Inhaltsverzeichnis
Vorwort
O, jetzt geht’s vorwärts!
Gerhild Steinbuch
Friendly Fire
Katia Sophia Ditzler
Jakarta
Nadire Y. Biskin
Borderline
Mirjam Aggeler
Wenn du lächeln würdest
Deniz Ohde
Dresden – Chemnitz (drei Männer)
Anke Stelling
Brausen Schrägstrich Abspülen
An vielen Fassaden siehst du nur noch den Schimmel, diese Stadt wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet
Karin Peschka
Favoritenstraße
Luna Ali
Auf halber Strecke
Katharina Sucker
Auf die andere Seite
Özlem Özgül Dündar
Die Luders
Kamala Dubrovnik
Hausnummer 29
Anneke Lubkowitz
Alleen und Frauen
Erstmal Mund auf und raus und danach heimlich schämen
Svenja Gräfen
Schritte machen
Julia Lauter
Wie man eine Stadt erobert
Bettina Wilpert
Der Himmel ist überall
Anna Hetzer
Gedichte
flaneuses
plac zbawiciela
an der stralauer brücke
die frauen von uamdo
Leona Stahlmann
Schaumnest
Ronya Othmann
Gedichte
Gehe fluchtartig geradeaus und versuche, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen
Cornelia Manikowsky
Abend im Sommer
Mia Göhring
Flirren
Leyla Bektaş
Güerita
Halina Mirja Jordan
Always Hungry
Judith Coffey
Am Bayerischen Platz
Sandra Burkhardt
Das Exterieur
die zu uns sprechen mit einem messer als zunge
Andra Schwarz
Gedichte
Überall zuhause sein allein
Dinçer Güçyeter
Byzanz will es ohne Kondom
Lea Sauer
Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht
Svenja Reiner
Otis
Simoné Goldschmidt-Lechner
sur d’autres heures
Sibylla Vričić Hausmann
Feste Dinge
Interview mit Lauren Elkin
Impressum und Copyright

VORWORT

Die Flâneuse* zusammen mit den Herausgeberinnen
Flex | en, das, – kein Pl.: 1.trennschleifen 2.biegen 3.Sex haben 4.das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5.die Muskeln anspannen 6.seine Muskeln zur Schau stellen 7.Flâneuserie
Ich flexe. Ich flexe mich in die Stadt, durch die Stadt. Ich flexe mir die Stadt zurecht. Flexen – das Wort mache ich. Ich gehe durch die Stadt, flaniere und flexe. Alles, was ich in den Texten dieses Buches mache, findet sich in diesem Wort wieder. Ein Wort mit vielen Bedeutungsebenen. Ich schneide mit ihm eine Kerbe in das ursprüngliche Verständnis vom Umherwandeln in Städten. Ich dehne den Begriff des Flanierens aus, so weit wie er auch faktisch ist. Mein Blick ist manchmal ins Detail verliebt, manchmal bohrend, stechend,manchmal lässig, verträumt oder sexy, manchmal schnell und hastig, langsam und besonnen. Manchmal knallhart.
Braucht man dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt. Flexen heißt, mich dort zu bewegen, wo ich nicht vorgesehen bin und etwas tun zu wollen, was für mich erst einmal als etwas Ungewöhnliches gilt. Deswegen flexe ich.
Meine Präsenz ist nicht ungefährlich und einfach für mich, fraglos akzeptiert wie sie es für die traditionellen Flaneure ist. Auch darum stelle ich hier meine Kraft zur Schau, die ich brauche, um mich im öffentlichen Raum zu bewegen. Flexen, es bedeutet all das. Das Wort Flâneuseurie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es. Ich bin hier. Die begriffliche Annäherung von Flexen und Flâneuserie, die ich euch auftische, ist nicht zufällig. Sie zeigt die Anstrengung und die Vielschichtigkeit, die sich hinter meinem Gehen im urbanen Raum verbirgt.
Wie werde ich gesehen, wenn ich die Wohnung verlasse, wenn ich im Supermarkt bin, in der Straßenbahn? Ich bin weder besonders auffällig, noch unauffällig. Im Vorbeigehen falle ich schnell unter den Radar der anderen Blicke. Manchmal bleiben Blicke an mir haften wie gebannt, zu oft. Ich haste nicht. Ich habe kein Ziel. Ich stolpere durch Straßen, breit und gigantisch, schmal und schattig. Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt. Es ist mein Raum. Er gehört mir wie er jeder Person gehört, die sich in ihm bewegt. Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin und dort. Wo ich es sein kann, wurde es von mir erkämpft. Ohne Anstrengung ging es nie. Mir wurde gesagt, es sei zu gefährlich, bleib zu Hause. Bleib drinnen, da wo es sicher ist. Nur bedeutet drinnen sein nicht gleich Sicherheit und draußen sein nicht zwangsläufig Freiheit. Aber es kann Freiheit werden, wenn ich präsent sein kann, wo ich präsent sein will, auch dort, wo niemand außer mir das möchte. Wenn ich laut sein kann oder unbemerkt gehe, auf den Asphalt spucke und alles überall, zu jeder Zeit und ohne Einschränkung tun kann. Mir ist bewusst: Das ist auch ein Privileg, das ich mir erkämpfen kann. Es gibt Dinge, die es unmöglich machen, Flâneuse* zu sein. Zum Beispiel nur in bestimmter Kleidung und in Begleitung rausgehen zu dürfen oder wenn es sich generell nicht gehört, sich Zeit dafür zu nehmen, umher zu gehen und die Umgebung anzuschauen. Das passiert hier und anderswo. Manchmal durch gesetzliche Verbote, manchmal einfach durch gesellschaftliche Konventionen. Es kann ein abfälliger Kommentar sein, wenn ich meinen liebsten Minirock trage, Beleidigungen, wenn meine Hautfarbe für einige nicht ins Stadtbild passt, ich zu männlich oder weiblich aussehe. Es können aber auch Polizeikontrollen und Strafen sein. Berührungen, ungewollte Küsse, Verfolgungen, unangenehme Blicke, die totale Ignoranz. All das hat nur eine Botschaft: So in der Stadt unterwegs zu sein – das solltest du nicht.
Mir fallen nur wenige Autor*innen ein, die über mich geschrieben haben – Virginia Woolf, Jean Rhys, George Sand, Frederika Amalia Finkelstein, Teju Cole, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich bin sicher, dass es mehr gab, aber ihre Stimmen wurden und werden von der Stimme des traditionellen Flaneurs, weiß, heterosexuell und männlich, überdeckt. Hier erhebe ich nun meine eigene Stimme und mache sie lesbar. Ich spreche nicht mit gespaltener Zunge. Meine Zunge ist von Grund auf vielstimmig.
Ich lebe in Städten. Sie sind mein Zuhause. Der urbane Raum ist mein Alltag. Ich bewege mich durch ihn wie durch mein Wohnzimmer. Ich kenne seine Ecken und Kanten, seine Kuschelorte. Ich kenne die Straßen, viel befahren, viel begangen, auch von mir. Er ist Teil meines Denkens, meiner Welt. Aber wo sind meine Perspektiven in der Literatur? Wo sind die Blicke der Frauen*, der People of Colour, der Queeren? Mir fehlt das auf Papier geschriebene Wort. Mir fehlt meine Stadterfahrung in den geschriebenen Geschichten, in den geschriebenen Figuren. Im geschriebenen Wort von Frauen*, People of Colour und queeren Menschen. Um dieses Wort auf Papier zu bringen, nachlesbar zu machen, gibt es dieses Buch mit mir und über mich. Flâneusen* schreiben Städte. Ich schreibe meinen Blick auf die Stadt und schreibe damit die Stadt neu, definiere sie neu im Geschriebenen, mache mein Erleben sichtbar. Die verschiedenen Erlebnisse, Blicke und Momente wachsen zu einem Chor an Stimmen; jede ist einzigartig und alle schreiben zusammen die Stadt.
In jedem der Texte, die in diesem Buch versammelt sind, findet sich eine neue Facette von mir. Ich bin die Mutti, die den Kinderwagen schiebt, Beobachterin der Straße. Ich bin der Mann, der seinen Vater verloren hat. Ich bin die Frau, die auf der Straße trödelt aus Protest. Ich bin die Frau, die protestieren geht, deren Füße im Alltag Mahnmale berühren, die anhält und darüber schreibt. Ich bin die­jenige, die geschunden wurde und nachts durch die Straßen geht, um sich wieder sicher zu fühlen. Ich laufe durch Gebiete, in denen Krieg herrscht. Ich bin diejenige, die den Krieg in ihren Erinnerungen mit sich trägt. Ich höre genau hin. Ich beobachte unsere Räume in Zeitlupe von der Shoppingmall bis zu deinem Hinterhof. Ich verschlinge jeden einzelnen Pflasterstein. Durch mich läuft der Rhythmus der Stadt. Ich bin die Bouncerin im Club deiner Wahl. Ich wandle zwischen den Geschlechtern und ihren Vorstellungen, auf der Suche nach Sex, auf der Suche nach nichts Bestimmten, ich bin überall auf der Welt und laufe und laufe und laufe. Und ich schreibe darüber. In Romanen, in Gedichten, in Reportagen, in Essays. Ich bin da. War ich schon immer. Ich existiere. Und ich möchte gesehen werden. Meine Anwesenheit soll dokumentiert sein. Ich möchte euch einladen, mich auf meinen Streifzügen zu begleiten, die Städte mit meinen Augen zu sehen, selbst auf die Straße zu gehen und darüber zu schreiben, was ihr denkt und fühlt, was ihr seht und hört.
Kurzbiographien
Mirjam Aggeler, 1986 geboren, studierte nach einer Berufslehre als Bauspenglerin Design und anschließend literarisches Schreiben. Zurzeit arbeitet sie als Geschäftsleiterin des Vereins Feministische Wissenschaft Schweiz und lebt und schreibt in Biel.
Luna Ali, geboren 1993 in Aleppo (Syrien), studiert derzeit Ethnologie an der Universität Leipzig und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist Stipendiatin der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen 2019. Seit 2012 ist sie Kuratorin des Kulturprogramms des Fuchsbau Festivals. Für ihre szenischen Texte wurde sie beim Auftakt Festival 2017 ausgezeichnet.
Leyla Bektaş, geboren 1988, studierte Romanistik in Köln, Bordeaux und Mexiko-Stadt sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Nadire Y.Biskin, 1987 in Berlin geboren, studierte Philosophie und Spanisch an der Humboldt Universität zu Berlin und der Universität Alicante. Sie schreibt journalistische und essayistische Texte sowie Lyrik und Prosa, die in verschiedenen Magazinen und Anthologien veröffentlicht wurden. Ihre Texte setzen sich vor allem mit Normen und ihren Abweichungen auseinander.
Sandra Burkhardt wurde 1992 in Laupheim geboren. Sie studierte Kunstgeschichte und Literarisches Schreiben in Karlsruhe und Leipzig und lebt derzeit in Berlin. 2016 war sie Preisträgerin für Lyrik beim 24.open mike in Berlin. 2018 erschien ihr Debüt »Wer A sagt« im gutleut Verlag.
Judith Coffey ist in Wien geboren und aufgewachsen. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, lebt in Berlin, und setzt sich kritisch mit Gojnormativität auseinander.
Katia S.Ditzler, 1992 geboren, lebt momentan in Kiew, Ukraine. Sie studiert in Leipzig Literarisches Schreiben, Musikwissenschaft und Ethnologie. Sie hat in Zeitschriften und Anthologien publiziert und ist im In- und Ausland als Musikerin und mit Performances aufgetreten. 
Kamala Dubrovnik wurde 1992 in Münster geboren und lebt seit 2017 in Köln. Sie singt, spricht und schreibt und trinkt besonders gern schwarzen Tee.
Özlem Özgül Dündar, 1983 in Solingen geboren, lebt in Leipzig und Solingen, studierte Literatur und Philosophie in Wuppertal und anschließend am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie erhielt zuletzt den Kelag-Preis in Klagenfurt und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium 2018. Ihr Gedichtband »gedanken zerren« (2018) erschien beim Elif Verlag.
Lauren Elkin, geboren in New York, ist Autorin, Essayistin und Übersetzerin. Sie schrieb u. a. für die New York Times Book Review und Guardian und lebt heute in Paris, wo sie vor allem durch die Straßen des Künstlerviertels Belleville flaniert. Lauren Elkin ist Autorin des Buchs »Flâneuse – Frauen erobern die Stadt in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London«, in dem sie eine Literaturgeschichte der Flâneuse nachzeichnet.
Mia Göhring, 1995 in Berlin geboren. Arbeit an verschiedenen Theatern. Seit 2015 Studium des Literarischen Schreibens am Deutschen Literaturinstitut und der Geschichte an der Universität Leipzig. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.
Simoné Goldschmidt-Lechner positioniert sich als queere Woman of Colour, lebt in Hamburg und studiert Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim. Sie ist Teil der künstlerischen Leitung für Prosanova 2020 und Mitherausgeberin der Bella triste.
Svenja Gräfen (*1990) ist Schriftstellerin und feministische Aktivistin. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und war Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. 2019 ist sie Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses. 2017 erschien ihr Debütroman »Das Rauschen in unseren Köpfen« bei Ullstein fünf. 2019 folgt ihr zweiter Roman »Freiraum«.
Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal / Lobberich, wo er auch heute noch lebt, ist gelernter Werkzeugmechaniker, arbeitet jedoch als Regisseur, Herausgeber und Schriftsteller. 2011 gründete er den Elif Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Zuletzt erschien von ihm 2018 der Gedichtband »Aus Glut geschnitzt«.
Anna Hetzer, geboren 1986, lebt seither in Berlin. Sie ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13. Zuletzt erschien der Lyrikband »Kippbilder« im Verlagshaus Berlin. »flaneuses« ist veröffentlicht in Metamorphosen Nr.23, die Gedichte »plac zbawiciela«, »an der stralauer brücke«, »tempelhofer feld«, »die frauen von uamdo« sind veröffentlicht in »Kippbilder«, Verlagshaus Berlin 2019.
Halina M. Jordan (Jahrgang 1985) hat irgendwas mit Gender und Wirtschaft und Menschen studiert. Sie lebt und arbeitet mal mehr mal weniger entlohnt in Leipzig, schreibt im feministischen elter*kollektiv „Institut für subversive Reproduktion“ und träumt weiter von der Revolution.
Julia Lauter, geboren 1986, lebt in Hamburg, schreibt u. a. für Magazin der Süddeutschen Zeitung, Reportagen, brand eins und Greenpeace Magazin. Ihre literarischen Texte waren zuletzt Teil der Ausstellung »Walhalla II« in Berlin und Hamburg, zurzeit arbeitet sie für das Literaturhaus Stuttgart an einem dokumentar-literarischen Projekt in Westrumänien.
Anneke Lubkowitz, geboren 1990, promoviert an der Humboldt-Universität Berlin zu britischer Gegenwartsliteratur. Von 2011 bis 2018 war sie Mitherausgeberin des Literaturmagazins Sachen mit Wœrtern. 2018 erschien ihr Essay »Falling through the map« bei SuKuLTuR. Als Herausgeberin einer Anthologie zur Psychogeografie beschäftigt sie sich seit 2016 mit urbanem Gehen.
Cornelia Manikowsky, geb. 1961, lebt in Hamburg, sie schreibt für Erwachsene und Kinder. Zuletzt erschienen 2017 das BuchDruckKunstWerk »ALLES«, Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg und »und an die Liebe denke ich«, Edition Hammer + Veilchen, Niederstetten.
Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Sie war Finalistin verschiedener Literaturpreise, u.a. des 24.open mike.
Ronya Othmann, geboren 1993 in München, aufgewachsen im Landkreis Freising, lebt in Leipzig und studiert am dortigen Literaturinsti­tut seit 2014 Literarisches Schreiben.
Karin Peschka lebt und arbeitet in Wien. Bisher sind von ihr unter anderem zwei Romane und zuletzt 2017 der Erzählband »Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende« bei Otto Müller, Salzburg, erschienen.
Svenja Reiner (*1989) studierte Anglistik/Amerikanistik und Wirtschaftswissenschaften, Internationales Kunstmanagement, Musikwissenschaften und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musik in Osnabrück. Sie promoviert über Fans in der Neuen Musik.
Lea Sauer studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und promovierte in französischer Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Ihre Texte wurden u. a. veröffentlicht in POET, Narr Magazin, Edition Onepage, SuKultur, BBC Radio, BLOCK Magazin, ZEIT Online.
Andra Schwarz (*1982, Oberlausitz) studierte am Deutschen Literaturinstitut und gewann den Lyrikpreis beim 23.open mike und den Leonce-und-Lena Preis beim 20.Literarischen März in Darmstadt. 2017 erschien ihr Debüt »Am morgen sind wir aus glas« in der Reihe Neue Lyrik beim Poetenladen.
Leona Stahlmann (*1988) lebt als freie Autorin in Hamburg und wurde u. a. 2017 mit dem Literaturpreis der Stadt Hamburg und dem wortmeldungen-Förderpreis 2019 ausgezeichnet. Ihr Debütroman erscheint im Frühjahr 2020 bei Kein & Aber.  
Gerhild Steinbuch *(1983 Mödling, Österreich) studierte Szenisches Schreiben in Graz und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, Berlin. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke und erhielt dafür zahlreiche Preise und Stipendien. Derzeit unterrichtet sie an der Universität für angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
Anke Stelling, (*1971) studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie veröffentliche zahlreiche Erzählungen und Romane, zuletzt 2018 »Schäfchen im Trockenen«, für den sie mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019 und dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2019 ausgezeichnet wurde.
Katharina Sucker, lebt in Berlin. Sie promovierte in angewandter Linguistik zum Thema »Narrativ und Stadt« in Weimar und Istanbul, schreibt Prosa und Essays.
Sibylla Vričić Hausmann schreibt Lyrik, Essays, Prosa. Sie hat in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht und debütierte im Winter 2017/18 mit dem Gedichtband »3 FALTER« (Poetenladen Verlag), für den sie u. a. den Orphil-Debütpreis erhielt.
Bettina Wilpert lebt in Leipzig. Ihr Debütroman »nichts, was uns passiert« erschien 2018 im Verbrecher Verlag und wurde u. a. mit dem ZDF-aspekte-Literaturpreis 2018 ausgezeichnet.

Impressum und Copyright

FLEXEN

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2019

www.verbrecherei.de

Buchsatz und Ebook: Christian Walter

Der Verlag dankt Laura lo Conte, Leonie Lefeber
und Till Tannhäuser.

ISBN Print: 978-3-95732-406-1

ISBN Epub: 9783957324139

ISBN Mobipocket: 9783957324146


O, jetzt geht’s vorwärts!

Katia Sophia Ditzler

Jakarta

Jakarta I
Das Bildungsministerium hatte zu viele Steuereinnahmen und investierte sie in Ausländer/innen, die für ein Jahr ihre Probleme zu Hause gegen indonesische Probleme eintauschen wollten. Die Mitstipendiat/innen aus Schwellen- und Entwicklungsländern studierten die indonesische Sprache, die aus dem Westen studierten irgendeine Kunst, denn was ist schon ein Jahr deines Lebens, wenn dein Leben gesichert ist? Wir würden Musik, Schattenpuppentheater und Tanz studieren. Als wir ankamen, war der Himmel grau und dramatisch, die Flughafenlichter waren Diamanten. Es dämmerte.
Während einer der viel zu langen Willkommensveranstaltungen sollten wir aufstehen und die indonesische Nationalhymne singen. Der Text wurde auf eine Leinwand projiziert. Ich blieb sitzen und sang die sowjetische Hymne, aus Spaß. Die Litauerin und die Ukrainerin neben mir waren nicht begeistert. Du und ich flohen in unser Zimmer, verschliefen den Rest des Orientierungsseminars, schauten im Fernsehen japanische Pathologiekrimis und hatten Sex. Die Kamera zoomte immer rein und raus, auf die geschockten Gesichter der Gerichtsmedizinerinnen. Wir schlichen uns raus und gingen spazieren. Es gab in der Umgebung nichts, ein paar Essensstände, Motorräder, die viel zu nah vorbeirasten. Die Leute schrien uns Wörter wie bule oder londo hinterher, die man zur grenzbeleidigenden Bezeichnung europäisch aussehender Menschen verwendet. Man musste ehrlich mit sich selbst sein: Man konnte niemals mit Leuten, von denen man sich zu sehr unterschied, sei es charakterlich, sei es finanziell, auf einer Stufe sein. In solchen Konstellationen gibt es aufgrund des Gefälles niemals echte Freundschaften. Wir würden in zwei verschiedenen, nah beieinander liegenden Städten in Zentraljava wohnen. Alles war voller Verheißung.
Im Westen Jakartas gibt es ein Diorama, in dem mit Kunstharz­figuren dargestellt wird, weshalb man 1965 unbedingt echte und angebliche Kommunist/innen sowie ethnische Chines/innen umbringen musste. Es ist dort gelegen, wo am 30.09.1965 die sieben Generäle umgebracht worden sind, was dann Suharto als Vorwand benutzte, um Sukarno loszuwerden, sich an die Macht zu putschen und Säuberungsaktionen durchzuführen. Ich versuchte, dich zu überreden, dorthin zu fahren, aber dafür war keine Zeit. Man brachte uns zum Flughafen. Ein Mann stand auf einer Friedhofsmauer, starrte auf die Straße wie ein König, obwohl sein Blick durch die Äste eines Baums behindert wurde. In den Flughäfen hingen Farbtafeln zur Urinselbstdiagnose. Ich diagnostizierte mich nicht. Wir flogen in verschiedenen Flugzeugen in unsere verschiedenen Städte. Es war September.
Jakarta II
Ich war zutraulich. Deshalb verlangte der Motorradtaxist einen anderen Preis, drei Mal so hoch wie abgemacht, vier Mal so hoch wie angebracht. Ich protestierte, er schrie, bezog die Passanten mit ein, beschimpfte mich. Ich lenkte ein.
Mein Hostel war in der Altstadt. Ich freundete mich mit einem Jungen aus meinem Zimmer an. Er war gerade aus Dublin angekommen und hieß Ryan/Eoin/Aidan mit Vornamen und Murphy/O’Sullivan/Kelly mit Nachnamen. Mein Ethnographinnenherz war glücklich. Er hatte einen Literaturpreis gewonnen, wollte Gedichte über Orang-Utans und die Zerstörung des Regenwalds schreiben. Alle heulten über Palmöl, ich sagte, dass es vielleicht keine Alternative zu Palmöl gäbe, weil Kokosöl aus Kokospalmen gewonnen wird und Kokospalmen sogar noch mehr Platz, gerodeten Regenwald und traurige Orang-Utans brauchen als Ölpalmen. Am liebsten hätte ich eine Fernsehsendung, in der ich Umweltaktivismusmythen auf süffisant-arrogante Weise aufklären würde. »Hey Miss…ter Miss…ter«, nervten die Leute am Straßenrand, als könnten sie sich nicht für ein Geschlecht entscheiden. Wir stolperten. Die Bürgersteige ergaben keine gerade Summe. Meistens gab es überhaupt keine Bürgersteige, wenn doch, dematerialisierten sie sich an den ungünstigsten Stellen oder waren ein schwarzes Loch, ein Portal zu den unendlichen Weiten der überforderten Kanalisation. Ein junger Amerikaner, Kai, war schon monatelang in diesem Hostel. Hatte eine Easy Listening-Band gegründet mit positiven, motivierenden, lebensbejahenden Texten. Er bat uns um Stichwörter, mit denen er dann positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über die immer gleichen vier Akkorde improvisierte. Ich ließ ihn positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über Kätzchen mit Syphilis und Hundewelpen mit Gonorrhö improvisieren, was ihm gelang. Am Tag darauf gingen wir nach Chinatown. Ich kaufte einige kleine Wachteln aus einem überfüllten Käfig frei, für je 2000 Rupiah. Der Verkäufer gab sie mir in einer braunen Papiertüte, sie sahen aus wie sich windende Karamellbonbons. Ich ließ sie im chinesischen Tempel frei. Sie waren zu benebelt von der Freiheit, die streunenden Katzen fingen die verwirrten Tiere sofort, brachen ihnen das Genick, zerkauten sie. Sie wussten, was sie taten, und sie waren zu räudig und hautkrank, als dass ich irgendetwas mit ihnen zu tun haben wollte. Die Familie Kais stammte aus der gleichen Stadt wie Mao Zedong. Weil es chinesisches Neujahr war, stellte er ein paar Räucherstäbchen auf. Ich wollte ins Propagandadiorama fahren, vergaß das aber. Auf der Straße malte einer Porträts von Osama bin Laden. Wir skypten, während ich unterwegs war, ich zeigte dir die Stadt.
Der Süden von Jakarta war nachts verwunschen, voller maligner Pflanzen und gebogener Straßen. Ich ging zu einem Poetry Slam. Eine Bekannte trat auf, sie war halb Sizilianerin, halb Britin aus London. Vor einigen Jahren war sie nach Südafrika gezogen, wo sie der malaiischen Minderheit »deren Kultur« beibrachte.
Deshalb lernte sie indonesische Tänze. Zehn Jahre zuvor war sie aus ihrer Gewaltehe geflohen, zum Islam konvertiert, lebte seitdem zölibatär. Sie sang ein Lied darüber, dass Allah ihr ein Schlaflied singen und sie fliegen lehren solle. Ich lernte eine berühmte Oberklassendichterin kennen. Die Dichterin war sehr hübsch, ihre Tochter auch, ihr Mann bösartig. Später sollte er ein Übersetzungsstipendium gewinnen und zufälligerweise den Gedichtband seiner Frau auswählen. Ein paar Monate später outete sie sich als bipolar, woraufhin sie Aktivistin für die Aufklärung über psychische Krankheiten wurde. Fernsehteams kamen zu ihr nach Hause, baten sie, beim Geschirrspülen möglichst verrückt auszusehen. Sie protestierte öffentlich.
Die Exfreundin meines Vaters löschte mich auf Facebook. Ihre Familie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, ich chattete oft mit ihr. Wenn ich nicht schnell genug antwortete oder erklärte, dass es Nacht war in Indonesien, löschte sie mich. Kurze Zeit später schickte sie mir wieder eine Freundschaftsanfrage.
Ich traf mich mit Umer, einem Mitstipendiaten, der eine Firma gestartet hatte. Er importierte Skalpelle aus Pakistan nach Indonesien. Erzählte mir, dass er insgeheim Israel gut fand – aber wir stritten uns darüber, ob Armenien oder Aserbaidschan im Unrecht war. Verkrochen uns hinter Marmorsäulen in einer architektonisch lächerlichen Mall und tranken Kaffee. Auf einmal sprang jemand von hinten auf mich: Anzhelika – was ein Zeichen Gottes sein musste, da wir uns von diversen Anarchistencamps in Europa kannten. Ich dachte, sie sei in Sri Lanka, sie wusste nicht, dass ich in Indonesien war, und auf einmal waren wir zur gleichen Zeit in der gleichen Mall in Jakarta. Dann verließ ich Jakarta. Es war Januar, es wurde Februar.
Jakarta III
Jakarta ist Jayakarta, Stadt des Sieges. Ich dachte immer, ich würde jemanden treffen, der jung war, solange ich ebenfalls jung war. Wir würden langsam älter werden, und wenn ich in der Zukunft das alte Gesicht sehen würde, dann würde das junge noch zu erkennen sein.
Du hattest versucht, meinen Namen zu beschmutzen, Soldaten mit Halbwahrheiten rekrutiert, sie gegen mich in Stellung gebracht. Ich verkroch mich im klimatisierten Hostel, aß eine Mahlzeit am Tag. Ich fastete. So wollte ich meine Erinnerungen verhungern lassen. Ich wusch mich nicht, denn wenn man trauert, soll man verwildern. Du wolltest, dass ich mein Haar abschneide. Ich habe mein Haar nicht abgeschnitten. Ich ließ mich auf Motorradtaxen umherfahren und weinte ästhetisch, ging zu Kurzfilmabenden. Ich spürte, dass du in der Stadt warst.
Ich konnte mich nicht verteidigen. Ich ging in Wahnsinn. Du zwangst mich zu Gesprächen, ich fand immer mehr heraus. Ich provozierte dich, lachte über dich. In mir baute ich den Widerstand auf. Meine Sehnen waren durchlöchert wie die Bürgersteige dieser Stadt, und in unvorhersehbaren Abständen gab es tiefe Löcher, in die ich fallen konnte. Ich wusste nicht, ob du strategisch vorgingst wie ein Feldherr, oder ob du einfach nur den Horror der bevorstehenden Vernichtung spürtest, das Enttarntwerden, deine Auflösung in Dampf und Asche, wenn jemand dich durchschaute. Ich sah dich, ich erkannte dich, ich sprach das Zauberwort. Du wurdest zu Nichts, du gingst in die Leere. Ich durchschaute deine Gewalt, die Mechanismen und Taktiken deiner Kontrolle. Du warst ein schlechter Gefängniswärter. Du warst zu sehr überzeugt, alles im Griff zu haben, so dass du die Löcher in deinem Netz nicht gestopft hattest. Ich hatte die Löcher entdeckt, angefangen, die Maschen zu dehnen. Bis sie groß genug waren.
Ich hielt mein Telefon fest in der Hand und las Artikel über Cluster B-Persönlichkeitsstörungen. Nahm mir fest vor, ins Diorama zu fahren. War zu müde, obwohl ich nichts tat. Manchmal arbeitete ich ­diszipliniert und besessen an Projekten. Lud Tinder herunter. Am gleichen Tag ein erstes Date, in der Nähe der Jalan Thamrin. Der Typ hatte Psychopathenaugen. Er ging bald, ich trank weiter mit westlichen Expats. Einer war ein Exdiplomat aus Kanada.
Der Exdiplomat sang Sowjetlieder mit einem Vibrato. Ich kannte die Lieder entweder nicht oder sein Akzent war zu krass, aber ich war sehr angetan. Ich ging nach Hause, bevor ich zu betrunken oder die Situation zu sexuell werden konnte. Tanzte mit der jungen indonesischen Frau eines alten Amerikaners. Er sagte mir »Gut, dass du sie eingeladen hast, sie wird sonst immer sehr eifersüchtig, wenn ich mit jungen Mädchen rede«. Der Psychopath hatte seine ziemlich hohe Rechnung nicht bezahlt, wollte, dass ich sie bezahlte, versprach, mir das Geld zurückzugeben. Ich sagte Nein, löschte seine Nummer und seine Nachrichten, blockierte ihn. War stolz auf mich. Meine Wut hattest du mir gestohlen. Jetzt kam sie wieder – sie war mächtig. Du hattest mich zuerodiert, aber es war genug von mir übrig, um mich wieder aufzubauen.
In meiner Stadt brach der Vulkan aus. Instagram und Facebook waren voller Videos der Rauchsäule, die das, was auf der Erde passierte, an den Himmel verrieten. Ich fuhr zum Flughafen und klaute aus Versehen die Codekarte des Hostels. Es war Mai.
Jakarta IV
Das erste Mal war ich in Liebe gekommen, das zweite in Sehnsucht, das dritte in Trauer. Jetzt kam ich in Heilung. Ich war im gleichen Hostel, gab ihnen die Codekarte zurück. Jeden Morgen sah ich in meinen Mails nach, ob das Visum für Australien schon angekommen war. Die Flüge nach Melbourne wurden jeden Tag teurer. Eine Bekannte, die mal mit ihrer Schwester und ihrem besten Freund (der der Scheinehemann einer meiner besten Freundinnen war) bei mir in Deutschland gewohnt hatte, würde mich aufnehmen.
Adam saß da, aus Melbourne. Seine Arme und Beine waren zerkratzt nach einer viertägigen Wanderung in Sumatra. Er sagte, sein Sohn habe viel über Politik auf Reddit gelernt. Und von Jordan Peterson. Ich sagte ihm, dass dessen Verdienst nur sei, junge Männer von aufgeräumten Zimmern zu überzeugen und Hummersymbolik zu verderben. Er fand das alles sehr positiv, denn Hummer seien unterschätzt.
Er verhörte alle Gäste, entlockte ihnen ihre geheimsten Geheimnisse. Dann erzählte er mir ihre Geheimnisse weiter. Vielleicht sollte ich einen Youtubekanal aufmachen, auf dem ich dann kontroverse politische Thesen verbreiten würde. Leute würden angepisst sein. Ich würde viel Erfolg haben.
Eine Freundin aus meiner Schule, Hannah, war auch in Indonesien für ein Praktikum und gerade in Jakarta, für ein Visum. Wir gingen zu dem Poetry Slam, bei dem die goldene Jugend Südjakartas schlechte Gedichte las und mit zittrigen Stimmen sang. Sie sprachen leidenschaftlich darüber, dass sie gerade eine einmonatige Challenge machten: keine Plastikstrohhalme mehr zu benutzen.
Am Morgen fuhren wir zum Hafen, der nach Katzenfutter roch. Die Ratten waren schamlos. Die Menschen im Hafen lebten in Ställen vor den neuen Hochhäusern, die eigentlich niemals hätten gebaut werden dürfen, aber die Regeln pflegten sich zu ändern. Korruption macht die Welt flexibel. Sie sahen aus wie normale postsowjetische Hochhäuser in der kasachischen Steppe, in der es erst unendlich leer war und dann unerwartet eine Stadt auftauchte.
Auf einem der Boote stand in Himmelblau Revolution. Kinder winkten. Die Boote waren Brücken über den Kanal, Motorräder benutzten sie. Man setzte uns im Kampung-Aquarium aus – der Slum hieß so, weil Fische seit den 1970ern von der Inselgruppe vor der Küste hergebracht wurden.
Der Fährmann war ein lächelnder Hüter der Unterwelt, reichte den Leuten beim Aussteigen die Hand. Am Eingang der Unterwelt ein Stand mit Schokoladenbananen, pisang coklat, oder in der renitenten Liebe zu Abkürzungen piscok. Wo die Fische gesalzen wurden, lebten die fettesten Katzen von Jakarta.
Wir gelangten zum Fluss, in den die Scheiße der umgebenden Hochhäuser geleitet wurde. Die Scheiße formte Muster, ich machte ein Foto, das aussah wie ein Luftbild einer majestätischen Wüste. Zwei Monate später wurde für die Asian Games das Abwasser in eine Kammer unter den Fluss geleitet, der eigentliche Fluss nahm die Farbe eines Smaragds an. Eine Blondierte trug ein blaues Kolonialzeitkleid aus synthetischem Samt, drehte ihren Papierschirm in den Händen. Sie war dazu da, mit ihr Fotos zu machen, hatte viele Kunden.
»Hit me in the face I need to feel alive«, stand auf dem T-Shirt eines Mannes.
In der Ausstellung der Kunstuni Jakartas bestand ein Exponat aus Zitaten auf Papier: »Go as a river, true love heals, drink your tea, I am here for you.«
Am Taman Ismail saßen Chuck, Nesha und ich bei den Wahrsagern, ließen unsere Beine von Moskitos zerbeißen. Die Masseure griffen ihren Kunden erotisch ins Körperfett, sehr intim und sehr öffentlich. Der Alte neben mir heulte wie ein Wolf, obwohl Vollmond vorbei war. Wir aßen gebratenes Tempeh. Am Tag danach fuhr ich mit Nesha ins Diorama. Sie war eine der vielen Affären von Chuck, die alle voneinander nichts wussten.
Sie studierte, arbeitete in Teilzeit als Hijabmodel und Modedesignerin. Beim Diorama stand ein Schild:
»Links zur blutverschmierten Kleidung der Helden, rechts zum Brunnen des Todes«. Blut war rotgeschrieben, der Rest schwarz. In den sechs Schaufenstern, die die Entführung der sechs Generäle zeigten, hatten die Privatbibliotheken der Generäle immer kultivierte Bücher stehen. Die beiden größten Schaufenster waren für den besten Propagandacoup reserviert: Sie zeigten beide die versehentliche Erschießung der fünfjährigen Tochter des Generals Nasution aus verschiedenen Perspektiven unter Verwendung viel Acrylfarbenbluts, das aber schon lange nicht erneuert worden war und abblätterte. Denn wie kann man Besucher am besten von der absoluten Bösartigkeit des Kommunismus überzeugen, wenn nicht durch überlebensgroße Kinderleichen aus Kunstharz? Ich zeigte fassungslos rhetorische Propagandastrategien auf, kommentierte Falschinformationen. Nesha nickte. Sie sagte, sie seien hier mit ihrer Grundschulklasse gewesen.
»Was denkst du darüber?«, fragte ich sie.
»Ach, ich finde es schlimm, was die Kommunisten gemacht haben.« Sie lachte diplomatisch. Ich schwieg.
Ich erinnerte mich an das, was Edward gesagt hatte, als er ein Diorama an der amerikanisch-mexikanischen Grenze besucht hatte, das die Arbeit der Grenzschützer glorifizierte: Man stellt Dioramen immer dann auf, wenn reale Artefakte oder Fotos kein gutes Licht auf einen selbst werfen würden. Mit Dioramen schafft man ein Narrativ, und Geschichten sind immer gut, denn Geschichten mag man, selbst wenn sie unwahr sind.
Am folgenden Tag fuhren Juan und ich zum Taman Mini Indonesia, dort lungerten wir mit der Diaspora von Aceh herum. Juan lernte bei ihnen Bodypercussion. Er schlug auf seine Knie ein und seine Schultern. Ich fragte mich, ob ich mit ihm schlafen sollte. Dann dachte ich mir, dass er mich eigentlich nicht interessierte.
Es waren nur Männer da.
»Willst du mal heiraten?«, fragten sie mich.
»Ich will fünf Männer«, sagte ich, »habe genug Liebe für alle.«
»Sowas gibt es bei uns nicht. Nur vier Frauen pro Mann.«
»Würdest du vier Frauen wollen?«, fragte ich den Hübschesten.
»Nein, ich möchte nur eine. Meine Seelenverwandte«, sagte er, der Riaji hieß. Ich wollte Seilbahn fahren, er wollte mitkommen. Ich kaufte uns Tickets.
»Gehst du deine Familie oft besuchen?«, fragte ich Riaji.
»Meine Familie ist beim Tsunami 2004 umgekommen.«
Wir schwiegen. Dann fuhren Juan und ich wieder in die Stadt zurück.
Man bezahlt für alles. Ich habe bei der Lotterie am Anfang meiner Empfängnis viel gewonnen und vieles bekommen, das nicht wünschenswert ist. Ich habe die Exsowjetunion noch in der Gebärmutter meiner Mutter verlassen, was wahrscheinlich das Beste war, das hatte passieren können. Ich habe viel Glück und viel Pech gehabt, und manche Rechnungen wurden mir nie gestellt. Deshalb bezahle ich in Raten, vorsorglich. Ich weiß, dass noch viele unbezahlbare Rechnungen auf mich zukommen, aber ich war auch schon oft Millionärin, dank diverser Inflationen – in indonesischen Rupiah, iranischen Rials und vietnamesischen Dong.
Umer schickte mir auf Whatsapp Bildchen mit motivierenden Sprüchen und darüber, wie man sich von Liebeskummer zu heilen hatte. Dann wollte er, dass ich in sein Business einstieg, aber ich hatte keine Ahnung von Import und Export und Skalpellen. Das australische Visum kam. Ich buchte den nächsten Flug. Es war August.

Nadire Y. Biskin

Borderline

O[1] wird zu spät kommen. Der Grund dieser Verspätung lässt sich mit der Fußballfeldtheorie erklären. Man spielt ehrgeizig auf dem Feld, ein Tor schießen und noch ein Tor schießen. Man begehrt das Tor. Eines Tages stolpert man auf dem Fußballfeld, weil zum Beispiel die Schnürsenkel offen sind. Nicht mal Zeit für eine Schleife bleibt auf dem Fußballfeld. Das hat man davon und muss außerhalb des Feldes stehen, um die anderen beim Spielen nicht zu behindern. Schnell die Schnürsenkel zusammenbinden. Die tägliche Routine des Schnürsenkelschnürens bietet die Möglichkeit des Multi-Tasking. Man bindet sich die Schuhe zu und beobachtet dabei die anderen Spieler auf dem Feld. Man beginnt zu lachen, so viele Menschen rennen einem Ball hinterher, halten sich an die Regeln, die vorgegebene Zeit, singen Nationalhymnen und lassen sich vorschreiben, wie ihr Trikot auszusehen hat. Man geht wieder aufs Feld. Doch die Außenperspektive auf das Spielfeld lässt nicht mehr zu, dass man jemals wieder so ehrgeizig und angepasst mitspielt. O nimmt sich also an diesem Tag die Zeit auf dem Weg zum Ziel und stillt den Durst seiner Augen. O schaut sich die Backwaren in der Vatan Bäckerei an. Laugenstangen, Laugenbrötchen, Schrippen, Backwaren vom Vortag zum reduzierten Preis, Simit und Müslibecher. Die Waren erinnern o an die deutschen Nachbarn, die in den ersten Wochen nach der Eröffnung der Bäckerei des Deutschländers Umut stirnrunzelnd daran vorbeigingen. »Wozu diese Sesamringe? Wir haben doch Schrippen.« Nachdem das fremde Simit bekannt wurde, wurde es vertraut und gegessen. Die Deutschländerläden waren eine Bereicherung ohne einen Nachteil für die Deutschen. Die Preise blieben gleich. Die Läden der Deutschen mussten nicht schließen. Die Deutschländer lernten Deutsch, weil die Deutschen die Sprache der Deutschländer nicht lernen wollten. Sie konnten ihre Kunden auf Türkisch, Deutschländisch und Deutsch bedienen und beendeten ihre Fragen mit »wa«. Obendrein vertrieben die Deutschländer-Bäckereien die Einsamkeit der Deutschen. Stundenlang saßen Deutsche in den Bäckereien und wurden von den Deutschländern unterhalten.
O verlässt die Bäckerei Vatan ohne etwas gekauft zu haben, denn os[2] Portemonnaie liegt zu Hause. O läuft zur U-Bahn Afrikanische Straße im Afrikanischen Viertel. Der Name hält nicht, was er verspricht. Es fliegen höchstens nach zehn Uhr immer noch Flugzeuge über das Viertel nach Tegel, die aus Afrika kommen. Noise pollution ist ein Fremdwort hier. Nur die Kolonialherren machten ihren Namen alle Ehre und hauchten die Straßen mit ihren deutschen Namen afrikanisch an. O selbst wohnt auf der Müllerstraße. Sie ist 3,5 Kilometer lang. Im Fernsehen sagen die Omis, sie war mal der Kudamm des Westens. Ein Fachgeschäft berührte mit den Schultern ein anderes Fachgeschäft. Heute berühren sich nur die Schultern der betenden Männer beim Freitagsgebet in der Moschee. Die Opis ergänzen, dass alles jetzt in türkischer Hand sei. Sie finden diesen Umstand doof. Dabei haben sie bis heute nie das Geld gehabt, um in den teuren Fachgeschäften einzukaufen. Die Zugezogenen, die mit Geld und Status ihrer Väter nach Wedding ziehen, interessiert das nicht. Sie wünschen sich Vielfalt und verstehen darunter, dass man die verschiedenen Hautfarben, die sie von den Pantone-Hautfarbenfächer kennen, auf der Straße wiederfinden kann. Bunt soll es sein. Also sollen die türkischen Supermärkte weg. Stattdessen wünschen sich die Zugezogenen Bio-Supermärkte. Das ist natürlich nicht mit den Omis und Opis abgesprochen. So wünschen sich diese wieder die türkischen Supermärkte zurück. Die waren zwar nicht deutsch, aber wenigstens preisgünstig. Manchmal steht der Ali dem Kevin in der Einkaufsschlange näher, als der Konstantin tut.