Inhalt
Begleitwort
von Elke Heinemann
Die Arbeit des Schreibens ist geprägt durch die Erfahrung, dass es bei ihr oft um das Wechselspiel von Sein und Nicht-Sein geht, von Fantasie und Tod. Wer in der Literatur nach Tod und Fantasie sucht, wird reich bedient. Unter den populären Genres gibt der Kriminalroman der gewaltsamen Form des Todes und der kombinatorischen Fantasie den Rahmen. Tatort-Krimi, Edgar-Wallace-Filme, Pater Brown oder Miss Marple sind aus dem Fernsehen bekannt, und doch wurzelt die Kriminalgeschichte in der Dichtung. Edgar Allan Poe erfand mit dem Chevalier C. Auguste Dupin die Figur des Kriminalisten, der noch in Umberto Ecos postmodernem Kriminalroman „Der Name der Rose“ die Fälle auf logische Weise entschlüsselt.
Unter der Kriminalliteratur, die seitdem geschrieben und ästhetisch bestimmt wurde, ist ein ungewöhnlicher Roman Inspirationsquelle meiner Texte. Es handelt sich um den einzigen Kriminalroman, den Gertrude Stein geschrieben hat, „Blood on the Dining-Room-Floor“. Der Titel der deutschen Übersetzung von Renate Stendhal, „keiner keinen“, verweist auf die experimentelle Schreibweise des Romans: Es gibt keine nacherzählbare Handlung, es gibt keine beschreibbaren Charaktere, es gibt keine Leiche, und alle Ermittlungen, die dem einzigen Todesfall im Roman gelten, sind sehr oberflächlich, sodass es auch keinen befriedigenden Schluss geben kann. Gertrude Stein hat sich für diese Darstellung entschieden, weil aufgeklärte Fälle ihrer Meinung nach so beruhigend wirken, dass sie man sie über kurz oder lang vergisst. Außerdem ist sie der Ansicht, dass die Konstruktions- und Rekonstruktionsfähigkeit des Gedächtnisses das „zufällige Zusammentreffen“ ignoriert, ohne das es auch im Kriminalroman kein Verbrechen geben kann. Auf ihre Weise hat Gertrude Stein das zentrale Element des Kriminalromans aufgewertet, das Geheimnis – das gilt auch für Antonionis Film „Blow up“, dem meine Texte Anregungen verdanken.
Die Zitate stammen aus Getrude Stein: keine keiner. Ein Kriminalroman. Aus dem Amerikanischen und mit einem Vorwort von Renate Stendhal. Herausgegeben und mit einem Nachwort von John Herbert Gill, Arche, Hamburg, 1985, S. 55-56 und S. 64-65