Ein Troisdorf-Krimi
Heribert Weishaupt
Tödliche Dunkelheit
Ein Troisdorf-Krimi
Cover: Heribert Weishaupt
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ISBN E-Book 978-3-96136-058-1
ISBN Print 978-3-96136-057-4
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Über den Autor:
Heribert Weishaupt wurde 1949 in Stolberg im Kreis Aachen geboren. Über vierzig Jahre arbeitete er in der deutschen Sozialversicherung im Bereich Krankenversicherung. Mit Beginn des Ruhestandes erfüllte er sich seinen Wunsch und begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Kriminalromanen.
Heribert Weishaupt ist verheiratet, hat zwei Söhne und drei Enkelkinder. Seit über dreißig Jahren lebt er in Troisdorf im Rhein-Sieg-Kreis.
Es ist kein Unglück, blind zu sein.
Es ist nur ein Unglück,
die Blindheit nicht zu ertragen.
Konfuzius (551 – 479 v. Chr.)
Nur die Dunkelheit ist echt,
das Licht scheint nur so.
Volksmund
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Anmerkungen und Dank
Es stürmt und regnet. Dunkle Wolken ziehen über den Himmel. Immer wieder zucken Blitze und erleuchten mit gleißendem Licht den ganzen Himmel. Hinterher ertönt das Grollen des Donners, als wolle er die Stadt sprengen. Ein typisches Sommergewitter.
Das Gewitter passt ausgezeichnet zu seinem Plan, auch wenn er das Wetter grundsätzlich nicht mit eingeplant hat.
Es sind kaum Menschen auf den Gehwegen und die, die sich bei dem Wetter nach draußen trauen, stemmen sich mit gesenkten Köpfen hinter dem Schirm gegen den Wind und den Regen und beeilen sich, den Widrigkeiten des Wetters zu entkommen.
Trotzdem schaut er sich vorsichtig um, als er aus dem Wagen steigt. Er hat keinen Schirm dabei. Schnell zieht er die Kapuze über den Kopf. Nicht nur wegen des Regens. Die tief ins Gesicht gezogene Kapuze macht ihn fast unkenntlich. Niemand soll sich an ihn und an sein Gesicht erinnern. Mit den Händen in den Taschen, den Kopf gesenkt, läuft er hinüber zum Eingang des Hauses mit der Hausnummer 27.
Vor dem Eingang, wo er weitgehend vor dem Regen geschützt ist, streift er sich routiniert dünne Latexhandschuhe über. Er hasst diese Vorsichtsmaßnahme. Das prickelnde Gefühl, wenn er über nackte Haut streicht, wird dadurch erheblich gemildert. Aus Sicherheitsgründen hat er keine andere Wahl. Er darf keinerlei Spuren hinterlassen.
Er findet den Namen ohne Umschweife auf der Tafel der Mieter und drückt den Klingelknopf. Nichts geschieht. Das hat er auch nicht anders erwartet aber jetzt ist er sicher, dass sich niemand in der Wohnung befindet, dass die Wohnungsinhaberin noch nicht nach Hause gekommen ist. Er nimmt den Nachschlüssel und schließt die Haustür auf.
Auf die Benutzung des Fahrstuhls verzichtet er. Er will nicht das Risiko eingehen, jemandem zu begegnen, der ihn die gesamte Fahrt über, auch wenn diese nur zehn oder fünfzehn Sekunden dauert, ansieht.
Geschmeidig und behänd wie eine Katze, eilt er das nüchterne Treppenhaus hinauf. Erwartungsgemäß begegnet ihm niemand. Welcher Mieter benutzt schon das Treppenhaus, wenn ein Fahrstuhl vorhanden ist?
Außer Atem erreicht er den Flur in der dritten Etage. Ruhelos schaut er sich um und findet schnell die gesuchte Wohnungstür.
Bevor er auch diese Tür mit einem Nachschlüssel öffnet, putzt er pedantisch seine nassen Schuhe auf der davor liegenden Fußmatte ab. Er darf keine verräterischen Fußspuren in der Wohnung hinterlassen.
Er drückt die Tür auf. Noch schnell ein finaler Blick rechts und links in den Flur, dann huscht er in die kleine Diele. Er schiebt die Tür leise hinter sich ins Schloss und verschließt sie wieder. In der Diele verharrt er einige Sekunden reglos und horcht. Keine ungewöhnlichen Geräusche. Nur das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes sind zu hören. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen. Er geht hinein und scheint mit den Augen jedes Möbelstück und jedes Accessoire zu scannen. Ja, das entspricht auch seinen Vorstellungen: Moderne Einrichtung, sauber und aufgeräumt. Dann ein Blick in die Küche und ins Bad. Hier das Gleiche. Sein Eindruck verfestigt sich. Die Frau hat einen guten Geschmack – so wie er, was die Frauen betrifft.
Zuletzt betritt er das Schlafzimmer. Ein breites, französisches Bett. Vielleicht zu breit und zu protzig für eine Single-Frau. Aber vielleicht hat sie öfter Herrenbesuche über Nacht, mit denen sie das Bett teilt. Das kann die Sache für ihn vielleicht einfacher machen. Einen festen Freund hat sie im Augenblick jedenfalls nicht. Das hat er herausgefunden. Daher wird sie auch heute, wie jeden Tag in den letzten Wochen, voraussichtlich allein nach Hause kommen.
Er weiß, ein gewisses Restrisiko, dass sie womöglich jemand mit nach Hause bringt, besteht immer. Dann hätte er ein Problem, für das er auch eine Lösung einkalkuliert hat. Aber sein Vergnügen würde dann zwangsläufig ausfallen.
Er rechnet mit einer Wartezeit von ungefähr einer Stunde. Dann wird sie von der Arbeit nach Hause kommen. Das ist für ihn durchaus akzeptabel. Wenn das Ziel es wert ist, kann er geduldig sein – und wert ist es das Ziel, zweifellos. Genauer betrachtet liebt er sogar diese Wartezeit, in der sich seine Vorfreude und Erregung immer mehr aufbaut.
Endlich hört er das ersehnte Geräusch. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss der Wohnungstür. Er zieht die schwarze Sturmmaske aus seiner Jackentasche und streift sie schnell über den Kopf. Lediglich Augen und Mund bleiben frei.
Die Wohnungstür ist wieder ins Schloss gefallen. Er vernimmt Schritte in der Diele, die sich in Richtung Schlafzimmer bewegen. Er steht bereits versteckt hinter der halb geöffneten Schlafzimmertür, den Rücken gegen die Wand gepresst. Mit einem Ruck öffnet sich die Tür fast vollständig und trifft ihn beinahe. Er drückt den Rücken noch fester gegen die Wand.
Zu seiner Freude bleibt die Tür offen, sodass er dahinter nicht zu sehen ist. Er wartet. Sein Mund ist trocken. Er kennt das. Es ist die Aufregung und die Spannung.
Eine junge, zierliche Frau mit kurzen, schwarzen Haaren tritt ins Zimmer. Sie ist hübsch. Sie wendet seinem Versteck den Rücken zu. Er kann ungehindert beobachten, wie sie mit natürlichen Bewegungen die Knöpfe ihrer Bluse öffnet, sie auszieht und mit Schwung auf das Bett wirft. Dann zieht sie ihre Jeans aus. Auch diese landet mit Schwung auf dem Bett.
Der weiße BH und Slip auf ihrer leicht gebräunten Haut erregen ihn aufs Höchste.
Er hat genug gesehen. Er kann nicht mehr warten – er muss handeln. Mit einem gewaltigen Tritt schmettert er die Tür ins Schloss.
Die Frau fährt herum und erstarrt für den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie versucht, nach der Klinke zu greifen. Dieser Sekundenbruchteil genügt ihm und er umschlingt sie mit seinen muskulösen Armen und wirft sie auf das Bett. Sofort springt er hinterher und drückt sie mit seinem Gewicht in die Kissen.
Seine kräftige Hand verschließt ihren Mund, denn Schreie oder Hilferufe kann er sich nicht leisten. Mit der anderen Hand packt er den BH und reißt ihn der Frau vom Körper. Auf die gleiche brutale Art entfernt er den Slip. Die Frau windet sich unter ihm und tritt aus Leibeskräften mit den Beinen ohne ihren Gegner zu treffen. Ihre Fäuste trommeln auf seinem Rücken und gegen seine Schultern.
„Wenn du schreist, wirst du es bereuen“, sind seine ersten, heiseren Worte.
Die schwarze Maske mit den dunklen, glühenden Augen ist direkt über ihrem Gesicht. Seine Hand gibt den Mund der Frau frei. Die Angst und der Anblick der Maske lähmen sie. Sie gibt keinen Laut von sich.
Ihr Atem geht stoßweise. Ihr Körper ist verkrampft und schmerzt. Sie begreift, sie hat keine Chance.
Auch der Mann atmet schwer.
„Versuch es zu genießen. Du magst es doch auch“, fügt er in einem fast freundlichen Ton hinzu.
Inzwischen rinnen Tränen über ihr Gesicht. Sie versucht nicht, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Ihr ist klar, was jetzt geschehen wird.
Die Ahnung der Frau bestätigt sich auf brutale Art. Der Mann keucht. Sein stoßweiser Atem schlägt ihr ins Gesicht. Sie ist zu keiner Reaktion und zu keinem Laut mehr fähig. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Ihre Bewegungen erlahmen und ihr zierlicher Körper verhärtet sich. Sie fühlt sich wie betäubt, wie erstarrt. Der Mann nimmt darauf keinerlei Rücksicht. Kompromisslos vollzieht er die Vergewaltigung.
Schmerz durchflutet ihren Körper. Mit weit geöffneten Augen starrt sie an der Furcht erregenden Gesichtsmaske vorbei gegen die Zimmerdecke. Sie ist wie zu Eis erstarrt.
So plötzlich wie der Albtraum begonnen hat, so endet er. Der Mann hat erreicht, was er erreichen wollte, springt vom Bett und hastet zur Tür. Bevor er aus ihrem Blick verschwindet, hält er kurz inne und dreht sich um.
„Und keine Polizei, sonst …“
Er lässt offen, was dann passieren wird. Den angsterfüllten Blick der Frau ignoriert er. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er aus dem Schlafzimmer.
Die Frau hört, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Es dauert lange, bis sich ihre Erstarrung löst. Dann bricht sie erschöpft und erniedrigt in Tränen aus.
Ich bin wie Millionen anderer Menschen. Und ich bin damit zufrieden – will grundsätzlich auch gar nicht anders sein. Sollte ich jemals in meinem Leben einen Mann finden, bei dem ich mich für immer geborgen fühlen könnte, dann hoffe ich, dass ich im Laufe der Zeit nicht genauso abgestumpft werde, wie viele Menschen meines Geschlechts, die während der Zeit des Zusammenlebens zum Urgestein von Anpassung und Schwäche werden.
Bei Tobias bin ich mir nicht sicher.
Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht der Mann für ein ganzes Leben ist.
Vielleicht ist es ein Fehler, bei ihm zu bleiben. Vielleicht hätte ich nein sagen sollen, als es noch leichter möglich war.
Aber ich war träge, wollte nicht den unbequemen Weg der Konfrontation gehen – entschied mich für den bequemen Weg der Anpassung und Gleichgültigkeit.
Es ist aber auch nicht so, dass Tobias mich nicht interessiert und ich ihn nicht mag. Nein, grundsätzlich mag ich ihn. Er ist ein durchtrainierter, gut aussehender junger Mann. Seine dunkelbraunen Augen signalisierten mir von Anfang an Wärme und Geborgenheit. Und er hat Wesenszüge, die ich mag, die mich manchmal auch verblüffen und sogar neugierig machen. Neugierig auf etwas, das sich mir noch nicht offenbart hat.
Es liegt wahrscheinlich an mir. Ich will keinen Mann in mein Leben lassen – noch nicht. Ich mag nicht alles von mir preisgeben und ich mag keinen uneingeschränkten Anteil an ihm und an seinem Leben nehmen.
Ich frage mich: Bin ich überhaupt für eine dauerhafte Beziehung geeignet?
Damals, als ich ihn kennenlernte, stand ich in keiner Beziehung. Es war mehr als ein Jahr her, dass ich einen festen Partner hatte. Manchmal sehnte ich mich nach einer neuen, festen Beziehung, meistens jedoch nicht. Hin und wieder ein One-Night-Stand oder höchstens eine kurze Affäre – mehr gestattete ich mir nicht. Ich hatte keine großartigen Pläne und wollte nur ab und zu einen Mann. Ja, ich wollte gelegentlich unbedingt einen Mann. Vielleicht auch nur für eine Nacht, vielleicht für eine Nacht und einen Tag. Vielleicht auch für etwas länger, aber auf jeden Fall nur für eine überschaubare Zeit.
Dann trat Tobias in mein Leben.
Heute bin ich unsicher. Mein Innerstes sagt mir, ich sollte gehen – sofort und ohne Rücksicht und Sentimentalitäten.
Es ist siebzehn Uhr. Ich könnte die Bar verlassen, in der ich sitze und schreibe, meinen Koffer aus dem Wagen holen und in irgendeinem Hotel in diesem Ort einchecken oder mit dem Taxi in einen anderen Ort fahren und dort eine Unterkunft suchen.
Aber wieder hält mich meine Trägheit zurück. Wahrscheinlich noch weit über das Jetzt hinaus. Ich kann nicht sagen, wie lange noch.
Oder ist es meine Erziehung, mein Charakter? Das geziemt sich nicht, das macht man nicht, seinen Partner während der Urlaubsreise zu verlassen. Solch eine Aktion würde mit Sicherheit niemand gutheißen. Weder meine Freundinnen, deren Anzahl dünn gesät ist, noch seine Freunde. Wenn er denn überhaupt welche hat. Ich kenne keinen. Auch seine Eltern kenne ich nicht. Er sagte mir einmal, dass sich seine Eltern, als er noch ein Kind war, haben scheiden lassen. Er sei bei seiner Mutter aufgewachsen. Verwandte scheint er keine zu haben. Er hat nie darüber gesprochen und meinen Fragen ist er ausgewichen. Über seine Vergangenheit spricht er nicht gerne und irgendwann habe ich es aufgegeben, Fragen zu stellen. Sein Leben vor mir interessiert mich auch nicht so brennend.
Aber wieso bin ich so sehr großzügig? Er wohnt kostenlos bei mir und lebt von meinem Geld. Er ist Student, studiert Mathematik und molekulare Biomedizin und hat außer BAföG kein Einkommen. Er versucht noch nicht einmal, einen Job zu finden, um sich etwas hinzuzuverdienen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Was mich beschäftigt und mir keine Ruhe lässt, ist die Frage: Wieso gestatte ich ihm, mich zu besitzen und zu lieben? Ich kann es nicht sagen, ich finde keine Antwort auf diese Frage.
Was ihn betrifft, behauptet er zwar, dass er mich liebt, sogar über alles liebt. Ich konnte ihm das anfangs nicht glauben. Ich nahm an, er braucht und benutzt mich als seine Marionette, sein Spielzeug, das er weglegen kann, wenn es ihn nicht mehr interessiert. Doch inzwischen glaube ich ihm tatsächlich, dass er mich auf seine Art liebt. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich ihm inzwischen glaube. Es ist völlig absurd, dass wir jetzt bereits mehrere Monate zusammenleben. Irgendwie kann ich nicht von ihm lassen, nicht Schluss mit ihm machen, so wie mit manch einem Mann vor ihm.
Dabei ist er nicht gerade unproblematisch. Er hat Ansprüche. Nicht nur in finanzieller Hinsicht. Seine Meinung zählt und ist unumstößlich. Er will sagen, wo es lang geht, er will mich bevormunden, wie gesagt, besitzen. Das ist häufig ein Streitpunkt zwischen uns. Muss ich tatsächlich so abstumpfen und ein Heimchen am Herd werden, nur damit mein Partner zufrieden ist und sein Ego ausleben kann?
Ein ganz klares Nein!
Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich denke, dass ich bereits einen Schlussstrich hätte ziehen sollen. Mein ganzes Dasein fühlt sich an wie Stückwerk, ohne Aussicht auf Vergehen oder Vollendung.
Es ist heiß. Die Gedanken und Vorsätze verdorren auf dem Weg bis zur Ausführung.
Ich bestelle mir den dritten kühlen Weißwein. Tobias liegt drüben im Park im Schatten und ruht sich von der langen Fahrt aus. Welch eine Selbstverständlichkeit.
Andererseits bin ich froh, dass ich jetzt Zeit für mich habe.
Es ist schön, die französische Sprache um mich herum zu hören, ohne zu begreifen, was gesagt wird. Ich muss mit niemandem reden und man sieht mir nicht an, was ich denke. Wie heißt es doch in dem Studentenlied: „Die Gedanken sind frei.“ Und Gedanken sind unschädlich für den, über den man sich Gedanken macht. Aber nur so lange, wie sie Gedanken bleiben.
Es wird Zeit, dass wir weiterfahren, wollen wir unser Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.
Mir ist klar, dass er das ganz anders sehen wird, wenn ich ihn wecke. Aber was soll‘s. Es ist auch mein Urlaub!
Anna beendete die Eintragungen in ihr Tagebuch. Sie hatte seit Monaten nichts mehr eingetragen. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem sie Tobias kennengelernt hatte. Sie schlug das Buch zu und verstaute es sorgfältig in ihrer Handtasche.
Tobias war, wie Anna erwartet hatte, nicht begeistert, als sie ihn zur Weiterfahrt aufforderte. Lieber hätte er noch im Schatten der Parkbäume weitergeschlafen. Erst als Anna ihm den Vorschlag unterbreitete, hier ein Hotel zu suchen und in dem kleinen, französischen Ort zu übernachten, erwachten seine Lebensgeister und sein Widerstand. Er sprang auf.
„Auf keinen Fall. Denkst du ich bin ein Schwächling, ein alter Mann? Wir fahren weiter – so wie geplant.“
„Aber du warst doch gerade noch müde und wolltest nicht aufstehen …“
„Unsinn! Wir fahren“, unterbrach er sie barsch und unterband damit jeglichen weiteren Einwand.
Mit energischen Schritten ging er in Richtung Parkplatz, wo sie ihr Auto abgestellt hatten. Anna sagte nichts mehr und folgte ihm. Letztendlich war es auch ihr Wunsch, heute noch am Urlaubsziel anzukommen.
Das Navigationsgerät führte sie sicher aus der Stadt heraus und zur nahen Autobahn. Bereits in der Stadt schaltete er das Autoradio ein und suchte fieberhaft einen Sender mit aktuellen Hits. Die französischen Sender konnten jedoch seinen Musikgeschmack nicht befriedigen. Er legte daher eine ihrer CDs ein und drehte die Lautsprecher so richtig auf. Queen – Greatest Hits, die Musik, die beide mochten.
Die anfänglich schlechte Stimmung war bald verflogen und beide sangen die Texte aus voller Kehle mit.
Beim fünften oder sechsten Track des Albums schaltete sich der Verkehrsfunk des Radiosenders automatisch mit einer Durchsage ein und unterbrach die Musik. Auch der Gesang der beiden jungen Leute wurde damit unterbrochen. Mit ihren geringen Kenntnissen der französischen Sprache verstanden sie den Inhalt der Meldung nicht. Sie waren lediglich sauer, dass ihr Gesang so abrupt unterbrochen wurde.
Als nach der Durchsage die Musik wieder einsetzte, waren die Euphorie und die Lust mitzusingen mit einem Male dahin. Anna drehte das Radio leiser. Sie schloss die Augen. Sie hatte die Rast in dem kleinen Ort nicht wie Tobias zum Schlafen genutzt. Stattdessen hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben und sich Gedanken über sich, über Tobias und über ihr gemeinsames Zusammenleben gemacht – wie immer ohne direkte Konsequenzen.
Anna rutschte tief in den Beifahrersitz. Der Sicherheitsgurt spannte und war ihr unbequem. Da nur wenig Verkehr auf der Autobahn herrschte, löste sie, trotz Tobias‘ Einwand, den Gurt und duselte vor sich hin.
Es war fast wie früher, als sie noch ein junges Mädchen war und mit ihren Eltern in Urlaub fuhr. Meistens fuhren sie morgens sehr früh los, wenn es noch dunkel war. Bereits nach wenigen Kilometern auf der Autobahn schlief sie regelmäßig ein. Sie erwachte erst, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und es im Wagen heiß und stickig war. Sie erinnerte sich, dass sie immer wieder ihre Eltern mit der Frage nervte: Wann sind wir da? Ihr Vater reagierte darauf sehr ungehalten. Ihre Mutter beschwichtigte dann immer und spielte mit ihr das Spiel: Ich sehe etwas, das du nicht siehst. Sie mochte dieses Spiel und sie mochte ihre Mutter, die ihr ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Wenn sie sich jetzt daran erinnerte, spürte sie wieder dieses Gefühl von Glück und Geborgenheit – wie damals. War ihr dieses Gefühl im Laufe des Erwachsenwerdens abhanden gekommen oder fühlte sie sich in ihrer Beziehung nicht richtig glücklich und geborgen? Wieder die alte Frage, dachte sie und verdrängte die Gedanken – zumindest fürs Erste, beschloss sie.
Hin und wieder überholte Tobias einen LKW. Von Berufsverkehr, wie er in Deutschland zu dieser Uhrzeit üblich ist, war hier nichts zu spüren. Daher war die Fahrt für Tobias stressfrei, wobei er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h pedantisch einhielt. Jeden Überholvorgang konnte er ohne besondere Voraussicht einleiten. Die linke Fahrspur war so gut wie kaum befahren.
Tobias wollte gerade ansetzen, einen langsam fahrenden LKW zu überholen, als die Bremsleuchten des LKW unverhofft aufleuchteten. Zusätzlich schaltete der Fahrer die Warnblickanlage ein und drosselte erheblich sein Tempo.
„Verdammt, was soll das?“, zischte Tobias leise.
Er vermutete einen Stau, obschon er sich das bei dem geringen Verkehrsaufkommen nicht vorstellen konnte. Auch eine Baustelle war vorher durch Hinweisschilder nicht angekündigt.
Er lenkte seinen Wagen auf die linke Spur, um eine bessere Sicht nach vorne zu haben.
Anna, die wohl die etwas hektischen Bewegungen von Tobias und seine Unmutsäußerung im Unterbewusstsein wahrgenommen hatte, öffnete die Augen und stieß augenblicklich einen schrillen Schrei aus.
Tobias stieg voll in die Bremsen.
Er umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten.
Das Antiblockiersystem des PKWs setzte ein und bewirkte die maximale Bremskraft.
Der Wagen begann zu ruckeln.
„N-e-i-n !!“, schrie Tobias.
Tobias‘, als auch Annas Augen weiteten sich völlig unnatürlich.
Tobias riss das Steuer nach rechts, um sich wieder hinter den langsam weiterrollenden LKW zu setzen.
Doch es war zu spät.
Der Geisterfahrer erfasste seinen Wagen frontal.
Ein fürchterlicher Knall zerriss die Luft, als Blech auf Blech traf.
Wie von allein wurde der Wagen von Tobias um die eigene Achse geschleudert.
Gegenstände flogen von der Rückbank durch den Innenraum.
Gleichzeitig zerbarst die Windschutzscheibe in unzählige kleine Partikel und die Airbags lösten aus.
Die Wucht des Aufpralls hob den Wagen des Geisterfahrers an und setzte ihn wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt auf die Mittelleitplanke.
Der PKW von Tobias und Anna wurde mit der Motorhaube bis zur Fahrerkabine unter die Seite des LKWs geschleudert. Von der Wucht des seitlichen Aufpralls drehte sich der LKW und stand quer über der Fahrbahn.
Mit einem Mal schien der Spuk vorbei zu sein.
Hin und wieder hörte man ein Zischen, ein Quietschen und ein Klappern, wenn ein Blechteil zu Boden fiel.
Dann herrschte schlagartig Totenstille.
Nur aus dem Lautsprecher in Tobias‘ und Annas PKW drang makaber der Queen-Song „Who wants to live forever“.
Es ist ein schöner Spätsommermorgen. Der Sommer zieht noch einmal alle Register, bevor er sich abmeldet und es wird noch einige Zeit dauern, bis der Herbst das Regiment übernimmt. Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel. Das Laubwerk der hohen, alten Bäume taucht den Waldweg in einen angenehmen Schatten. In kurzer Entfernung vom Weg schnattern Enten auf einem Teich um die Wette. Am gegenüberliegenden Ufer ist der Teich großflächig mit Seerosen bedeckt. Im ufernahen Flachwasser steht ein Graureiher und wartet bewegungslos auf Beute.
Obschon es noch sehr früh ist, spielen einige Kinder am flachen Seeufer und die Mütter sitzen auf einer der einfachen Bänke und unterhalten sich. Insgesamt wirkt der Ort friedlich und harmonisch. Am Wochenende wird er von vielen Menschen aufgesucht. Jung und Alt, Familien mit Kindern, Spaziergänger, Radfahrer und Jogger suchen in diesem Teil des Waldes Entspannung und Erholung vom Alltag. An einem Montagmorgen wie heute, wird der See nicht stark besucht.
Seit diesem Sommer nutzt Anna die frühe, morgendliche Frische oft für einen Spaziergang zum See. An sonnigen Tagen verweilt sie gerne einige Zeit auf einer der rückenlosen Bänke. Das ist auch heute ihre Absicht. Ihr weißer Teleskopstock mit einer Kugel am Ende kratzt über den festen Boden des Waldweges. Sie weiß, nach exakt noch neun Schritten befindet sich auf der linken Seite eine Bank. Manchmal kommt es vor, dass die Bank besetzt ist. Dann verzichtet sie auf die kurze Rast und schlägt direkt den Rückweg ein. Heute ist ihr der Spaziergang schwergefallen und sie hofft daher, dass sie eine freie Bank vorfindet.
Sie tastet mit dem Stock im weiten Bogen vor sich den Weg ab. Nach ihrer Einschätzung muss sich die Bank in unmittelbarer Nähe befinden.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt eine freundliche Frauenstimme.
„Ja, gerne. Ich suche eine freie Bank. Heute fällt es mir etwas schwerer, sie zu finden. Ich möchte mich etwas ausruhen und dann den Rückweg antreten.“
„Kommen Sie, ich führe Sie hin. Sie stehen fast davor.“
Die Frau fasst Anna vorsichtig am Arm und leitet sie etwas nach links. Nach wenigen Schritten schlägt Annas Stock gegen die Holzbalken der Bank.
„Hier können Sie sich setzen. Wir sitzen auf der Bank auf der gegenüberliegenden Seite des Weges. Wenn Sie Hilfe benötigen, rufen Sie einfach. Die Kinder spielen am Wasser.“
„Vielen Dank. Aber ich komme schon zurecht.“
Anna bleibt noch einen Augenblick stehen, bevor sie sich hinsetzt. Sie legt den Kopf in den Nacken und lässt den seichten Wind über ihr Gesicht streichen. In diesem Augenblick ist sie ganz bei sich. Sie spürt das Herz in ihrer Brust schlagen. Es tut ihr gut, aus dem Haus herauszukommen und die Natur zu erleben.
Anna setzt sich hin und atmet erleichtert aus. Sie genießt die wenigen, warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterwerk der Bäume bis zu ihr durchdringen.
Es ist schön, dabei den freudigen Stimmen der Kinder und dem Schnattern der Enten zu lauschen. Das Schnattern wechselt sich hin und wieder mit dem Gurren einer Taube ab. Annas Gehirn produziert aus der Erinnerung das Bild einer Taube mit ihren starren, ausdruckslosen Augen ohne Wimpernschlag. Anna erinnert sich an den Ausspruch: Die Augen sind der Spiegel der Seele. Sind diese leblos wirkenden Augen ein Indiz dafür, dass Tauben keine Seele besitzen? Annas Augen sind ebenfalls leblos und ausdruckslos, die keinen Lichtstrahl und kein Bild mehr aufnehmen. Hat auch sie keine Seele mehr? Hat sie mit dem Verlust des Augenlichts ihre Seele verloren?
Sie kann den Gedanken nicht zu Ende denken. Eine Stimme lässt sie hochschrecken. Vielleicht ist das auch gut so.
„Wir wollen gehen. Möchten Sie uns bis zum Parkplatz begleiten? Das ist bestimmt einfacher für Sie, als allein durch den Wald zu gehen. Man stolpert doch leicht über eine Wurzel oder über einen Stein“, spricht die Frau von vorhin sie an.
Anna muss sich sammeln, bevor sie antwortet.
„Das ist nett von Ihnen. Aber ich möchte noch etwas hierbleiben. Ich gehe fast jeden Tag den Weg und werde schon aufpassen. Vielen Dank.“
„Dann noch einen schönen Tag und vielleicht bis ein anderes Mal.“
„Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.“
Anna vernimmt, wie die Kinder und mehrere Frauen sich entfernen.
Sie ist jetzt allein und kann die Stille und die Geräusche der Natur um sie herum genießen.
Die Ruhe und Idylle wird nur gestört, wenn ein Flugzeug tief über den Baumwipfeln den See überquert und zur Landung auf dem nahen Köln-Bonner Flughafen ansetzt.
Anna hört nicht nur das Dröhnen der Triebwerke, sie stellt sich dann auch das Bild des Flugzeuges am wolkenlosen, blauen Himmel vor. Sie kennt das aus früheren Zeiten.
Sehen kann sie das seit ihrem Autounfall von vor mehr als zwei Jahren nicht mehr.
Sie ist vollständig blind!
Nach dem fürchterlichen Unfall im Juli vor zwei Jahren auf der Autobahn in Frankreich musste Anna noch an der Unfallstelle von den Rettungssanitätern reanimiert werden. Ein Hubschrauber brachte sie ins nächste Unfallkrankenhaus, wo nochmals eine Reanimation erforderlich war. Sie hatte lebensgefährliche Verletzungen. Der stark alkoholisierte Geisterfahrer, mit dem sie frontal zusammengestoßen waren, wurde tödlich verletzt und verstarb noch an der Unfallstelle. Ihr Freund Tobias hatte Glück im Unglück. Er kam mit einigen Rippenbrüchen, einem Armbruch sowie mit starken Prellungen davon. Verhältnismäßig schnell war seine Gesundheit wiederhergestellt.
Bei Anna stellte man im Krankenhaus schwerste Schädelverletzungen und Gehirnblutungen fest. Es stand lange auf des Messers Schneide, ob sie überhaupt überleben würde und falls, wie würde dieses Überleben aussehen? Nach mehreren Operationen verbrachte sie lange Zeit auf der Intensivstation im künstlichen Koma.
Als sie erwachte, verlegte man sie in eine Spezialklinik für Augenheilkunde. Nach gründlichen Untersuchungen dann der Schock: Die Ärzte eröffneten ihr, dass eine Wiederherstellung ihres Augenlichtes nicht mehr möglich sei. Sie sei auf beiden Augen irreversibel erblindet. Bei dem Unfall waren mehrere Risse im Knochen bei den Sehnerven beider Augen aufgetreten. Bei der Heilung entstanden Verdickungen am Knochen, die die Sehnerven abdrückten.
Obschon beide Augen medizinisch gesund waren, würde sie für den Rest ihres Lebens blind sein. Rest ihres Lebens? Anna konnte und wollte die Aussage der Ärzte nicht verstehen. Sie war doch noch so jung und der größte Teil ihres Lebens sollte doch noch vor ihr liegen.
Eine niederschmetternde, hoffnungslose Prognose für sie.
Das Auge ist für viele Menschen das wichtigste Sinnesorgan. In der heute in einem riesigen Maße visuell ausgerichteten Welt, werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel der Informationen durch das Sehen aufgenommen. Mit der Tatsache, künftig auf viele Informationen verzichten zu müssen und die Menschen und ihre Umgebung für den Rest ihres Lebens nur noch durch Ertasten oder durch Geräusche wahrnehmen zu können, konnte sie sich nicht abfinden.
Täglich haderte sie mit ihrem Schicksal. Weinkrämpfe erschütterten sie und wechselten sich mit depressiver Niedergeschlagenheit ab. Immer wieder fragte sie sich, wie sie weiterleben soll – und ob sie überhaupt in diesem Zustand weiterleben kann.
Ihr Freund Tobias lebte nach wie vor bei ihr und wurde von ihr finanziell unterhalten. Er versorgte und unterstützte sie, soweit er konnte. Psychologisch war er allerdings nur bedingt in der Lage, ihr zu helfen.
Durch die Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers und ihrer privaten Unfallversicherung hatte sie keine finanziellen Probleme. Ihr Freund schaffte alles herbei, was auf irgendeine Weise für seine Freundin und für ihn eine Hilfe darstellte. Der Preis spielte dabei keine Rolle.
Eines Tages, als Tobias Anna wieder einmal fragte, wie es ihr ginge und ob er ihr helfen könne, rastete sie völlig aus.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es um mich steht und wie ich mich fühle!“, schrie sie wütend.
„Wie sollst du auch? Du bist nicht blind – du kannst ja sehen“, fügte sie fast entschuldigend hinzu.
„Für dich ist Sehen normal, wie es für mich bis zu dem Unfall ebenfalls war. Erst jetzt, wo ich nicht mehr sehen kann, habe ich erkannt, wie schön unsere Welt ist und dass ich diese Schönheit nie mehr genießen kann. Ich bin in dieser verdammten Dunkelheit für ewig gefangen!“
Anna ließ sich in einen Sessel fallen. Noch nie hatte sie in solch einer Klarheit und Offenheit zu ihm gesprochen. Tobias stand, von ihr abgewandt, vor der Balkontür und starrte mit leerem Blick hinaus. Er konnte sie nicht trösten, er war zu keinem Wort fähig.
„Doch halt. Pass‘ einmal genau auf. Wir machen ein Experiment. Nimm dir bitte eine Augenbinde, einen Schal oder sonst etwas und verbinde dir damit die Augen, sodass du nicht das Geringste sehen kannst. Diese Binde lässt du heute den ganzen Nachmittag um deine Augen. Danach reden wir weiter“, schlug Anna ihrem Freund vor.
Tobias sah keine Möglichkeit, diesen Vorschlag abzulehnen, wollte er Annas Vertrauen nicht einbüßen. Im Verbandskasten fand er zwei Augenklappen, die er sich über die Augen zog. Er konnte jetzt nicht mehr die Spur eines Lichtes wahrnehmen und war praktisch Anna gleichwertig.
„Okay, ich bin soweit“, sagte er unsicher.
„Gut. Jetzt versuche, den heutigen Nachmittag ganz normal zu leben, so wie immer. Nur mit dem Unterschied, dass du nichts siehst. Heute Abend reden wir.“
„Ganz normal den Nachmittag verbringen, so wie immer? Wie stellst du dir das vor? Wie soll das mit uns beiden funktionieren?“
„Ich stelle mir das nicht vor. Ich weiß wie das ist. Und du wirst das heute Abend mit Sicherheit ebenfalls wissen.“
Anfangs war er noch guten Mutes, obschon er sich bereits bei den ersten Schritten sein Knie an der Tischkante des Wohnzimmertisches stieß.
Anna saß währenddessen im Sessel und forderte ihn immer wieder zu den verschiedensten Tätigkeiten auf. Im Laufe des Experimentes zog sich Tobias mehrere blaue Flecken zu. Das war für ihn jedoch nicht das Schlimmste. Die totale Finsternis, die Desorientiertheit und das Gefühl der Hilflosigkeit waren wesentlich schlimmer.
Es dauerte nicht lange und er hob eine Augenklappe an, da er die Finsternis und den Zustand der totalen Behinderung nicht mehr ertragen konnte.
Ja, es muss schrecklich sein, was Anna durchmacht, dachte er. Er konnte jetzt in etwa einschätzen, was sie fühlte und weswegen sie so deprimiert war und ihr Leben als eine Qual ansah.
Nach wenigen Stunden nahm er sich die Augenklappen endgültig ab. Danach sprach er mit Anna noch lange über seine Erfahrung mit der Blindheit und lobte Annas Kraft, wie sie mit dieser Behinderung umging.
Dieser Selbstversuch war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Er hatte erlebt, wie Anna sich fühlen musste und war schockiert. Ab diesem Tag half er ihr noch tatkräftiger als vorher. Anstatt ihr Mut und Zuversicht zu geben, konnte er ihr aber nur Mitleid entgegenbringen. Das war jedoch die Zuneigung, die Anna gar nicht ertragen konnte. Immer öfter führte das zu Streitigkeiten.
Er litt mit ihr und war genauso depressiv wie sie. Morgens nach dem Erwachen und abends vor dem Einschlafen fragte er sich immer wieder, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
Im Nachhinein betrachtet war das Experiment weder eine Hilfe für Anna, noch für Tobias gewesen.
Monate später zog Anna eine Psychologin zu Rate. Sie benötigte jemanden, der ihre Stärken unterstützte und ihre Schwächen ausmerzte. Ihr behandelnder Arzt hatte immer wieder auf sie eingeredet, diesen Schritt zu gehen. Glücklicherweise fand sie eine Psychologin, die durch ihr einfühlsames Wesen Zugang zu ihrer Seele bekam. Im Laufe der Behandlung wurde aus ihrer Beziehung eine innige Freundschaft. Es dauerte trotzdem fast ein Jahr, bis Anna ihre Behinderung akzeptierte und einen Weg in eine positive Zukunft sah.
„Was soll‘s. Machen wir das Beste daraus“, sagte sie eines Tages zu Tobias.
Sie begann, systematisch ihre häusliche Umwelt strategisch zu erforschen. Tobias war total überrascht und schaute sie verständnislos an.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Du wirst nicht mehr mein sehendes Auge sein und jeden Handgriff für mich machen. Ich werde selbst für mich sorgen. Ich muss versuchen, auf eigenen Füßen zu stehen.“
„Was soll das? Hat dir das diese Psychologin eingeredet?“, fragte er abfällig.
„Nein, das ist meine Entscheidung. Nur wenn mir das gelingt, ist mein Leben weiterhin lebenswert.“
Beide vereinbarten, dass kein Teil in der Wohnung verrückt oder entfernt werden durfte. Auch kleine Teile, wie eine Vase oder die Fernbedienung der Stereoanlage, sollten ihren festen Platz haben. Nur so war es möglich, dass Anna sich in der Wohnung orientieren konnte.
Täglich trainierte sie, wie sie im Alltagsleben ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen konnte. Ebenso musste sie alle lebenspraktischen Fähigkeiten wie Kochen, Putzen, die Bedienung der Elektrogeräte und vieles mehr neu erlernen.
Das Erleben ganz neuer Sinneseindrücke und das Schärfen der verbliebenen Sinne, musste ebenfalls immer wieder trainiert werden. Eine hierfür ausgebildete Rehabilitationstrainerin half ihr an drei Tagen in der Woche dabei. Wenn ihr Freund zur Uni fuhr und sie allein war, legte sie zusätzliche Trainingseinheiten ein.