Irene Scharenberg


Stirb zweimal





Inselkrimi
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie der Autorin. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Straßen und Schauplätze auf Norderney und in Norden. Die Norderneyer Kur- und Rehabilitationsklinik am Deich entstammt ebenfalls der Fantasie der Autorin.








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E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-209-6
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ISBN: 978-3-95475-198-3

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Die Autorin

Irene Scharenberg ist in Duisburg aufgewachsen und hat hier Chemie und Theologie für das Lehramt studiert. Vor einigen Jahren hat sie die Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt. Seit 2004 sind zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften erschienen und in Wettbewerben ausgezeichnet worden. 2009 gehörte die Autorin zu den Gewinnern des Buchjournal-Schreibwettbewerbs, zu dem mehr als 750 Geschichten eingereicht wurden.
Irene Scharenberg ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Sie lebt am Rande des Ruhrgebiets in Moers. In ihrer alten Heimat Duisburg spielen sechs Kriminalromane mit den beiden Ermittlern Pielkötter und Barnowski. 2018 hat die Autorin ihre Liebe zu der Insel mit der Leidenschaft fürs Schreiben verbunden. Nach »Tödliches Bad« und »Im Schatten des Leuchtturms« spielt auch »Stirb zweimal« auf Norderney.


Für meine Familie
Prolog
Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Angelina hatte so ängstlich geklungen, geradezu verzweifelt. Nein, panisch. Ihre eigentlich so weiche Stimme, die mich vom ersten Moment an fasziniert hatte, war mir so schrill erschienen, als gehöre sie überhaupt nicht zu ihr.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, hatte sie in einem Tonfall erklärt, der mich weit mehr alarmiert hatte als die unterschwellige Panik. »Einen unverzeihlichen Fehler, für den ich jetzt büßen muss.«
»Nein!«, hatte ich geschrien, dann hatte sie das Gespräch beendet.
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Seit Angelinas Anruf waren gerade einmal dreizehn oder vierzehn Minuten vergangen, aber die kamen mir inzwischen vor wie eine kleine Ewigkeit. Zudem lagen noch einige Kilometer vor mir, bis ich sie in die Arme schließen konnte … sofern alles gutging.
Du musst es schaffen, du musst es schaffen, hämmerte es unaufhörlich hinter meiner schweißnassen Stirn. Schließlich hatte sie mich angerufen, nicht ihren geliebten Zwillingsbruder, nicht ihren Liebhaber, nicht die Polizei. Deshalb durfte ich jetzt nicht versagen. Wenn ich nur rechtzeitig kam, würde alles wieder gut werden. Wir könnten ganz neu anfangen, in einer Stadt, in der uns keiner kennt. Schneller, schneller dröhnte es in meinem Kopf. Mein Wagen raste mit Landstraßengeschwindigkeit durch das Wohnviertel. Schneller, Schneller.

Endlich hatte ich mein Ziel erreicht. Mit quietschenden Reifen bog ich von der Straße ab und sauste die Einfahrt hoch. Ich stoppte mit einer Vollbremsung vor der Doppelgarage neben Angelinas roten Mazda und hechtete aus dem Auto zur Haustür. In der Dunkelheit stolperte ich die drei Stufen aus Granitstein nach oben. Der Bewegungsmelder oder die Lampe am Vordach schien defekt zu sein. Als meine Hand nach dem Knauf fasste, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass die Eingangstür einen Spalt breit offenstand. Ein ganz schwacher Lichtschein drang nach draußen. Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Während ich die schwere Konstruktion aus Stahl und Bleiglas weiter nach innen drückte, versuchte ich, den Kloß herunterzuschlucken, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hatte.
»Angelina!«, rief ich heiser. »Angelina!«
Ich erhielt keine Antwort, und die Stille schien mich zu erdrücken wie der Deckel eines Grabes, in dem ich lebendig begraben lag. Vorsichtig schaute ich noch einmal nach hinten, als drohe von dort Gefahr. Eine schmale Mondsichel kam gerade hinter einer Wolke hervor, beleuchtete kurz den Vorgarten und verschwand dann wieder, verschluckt von der nächsten dicken Wolke. War Angelina etwa ins Freie geflüchtet? Hatte die Haustür deshalb aufgestanden? Und was bedeutete das?
»Angelina!«, schrie ich ein letztes Mal mit brüchiger Stimme. Entweder konnte oder wollte sie mich nicht hören oder sie war nicht in der Lage, mir zu antworten. Nein, was ich mir da gerade ausmalte, musste ich schleunigst aus meinem Kopf verbannen. Während mein Herz einen Schlag lang auszusetzen schien, beschloss ich, meine Strategie zu ändern. Zwar wäre ich am liebsten losgerannt, um nach ihr zu suchen, aber ich wollte lieber vorsichtig sein und mich erst einmal umsehen. Lautlos ging ich nun durch den Flur. Der schwache Lichtschein, den ich schon am Eingang bemerkt hatte, kam aus der ersten Etage. Mit angehaltenem Atem schlich ich die Treppe hoch. Der Kloß in meinem Hals wuchs von Stufe zu Stufe. Wenn ich jetzt noch einmal rufen würde, käme wahrscheinlich nur ein leises Krächzen heraus. Meine verschwitzte Hand hielt sich am Geländer fest, als sei das Holz der Rettungsanker für einen Ertrinkenden.
Als ich endlich oben in der ersten Etage stand, zitterten meine Knie. Ich sah mich um. Obwohl mir das Haus vertraut war, wirkte alles so furchtbar fremd. Die Türen auf der rechten Seite, die zum Bad und dem Gästezimmer führten, waren verschlossen, ebenso die auf der Linken, hinter denen die beiden Schlafräume lagen. Das Licht kam aus Angelinas Büro am Ende des Flurs. Für einen kurzen Moment geriet ich in Versuchung, noch einmal ihren Namen auszustoßen, entschied mich jedoch dagegen. Wenn sie wirklich hier in ihrem Arbeitszimmer saß, würde ich ihr sowieso in wenigen Sekunden gegenüberstehen oder … Das Herz schlug mir bis zum Hals. Während ich mich sehr langsam in Richtung Büro bewegte, als spiele die Zeit nach der rasenden Autofahrt nun keine Rolle mehr, rannen Bäche von Schweiß meinen Rücken hinunter. Dabei war mir kalt, eiskalt. Ich stieß die leicht geöffnete Tür weiter auf, so dass ich einen Teil des Zimmers sehen konnte, wagte kaum zu atmen, behielt die Klinke in der Hand.
Zuerst fiel mein Blick auf den leer geräumten alten Eichenschreibtisch, ein Erbstück von ihren Eltern. Darüber hing ein typisches Urlaubsfoto von Angelina und mir bei einem Segeltörn im Mittelmeer vor drei Jahren. Auf dem schwarzen Bürostuhl hinter dem Schreibtisch saß niemand. Voller Angst suchte ich den Boden ab. Das Muster des Perserteppichs verschwamm vor meinen Augen. Jeder Muskel in mir war angespannt, die Ungewissheit zerrte an meinen Nerven. Benommen hielt ich mich an der Klinke fest, dann drückte ich die Tür mit Wucht vollständig auf. Ich starrte nach rechts zu dem kleinen gläsernen Beistelltisch mit zwei weißen Ledersesseln. In dem vorderen saß Angelina. Ihr Kopf lag auf der Tischplatte. Das Glas hatte sich rot gefärbt, rot wie ihr Haar.
Mein Schrei zerriss die unheimliche Stille. Der Kloß in meinem Hals schien sich gelöst zu haben. Wie von Sinnen brüllte ich immer wieder Angelinas Namen. Ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance bewegte ich mich vorwärts, bis ich Angelina erreichte. Ich berührte ihren Körper, ihr Haar. Blut klebte an meinen Fingern, aber das störte mich nicht. Erst als meine Tränen es verdünnten, erwachte ich aus meiner Erstarrung. Mit zitternden Händen zog ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche und rief die Polizei an.
9
Mario Immenhoff saß in seinem Wohnzimmer in einem bequemen Ledersessel und massierte seinen schmerzenden Nacken. Warum musste Jessika ausgerechnet heute Abend bei ihrer dusseligen Tante eingeladen sein? Ihre zarten Hände hätten die Beschwerden sicher gelindert. Die Verspannung, die ihn seit zwei Tagen quälte, dauerte immer noch an, obwohl er zwischenzeitlich starke Tabletten eingenommen hatte. Die Schmerzen waren aufgetreten, nachdem seine Sekretärin Birgit Hoppenstraat ihm von dem geplanten Treffen der Norderneyer Geschäftsleute und Hoteliers erzählt hatte. Auch wenn ihn das morgen stattfindende Meeting aus mehreren Gründen ärgerte, sah er keinerlei Zusammenhang zu seinen Beschwerden. Früher hatte er selbst einmal zu dem erlauchten Club gehört, aber das war schon ein paar Jahre her. Seit er einigen Alteingesessenen mit seinen Geschäftsmethoden auf die Füße getreten hatte, wurde er nicht mehr zu den Runden eingeladen. Immenhoff seufzte laut. Er hätte darauf gewettet, dass es in der außerplanmäßigen Sitzung um sein neues Projekt ging, die Norderneyer Mall.
Sehnsüchtig schielte er zu der Flasche mit dem sündhaft teuren Cognac auf dem Beistelltisch direkt neben seinem Sessel. Natürlich vertrug sich der Alkohol nicht mit dem Medikament, aber wenn das richtig gewirkt hätte, müsste er jetzt nicht zusätzlich nach einem Mittel greifen, das ihn endlich ein wenig entspannte. Ein kurzer innerer Kampf, dann beugte sich Immenhoff zu dem Tischchen und goss sich eine großzügige Portion Cognac ein. Er setzte den Schwenker an seine Lippen, sog mit der Nase das Aroma ein und ließ einen ordentlichen Schluck durch seine Kehle brennen. Wenige Minuten später fühlte er sich schon wesentlich besser, selbst der Schmerz hatte etwas nachgelassen.
Als er an Fischkopp, den Vorsitzenden des Clubs, dachte, führte er das Glas erneut zum Mund und leerte es in einem Zug. »Ich werde es ihnen zeigen«, murmelte er vor sich hin. »Egal, was sie morgen gegen mich auszuhecken gedenken. Ich werde es allen zeigen.« Mit verächtlicher Miene goss er sich eine weitere Portion Cognac ein und starrte zu der gläsernen Terrassentür. Er hatte sie vorhin ein wenig geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Weil er einen Druck auf seiner Blase spürte, erhob er sich und schwankte ins Bad. Das Rauschen der Klospülung verebbte gerade, da hörte er ein anderes Geräusch. Es war sehr leise, aber er hatte gute Ohren. Außerdem hatte er die Toilettentür offengelassen.
Immenhoff schlich mit unkoordinierten Schritten zum Wohnraum zurück, aus dem er das Geräusch vernommen hatte. Er sah sich um, konnte jedoch zunächst nichts entdecken, was es verursacht haben könnte. Plötzlich fiel sein Blick auf den Boden neben der Terrassentür. Auf dem Parkett lag ein kleiner zerbrochener Leuchtturm aus Keramik, der zusammen mit anderen Dekoartikeln an einer täuschend echt wirkenden, gut ein Meter hohen Graspflanze gehangen hatte. Immenhoff lief einige Schritte darauf zu. Während er sich bückte, um die Bruchstücke aufzuheben, wurde ihm schwindelig. Das war der Wind, dachte Immenhoff und schloss die Terrassentür. Eine Weile stand er da und starrte nach draußen in die Dunkelheit. Schließlich verspürte er nur noch den Wunsch, tief und fest zu schlafen. Auf unsicheren Beinen stieg er ins Obergeschoss.

Immenhoff lag mehr oder weniger regungslos in seinem breiten französischen Bett mit vier auffälligen Pfosten aus Messing, zwischen denen sich am Kopfende ein Foto der Skyline von Manhattan erstreckte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte Immenhoff vergessen, die Jalousien herunterzulassen, so dass der Mond ins Zimmer schien und die Konturen der Möbel erkennen ließ. Mit einem Mal zuckten Immenhoffs Augenlider. Was störte ihn? Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite und lauschte. Huschte da etwa jemand im Flur herum? Nein, das bildete er sich nur ein. Eine Weile blieb alles still, dann vernahm er wieder ein leises Knacken. »Jessika, bist du das?«, wollte er rufen, aber seine Kehle fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt. Allerdings passte es gar nicht zu ihr, unangemeldet bei ihm aufzutauchen, obwohl er ihr einen Hausschlüssel gegeben hatte. Aber wer, wenn nicht sie ...
Die Vorstellung, die nun durch seinen Kopf geisterte, ließ sein Herz heftig klopfen. Adrenalin rauschte durch seine Adern. Er hätte seine Villa besser absichern sollen. Was, wenn sich Einbrecher in seinem Haus befanden? Immenhoff kam nicht dazu, über eine Strategie nachdenken. Starr vor Schreck schaute er zur Tür. Soviel er bei dem Schein des Mondes erkennen konnte, bewegte sich die Klinke langsam nach unten. Plötzlich flog sie mit einem Ruck auf. Immenhoffs Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Er sah eine vermummte Gestalt. Nein, gleich mehrere. Zu dritt stürmten sie ins Zimmer. Alle hatten Mützen über ihre Gesichter gezogen. Während ihm der Schweiß ausbrach, griff Immenhoff nach dem Smartphone auf dem Nachttisch. Der erste Eindringling war jedoch schneller. Er schleuderte es auf den Boden und trat mehrmals mit dem Fuß darauf. Immenhoff wollte protestieren, bekam aber nur ein leises Krächzen heraus.
»Was soll das?«, brachte er schließlich mit fast versagender Stimme hervor. Dass die Gesichter nicht zu erkennen waren, ließ ihn nichts Gutes ahnen.
»Das wirst du gleich spüren«, erwiderte die kräftigste der drei Gestalten.
Die Stimme kam Immenhoff bekannt vor. Wenn ihn nicht alles täuschte, gehörte sie Fischkopp, dem Vorsitzenden des Clubs der erlauchten Norderneyer. Für einen kurzen Moment atmete Immenhoff auf. Seltsamerweise beruhigte ihn ein wenig, dass der Vermummte kein Fremder war. Und kein Verbrecher. Wahrscheinlich wollte er ihm nur Angst einjagen. Er hatte es noch nicht zu Ende gedacht, da traf ihn ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Sein Kopf schien zu platzen. Ehe er sich davon erholen konnte, zerrten die Männer an seinen Armen. Sie banden seine Handgelenke mit Stricken zusammen. Hilfe, was sollte das?
In wilder Panik sah sich Immenhoff nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sein Herz galoppierte. Er versuchte, sich aufzurichten, als ihn ein neuer Faustschlag niederstreckte. Machtlos musste er über sich ergehen lassen, wie die Vermummten ihn mit den Händen an den Bettpfosten fesselten. Immenhoff bäumte sich auf, trat vergeblich nach den Angreifern. Er hatte keine Chance gegen sie, konnte nichts dagegen tun, dass sie auch seine Füße fixierten. Jetzt war er nicht einmal in der Lage, den brennenden Schweiß aus seinen Augen zu wischen. Er fühlte sich wie ein Opfer in einer mittelalterlichen Folterkammer. Verzweifelt starrte er den Vermummten an, den er für Fischkopp hielt. Als Immenhoff ein Messer mit langer Klinge in seiner Rechten erkannte, blieb ihm fast das Herz stehen.
»Ich hoffe, du hast dein Testament gemacht«, hörte er Fischkopps Stimme. »Deine Erben können sich freuen. Nur von der Norderneyer Mall profitieren sie nicht. Kein Wunder, wo das Projekt gleich mit dir stirbt.« Mit einem höhnischen Lachen stürzte sich der Mann auf ihn. Das Messer kam näher. Als es seine Eingeweide zerschnitt, schrie Immenhoff laut auf.

Während der Schrei durch das Schlafzimmer hallte, öffnete Immenhoff die Augen. Benommen richtete er sich auf und besah seine Hände. Er bewegte sie ungläubig hin und her, als könne er nicht begreifen, dass er aus einem Albtraum aufgewacht war. Sein Atem ging immer noch schnell. Fahrig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Mitten in der Bewegung hielt er inne und starrte zur Tür. Dort stand doch jemand! Eine maskierte Gestalt wie aus dem Traum. Immenhoff zitterte am ganzen Körper. Seine Muskeln schienen ihm nicht zu gehorchen. Während er mühsam aus dem Bett stieg, achtete er nicht auf die Tür. Als er wieder hinschaute, war die Gestalt verschwunden. »Das gibt es doch nicht«, flüsterte Immenhoff ungläubig. Hatte er etwa noch geträumt? Vielleicht gab es einen kurzen Zustand nach dem Traum, in dem er sich in der Wirklichkeit fortsetzte. Trotzdem musste er nach dem Rechten sehen.
Immenhoff hastete in den Flur, wobei er erheblich schwankte. Verwirrt machte er Licht und starrte durch die Diele, dann die Treppenstufen hinunter, konnte aber niemanden entdecken. Sollte er besser die Polizei informieren? Auf unsicheren Beinen lief er zurück ins Schlafzimmer. Das Smartphone lag auf dem Nachttisch, wo er es abends hingelegt hatte. Nein, für einen Anruf auf der Wache hatte er nicht genug in der Hand. Wahrscheinlich hatte er wirklich so einen kurzen Zustand zwischen Wachsein und Traum erlebt. Möglicherweise hatte er auch zu viel Alkohol getrunken. Trotzdem war er nicht geneigt, die Angelegenheit auf sich beruhen zulassen.
Denk nach, ermahnte er sich. Sofern die Gestalt tatsächlich real existierte, war sie vor ihm geflüchtet. Das konnte nur bedeuten, dass sie keine Pistole bei sich trug und sich ihm im Nahkampf ohne Überraschungseffekt unterlegen fühlte. Suchend schaute er sich um. Schließlich fiel sein Blick auf eine Tänzerin aus Bronze. Die Figur war schwer genug, um sich im Notfall damit verteidigen zu können.

Nachdem Immenhoff alle Räume einschließlich Kellergeschoss inspiziert hatte, ohne etwas Auffälliges entdeckt zu haben, holte er sich ein Glas Wasser aus der Küche. Neben der Wasserflasche, lagen die Tabletten. Aus einem Impuls heraus zog er den Beipackzettel aus der Schachtel und studierte die Nebenwirkungen des Medikaments. »Du Blödmann«, stöhnte er plötzlich. Da stand es doch schwarz auf weiß, dass gelegentlich Halluzinationen auftreten konnten, besonders in Verbindung mit Alkohol. Beruhigt löschte Immenhoff in der Küche das Licht.
10
»Schluss für heute!«, verkündete Beate Hagen, die neue Trainerin für Wassergymnastik. Pielkötter fand, dass sie ihre Sache gut machte und er wäre gerne ein wenig länger in dem wohltemperierten Wasserbecken geblieben. Stattdessen beeilte er sich, um pünktlich bei der zweiten Gruppentherapiestunde zu sein. Er duschte im Schnelldurchgang und zog sich eilig an. Die Zeit war knapp, aber es half nichts, er musste noch einmal zu seinem Zimmer zurück, um die nasse Badehose und sein Handtuch aufzuhängen. Als er es wieder verließ, trat einige Türen weiter Richtung Treppenhaus auch Thorsten Sperling auf den Gang, der ja zu seiner Gruppe gehörte.
»Nehmen Sie mich mit zu unserer gemütlichen Runde«, scherzte Pielkötter, wobei er sich im selben Moment darüber wunderte, dass seine Laune erheblich besser war als vor der ersten Sitzung. Nun ja, vielleicht war das doch nicht so verwunderlich. Die Therapie war zwar etwas aus dem Ruder gelaufen, aber auch interessant und kurzweilig. Außerdem gab es Verbündete, die ebenso wie er nicht bereit waren, sich von der unfähigen Juliana Meinertshagen Unverschämtheiten bieten zu lassen. Vor allem jedoch war er neugierig, wie die Meinertshagen sich heute schlagen würde. Und würde dieser alberne rote Rettungsring genau auf ihn zusausen, würde er ihn nicht auffangen. Solche blöden Spielchen machte er auf gar keinen Fall mit. Wenn er sich schon zu seinen Problemen äußern sollte, dann wollte er dazu bitte schön höflich aufgefordert und nicht wie ein Kind auf einem Kindergeburtstag behandelt werden.
»Wir können gerne zusammen nach unten gehen«, erwiderte Sperling. »Aber offen gestanden würde ich jetzt lieber alles Mögliche tun, nur nicht an dieser Sitzung teilnehmen.«
»Das kann ich gut nachvollziehen. Mir geht es ganz ähnlich wie Ihnen, aber wenn Sie den Therapieplan nicht einhalten, bekommen Sie Ärger. Ich kann davon ein Lied singen. Vielleicht wird es ja heute ganz lustig. Jeder einzelne von uns ist wohl für Überraschungen gut.«
Auf Sperlings Gesicht zeigte sich flüchtig ein kleines Lächeln, dann wurde er wieder sehr ernst. Der Mann schien wirklich arge Probleme zu haben.

Als sie den Gruppenraum erreicht hatten, saßen die anderen Teilnehmer schon in der Runde und unterhielten sich lebhaft, nur von Juliana Meinertshagen fehlte noch jede Spur. Sperling und Pielkötter nahmen nebeneinander Platz. Rechts von Pielkötter saß Björn Teinert, links von Sperling befand sich der einzig noch leere Stuhl.
Sie hatten kaum ein kurzes »Hallo« von sich gegeben, da erschien Juliana Meinertshagen, wieder in diese grässliche grüne Jacke gepresst. Am liebsten hätte Pielkötter ihr väterlich empfohlen, sie einfach offen zu tragen, denn sie drohte, die Knöpfe abzusprengen. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war nur mit ihm los? Sonst interessierte ihn doch überhaupt nicht, wie jemand angezogen war, Hauptsache, er wirkte damit nicht anstößig.
»Herzlich willkommen zu unserer zweiten Therapiestunde«, begrüßte Juliana Meinertshagen die Gruppe. »Wie ich sehe, haben die Geschlechter sich hübsch aufgetrennt, links von mir die Damen, rechts die Herren. Ich will das für heute einmal gelten lassen, aber beim nächsten Mal setzen Sie sich bitte etwas gemischter.«
Pielkötter empfand es als äußerst ungeschickt, direkt mit Kritik zu beginnen. Viel dazugelernt hat die bisher nicht, überlegte er.
»Ich denke, jeder sollte sich dort platzieren, wo er sich am wohlsten fühlt«, machte auch Björn Teinert seiner Rolle alle Ehre.
»Wer sich wo am wohlsten fühlt, können Sie doch überhaupt nicht beurteilen, solange sie nicht mehreres ausprobiert haben«, entgegnete die Therapeutin spitz.
»Vielleicht sollte ich zur Auflockerung und Einstimmung eines meiner Gedichte vortragen«, schlug Magdalena Kiesewetter vor. »Ich hätte da eins mitgebracht, das würde jetzt wirklich gut passen.«
»Später vielleicht, aber jetzt beginnen wir erst einmal mit Herrn Hesseholt. Das Problem mit seiner Frau kam ja beim letzten Mal etwas zu kurz. Hmm, ich meine, seine ganzen Probleme.« Juliana Meinertshagen sog hörbar die Luft ein und fixierte dabei alle Teilnehmer mit starrem, nicht gerade freundlichem Blick. »Aus diesem Grund habe ich heute darauf verzichtet, unseren kleinen Rettungsring mitzubringen, und erteile Oliver Hesseholt das Wort. Also, Herr Hesseholt, würden Sie bitte noch einmal Ihr Problem schildern?«
»Probleme«, verbesserte er.
»Dann eben gleich mehrere, wenn Sie nur bitte jetzt anfangen würden, schließlich wollen die anderen ...«
»Einen Sitzplatz, wo man sich wohlfühlen soll, aber Druck ausüben«, bemerkte Björn Teinert zu Pielkötter, jedoch so laut, dass es alle hören konnten.
Hesseholt wirkte irritiert, doch dann begann er: »Vorab möchte ich etwas betonen: Die Gruppe hat mir beim letzten Mal wirklich sehr weitergeholfen. Für mich ist es schon viel wert, dass ich nun weiß, dass die Probleme, die meine Frau und ich haben, nicht einfach wegdiskutiert werden können, wie Susanne das gerne versucht. Die Sache mit der Intimität ... also daran sehe ich das wirklich ganz deutlich.« Plötzlich geriet er ins Stocken und schaute auf den Boden, als er schließlich weitererzählte. »Es gibt sogar einer Erklärung dafür. Ich, ich ... nun ja, es ist sehr schwer, das auszusprechen, und natürlich auch, sich das erst einmal einzugestehen.«
»Jeder von uns kennt solche Situationen. Vielleicht hilft Ihnen das«, ermunterte Meinertshagen ihn, fortzufahren, und hatte damit in Pielkötters Augen zum ersten Mal etwas Sinnvolles von sich gegeben.
»Ohne weiter drum herumzureden. Also ... ich glaube, dass meine Frau mich betrügt. Und zwar mit meinem Chef. Unserem Chef! Wir arbeiten nämlich in derselben Firma. Ich in der Buchhaltung und Susanne als seine Sekretärin.«
»Haben Sie Ihre Frau denn nie darauf angesprochen?«, fragte Pielkötter, und gab damit schon zum zweiten Mal in dieser Runde seinen Vorsatz auf, sich nicht in die Probleme der anderen Gruppenteilnehmer einzumischen. Doch die Frage hatte sich ihm förmlich aufgedrängt.
»Nicht so konkret. Ich habe immer nur von Schwierigkeiten geredet, alles Mögliche aufgeführt, um ihr aufzuzeigen, dass wir uns nicht mehr so nahe sind wie früher.« Er strich sich mit der Hand über den Kopf und schien angestrengt nachzudenken. »Nein, so auf den Punkt gebracht habe ich die Sache nicht«, fuhr er schließlich fort. »Vielleicht musste ich mir diesen Verdacht auch erst einmal selbst eingestehen. Manchmal, wenn ich die beiden zufällig so eng beieinander gesehen habe oder beim Reden, so ganz vertraut ... Das war sicher blöd, aber wenn ich dann nach Hause gekommen bin, habe ich mir die Kopfhörer aufgesetzt und ganz laut Musik gehört. So laut, dass mir bald die Ohren wehgetan haben. ZZ Top, Deep Purple, Led Zeppelin, Wishbone Ash. Manchmal auch Gianna Nanini: Autostrada oder Latin Lover. Ich mag ihre rauchige Stimme. Doch ich habe die Kopfhörer wie Scheuklappen benutzt.«
Als er geendet hatte, sagte lange keiner ein Wort, dann meldete sich Lena Maus, die bisher noch nicht durch einen Beitrag aufgefallen war. »Sie müssen unbedingt mit Ihrer Frau reden. So schnell wie möglich. Sonst gehen Sie daran kaputt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.«
»Wenn ich Susanne zur Rede stelle oder meinen Chef, verliere ich womöglich nicht nur meine Frau, sondern auch meine Arbeit.«
»Besser als vollkommen seine Ehre zu verlieren«, warf Pielkötter ein, obwohl er vorhin geglaubt hatte, sich an der Gesprächsrunde zu beteiligen, sei ein Ausrutscher gewesen.
»Genau!«, stimmte ihm Teinert zu. »Seine Ehre bekommt man jedenfalls nicht so leicht wieder. Jedenfalls nicht so schnell wie eine neue Frau.«
Die Therapeutin zog die Augenbrauen hoch, äußerte sich aber sonst nicht. Wahrscheinlich fühlte sie sich erneut von der Situation überfordert. Völlig fehl am Platz, genau wie Pielkötter es vorausgeahnt hatte.
»Gut, hier machen wir einen Schnitt«, meldete sich Juliana Meinertshagen wieder erst zu Wort, nachdem niemand mehr mit einer Reaktion gerechnet hatte. »Und natürlich freue ich mich, Herr Hesseholt, dass ich Ihnen schon so gut weiterhelfen konnte.« Ich, dachte Pielkötter empört. »Und natürlich die ganze Gruppe«, fuhr sie fort, als hätte sie seinen stummen Einwand vernommen. »Möchte jemand freiwillig als Nächster sein Problem vorstellen?«
»Also, ich wäre bereit«, erklärte Magdalena Kiesewetter und begann sofort, obwohl noch niemand ihr zugestimmt hatte. »Bei mir geht es zum Glück nur um den Beruf. Weil ich ja nicht verheiratet bin. Aber in der Firma, wo ich als Schadenssachbearbeiterin tätig bin, machen mir die Kollegen das Leben schwer. Hintenrum lästern die über mich. Übergehen mich bei privaten Feiern, enthalten mir Informationen vor. Die reinste Schikane. Dabei sollten die mir wirklich dankbar sein. Ich wirke doch auf jeder offiziellen Betriebsfeier mit. Habe immer ein Gedicht parat, das ich dort vortragen kann. Aber anscheinend wissen meine Kollegen das nicht zu schätzen. Dabei achte ich sogar auf die Jahreszeit.«
»So genau wollen wir das nun doch nicht wissen, Frau Kiesewetter«, erklärte Juliana Meinertshagen.
Zweites Bravo, dachte Pielkötter.
»Für mein Gedicht Jahreszeiten hätte ich fast einmal einen Preis bekommen«, fuhr Magdalena Kiesewetter fort, als hätte die Therapeutin nichts eingewendet. »Es geht so«, Kiesewetter erhob sich mit entrückter Miene und begann in einem theatralisch wirkenden Ton zu sprechen.
»Frühling.
Wachstum.
Gefühle.« 
Sie machte eine kunstvolle Pause und alle sahen sich betreten an.
»Und doch so schnell vorbei.«
Magdalena Kiesewetter redete nun so schnell weiter, dass niemand einschreiten konnte. Pielkötter jedenfalls lag ein Veto auf den Lippen, und nach Björn Teinerts Miene zu urteilen, ging es ihm ähnlich.
»Sommer.
Lang ersehnt und doch bald vorbei.«
Hoffentlich ist dieses Szenario auch bald vorbei, dachte Pielkötter, nicht länger gewillt sich einen solchen Schwachsinn anzuhören. »Ich denke, das reicht, um Ihr Problem zu erkennen«, sagte er laut, als Magdalena Kiesewetter kurz innehielt.
»Sie sprechen mir aus der Seele«, pflichtete Björn Teinert Pielkötter bei. Er hätte wohl gerne noch weiter ausgeholt, kam aber nicht dazu.
»Ich denke, wir brechen hier am besten ab und vertagen das Problem auf die nächste Sitzung«, schritt Juliana Meinertshagen ein. »Als Nächster stellt bitte Herr Sperling vor, was ihn am meisten belastet.«
Magdalena Kiesewetter setzte sich beleidigt auf ihren Stuhl und alle Augen richteten sich auf Thorsten Sperling. Zunächst starrte er die Therapeutin an, dann holte er plötzlich einen roten Rettungsring aus seiner Sporttasche, die Pielkötter bisher nicht beachtet hatte, und warf Juliana Meinertshagen den Ring vor die Füße. Anschließend stürmte er wortlos aus dem Gruppenraum.
»Das war’s wohl«, bemerkte Björn Teinert, und alle schwiegen.