächste Generation übertragen wird. Wir glauben, das Geheimnis der Gewalt gelöst zu haben – und im nächsten Moment verharren wir fasziniert vor dem Rest, den kein Sachbuch und keine wissenschaftliche Abhandlung lösen kann.
Unsere Thematisierung der Gewalt wogt unaufhörlich hin und her. Die allgegenwärtige Gewalt lässt uns glauben, sie sei ein Schicksal unserer Gattung. Und doch widerlegt die Allgegenwart ihrer Thematisierung dieses Schicksal, weil wir uns zur Gewalt kritisch verhalten können, weil die Aufdeckung von Ursprüngen und Bedingungen der Gewalt dazu dienen soll, sie zu vermeiden. Wir streben danach, das Geheimnis der Gewalt zu lösen und geraten in den Widerspruch, dass die Auflösung selbst gewalttätig sein könnte.
In den folgenden Kapiteln probiere ich deshalb, mich dem Spiegelkabinett von Geheimnis und Gewalt auf ungewohnte Weise zu nähern – auf einem Zickzack-Kurs, der allzu voreilige Festlegungen immer wieder unterläuft. Denn das Geheimnis der Gewalt lässt sich keineswegs gewalttätig lösen. Gewalttätig wäre eine Lösung, die dieses Geheimnis lüftet, aber dadurch nur fortschreiben würde. Wer Gewalt jedoch einfach fort- und festschreibt, dem entgehen womöglich Gewaltformen, die sich erst durch eben diese Fort- und Festschreibung einstellen.
Wer im Angesicht der Gewalt nicht sprachlos verharren oder ihr fortlaufend ausweichen oder sie verdrängen will, muss Gewalt thematisieren. Aber auch das könnte sich als eine Form von Gewalt herausstellen: Entweder man spricht nicht darüber, dann ändert sich nichts und man muss Gewalt weiterhin ertragen. Oder man thematisiert sie, mit dem – nicht unerheblichen – Risiko, sie durch diese Thematisierung fortzusetzen, möglicherweise sogar zu verstärken. Auf jeden Fall setzt man Gewalt gerade dann fort, wenn man ihr ausweicht oder nur einige ihrer Formen als Gewalt anerkennt, andere hingegen unter den Tisch fallen lässt. Jede mögliche Form von Gewalt anzusprechen, ist unmöglich, geschweige denn, jede Form gleichberechtigt und gleichmäßig darzustellen. Und auch das könnte als Gewalt wahrgenommen werden: Betont man eine Seite zu stark, erscheint die andere Seite als geschwächt und relativiert.
Wer über Gewalt spricht, setzt sich schon allein deshalb der Gewalt aus. Wer über Gewalt spricht und wer über sie nachdenkt, muss aushalten und akzeptieren, dass keine Rede über Gewalt hinreichend ist. Deswegen wird hier gar nicht erst der Versuch gemacht, solchen unmöglichen Ansprüchen zu genügen. Stattdessen sollen hier das Geheimnis und die Gewalt, in wechselnder Besetzung, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven thematisch werden. Mal blicke ich aus der Perspektive des Geheimnisses, mal aus dem Blickwinkel der Gewalt auf das Geheimnis der Gewalt und auf die Gewalt des Geheimnisses, um dabei verschiedene Formen und Facetten dieses Zusammenhangs zu entfalten.
Die neuere soziologische Gewaltforschung[1] tendiert dazu, das Geheimnis der Gewalt zu lüften, indem sie sich ganz in die Täter- oder in die Opferperspektive hineinversetzt. Das Unmittelbare, Allzu-Nahe der Gewalt soll so augenscheinlich und eklatant gemacht werden. Das Ereignishafte und Unverfügbare, die Allgegenwart der Gewalt soll provozierend-schmerzhaft dem Beobachter oder Leser ins Auge springen. Von einem solchen Versuch nehme ich Abstand. Im Gegenteil – in den einzelnen Kapiteln greife ich das Thema meistens so auf, dass Sie als Leserinnen und Leser aus sicherem Abstand über das Verhältnis von Gewalt und Geheimnis nachdenken können. Alles andere käme ja sonst einer erneuten Zumutung von Gewalt gleich.
Und dennoch werden wir diesen sicheren Abstand, wenn er einmal hergestellt ist, immer wieder unterlaufen oder überschreiten müssen. Denn ein philosophischer Essay konfrontiert mit unbequemen Ausführungen, ärgerlichen Aussagen, offenbleibenden Fragen, irritierenden Einwürfen. Weil eine solche Gewaltdarstellung ständig verdächtigt wird, selbst Gewalt auszuüben oder aber dem Thema oder der Sache nicht gerecht zu werden, gehe ich hier das Risiko ein, nicht systematisch zu operieren, sondern assoziativ zu agieren. Die freie Form des Essays erlaubt es durchaus, gedanklich stringent vorzugehen, ohne sich die Zwangsjacke – noch so eine Form von Gewalt – eines Systems oder einer Ideologie überzustreifen.
Erst in der Zusammenschau der einzelnen Kapitel wird sich ein Bildnis, vielleicht ein Inbegriff vom Geheimnis der Gewalt in all seinen schillernden Facetten, herauskristallisieren. Um dieses Bild, um diese ›Ansicht‹ geht es. Sie könnte uns Einsichten in die Gewalt und ihr Geheimnis zuspielen, ohne sich dafür zu verbürgen. Darf ich Ihnen daher eine literarische Lektüre dieses Essays empfehlen? Literarisch bedeutet nicht, dass ich hier keine Thesen vertrete. Lesen Sie die einzelnen Kapitel vielmehr so, als ob sie mich in das Spiegelkabinett von Gewalt und Geheimnis begleiteten. Was werden Sie wahrnehmen?
Gelängen mir mit diesem Essay, den Sie gerade lesen, die Umrisse einer Zeichnung, hätte ich mein Ziel erreicht, selbst wenn der Essay problematisch wäre. Am wichtigsten ist mir, dass dieser Essay nicht gewalttätig ist und sich auch nicht so liest. Diese Gefahr aber besteht, wenn wir sogenannten Problemlösungen, unmissverständliche Antworten, festumrissene Begriffe oder – durch systematische Reflexionen – die Dialektik von Gewalt und Geheimnis stillstehen ließen. Die ›Friedhofsruhe‹ einer derart durchdeklinierten Dialektik dürfte gerade dafür sorgen, dass die Gewalt sich immer weiter verfestigt und sich uns dabei immer wieder entzieht. Dabei sind wir gerade im Begriff, genau dagegen anzudenken.
Noch eine Anmerkung: In diesem Essay spreche ich durchgehend von einem »Wir«. Dieses »Wir« mag anklagend wirken oder vereinnahmend: Mit Sicherheit können Sie – die Leser dieses Essays – sich nicht mit jedem »Wir« in diesem Text identifizieren. Vielleicht können Sie es auch mit keinem »Wir«, weil es in Ihrer Welt einfach keine Gewalt gibt. Möglicherweise wissen Sie es aber auch einfach besser als ich – wissen, was Gewalt und Geheimnis in Wahrheit oder Wirklichkeit oder eigentlich sind. Ich überlasse es daher Ihnen, meinen Lesern, sich davon freizusprechen, von dem hier gebrauchten »Wir« angesprochen zu sein – oder auch nicht. Sollte es Sie stören, denken Sie einfach an die Menschen, die noch nicht so weit sind wie Sie. Lehnen Sie sich entspannt zurück. Sie sind in Sicherheit.
Am Ende ist alles erleuchtet. Gottes Licht strahlt in jeden Winkel, jedes Versteck, jede Seele. Gott braucht keine Peilsender, er wertet keine Nutzerdaten aus. Denn Gott sieht alles. »Apokalypto« – »Ich enthülle, offenbare«, lautet sein Versprechen. Am Ende aller Tage kommt die Abrechnung. Wie nach einem Festgelage, bei dem man vor lauter Trunkenheit die vielen Speisen und Getränke aus den Augen verliert, die man zu sich genommen hat.