Den Wiener Straßen auf der Spur
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1. Auflage 2019
© 2019 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
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Fotos und Cover: Norbert Philipp
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Lektorat: Senta Wagner
Druck: FINIDR, s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín
ISBN 978-3-99100-278-9
eISBN 978-3-99100-279-6
Für Peymane, die Geherin
Einleitung
Geformt von Raum und Zeit
Gekrümmt, gekurvt und schön gebogen
Schnurstracks in neue Zeiten
Ganz ohne Dach, dafür mit Möbeln
Die Josefstädter Straße
Die Ringstraße
Die Porzellangasse
Die Liechtensteinstraße
Die Praterstraße
Die Kärntner Straße
Die Währinger Straße
Die Mariahilfer Straße
Die Margaretenstraße
Die Höhenstraße
Wo man hängen, sitzen, stehen bleibt …
Danke an …
Quellennachweise
Dicht an dicht. So ist die Stadt. Ellbogen, Ideen, Stoßstangen, Gegensätze, Ethnien und Generationen kommen sich hier näher als anderswo. Und auch die Besonderheiten, die visuellen Reize, die atmosphärischen Eigenheiten, die Biografien der Bewohner sind hier nahe Nachbarn, die oft nur eine Hausnummer trennt. In Wien liegt das alles – wie in vielen Städten – nicht gestapelt zu hohen Häuserschluchten, sondern dicht gefädelt aneinander. Die Ketten sind die Straßen der Stadt. Dort addieren sich die Merkmale – die baulichen, die ästhetischen, aber auch die menschlichen – Schritt für Schritt zu einem Gesamtrauschen, das einem noch leise nachflüstert, wenn man schon längst wieder abgebogen ist.
Zwischen den Häusern, dort ist Wien erst richtig Wien. Und dort ist Wien für alle. Selbst wenn verschiedene Gruppen unterschiedlich viel davon haben oder zumindest davon beanspruchen. Egal ob es Kinder sind, Autofahrer oder die Sessel, die früher der „Schani“ in den Garten getragen hat. Alles verstrickt und verwebt sich auf den Straßen zu einem Bild der Stadt: die Menschen, die sich bewegen, die Fahrzeuge oder Körperteile, die sie dafür benutzen, aber auch die Dinge, an denen die Wiener mal vorbeigehen, -fahren oder -rauschen, je nach Tageszeit und Wochentag. Und je nachdem, ob sie gerade etwas treibt. Oder bremst. Das können die Dinge sein, die hinter den Schaufenstern liegen, die Gesichtszüge der Straßenwände, der Fassaden. Oder die Charakterzüge der Straßen selbst. Hier begegnen Menschen Menschen, Gesichter schauen in Gesichter. Und hier vor allem, wo das Dach der Himmel ist, hier schauen alle – auf Augenhöhe – in das Gesicht Wiens. In eines, das Touristen abbilden und auf Instagram um die Welt schicken, von dem sie erzählen, wenn sie wieder zu Hause sind, und das Wienern so vertraut ist, dass sie kräftig seufzen, wenn es ihnen allmählich abhandenkommt. Durch Bagger und Abrissbirne. Oder durch eine neue Baukultur, die die alte ablöst. Ein Gesicht, das die Baukunst haptisch, dreidimensional und physiognomisch profiliert hat. Oder die nüchterne Renditeerwartung der Investoren so glatt gezogen hat wie mit Botox. Jedenfalls ist es ein ziemlich langes Gesicht. Fast 2800 Kilometer legen die Straßen der Stadt zusammen zurück. Die längste von ihnen, die Höhenstraße, zieht sich über fast fünfzehn Kilometer. Was sie aneinander fädelt, sind weniger Häuser als nach jeder Kurve eine neue Perspektive auf die Stadt darunter. Andere haben kürzere Aussichten: Wenn sie nach hundert Meter schon alles erledigt haben, wofür sie bestimmt waren, nämlich Zugänge zu legen. Dem Licht, das in die Häuser soll. Den Menschen, die in die Häuser wollen, und den Fahrzeugen, die diese möglichst nahe davor parken wollen. Die Irisgasse im ersten Bezirk hat kaum angefangen, da ist sie schon wieder zu Ende. 17 Meter Straße zwischen Naglergasse und Am Hof. Doch lang genug für eine Eigenheit: Stiegen führen dort seit 1939 in eine WC-Anlage hinunter. An der Oberfläche imitieren die Lüftungsauslässe jene berühmten von Otto Wagner aus der Postsparkassa. Viele Straßen mit etlichen Kilometern Länge mehr haben deutlich weniger im Angebot. Den meisten sieht man auch gar nicht an, dass sie unbedingt durch Wien verlaufen. Manche würden visuell auch in anderen globalisierten Städten nicht verkehrt liegen, andere würden in Weinviertler Dörfern nicht unangenehm auffallen, wie die Stammersdorfer Kellergasse etwa. Oder andere Dorfstraßen, über die die Stadt geschwappt ist. Wiederum andere Straßen forcieren eher die Großstadtattitüde. Vor allem die, die sie sich bei anderen „Weltstädten“ abgeschaut haben.
Einige Straßenkilometer sind dann doch so unverwechselbar Wien geworden wie der Gemischte Satz, ein Glas Wasser zum Kaffee oder der G’schupfte Ferdl. So typisch wie die weiße Schrift auf blauem Grund, die seit 1920 die Straßennamen an den Hauswänden in den Stadtraum schreibt. So typisch wie der Wiener Würfel, der lange Zeit die Straßen gepflastert hat. Oder die früheren Straßenlampen am Ring, die „Bischofsstab“ hießen, die roten Ellipsen, die den Wienern zeigen, wo ihre Straßenbahnen halten, oder manche Geschäfte, Beisln und Wirtshäuser, die keine Hausnummer bräuchten, weil sie selbst schon Adressen sind.
Doch das Einzigartige des Wiener Straßennetzes hat weniger der Stadtalltag definiert, nicht so sehr die Gestalter und Planer, sondern vor allem Laune und Beharrlichkeit der stärksten Kraft: der Natur. Deshalb plätschern manche Straßen noch wie die Wienerwaldbäche, denen sie gefolgt sind. Deshalb heften sich manche an Kuppen wie die Mariahilfer Straße, stürzen Abhänge hinunter wie die Johnstraße oder die Ruckergasse oder schleichen durch Gräben wie die Liechtensteinstraße. Manche suchen die Ferne wie die Brünner Straße. Andere pflegen die Nähe wie die Josefstädter Straße. Doch alle haben eines gemeinsam: Jede ist für sich eine Persönlichkeit. Und manchmal sogar eine multiple. Denn das schnelle Umschalten, auch atmosphärisch, das gelingt so einigen: der Praterstraße etwa. Noch verläuft sie stolzgeschwellt und großspurig. Schon ist sie schmal und gemächlich wie eine Dorfstraße. Auch die Margaretenstraße schlägt unerwartete Haken in der Stadtlandschaft, auch inhaltlich, springt von der Einkaufsstraße zur Wohnstraße und wieder zurück. Und wenn man glaubt, ihren Verlauf vorauszuahnen, gönnt sie sich selbst eine überraschende Wendung.
Die Wiener Straßen stricken ihr Muster aus Gegensätzen und Extremen, die sie miteinander verzahnen. Knopfgeschäft mit Zaubermuseum mit Eissalon. Oder aus Gleichem und Gleichem, das sie verbinden. Palais mit Palais wie in der Herrengasse. Heurigen mit Heurigen wie in der Stammersdorfer Kellergasse. Bar mit Bar im Gasslwerk rund um das „Bermuda-Dreieck“ im ersten Bezirk. Und Chic mit Chic wie auf dem Kohlmarkt. Doch erst richtig unverwechselbar werden die Wiener Straßen durch die Summe ihrer Abzweigungen, ihrer Quergassen. Und durch die Möglichkeit, in die Häuser zu schlüpfen, hinein in die Geschäfte, Lokale, Institutionen, Salons, Hallen, Stiegenhäuser, Hinterhöfe, Beletagen. Die Häuser sind die Knotenpunkte eines ganz anderen Geflechts, gewebt aus den Lebenslinien der Bewohner und Geschäftstreibenden, die sich vielfältig entlang der Straßen in der Stadtgeschichte und -gegenwart verzweigen. All das verkettet, verzahnt, verdichtet sich entlang der Straße zu einem atmosphärischen Gesamtbild, an dem noch andere Weichensteller, außer der Natur, mitgepinselt haben. Planer mit dem Stift und Machthaber mit dem Zepter in der Hand. Dabei hatten sie ganz unterschiedliche Dinge vor Augen, als sie den Straßen ihren Weg und ihre Gestalt vorschrieben. Mal war es die Zukunft, mal der Horizont, mal war Effizienz die Richtung, an der sich die Straßen orientieren sollten. Dann wieder die Vergangenheit, das romantisch Verklärte, oder doch wieder der menschliche Maßstab, der ohnehin die ersten Stadtstraßen ganz wie von selbst gezogen hatte. Menschen und Planer schlenkerten gerne von einer Anschauung zur anderen. Vom Ideal der krummen zum Ideal der geraden Straße. All das endete mal als Erfolgsweg oder auch als Sackgasse – die Straßen Wiens führen in alle Richtungen. Doch wo sie auch enden, hinterm Horizont oder vor der Haustür, angefangen haben alle gleich. Als Raum, den Menschen mehr als einmal querten.
Wer sich heute auf die Straßen Wiens einlässt, muss sie auch mehr als einmal queren, um sich ihren Eigenheiten zu nähern. Und das am besten ganz undogmatisch. Ohne Richtungspfeile und Routenplaner. Ohne sich vom Stadtplan zeigen zu lassen, wo denn stadteinwärts ist und wo stadtauswärts. Linear, von einem Haus zum nächsten, entlang der Hausnummern, aufsteigend oder absteigend, das kann ein Zugang sein, über den man eintritt: in die Atmosphäre und die Persönlichkeit der Straße. Schritt für Schritt erschließt sie sich zwar, aber oft auch gleichzeitig durch inhaltliche und gestalterische Andeutungen aus ganz verschiedenen Richtungen. Wo sie für den einen anfängt, hört sie für den anderen auf. Wer strawanzen will, der darf auch im Kreis gehen oder zweimal abbiegen, wo er gar nicht wollte. So kann kreuz und quer eine Herangehensweise sein, mit der man sich die Straßen und ihre Charakterzüge erschließt.
Damit Straßen Straßen werden konnten, mussten die Menschen nicht anfangen zu gehen, sondern endlich einmal beginnen zu bleiben. Um 7600 v. Chr. war es dann auch in Wien so weit. Der Homo sapiens war angekommen. An einem wichtigen Punkt. Er wollte nicht mehr – nämlich der Nahrung quer durch Europa nachjagen. Und er konnte endlich: sesshaft werden. Lange genug hatte er sich auch im Osten Österreichs herumgetrieben, fast 33.000 Jahre. Jetzt war es Zeit für Wurzeln. Für die eigenen. Und für jene, die die Feldfrüchte schlagen sollten. Hier säte sich der spätere Homo viennensis seine eigene Zukunft. Auf einem Terrain, das ihm ideal erschien. Unterhalb des Donaudurchbruchs, am östlichen Abhang des Wienerwaldes, wo die Bäche friedlich plätscherten, dem Auwald der Donau entgegen. Hier streuten die Kelten allmählich Häuser in die Landschaft. An manchen Stellen streuten sie sogar ein wenig dichter.
Da kam es dann auch vor, dass ein Haus dem anderen gegenüberstand, beide zumindest irgendwie einander zugewandt waren, oder dass sich das eine am anderen orientierte. Und dazwischen geschah es, dass die Kelten mehr als einmal die Grashalme und Zweige knickten. Unter den Füßen und Hufen war es passiert: so etwas wie Straße. Eine Begleiterscheinung. Ein Weg, der von Mensch zu Mensch führte, entlang seiner sozialen Beziehungen. Geplant und bewusst gelegt, so weit waren Straßen noch nicht. Eher sind sie geworden, wurden ad hoc ausverhandelt, ausgerichtet. An dem, was eben schon vorher da war. Und das war vor allem: viel, viel Landschaft.
Doch zumindest einer Logik war bald der Weg vorgezeichnet: Wie überall war es auch in Wien – die Straßen folgten den Menschen. Lange bevor die Menschen den Straßen folgten. Denn die Ferne, die lag auch mental den Menschen ziemlich fern. Schließlich hatten sie gerade erst mühsam die Nähe für sich entdeckt. So häuften sich Häuser. Und so häuften sich die Häuserhaufen. Oder auch: Haufendörfer. Obwohl die Geschichte Wiens eine Zeit lang zwischen Römern und Babenbergern in einem ziemlich dunklen Tunnel verschwand, weiß man: Da waren ein paar Haufen darunter, die geordneter wirkten. In diesen reihten sich die Häuser zu Zeilen. Oder nahmen geplant in Formationen Aufstellung, um dazwischen etwa einen Raum zu umklammern. Den Dorfanger. Sogar dieser bildet sich im Wiener Straßennetz noch an manchen Stellen ab. Namentlich auf Straßenschildern wie etwa der Grünangergasse im ersten Bezirk. Oder auch im Stadtgrundriss. Im Viertel rund um die Bäckerstraße im ersten Bezirk lässt sich der Anger durch Straßenlinien noch gut nachvollziehen. Dazu muss man nur ein paar Häuser gedanklich planieren. Jene zwischen Bäckerstraße und Sonnenfelsgasse. Und plötzlich, vor allem von oben, erkennt man die charakteristische Linsenform eines Angerdorfes.
Doch egal wo sich Häuser häuften, reihten oder ordneten: Ursprüngliche Dorfstrukturen stempelten sich vielerorts in den Stadtplan ein. Da konnte Wien als Stadt noch so vehement über alles Dörfliche schwappen. Aber bis zum ersten ordentlichen Wachstumsschub bogen Wien und seine Straßen ohnehin noch ein in eine ganz andere Ära: in jene der strengen Führung und der etwas geordneteren Verhältnisse. Die Römer waren es, die auch rund um Wien die ersten Meilensteine setzten. Auf ihren eigenen Wegen wie auch auf dem Karriereweg des Feldwegs zur urbanen Lebensader.
Für Le Corbusier, einen der berühmtesten Architekten der Moderne, waren die Römer ohnehin – neben Ludwig XIV. – die „einzigen großen Städtebauer des Westens“. Und so übernahmen sie im 2. Jahrhundert n. Chr. zwischen Wienerwald und Donauauen das Kommando, auch über die Straßen. Um ihnen ein erfolgreiches Schema einzubläuen. Le Corbusier bewunderte es so sehr, dass er es am liebsten in jeder Stadt des 20. Jahrhunderts so durchgezogen hätte: „Wenn die Römer irgendwohin kamen, an die Kreuzung von Straßen, an das Ufer eines Flusses, nahmen sie das Winkelmaß und zeichneten eine rechtwinkelige Stadt, auf dass sie klar und geordnet, leicht zu organisieren und dirigieren sei.“ Das Flussufer in diesem Fall: der Rand eines Donauarms. Darüber eine Terrasse, hochwassersicher. Dort durfte Wien keimen. Zunächst streng diszipliniert. Da mussten auch Straßen plötzlich Dienste erfüllen. Und ähnlich gedrillt wie die Soldaten, die auf ihnen marschierten, waren sie schließlich auch.
Viele Wege sind überhaupt durch die Römer zu so etwas wie Straßen geworden. Schließlich schickte Rom seine Soldaten gerne schnell und effizient quer durchs Reich. Auch entlang der Limesstraße. Eine Grenzstraße, die Militärlager aneinander fädelte, auf ihrem Weg vom einen Ende Europas zum anderen, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Diese Straße, sie kratzte an der Donau. Und fädelte auch Vindobona mit auf. Bis heute hat sich die Limesstraße als Linie ins Straßennetz der Altstadt eingeprägt. Die Herrengasse folgt noch ihrem Verlauf, genauso ihre Verlängerung, die Augustinerstraße. Als unbeugsame Gerade, inmitten eines Geflechts ganz anderer Linien, die sich später dazu- und darüberlegten.
Ein paar Andeutungen an die Limesstraße verlaufen auch außerhalb der Innenstadt: die Währinger Straße im Norden. Oder der Rennweg im Süden. Innerhalb des Lagers war die Via Principalis die Hauptstraße. Die einzige, das belegen Archäologen, die mit Steinplatten gepflastert war. Der Rest war geschottert, im Vergleich zu vielen Straßen, die später durch Wien führen sollten, aber noch immer geradezu eine Luxusausstattung. Die meisten Spuren des Römerlagers liegen unter dem Asphalt von heute. Ein paar jedoch zeichnet er aber auch an der Oberfläche nach. Noch dazu – trotz aller rechten Winkel – sogar in Form von Kurven. Denn die Ecken der Lagermauern waren rund.
Die Naglergasse im ersten Bezirk krümmt sich deshalb so charmant. Sie folgt der römischen Vorlage: dem Ostwall des Lagers, den sie als Straßenlinie nachzieht. Der Graben, von dem das Gässchen abzweigt, formt heute mit Kohlmarkt und Kärntner Straße das Straßen-U, das man auch gerne „golden“ nennt. Begonnen hat sein Weg allerdings nicht gar so glänzend. Eher dunkelbraun wie Erde. Der „Graben“ war der Graben des Römerlagers, wie der Name verrät. Später wurde er zugeschüttet, planiert, schließlich verbaut und verbreitert. Auch im Westen war ein Graben: Dort hatte der Ottakringer Bach so fleißig gebaggert, dass man ihn erst gar nicht zuschüttete. So muss man ihn noch heute überbrücken: mit der Hohen Brücke, die über die Straße führt, die heute „Tiefer Graben“ heißt.
So geordnet wie zu Römerzeiten waren die Straßen vorher nie und Jahrhunderte danach auch nicht mehr. Meist gehorchten sie wie von selbst ganz anderen Vorgaben als militärischen. Strikt waren sie genauso: jene Vorschriften, die die mächtigste Straßenbauinstanz überhaupt, die Natur, da formulierte. Ganz explizit: hier ein Berg, dort ein Flussufer. Und schon war klar: bis hierher und nicht weiter. Manchmal hat die Natur aber auch etwas subtiler diktiert: in Form von Kuppen, Hängen, Böschungen, Gräben, Tälern. Ausdrucksstark genug, dass Fußgänger und Radfahrer spüren, dass unter dem Asphalt auch einmal so etwas wie Landschaft lag. Beschleunigte Atmung, erhöhter Herzschlag – Wien hat seine Höhen und Tiefen, oft eng beieinander liegend. Von hier nach dort heißt oft auch: rauf und runter. Und „Lage“ bedeutet für so manche Straße nicht nur ihre Koordinaten auf einer Ebene, sondern auch auf welcher Ebene im Raum. Ob sich die Straße oben sonnen darf, in der Aufmerksamkeit der Menschen, wie die Mariahilfer Straße und die Landstraßer Hauptstraße. Oder sich im Wahrnehmungsschatten schlängeln muss, etwas weiter unten, wie die Erdbergstraße und die Gumpendorfer Straße.
Nicht nur die Wiener steigen Stufen. Die ganze Stadt steigt abwärts über Stufen im Gelände zur Donau hin. Wo ein breiter Auwaldgürtel die Stadt ein- und eine Ausdehnung lange Zeit ausschloss. In die andere Richtung klettert Wien hinauf zu den Hügeln des Wienerwalds. Die Straßen, sie klettern mit. Und wenn sie Steigung und Gefälle nicht mitgehen, dann ziehen sie sich zurück. Zwischen den Kuppen und Erhebungen in ihre Gräben und Täler, wie die Währinger Straße. Auch ein paar tiefere Kerben haben die natürlichen Kräfte ins Gewebe der Stadt geschnitten, wie jene des Wientals etwa.
Jedenfalls: Die Grundlage für eine erhöhte Frequenz von Atmung und Schweißperlen hat das Wasser mitmodelliert. Am konsequentesten die Donau. Mit Schotter und Geröll hat sie das Muster der Vorgaben aufgeschüttet, dem die Straßen zum Teil heute noch folgen. Wenn sie sich wie das Wasser den Weg suchen und schließlich auch wie das Wasser zuvor mäandern, während sie von den Wienerwaldhügeln auf den Donaustrom zulaufen. Viele der Betten von Bächen sind versandet, viele Flussarme verlandet, doch die meisten Wasserläufe wurden vom Menschen unsichtbar gemacht, überdeckelt, überplattet. Der Dank der Stadt an das Wasser, das so vielen Straßen ganz von selbst den Weg freigeschaufelt hatte. Für Dutzende Kilometer Uferstraße.
Doch irgendwann forcierten andere Kräfte als die natürlichen ganz neue Straßenlinien und Muster: wirtschaftliche, gesellschaftliche oder technologische. Aber zunächst war die herrschaftliche Logik an der Reihe. Herrscherhäuser lassen sich eben nicht so gerne etwas vorschreiben, auch nicht Straßenverläufe. Schon gar nicht von der Natur. So ein Wille, formuliert von Mächtigen, der wirkt ohne viele Umwege. Und „ohne Umwege“, das war auch so ungefähr die ästhetische Richtung, die man den Linien bald diktierte, die bis dahin fast wie von selbst gewachsen waren. Auswüchse stutzen, Formen trimmen, gerade ziehen. Das blühte den Ästen in den adeligen Gärten, aber auch allmählich den gewachsenen Verästelungen des Straßennetzes. Die Zeit des zarten Anschmiegens an die Natur, die war vorbei. Kaiser und ihre Architekten stellten die Weichen: von krumm auf gerade. Dabei waren die Weichensteller doch selbst meist geleitet: von größeren Ideen, Idealbildern, ästhetischen Ansprüchen, visionären Zukunftskonzepten, baukünstlerischen Moden, von Notwendigkeiten der Zeit natürlich, manchmal auch von städtebaulichen Irrwegen.
Doch eins stand fest: Straßen wurden hörig. Den Machtworten der Menschen. Den Eitelkeiten der Kaiser. Sie verteilten ihre imperialen Imperative auch im Straßennetz. Und ihre ursprünglichste Ausdrucksform war – die Allee. Selbst wenn auf jenen Wegen lange kaum etwas unterwegs war außer der ästhetischen Idee selbst, als Form des barocken Landschaftsdesigns. Besonders Kaiser Joseph II. liebte das Aufräumen, das Systematische, das Geordnete, neue Konfigurationen. Und: Geometrien wie Oktagone und Sterne.
So begannen Straßen auch majestätisch zu strahlen. Ihnen wurden plötzlich ganz andere Dinge abverlangt, als etwa den Verkehr abzuspulen. Imponieren sollten sie. Den anderen, aber auch dem Herrscher selbst. Etwa wenn Joseph II. schließlich von seinem Josephsstöckl im Augarten freien Blick hatte bis zum Lusthaus im Prater. Zu diesem Zweck ließ er die Linie der Prater Hauptallee verlängern durch eine weitere Allee, die heute die Heinestraße im zweiten Bezirk ist. Gerade rund um den Praterstern deuten heute noch ein paar auffällige Geraden das Gehabe von damals an. In der Gegenwart rollt der Stadtverkehr jedoch über jeden Ansatz einer ästhetischen Idee drüber. Autos in alle Richtungen verteilen, mehr soll der Stern heute nicht mehr leisten. Als Halbkreis hatte der Praterstern begonnen. Und gerade in Wien sollte diese Geometrie an anderer Stelle Karriere machen.
Der berühmteste Kreis unter den Wiener Straßenrundungen begann mit der wohl berühmtesten Willenserklärung der Stadtentwicklung: „Es ist mein Wille.“ So eröffnete Kaiser Franz Joseph I. sein Handschreiben und damit die maßgeblichste Phase des Wiener Wachstums. Wo dieser Wille war, da war plötzlich ein ziemlich imposanter Weg: die Wiener Ringstraße. Wien hatte sich von der Atemnot befreit, die Basteien bröckelten, die alten Vorstellungen, wie man Städte baut, bald auch. Manchmal waren es aber auch bescheidenere kaiserliche Wünsche, denen das Straßenbild natürlich genauso gehorchte: Franz Joseph I. störte sich ästhetisch etwa an der Oberleitung, als die Straßenbahnen elektrifiziert wurden. Deshalb wurde auf der Straße, die ihn üblicherweise nach Schönbrunn führte, die Mariahilfer Straße, die Stromzufuhr in den Untergrund verlegt.
Zu den majestätischen Kernaufgaben gehörte natürlich auch die Kontrolle. Und auch Straßen ließen die Herrscher gerne unter dieser Prämisse gestalten. Entlang dieser Logik zerfurchten Boulevards etwa im 19. Jahrhundert die gewachsenen Strukturen der Stadt Paris. Damit Gewehr- und Kanonenkugeln auch nichts im Weg stehen möge, wenn sie ihr Ziel erreichen sollten. Im Dickicht eines Straßengewirrs lassen sich Revolutionen eben nicht so gut niederschlagen. Einem ähnlichen Kalkül folgend hatte das alte labyrinthische Delhi in Indien schon von den Engländern eine Schwester aus der Retorte bekommen – Neu-Delhi.
Noch eine Aufgabe, die Herrscher den Straßen gerne mit auf den Weg gaben: die Botschaft ihrer Macht zu verkünden, möglichst weit hinauszutragen in die hinterletzten Winkel des Reiches. Eine Maßnahme dazu war es, die Straßen zu „Poststraßen“ zu „adeln“, wie die Linzer Straße. Oder zu „Kaiser- und Kommerzialstraßen“, Etiketten, die etwa Kaiser Karl VI. gerne vergab. Die Idee dahinter: Die Handels- und Verkehrsrouten rund um Wien sollten sich von dort aus noch stärker mit der Welt verknoten. Administrativ und wirtschaftlich.
Die wichtigsten Machtworte wirkten aber schon viel früher, im 12. Jahrhundert. Die Babenberger sprachen sie aus: Wien sollte Residenzstadt werden. Für Wiens Straßen so etwas wie die Weiche aller Weichen auf ihrem Weg bis in die Gegenwart. Ein Haufen Häuser wurde Stadt. So mancher Dorfanger wurde Stadtplatz. Bald schützte eine Mauer statt eines Holzzauns die Stadt. Und wo Bauern sich auf Feldwegen bewegt hatten, flanierten Jahrhunderte später die Wiener beim Ringstraßenkorso aneinander vorbei. Ohne die Babenberger wäre das wohl nicht passiert. Der Zustand „Krieg“ oder die Möglichkeit eines Krieges veränderte die Stadt genauso stark wie der Frieden. Bauwerke verschwanden durch Zerstörung, andere entstanden, weil sie Schlimmeres verhindern sollten: die Stadtmauern. Sie trennten Gut und Böse. Also jene innerhalb des Kreises. Und jene außerhalb davon. Die Befestigung der Stadt isolierte jedoch noch mehr: Strukturen, die überdauern konnten, wachsen und altern, von Strukturen, die immer wieder neu wachsen mussten. Weil sie ein Besatzerheer ausradiert hatte. Oder die Bevölkerung selbst, damit die Besatzer keine Deckung fanden. Jedenfalls investierten die Babenberger in die Befestigung der Stadt. Ein Glück, dass 1192 Richard Löwenherz entdeckt worden war. Ganz zufällig. In Erdberg. Man steckte ihn in Dürnstein hinter Mauern ins Verlies und das Lösegeld in die eigenen Mauern. Da blieb noch genug übrig, um noch ein anderes Projekt zu finanzieren: den Graben vom Stephansdom bis zur Freyung aufzuschütten.
Ein Wachstumskreis nach dem anderen zog im Laufe der Stadtgeschichte seinen Radius um Wien. Die Befestigungen wurden schließlich „italienisiert“. Sprich: Sie bekamen auch Bastionen. Und die wiederum wurden sogleich sprachlich „verwienert“, deshalb nannte man sie auch „Basteien“. Sogar die Energie von Kanonenkugeln konnten die neuen Wehranlagen schlucken. Auch sonst erwiesen sie sich als ziemlich resistent. Auch dagegen, in der Innenstadt Veränderungen zuzulassen. Selbst wenn sie regelmäßig an jene Grenzen stieß, die sie sich baulich selbst gesetzt hatte. Bis Franz Joseph I. die alte Verteidigungslogik sprengen ließ. Auszulöschen war sie trotzdem nicht mehr, zumindest nicht aus dem Stadtplan. Und nicht aus der Stadtmorphologie. Verewigt in der Ringstraße. Abseits davon verteilen noch ein paar Straßenschilder subtilere Andeutungen an den ehemals befestigten Kreis: Dominikanerbastei oder Mölkerbastei liest man da. Auch die Ziegelmauern entlang der Hanuschgasse etwa werden gerne für Spuren gehalten, sind aber keine. Sie wurden 1871 errichtet, um Böschungen abzusichern. Im Untergrund dagegen signalisieren Mauerreste tatsächlich: Da war mal was. Ein paar davon hat man beim Bau der U-Bahn-Station Stubentor im Jahr 1985 ausgegraben.
Die Vorstädte bekamen ihren eigenen Kreis, als auch sie begannen, sich zu verschanzen. Den Gürtel, heute eine der meistbefahrenen Straßen Wiens, hatte ursprünglich Prinz Eugen geschnallt. Zumindest hatte er die Idee dazu, eine Linie rund um die Vorstädte zu ziehen. Oder besser: um das, wo neue Vorstädte wachsen sollten. Denn allzu viel hatte die Zweite Türkenbelagerung nicht übrig gelassen. Der Linienwall – eine simple Idee, die Jahrhunderte später doch so einiges verkomplizieren sollte. Vor allem auf der mentalen Landkarte der Stadt. Obwohl er Ende des 19. Jahrhunderts völlig eingeebnet wurde, muss man ihn noch heute mühsam überbrücken, nämlich gedanklich. Früher hatte man zumindest neun Holzbrücken dazu. So stand die „Linie“ nicht nur Angreifern im Weg, die ohnehin selten bis gar nicht kamen, sondern vor allem der einen oder anderen Straßenkarriere. Die Josefstädter Straße war auf diese Weise plötzlich zur Sackgasse geworden und konzentrierte sich fortan eben auf die Nähe. Vom heutigen achten Bezirk war der Weg umständlich in die weite Welt hinaus. Nur zwei Tore öffneten ihn: das Alser Tor und das Lerchenfelder Tor.
Eine allzu große Auswahl, aus der Stadt zu schlüpfen, hatten Händler, Beamte, Boten und Soldaten sowieso nicht. Und das war schon immer so. Das Römerlager hatte drei Tore, die Porta dextra, die Porta sinistra, die Porta decumana. Im Mittelalter hatte Wien zumindest fünf Anschlussstellen an die Welt da draußen. Von den Toren in der Mauer fühlten die Fernstraßen in alle Himmelsrichtungen vor. Nach Nordwesten die heutige Währinger- und Heiligenstädter Straße, ihr Weg begann am Schottentor. Die Linzer Straße nahm am Burgtor ihren Lauf, der Westen war ihr Fernziel. Der Süden begann dort, wo die heutige Triester Straße ihren Anfang nahm, am Kärntner Tor. Den Südosten visierte die Ungarische Landstraße an, vom Stubentor aus. Wer nach Norden oder Nordosten wollte, der schlüpfte durch das Rotenturmtor, folgte der Schlagbrücke über den Donaukanal und entschied sich dort, wo die Wege heute den Floridsdorfer Spitz bilden, für die Prager oder Brünner Straße. Doch irgendwann schien es gar nicht mehr so wichtig zu sein, wohin all die Straßen strahlten. Als es schien, als hätte sich Wien ohnehin eingependelt: in Richtung Großstadt. Zu jenem Zeitpunkt hatten die Wiener dann schon ein paar Optionen mehr, ihre Stadt zu verlassen. Elf Tore waren es schließlich. Und an jedem nahm jeweils ein Straßenzug seinen Lauf, der sich später im Straßennetz besonders stark als Persönlichkeit profilieren sollte. Auch weil sich auf ihm stets mehr bewegte als Menschen und Fahrzeuge.
Auf den Straßen kam der Wandel in Fahrt: Währinger Straße, Alser Straße, Josefstädter Straße, Lerchenfelder Straße, Mariahilfer Straße, Wiedner Hauptstraße, Favoritenstraße, Rennweg, Landstraßer Hauptstraße, Praterstraße, Taborstraße. Für sie hatten Stadtchronisten und Historiker auch Attribute übrig, denen man zunächst gar nicht so anmerken will, dass sie als Kompliment gemeint waren: „geländegängig“ ist so eines. Aber auch ein ausgesprochenes „Beharrungsvermögen“ wurde ihnen attestiert von Adalbert Klaar in seinem Buch Das Altstraßennetz von Wien. Denn Straßen folgen nun mal gerne dem, was sie vorfinden. Das können Flussufer sein, wie praktisch. Aber auch Straßen, die vor ihnen da waren, noch praktischer. Dazu gehören die „Altstraßen“, jene alten Handelsrouten, die Klaar beschrieben hat. Im Wiener Becken hatten sie sich schon ewig gekreuzt. Sie spurten die Linie vor, für alle Wege danach.
Hauptstraßen sind wie Menschen: Sie machen es sich gerne einfach. Und von alten Gewohnheiten zweigen sie erst gar nicht ab, wenn es nicht sein muss. Liegen Straßen erst einmal, dann bleiben sie auch liegen. Der Autobahnknoten Inzersdorf etwa verteilt justament dort heute den Verkehr, wo sich schon Römerstraßen kreuzten. Einen Charakterzug scheinen tatsächlich alle Straßenzüge zu teilen: die Beharrlichkeit.
Die Hauptstraßen waren jene Stränge, die das Wiener Straßennetz so charakteristisch aufspannte. Sie waren die Beschleunigungsstreifen der Stadt und gleichzeitig ihre Antennen in die Welt. Wenn Wien strahlte, dann über diese Linien. Und wenn die Ferne zurückstrahlte, dann über den gleichen Weg. Die Straßen legten den Innovationen und Umbrüchen die Rutsche, sie waren die Kanäle für den Wandel, den technologischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen. Auch wenn eine neue ästhetische Überzeugung Wien erreichte oder eine baukünstlerische Haltung, dann war sie wohl über die Hauptstraßen eingebogen. Was aus dem Süden kam, wie die Renaissance, hatte meist die Triester Straße genommen. Auf der Ungarischen Landstraße waren nicht nur Schweineherden Richtung Stadt unterwegs gewesen, sondern auch Einflüsse des ungarischen Raums und vor allem alles, was sich noch weiter östlich auf den Weg gemacht hatte.
Fürst Metternich brachte das in einer Wortmeldung auf den Punkt: Auf der Landstraße beginne der Orient, soll er gesagt haben. Die Einflüsse aus dem oberdeutschen Raum aufzunehmen, dafür fühlte sich die Linzer Straße zuständig. Aber welchen Weg er auch nahm, der Wandel, seine Wellen wirbelten mal sanfter, mal vehementer. Und irgendwann nur mehr in einer Ausführung: ziemlich brachial.
Von Wien in die Welt, von den wenigen Stadttoren hinaus, da war über Jahrhunderte nur wenig getröpfelt, ein paar Menschen, Vehikel, Depeschen, Waren und dann und wann eine Geisteshaltung. In die Gegenrichtung, auf Wien zu, da strömte so einiges ein. Und die Kraft der Wellen spülte manches weg und schwemmte manches an. Wo die wichtigsten Straßen lagen, wuchsen die ersten neuen Häuser. Und manchmal waren darunter auch ganz neue Haustypologien. Etwa die Einkehrgasthöfe. So gehäuft und so gut besucht hatte man sie noch nie gesehen wie an manchen Hauptrouten, die sich der Stadt näherten. Vor diesen Einkehrgasthöfen verdichtete sich nicht nur die Kutschenfrequenz, sondern auch das Chaos. Denn vor ihnen parkten die Kutschen und blockierten den Verkehr. Ein Modellfall für den gesamten Straßenraum der Gegenwart: Die Straße musste erstmals geordnet und reglementiert werden. Für Maria Theresia sicher eines der geringeren Probleme, die sie lösen musste, dennoch: Sie verhängte ein Parkverbot. Heute sind die Drive-ins und Tankstellen die Einkehrgasthöfe der Gegenwart und der Straßenraum unsichtbar, doch dicht gefüllt mit Verordnungen, expliziten und impliziten Vorschriften.
Seit dem ersten Parkverbot im 18. Jahrhundert bis heute ist entlang der wichtigsten Verkehrsrouten ziemlich viel gebröselt, gebröckelt, erodiert. Auch vieles, was tief verwurzelt und verwachsen zu sein schien, vor allem hinsichtlich der Bausubstanz. Oder des sozialen Gefüges. Gerade die Hauptadern wandelten sich zum Patchwork, gewebt aus unterschiedlichsten Baualtern und -stilen. Geformt von Wachstumsdruck, Immobilienspekulation und demografischer Entwicklung.
Den Wandel bekamen die wichtigsten Straßen stets am frühesten zu spüren. Auf der Mariahilfer Straße etwa überformten die Gründerzeithäuser die Biedermeierhäuser. Doch sie war auch die erste Straße in den Vorstädten, die durchgehend gepflastert war. 1826 zumindest schon bis zum Linienwall. Auch die Straßenbeleuchtung wagte sich auf ihr zum ersten Mal weiter hinaus als irgendwo anders. Wenn die Stadt wuchs, dann züngelte sie vor, entlang ihrer wichtigsten Wachstumslinien. In die Täler, in den dichten Auwald, in die Weingärten. Überall dorthin, wo die Stadt ihre baulichen „Wachstumszungen“ frech hinausstreckte.
Auf Wien kam spätestens im 19. Jahrhundert so einiges zu. Wie auf alle europäischen Großstädte – die Industrialisierung. Eindrucksvoll kam sie angedampft. Auch auf Eisenwegen, die sich gerne Asphaltbänder suchten, um sie zu begleiten. Manche Straßen wurden ganz andere dadurch, weil sie plötzlich auch ganz neue Zugkräfte spürten. Vor allem jene Straßen, die die Eisenbahnlinien nach ihrer Endstation noch weiterführten: von der „Linie“ – die Bahnhöfe lagen allesamt außerhalb davon – ins Zentrum. Die Mariahilfer Straße etwa saugte plötzlich Handel und Kommerz umso stärker an ihre Straßenränder und in ihre Straßen-DNA. Auch die Praterstraße, die zum Nordbahnhof führte, spürte eine ähnliche Dynamik der Veränderung, wenn auch nicht ganz so stark. Genauso die Favoritenstraße in Richtung Südbahnhof. Und dann, eine deutliche Stufe schwächer, die Porzellangasse, die am Franz-Josefs-Bahnhof endete.
Die Industrialisierung trieb den Wandel an, befeuerte die Gründerzeit. Und diese brauchte dringend ein Schema, um nicht völlig chaotisch auszuufern. Die Stadt zog eines aus der Schublade: die erste Schablone, durch die sie ihre Zukunft und ihre neuen Viertel pressen wollte. Ein streng gerastertes Straßennetz, gezogen mit dem Lineal. Die Wände des Straßenraums, gezogen mit den Ziegeln, die Zuwanderer aus Böhmen aus den Ziegelöfen holten. Zusammen haben sie sich wientypisch eingebrannt ins Bild der Stadt. Nach der Schicht mussten die Arbeiter zu Hause erst recht zusammenrücken. Mehr als vier Quadratmeter soll durchschnittlich jeder Wiener während der Gründerzeit nicht zur Verfügung gehabt haben. Und das oft auch nur die eine Hälfte eines 24-Stunden-Tages. Denn die „Bettgeher“ teilten sich ein Bett mit anderen. Nacheinander. Trotz Tausender neuer Häuser, zu denen sich Millionen Ziegel stapelten: Es wurde eng in den Wohnungen. Breiter wurde es zumindest vor den Haustüren, auf den Straßen. Sie wurden zu den geraden, geordneten Bahnen, die kanalisieren sollten, was so ungestüm anbrandete auf die Stadt. Die Migranten, das Gewerbe, die Maschinen. Dem Wandel legte Wien da und dort auch den roten Teppich aus: mit neuen Straßenbelägen. Mit Makadam etwa – einem speziellen Schotterbelag. Oder wie gewohnt mit Pflastersteinen. Und irgendwann sogar mit Asphalt.
So festigte Wien die Straßen und das Vertrauen in den Fortschritt. Dann durften die neuen Vehikel einrollen. Mit Antriebstechnologien, die die Geräuschkulisse der Straße völlig neu abmischten. Wo früher die Pferdehufe klapperten, da ratterten, quietschten und brummten bald ganz andere Ungetüme. Die Räder beschleunigten, aber die Wege, auf denen sie rollten, wurden länger: Die Straßen verknüpften zwar weiterhin hier mit dort, doch plötzlich waren hier und dort viel weiter voneinander entfernt. Bett und Werkbank hatten sich distanziert. Früher teilten sie beide oft ein Haus, das eine stand vorne, das andere hinten. Oder das eine oben, das andere unten im Erdgeschoss. Und plötzlich musste man das Gebäude wechseln, um vom einen zum anderen zu kommen. Sogar oft eine Straße entlangfahren, einen Weg bewältigen. Menschen mussten ja zu den Maschinen. Und danach wieder nach Hause. Und jene Dinge, die sie in ihrer Schicht produziert hatten, sollten ja auch wieder zurück zu den Menschen gelangen irgendwann.