10
»Schluss für heute!«, verkündete Beate Hagen, die neue Trainerin für Wassergymnastik. Pielkötter fand, dass sie ihre Sache gut machte und er wäre gerne ein wenig länger in dem wohltemperierten Wasserbecken geblieben. Stattdessen beeilte er
sich, um pünktlich bei der zweiten Gruppentherapiestunde zu sein. Er duschte im
Schnelldurchgang und zog sich eilig an. Die Zeit war knapp, aber es half
nichts, er musste noch einmal zu seinem Zimmer zurück, um die nasse Badehose und sein Handtuch aufzuhängen. Als er es wieder verließ, trat einige Türen weiter Richtung Treppenhaus auch Thorsten Sperling auf den Gang, der ja zu
seiner Gruppe gehörte.
»Nehmen Sie mich mit zu unserer gemütlichen Runde«, scherzte Pielkötter, wobei er sich im selben Moment darüber wunderte, dass seine Laune erheblich besser war als vor der ersten Sitzung.
Nun ja, vielleicht war das doch nicht so verwunderlich. Die Therapie war zwar
etwas aus dem Ruder gelaufen, aber auch interessant und kurzweilig. Außerdem gab es Verbündete, die ebenso wie er nicht bereit waren, sich von der unfähigen Juliana Meinertshagen Unverschämtheiten bieten zu lassen. Vor allem jedoch war er neugierig, wie die
Meinertshagen sich heute schlagen würde. Und würde dieser alberne rote Rettungsring genau auf ihn zusausen, würde er ihn nicht auffangen. Solche blöden Spielchen machte er auf gar keinen Fall mit. Wenn er sich schon zu seinen
Problemen äußern sollte, dann wollte er dazu bitte schön höflich aufgefordert und nicht wie ein Kind auf einem Kindergeburtstag behandelt
werden.
»Wir können gerne zusammen nach unten gehen«, erwiderte Sperling. »Aber offen gestanden würde ich jetzt lieber alles Mögliche tun, nur nicht an dieser Sitzung teilnehmen.«
»Das kann ich gut nachvollziehen. Mir geht es ganz ähnlich wie Ihnen, aber wenn Sie den Therapieplan nicht einhalten, bekommen Sie Ärger. Ich kann davon ein Lied singen. Vielleicht wird es ja heute ganz lustig.
Jeder einzelne von uns ist wohl für Überraschungen gut.«
Auf Sperlings Gesicht zeigte sich flüchtig ein kleines Lächeln, dann wurde er wieder sehr ernst. Der Mann schien wirklich arge Probleme
zu haben.
Als sie den Gruppenraum erreicht hatten, saßen die anderen Teilnehmer schon in der Runde und unterhielten sich lebhaft, nur
von Juliana Meinertshagen fehlte noch jede Spur. Sperling und Pielkötter nahmen nebeneinander Platz. Rechts von Pielkötter saß Björn Teinert, links von Sperling befand sich der einzig noch leere Stuhl.
Sie hatten kaum ein kurzes »Hallo« von sich gegeben, da erschien Juliana Meinertshagen, wieder in diese grässliche grüne Jacke gepresst. Am liebsten hätte Pielkötter ihr väterlich empfohlen, sie einfach offen zu tragen, denn sie drohte, die Knöpfe abzusprengen. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war nur mit ihm los? Sonst interessierte ihn doch überhaupt nicht, wie jemand angezogen war, Hauptsache, er wirkte damit nicht anstößig.
»Herzlich willkommen zu unserer zweiten Therapiestunde«, begrüßte Juliana Meinertshagen die Gruppe. »Wie ich sehe, haben die Geschlechter sich hübsch aufgetrennt, links von mir die Damen, rechts die Herren. Ich will das für heute einmal gelten lassen, aber beim nächsten Mal setzen Sie sich bitte etwas gemischter.«
Pielkötter empfand es als äußerst ungeschickt, direkt mit Kritik zu beginnen. Viel dazugelernt hat die bisher
nicht, überlegte er.
»Ich denke, jeder sollte sich dort platzieren, wo er sich am wohlsten fühlt«, machte auch Björn Teinert seiner Rolle alle Ehre.
»Wer sich wo am wohlsten fühlt, können Sie doch überhaupt nicht beurteilen, solange sie nicht mehreres ausprobiert haben«, entgegnete die Therapeutin spitz.
»Vielleicht sollte ich zur Auflockerung und Einstimmung eines meiner Gedichte
vortragen«, schlug Magdalena Kiesewetter vor. »Ich hätte da eins mitgebracht, das würde jetzt wirklich gut passen.«
»Später vielleicht, aber jetzt beginnen wir erst einmal mit Herrn Hesseholt. Das
Problem mit seiner Frau kam ja beim letzten Mal etwas zu kurz. Hmm, ich meine,
seine ganzen Probleme.« Juliana Meinertshagen sog hörbar die Luft ein und fixierte dabei alle Teilnehmer mit starrem, nicht gerade
freundlichem Blick. »Aus diesem Grund habe ich heute darauf verzichtet, unseren kleinen Rettungsring
mitzubringen, und erteile Oliver Hesseholt das Wort. Also, Herr Hesseholt, würden Sie bitte noch einmal Ihr Problem schildern?«
»Probleme«, verbesserte er.
»Dann eben gleich mehrere, wenn Sie nur bitte jetzt anfangen würden, schließlich wollen die anderen ...«
»Einen Sitzplatz, wo man sich wohlfühlen soll, aber Druck ausüben«, bemerkte Björn Teinert zu Pielkötter, jedoch so laut, dass es alle hören konnten.
Hesseholt wirkte irritiert, doch dann begann er: »Vorab möchte ich etwas betonen: Die Gruppe hat mir beim letzten Mal wirklich sehr
weitergeholfen. Für mich ist es schon viel wert, dass ich nun weiß, dass die Probleme, die meine Frau und ich haben, nicht einfach wegdiskutiert
werden können, wie Susanne das gerne versucht. Die Sache mit der Intimität ... also daran sehe ich das wirklich ganz deutlich.« Plötzlich geriet er ins Stocken und schaute auf den Boden, als er schließlich weitererzählte. »Es gibt sogar einer Erklärung dafür. Ich, ich ... nun ja, es ist sehr schwer, das auszusprechen, und natürlich auch, sich das erst einmal einzugestehen.«
»Jeder von uns kennt solche Situationen. Vielleicht hilft Ihnen das«, ermunterte Meinertshagen ihn, fortzufahren, und hatte damit in Pielkötters Augen zum ersten Mal etwas Sinnvolles von sich gegeben.
»Ohne weiter drum herumzureden. Also ... ich glaube, dass meine Frau mich betrügt. Und zwar mit meinem Chef. Unserem Chef! Wir arbeiten nämlich in derselben Firma. Ich in der Buchhaltung und Susanne als seine Sekretärin.«
»Haben Sie Ihre Frau denn nie darauf angesprochen?«, fragte Pielkötter, und gab damit schon zum zweiten Mal in dieser Runde seinen Vorsatz auf,
sich nicht in die Probleme der anderen Gruppenteilnehmer einzumischen. Doch die
Frage hatte sich ihm förmlich aufgedrängt.
»Nicht so konkret. Ich habe immer nur von Schwierigkeiten geredet, alles Mögliche aufgeführt, um ihr aufzuzeigen, dass wir uns nicht mehr so nahe sind wie früher.« Er strich sich mit der Hand über den Kopf und schien angestrengt nachzudenken. »Nein, so auf den Punkt gebracht habe ich die Sache nicht«, fuhr er schließlich fort. »Vielleicht musste ich mir diesen Verdacht auch erst einmal selbst eingestehen.
Manchmal, wenn ich die beiden zufällig so eng beieinander gesehen habe oder beim Reden, so ganz vertraut ... Das
war sicher blöd, aber wenn ich dann nach Hause gekommen bin, habe ich mir die Kopfhörer aufgesetzt und ganz laut Musik gehört. So laut, dass mir bald die Ohren wehgetan haben. ZZ Top, Deep Purple, Led
Zeppelin, Wishbone Ash. Manchmal auch Gianna Nanini: Autostrada oder Latin
Lover. Ich mag ihre rauchige Stimme. Doch ich habe die Kopfhörer wie Scheuklappen benutzt.«
Als er geendet hatte, sagte lange keiner ein Wort, dann meldete sich Lena Maus,
die bisher noch nicht durch einen Beitrag aufgefallen war. »Sie müssen unbedingt mit Ihrer Frau reden. So schnell wie möglich. Sonst gehen Sie daran kaputt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.«
»Wenn ich Susanne zur Rede stelle oder meinen Chef, verliere ich womöglich nicht nur meine Frau, sondern auch meine Arbeit.«
»Besser als vollkommen seine Ehre zu verlieren«, warf Pielkötter ein, obwohl er vorhin geglaubt hatte, sich an der Gesprächsrunde zu beteiligen, sei ein Ausrutscher gewesen.
»Genau!«, stimmte ihm Teinert zu. »Seine Ehre bekommt man jedenfalls nicht so leicht wieder. Jedenfalls nicht so
schnell wie eine neue Frau.«
Die Therapeutin zog die Augenbrauen hoch, äußerte sich aber sonst nicht. Wahrscheinlich fühlte sie sich erneut von der Situation überfordert. Völlig fehl am Platz, genau wie Pielkötter es vorausgeahnt hatte.
»Gut, hier machen wir einen Schnitt«, meldete sich Juliana Meinertshagen wieder erst zu Wort, nachdem niemand mehr
mit einer Reaktion gerechnet hatte. »Und natürlich freue ich mich, Herr Hesseholt, dass ich Ihnen schon so gut weiterhelfen
konnte.« Ich, dachte Pielkötter empört. »Und natürlich die ganze Gruppe«, fuhr sie fort, als hätte sie seinen stummen Einwand vernommen. »Möchte jemand freiwillig als Nächster sein Problem vorstellen?«
»Also, ich wäre bereit«, erklärte Magdalena Kiesewetter und begann sofort, obwohl noch niemand ihr zugestimmt
hatte. »Bei mir geht es zum Glück nur um den Beruf. Weil ich ja nicht verheiratet bin. Aber in der Firma, wo
ich als Schadenssachbearbeiterin tätig bin, machen mir die Kollegen das Leben schwer. Hintenrum lästern die über mich. Übergehen mich bei privaten Feiern, enthalten mir Informationen vor. Die reinste
Schikane. Dabei sollten die mir wirklich dankbar sein. Ich wirke doch auf jeder
offiziellen Betriebsfeier mit. Habe immer ein Gedicht parat, das ich dort
vortragen kann. Aber anscheinend wissen meine Kollegen das nicht zu schätzen. Dabei achte ich sogar auf die Jahreszeit.«
»So genau wollen wir das nun doch nicht wissen, Frau Kiesewetter«, erklärte Juliana Meinertshagen.
Zweites Bravo, dachte Pielkötter.
»Für mein Gedicht Jahreszeiten hätte ich fast einmal einen Preis bekommen«, fuhr Magdalena Kiesewetter fort, als hätte die Therapeutin nichts eingewendet. »Es geht so«, Kiesewetter erhob sich mit entrückter Miene und begann in einem theatralisch wirkenden Ton zu sprechen.
»Frühling.
Wachstum.
Gefühle.«
Sie machte eine kunstvolle Pause und alle sahen sich betreten an.
»Und doch so schnell vorbei.«
Magdalena Kiesewetter redete nun so schnell weiter, dass niemand einschreiten
konnte. Pielkötter jedenfalls lag ein Veto auf den Lippen, und nach Björn Teinerts Miene zu urteilen, ging es ihm ähnlich.
»Sommer.
Lang ersehnt und doch bald vorbei.«
Hoffentlich ist dieses Szenario auch bald vorbei, dachte Pielkötter, nicht länger gewillt sich einen solchen Schwachsinn anzuhören. »Ich denke, das reicht, um Ihr Problem zu erkennen«, sagte er laut, als Magdalena Kiesewetter kurz innehielt.
»Sie sprechen mir aus der Seele«, pflichtete Björn Teinert Pielkötter bei. Er hätte wohl gerne noch weiter ausgeholt, kam aber nicht dazu.
»Ich denke, wir brechen hier am besten ab und vertagen das Problem auf die nächste Sitzung«, schritt Juliana Meinertshagen ein. »Als Nächster stellt bitte Herr Sperling vor, was ihn am meisten belastet.«
Magdalena Kiesewetter setzte sich beleidigt auf ihren Stuhl und alle Augen
richteten sich auf Thorsten Sperling. Zunächst starrte er die Therapeutin an, dann holte er plötzlich einen roten Rettungsring aus seiner Sporttasche, die Pielkötter bisher nicht beachtet hatte, und warf Juliana Meinertshagen den Ring vor
die Füße. Anschließend stürmte er wortlos aus dem Gruppenraum.
»Das war’s wohl«, bemerkte Björn Teinert, und alle schwiegen.