Über dieses Buch:
Indien, Ende des 19. Jahrhunderts. Um sie herum nur unendliche Weite, bis sich Erde und Himmel am Horizont vereinigen … Die junge Missionarstochter Pree fühlt sich jedoch alles andere als frei: Ihre strengen Eltern fordern sie hart und missbilligen ihre Freundschaft zu Kai, dem Sohn der indischen Dienerin. Als Prees Vater schwer erkrankt und sich ihre Mutter immer mehr im religiösen Wahn verliert, muss Pree härter kämpfen als je zuvor: für ihre Freiheit, für eine Chance auf Glück und Geborgenheit. Doch der Preis dafür ist höher, als sie sich je hätte vorstellen können – und Kai, dem doch längst ihr Herz gehört, ist in Prees dunkelster Stunde plötzlich verschwunden … Wird ihre Liebe zu ihm hell genug leuchten, um Kai zu ihr zurückzuführen?
Ein bildgewaltiges Epos und die bewegende Reise einer jungen Frau von den rauen Bergen des Pandschab bis zu den bunten Basaren von Peschawar – auf der Suche nach dem Mann, den sie nie vergessen konnte.
»Ein glanzvolles, zu Tränen rührendes Werk mit allen Qualitäten, die ein großer Bestseller braucht.« Bookseller
»Eine Lektüre, wie es sie nur einmal im Leben gibt.« Toronto Globe
Über die Autorin:
Linda Holeman, geboren im kanadischen Winnipeg, arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Psychologie zunächst zehn Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihrem ersten Roman »Smaragdvogel« folgten zahlreiche weitere historische wie auch zeitgenössische Romane, die internationalen Bestsellerstatus erlangten und in sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt Linda Holeman abwechselnd in Toronto und Santa Monica, Kalifornien.
Linda Holeman veröffentlichte bei dotbooks auch die Romane »Smaragdvogel« und »Das Mondamulett«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2019
Copyright © der englischen Originalausgabe 2008 by Linda Holeman
Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »In a Far Country« bei Headline Review, an imprint of Headline Publishing Group, London.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch The Helen Heller Agency Inc.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Kathy SG, xuanhuongho und saiko3p
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-764-6
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Linda Holeman
Der Lotusgarten
Roman
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
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Für Zalie, Brenna und Kitt,
wie immer in Liebe
Wenn einst verrauscht ist dein weltliches Leben,
wird dir Gott Leben in Ewigkeit geben.
Tauche ins Wasser des Lebens, die Liebe:
Ein kleiner Tropfen schon lässt dich erbeben!
Galaluddin Rumi, 13. Jahrhundert
Bombay, 1885
Es ist der elfte Tag des Ganesha-Chaturthi-Fests, und gleich wird Ganesha in den Fluten des Arabischen Meers versenkt werden.
Auf dem Weg nach Hause habe ich einen Abstecher zum Strand gemacht, um die vielfältigen Abbilder der elefantenköpfigen Gottheit in das trübe Wasser tauchen zu sehen.
Die unzähligen Ganeshas in allen möglichen Größen wurden in feierlichen Prozessionen durch die Straßen geführt, und jetzt strömen ihre Träger aus allen Richtungen an der weiten, sandigen Bucht zusammen. Ein reges Treiben herrscht, da die Menschen sich hier versammelt haben, um diesem abschließenden Ritual zu Ehren der Gottheit beizuwohnen.
Ich betrachte das Meer. Niemand beachtet mich; ich trage einen Sari und habe mein Haar geölt und es zu einem dicken Zopf geflochten, der mir über die Schulter fällt. Für meine Arbeit ziehe ich diese Aufmachung vor, denn die Frauen haben mehr Vertrauen zu mir, wenn ich wie eine von ihnen gekleidet bin. Im Übrigen habe ich in meinem Leben schon viele Verkleidungen getragen.
Wo ich stehe, ist das Wasser seicht, die Wellen lecken sanft über den gewellten Sand. Der erste junge Mann schreitet jetzt, seinen Ganesha behutsam in den Armen tragend, in die Fluten. Gesänge wogen durch die windstille Abendluft. Kehre früh im nächsten Jahr wieder, o du siegreicher Lord Ganesha. O Vater Ganesha, kehre wieder nächstes Jahr.
In Bombay verehren die Hindus ihre unzähligen Götter, die Moslems beten zu Allah, die Christen zu Vater, Sohn und dem Heiligen Geist, und die Zoroastrier verneigen sich in Ehrfurcht vor dem Feuer.
Mein Altar ist das Wasser.
Ich hebe eine Halskette aus roten Lotusblüten auf, die ein geschmückter Ganesha verloren hat, und gehe damit zum Ufer. Ich ziehe die Sandalen aus und hänge mir meine schwere Tasche über die Schulter. Ein winziger Gecko huscht panisch zwischen zwei Steinen hervor und rennt mir dabei über die Füße. Den Zipfel meines Saris lüpfend, wate ich durch das kühle Wasser auf die Menschenmassen zu. Ich tue es den anderen gleich, die Blumen, Konfekt oder Kokosnüsse ins Wasser werfen und so ihre puja für Ganesha vollziehen, und lege die Blütenkette auf die schaukelnden Fluten.
Mit leeren Händen stehe ich still da und blicke nach oben. Am Himmel zeichnen sich blassrosa Streifen ab.
Mit einem Mal bin ich müde. Ich erblicke ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das fest die Hand einer Frau hält, sicherlich ihre Mutter. Die Frau lächelt das Kind an, während sie am Ufer stehen. Plötzlich beginnt das Mädchen auf und ab zu hüpfen, sodass seine sorgsam geflochtenen Haare im selben Rhythmus mitwippen, gleichzeitig gestikuliert das Kind aufgeregt in Richtung des Ganesha, der nun den Fluten übergeben wird. Der in fröhlichem Gelb gehaltene Sari des Mädchens ist frisch gewaschen und gestärkt, und zierliche Armreifen klimpern an ihren Handgelenken. Das Lächeln der Frau wird breiter, und angesichts der offensichtlichen Liebe, die sie für ihr Kind hegt, empfinde ich einen Stich in der Brust, etwas Kleines und Gemeines bemächtigt sich meiner. Als ich etwa so alt war wie dieses Mädchen, trug ich ein fleckiges Kleid aus einer Kiste mit wohltätigen Spenden, und das Haar hing mir ungekämmt und verfilzt über den Rücken. Unbeachtet lief ich auf dem Gelände der Mission umher. Ich weiß, dass mich meine Mutter nie so angeschaut hat, wie diese Mutter ihr Kind ansieht. Nie hat sie meine Hand mit diesem selbstverständlichen Besitzanspruch, diesem Stolz gehalten.
Das Kind blickt zu seiner Mutter auf, und ich kann das Gesicht der Kleinen klar erkennen. Auch wenn ihre Augen vor Aufregung glänzen, strahlen ihre Züge ein ruhiges Vertrauen aus, das aus dem Wissen erwächst, dass sie ihren Platz in der Welt kennt. Sie weiß, wer sie ist, zu wem sie gehört. Und wie sehr sie geliebt wird.
In einem stillen Gebet bitte ich darum, dass sie nie erleben muss, was ich erlebt habe. Dass sie nie den Schmerz empfinden wird, den es bedeutet, alles zu verlieren, was einen bislang geschützt hat, dass sie nie die schreckliche Furcht des Verlassenwerdens, den Geschmack der Angst kosten wird. Dass diese klarer hellen Augen niemals sehen werden, was ich sah, und dass sie nie so tief sinken muss, wie ich gesunken bin, um schließlich ihren Platz in dieser Welt zu finden. Und schließlich, dass sie die Welt nie in diesem Gefühl von tiefer Einsamkeit erleben muss, das einst meine Wahrnehmung bestimmte.
Ich rede mir ein, dass es nur die Müdigkeit nach einem langen Tag ist, die die alten Sorgen und Verbitterung, die alte Scham wieder hochkommen lässt. Ich atme tief ein und wende den Blick von der Mutter und dem Kind und somit von meinen Geheimnissen ab, wenigstens für den Moment.
Ich schaue zu, wie Ganesha in den trüben Fluten versenkt wird. Langsam schwappt das Wasser über dem langen Rumpf zusammen, dem Symbol tiefer Weisheit, dann über den großen Ohren, die begierig sind, dem katha des Herrn zu lauschen – seiner Erzählung. Und schließlich den Augen, die klein sind, damit sie das Göttliche in allen Einzelheiten erfassen können. Das Wasser bedeckt nun auch die Stirn, die ausreichend groß ist, damit der Verstand den Herrn begreift. Zu guter Letzt wird auch das Kopfende vom Wasser verschluckt. Wenn ich noch an die christliche Lehre glaubte, würde ich mir vorstellen, dass der Hindu-Ganesha getauft wird.
Unweigerlich kommt mir der missglückte Versuch meiner eigenen Taufe in den Sinn, der sich ereignete, als ich halb so alt war wie heute, und erneut tauchen die alten Erinnerungen auf, fühle ich mich in die Mission zurückversetzt, ans Ufer des Ravi. Während ich auf mein Leben zurückblicke, überlege ich mir, ob damals an jenem Tag im August, der dem heutigen ähnelte, meine Geschichte ihren Anfang nahm, als sich die Wogen über meinem Kopf schlossen, so wie jetzt über dem Haupt des Herrn Ganesha.
Doch im Gegensatz zu diesem hatte jener Tag nichts Feierliches. Es gab keine Freudengesänge, keine Geschenke, keine Gebete. Meine Taufe war ein einsames, trostloses Ereignis, ausgeführt mit roher Gewalt und aus falscher Hoffnung erwachsen. Der Hoffnung, dass sie meine Sünden wegwaschen möge.
Krankenmission der Kirche von England
Pandschab, Indien
Im Jahre des Herrn 1871
Während meiner Taufe wäre ich fast ertrunken. Es war meine zweite Taufe; die erste, ausgeführt als ich noch ein Säugling war, hatte offensichtlich nicht »gefruchtet«. Folglich hatte meine Mutter im Spätsommer kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag darauf bestanden, dass mein Vater, ein Gottesmann, die Taufe erneuerte.
Es war Ende August, im Pandschab eine Zeit des trägen Überflusses. Der Monsunregen hatte den zähen Croton, der wild und ungeschnitten um unsere Veranda wucherte, einknicken lassen und seine gummiartigen roten und grünen Blätter flachgedrückt. An den Wänden in Wohnhaus und Krankenstation schlängelten sich Rinnsale hinab, da die dicken, strohgedeckten Dächer den auf sie niederprasselnden Wassermassen nicht länger standhielten. Die Beuteldachsfamilie, die sich hinter dem Dunghaufen eingenistet hatte, war durch den Regen noch kühner geworden, sodass man die Tiere nun auf der Suche nach Schutz über den Hof huschen sah, die langen rattenartigen Schwänze unheimlich glänzend, das fettige Fell stachelig abstehend.
Der Sommermais war eingebracht, und die kahlen Stiele raschelten und schwankten im Wind – ein einsames, hohl klingendes Geräusch, wie wenn man Papier in der Hand zerknüllt. Oder wie das zerstörerische Lecken von Flammen. Horden von Schakalen streunten zwischen den abgeernteten Pflanzen umher auf der Suche nach verfaulenden Maiskolben, knurrend und nacheinander schnappend, wenn sie sich um die Reste balgten. Längst waren auch die letzten ungeernteten Mangos und Aprikosen, Feigen und Zitronen herabgefallen und aufgeplatzt, und die Krähen pickten an den verrottenden Früchten, verstohlen und mit leblosen, ausdruckslosen Augen ruckartig um sich blickend.
Und der Ravi, der im Sommer als dünnes Band harmlos dahinfloss, schluckte nun begierig alles, was die Monsunregen ihm darboten. Die endlosen Regengüsse hatten den normalerweise trägen Strom in einen reißenden, schnell fließenden Fluss mit tückischer Unterströmung verwandelt. Er war zu einem breiten, kühnen Gewässer angeschwollen, das nach allen Seiten langte und an allem zerrte, was sich zu nah an seine Ufer wagte.
Inmitten des unablässlichen grauen Regens bot die Mission einen traurigen, dem Untergang geweihten Eindruck. Hätte es für meine Mutter einen besseren Zeitpunkt geben können, um mich ebenfalls für verloren zu erklären und zu versuchen, das Rad rückwärts zu drehen und mich neu zu erschaffen, mich also in ein annehmbareres Abbild einer Missionarstochter zu verwandeln?
Ich wusste nichts von dem Vorhaben meiner Eltern, bis die Tür zur Abstellkammer aufflog. Ich hatte meine Mutter kommen hören: Wenn ich ihre schweren Schritte auf der Veranda vernahm, blieb immer noch genug Zeit, das Buch, in dem ich verbotenerweise las, zu verstecken, mich aufrecht hinzusetzen, die Bibel im Schoß aufzuschlagen und das Gesicht in geheuchelter Frömmigkeit und Reumütigkeit zu verziehen. Ich hatte gelernt, dass ich ohne diesen Ausdruck nicht die Erlaubnis erhielt, für eine weitere Stunde hinauszugehen.
An diesem dunklen, feuchten Nachmittag, an dem bleischwere Wolken am Himmel hingen, die sich jeden Moment entladen konnten, hatte mich meine Mutter wieder einmal in der Abstellkammer im hinteren Teil des Missionsgebäudes eingeschlossen. Wie üblich hatte sie mich angewiesen, drei Passagen aus der Bibel auswendig zu lernen. So beliebte sie mich zu bestrafen, seit ich sechs war und lesen konnte. Seither hatte ich unzählige Stunden mit der Bibel in der Hand in der Abstellkammer verbracht. Wenn man die zwei- bis dreimal wöchentlich verordneten Strafstunden zusammenzählte, die sie mir im Laufe der vergangenen neun Jahre verordnet hatte, würden wahrscheinlich mehrere Monate zusammenkommen.
Sie akzeptierte die junge Frau nicht, zu der ich geworden war. Auch konnte sie nicht verstehen, dass sich mein Charakter, egal wie viele Bibelpassagen ich auswendig aufsagen konnte, nicht ändern würde. Und je älter ich wurde, umso mehr empörte mich ihre simple Annahme, dass ein ausreichend intensives Studium der Bibel mich zu der Tochter machen würde, die sie sich wünschte, einer Tochter, auf die ein Missionar und seine Frau stolz sein konnten.
Ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass das nie der Fall sein würde.
Nachdem mich meine Mutter wieder einmal dabei erwischt hatte, wie ich mit »heidnischen Freunden herumlief« – so ihre Worte –, war sie entschlossen, eine Änderung herbeizuführen. Man musste zu drastischeren Maßnahmen greifen, um sicherzustellen, dass ich nicht in den ewigen Flammen der Hölle schmoren – und sie nicht weiterhin bloßstellen – würde.
Der Monsunregen sammelte neue Kraft, als mein Vater mich am Arm quer durch den hinteren Garten des Missionsgebäudes zerrte und dann weiter über die Stoppeln der abgeernteten Mais- und Zuckerrohrfelder bis zu den sprudelnden Wassern des Ravi, der vierhundert Meter von der Mission entfernt dahinfloss.
Meine Mutter folgte uns; trotz des Winds konnte ich hören, wie sie nach Luft schnappte, als sie über die harten Stängel stolperte, und wie sie mit unsicheren Schritten versuchte, mit dem gehetzten Gang meines Vaters mitzuhalten. Ich drehte mich nicht um, um nicht ihrem – wie ich annahm – selbstgefälligen Gesichtsausdruck zu begegnen.
Auch wollte ich nicht, dass sie meine eigene Unsicherheit in meinen Zügen las. Lange Zeit schon war es wichtig für mich, jegliche Art von Schwäche vor meiner Mutter zu verbergen. Insbesondere Angst.
Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum mich damals so plötzliche Angst überkam: nicht vor dem Wind oder dem drohenden Regen, dem Fluss – an all diesen von Gott bestimmten Naturereignissen war nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich war jedoch das Betragen meines Vaters, und das verursachte meine Panik, sorgte dafür, dass mein Atem stoßweise ging und dass sich meine Füße wie Blei anfühlten. Mein Vater war im Grunde ein freundlicher und weichherziger Mensch. Sonst schützte er mich immer vor dem Zorn meiner Mutter, und ich hatte noch nie erlebt, dass er gewalttätig geworden wäre. Aber an diesem Tag schien es, als wäre seine Laune ein Spiegelbild des Wetters.
Der Ravi wälzte sich mit dunklem, rhythmischem Pochen dahin, während ich in den Fluss gezerrt wurde, sodass die Fluten an meinem Rock sogen und rissen. Das Wasser war zwar noch nicht so kalt, wie es in den kommenden Monaten werden würde, aber es war aufgewühlt und schmutzig, angereichert mit dem, was der Fluss an den Ufern eingesammelt hatte.
»Vater«, sagte ich, »schau!« Ich deutete mit der freien Hand auf den aufgeblähten Kadaver eines kleinen schwarzen Hundes, der auf dem Rücken trieb, die Beine senkrecht in die Luft gestreckt, als wären sie von ihren Segeln beraubte Masten, die immer noch hofften, Wind zu fangen. Derselbe Wind zerrte an meinem Haar, das sich aus den Bändern gelöst hatte und mir in dicken Strähnen um das Gesicht blies. Der geblähte Kadaver wurde nur ein paar Zentimeter von mir von einem Strudel ergriffen, drehte sich kurz um die eigene Achse, um dann rasch von der Strömung weitergerissen zu werden. Ich hoffte, dass der Anblick der toten Kreatur meinen Vater zum Nachgeben brächte – sonst war er immer bewegt angesichts des Todes, egal ob dem eines Menschen oder Tiers.
»Bitte verlang nicht von mir, dass ich den Kopf in dieses Wasser tauche, Vater. Bitte.« Aufgeweichte Maiskolben trieben an mir vorbei, und ein langes Stück fadenscheinigen schwarzen Stoffs, bestimmt der verloren gegangene Turban eines Sikhs, klatschte gegen meinen Rock, der sich um meine Beine blähte wie ein brauner Champignon. Eine Sekunde später wurde auch der schwarze Stoff fortgerissen und floss eilig hinter dem toten Hund her, als wollte er ihn verfolgen.
Ich zog meinen Arm zurück und setzte eine flehende Miene auf, doch mein Vater umfasste umso entschlossener mein Handgelenk. Mein Vater, der immer so mild, oft auch abwesend war. Selig, die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben. Aber an diesem Tag war nichts Sanftmütiges an meinem Vater. Seine Hand schloss sich wie eine Handschelle um mein Handgelenk, kalt und unbarmherzig. Wie hatte meine Mutter ihn nur dazu gebracht, ihre lächerliche Forderung in die Tat umzusetzen?
»Vater«, sagte ich erneut, »warum machst du das?« Ich hatte ihm dieselbe Frage bereits zweimal gestellt, während ich hinter ihm herstolperte. Er hatte nicht geantwortet. Doch diesmal blinzelte er hektisch, so wie er es immer tat, wenn er erstaunt oder wütend war. Als er endlich sprach, war seine sonst so sanfte Stimme rau.
»Deine Mutter hat dich gesehen«, sagte er, »mit Darshan und Jafar.
»Und wenn schon?«, erwiderte ich. Darshan und Jafar waren die Söhne von Sanosh, unserem Koch. Sie wohnten in dem benachbarten Dorf Tek Mandi, kamen aber häufig zur Mission, um ihren Vater zu besuchen. Darshan war zwei Jahre älter, sein Bruder ein Jahr jünger als ich. »Vater, was ist so schlimm daran?«
»Sie sagt ... sie sagt, sie hat gesehen, wie du ...« Er ließ den Satz unbeendet.
»Was hat sie gesehen?« Meine Stimme klang nun ebenso rau wie die meines Vaters. »Ich habe nur mit ihnen gesprochen, habe sie gefragt, wie es in Tek Mandi geht, mich nach ihrem letzten Kricketspiel erkundigt und nach der bevorstehenden Hochzeit ihrer Schwester.« Ich musste gegen den Wind und das Rauschen des Flusses anschreien, damit mein Vater mich verstand. »Und dann haben sie eine Partie goli gespielt; ich habe ihnen dabei zugesehen. Jafar hat alle Murmeln von Darshan eingeheimst. Ich habe nichts Unrechtes getan, Vater.«
»Ich würde dir gern glauben, Pree«, sagte er und blickte über die Schulter zurück zum Ufer, wo meine Mutter stand. Sie hob das Kinn, und wieder sah ich, wie seine Augenlider flatterten. Dann packte er mich mit der anderen Hand im Genick und drückte mein Gesicht langsam nach unten.
Zu meiner Angst gesellte sich der Schock – Unglauben darüber, dass er mir dies tatsächlich antat. Dennoch besaß ich die Geistesgegenwart, gerade noch rechtzeitig die Augen fest zuzumachen und noch einmal tief Atem zu holen. Dann presste ich die Lippen zusammen und hielt die Luft an. Das Wasser fühlte sich ölig an.
Mein Vater hielt mich nur für wenige Sekunden unter Wasser, dann ließ er mich wieder hochkommen. »Widersagst du dem Satan und nimmst den Namen des Herrn in dein Herz?«
Ich öffnete den Mund, um zu sagen: Ja, ja, das tue ich, in der gleichen reflexartigen Weise, wie ich während unserer Morgengebete Vaters Worte echote und Amen sagte.
Doch als meine Lippen sich öffneten, rann mir Wasser in den Mund, und ich nahm den abgestandenen brackigen Geschmack des Flusswassers wahr, und plötzlich wurde mir bewusst, dass es tote Lebewesen und allerlei Abfall mit sich führte, und ich zögerte.
»Nun komm schon, Pree«, sagte mein Vater, »sag es. Jetzt. Es wird gleich regnen.«
Ich starrte in sein hageres Gesicht, sah, wie blass die Haut um seine Nase herum geworden war. Seine wohlgeformten Lippen waren bläulich unter dem sandfarbenen Schnurrbart. In seinen Augen war kein Grün, sie waren braun und schlammig wie der Fluss und ließen kein Mitleid erkennen.
Ließ ich denn den Herrn in mein Herz hinein? Wollte ich das wirklich? Während ich noch schwieg, öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regen ergoss sich über uns wie aus riesigen Kübeln.
War dies die Antwort, auf die ich instinktiv gewartet hatte?
Der Regen trommelte mit aller Kraft auf die Wasseroberfläche und brannte auf meinem Gesicht. Während ich bis zur Taille im Wasser stand und mich mein Vater weiter festhielt, blickte ich zum Ufer, wo die Menschen aus der Mission versammelt waren. Sicher hatten sie verfolgt, wie mich mein Vater vom Hof über die abgeernteten Felder hinter sich herzog.
Glory, die ayah meiner Mutter, trat ans Ufer, den dunkelblauen Schal über Nase und Mund gezogen. Sanosh folgte ihr; er hielt etwas in der Hand, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Schließlich kam auch Pavit, unser Leprakranker, in großem Abstand hinter den anderen her. Er schleppte sich mühsam auf seinen in Lappen gehüllten Füßen voran, während er sich mit seinen verkrüppelten Händen auf zwei knorrige Mangoholzstöcke stützte. Normalerweise wagte er sich bei Regen nicht hinaus; nun würden sich seine Binden mit Wasser voll saugen und gewechselt werden müssen.
Meine Mutter stand an der Spitze dieser kleinen, verlorenen Ansammlung, die Arme matt herabhängend, während ihr ihr Haar in wilden orangefarbenen Strähnen ins Gesicht hing. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, die Schulter gegen den erbarmungslosen Regen hochgezogen.
Und dann sah ich Kai, der etwas abseits stand, die Arme über der Brust verschränkt. Der weiße dhoti und das Hemd klebten ihm an Hüfte und Brust, und sein dickes schwarzes Haar haftete an seinem Schädel. Auch aus der Entfernung erkannte ich ihn an seinen breiten Schultern, der Art, wie er das Kinn hob. Er stand aufrecht, unbeweglich und beobachtete uns ausdruckslos wie eine Hindu-Statue, der Wind und Regen nichts anhaben konnten.
Kai. Ich hatte ihn seit drei Tagen nicht gesehen. Und nun war er hier, um Zeuge dieses unwürdigen Schauspiels zu werden. Beschämt schloss ich die Augen.
»Pree«, sagte mein Vater wieder im gleichen gequälten Tonfall wie zuvor, und ich öffnete die Augen, um seinen Blick zu erwidern. »Pree, du sollst den Namen des Herrn in dein Herz nehmen.«
Ich schüttelte den Kopf, die Lippen aufeinandergepresst.
»Du wagst es, mir die Stirn zu bieten? Widersage dem Satan. Nimm den Herrn Jesus Christus als deinen ewigen Erlöser an. Sag es, sag, dass du den Herrn Jesus Christus in dein Herz nimmst. Sag es!«, verlangte er. Er musste die Stimme erheben, um gegen das Prasseln des Regens anzukommen. »Sag es, damit ich deiner Mutter mitteilen kann, dass du bereut hast.«
»Nein, das werde ich nicht!«, schrie ich, und meine Worte wurden über meinen Kopf hinweg flussabwärts getragen. »Ich habe nichts zu bereuen.« Was natürlich eine glatte Lüge war; ich kannte meine vielen Sünden sehr wohl. »Du kannst mich nicht dazu zwingen. Du kannst niemanden dazu zwingen, sich der Taufe zu unterziehen, Vater. Ich bin kein Säugling mehr.« Ich schrie noch lauter. »Als ich ein Baby war, konntest du mich taufen. Aber jetzt bin ich alt genug, um selbst zu wählen. Es ist meine Entscheidung. Nicht deine. Und vor allem nicht Mutters.«
Er starrte mich verwirrt an, um dann wieder einen Blick zum Ufer zu werfen. Ich folgte ihm mit den Augen: Meine Mutter näherte sich der Böschung; ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie eine Hand hob, wie um zu fragen, warum mein Vater sie ansah und was genau vor sich ging. Der Regen peitschte nun von der Seite; ich wusste, dass es meine Schuld sein würde, wenn ihre Gelenke heute Nacht schmerzten.
»Du wirst es sagen, Pree.« Sein Gesicht war dem meinen jetzt so nah, dass er die Stimme nicht mehr erheben musste. Ich roch Kreuzkümmel. Ich wusste, dass ich ihn vor den anderen bloßstellte, wusste, dass ich nur dieses simple Wort zu sagen brauchte. Ja. Das war alles. Ja, Vater. Aber ich konnte nicht. Mir wurde klar, dass ich nicht daran glaubte. Ich glaubte nicht, dass ich Jesus in mein Herz nehmen konnte; ich wollte Ihn dort nicht. Ich wollte der alleinige Besitzer meines Herzens sein. Hatte ich das schon immer gewusst, oder war diese Erkenntnis unvermittelt über mich gekommen, so wie der Regen plötzlich auf mich herabprasselte, unbeirrbar und rasend schnell, in seinem trommelnden Rhythmus?
Während mein Vater seine eine Hand wieder um meinen Nacken und Hals schloss – ich spürte den Druck auf dem Kehlkopf und rang nach Atem –, löste er die andere Hand von meinem Handgelenk, legte sie flach auf meine Brust und drückte mich mit aller Kraft rücklings ins Wasser. Wegen des Drucks seiner Finger auf meinem Hals und weil ich so schockiert war angesichts seiner Hand auf meinen Brüsten, besaß ich nicht die Geistesgegenwart, noch einmal Luft zu holen, ehe ich mit dem Gesicht untertauchte. Er hielt mich lange unter Wasser, und ich hatte das Gefühl, als ob meine Brust zerspringen wollte; Wasserblasen stiegen von meiner Nase auf. Ich wedelte mit den Armen, und meine Finger versuchten den Saum seiner durchweichten Jacke zu fassen, aber meine verzweifelten Versuche, mich zu befreien, waren vergeblich.
Als mich mein Vater endlich wieder hochzog, die Hand von meiner Brust nahm und der Druck seiner Finger an meinem Hals nachließ, keuchte ich und spie Wasser. Seine Augenlider flatterten, und ich dachte, es sei wegen des heftigen Regens. Doch dann sah ich, wie sich seine Augen nach oben drehten – er hatte einen seiner Brustkrämpfe. Nur noch das mit Äderchen durchzogene Weiß seiner Augen war zu erkennen und der untere sichelförmige Rand seiner braunen Iris. Dann erschauerte er, und die Augäpfel rollten wieder in die normale Position. Er sagte nichts, sondern blickte mich nur mit einem Ausdruck an, den ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte, so als wäre ich eine Fremde und nicht sein eigenes Kind.
Ich starrte ihn fassungslos an, ehe ich wieder und wieder unter Wasser getaucht wurde.
Jedes Mal hielt er mich länger unter Wasser, und als ich nach dem fünften oder sechsten Mal wieder an die Luft kam, hörte ich jemanden schreien. War es meine Mutter? Es war eine dünne, ferne Stimme, wie durch dichte Wolle gedämpft, und sie rief mich. Nur dass sie nicht Pree schrie, sondern einen anderen Namen, der ähnlich klang, aber ich erkannte ihn trotzdem als meinen. Wieder tauchte ich in das schwarze wirbelnde Wasser, und diesmal explodierte meine Stirn in einem gewaltigen Schmerz, wie ich ihn nie zuvor verspürt hatte.
Und dann ... war alles rot. Sara lal hai, sara lal hai. Alles ist rot. Die Hindi-Worte drangen in derselben von dichter Wolle gedämpften Stimme in mein Bewusstsein wie mein zuvor gerufener Name.
Alles ist rot.
Die Hände meines Vaters gaben mich frei, und ich begriff in dumpfer Verwirrung, dass ich noch immer unter Wasser trieb, während der Strom an mir sog und mich mit sich riss. Warum stand ich nicht auf oder hob den Kopf über Wasser? Stattdessen sank ich tiefer, von meinen schweren Röcken und Petticoats und Stiefeln hinabgezogen, die wie Blei an mir hingen. Unter mir fühlte ich die schwammige Weichheit des Schlamms; ich wusste, dass ich am Boden des Flusses dahinglitt, und dennoch war die Panik von zuvor verschwunden. Ich konnte mich sehen, wie ich friedlich im Wasser trieb, die Haare wie ein Seestern oder wie die Schlangen der Medusa um meinen Kopf.
Das Rot explodierte noch greller als zuvor.
Ich war ein Spiralnebel, aus dem im nächsten Moment Abertausende neuer Sterne entstehen würden; ich war eine leuchtende Flamme, eines der Lichter, die zu Ehren von diwali, dem Lichterfest, entzündet werden. Ich war ein farbenprächtiger Drachen, der während des Basant-Fests über die Dächer von Lahore flog und dessen Leine wie scharfes Glas in der Sonne glänzte. Ein Teil von allem, von Erde und Himmel, wirbelte ich immer schneller und funkensprühend dahin, zusehends außer Kontrolle geratend. Ein pulsierendes Tosen dröhnte mir in den Ohren.
Ich sterbe, dachte ich, aber es war ein seltsam beglückendes Gefühl. Mein atma war nur eine von unzähligen Seelen, ein Geist am Rad des Karmas, darauf wartend, wiedergeboren zu werden.
Nie zuvor hatte ich mich so rein gefühlt.
Und dann wurde ich mit einem jähen, schockierenden Rauschen vom Himmel heruntergezerrt, während das Glitzern meines Glases im Bruchteil einer Sekunde erlosch. Ein Stich der Enttäuschung durchfuhr mich, weil man mich dieses wunderbaren Augenblicks beraubte. Doch ehe ich mich weiter meiner Trauer hingeben konnte, spürte ich, wie eine Faust mir auf den Rücken klopfte. Mein Mund öffnete sich, zunächst tonlos, dann keuchend, als ich Luft in meine Lungen pumpte. Vergeblich versuchte ich die Augen aufzuschlagen. Meine Lungen brannten jetzt, als würden sie von glühenden Scherben geritzt, und ich würgte und spie, als hätte ich den halben Ravi verschluckt. Währenddessen zog dieselbe Hand, die mir soeben noch auf den Rücken geklopft hatte, an meinem Kinn, sodass sich mein Kopf zur Seite drehte. Jetzt erbrach ich in hustenden, würgenden Kaskaden das Flusswasser. Und als nur noch ein Rinnsal aus meiner Kehle drang, wurde ich hochgehoben. Der Regen trommelte mir ins Gesicht.
Die rüttelnde Bewegung, mit der mein Kopf an einer festen Brust auf und ab wippte, brachte den Bruchteil einer weit entfernten, vergessenen Erinnerung zurück. Sara lal hai.
Alles ist rot.
Meine Mutter beugte sich über mich und versuchte, mein Mieder aufzuknöpfen, aber ihre Finger fühlten sich riesig und klobig an, als sie an den kleinen Fischbeinknöpfen herumfummelte, und ich stieß ihre Hand weg.
»Nun komm schon, Pree. Steh auf, und zieh die nassen Sachen aus.«
Ich bemühte mich, den Blick auf ihr Gesicht zu heften, und hielt den Atem an, als ich den üblen Geruch wahrnahm, den ihr faulendes Zahnfleisch absonderte. Ich lag auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, und meine Finger fühlten etwas Ungewohntes. Jemand hatte eine gewebte Matte über das Leintuch gebreitet, um die Matratze vor meiner durchnässten Kleidung zu schützen.
»Was hat dich nur davon abgehalten, den Herrn in dein Herz zu lassen?«, fragte meine Mutter und trat zurück, während sie sich wie fast immer ein Taschentuch gegen die Lippen presste. über der fleckigen weißen Baumwolle sah ich ihre Augen im schummrigen Licht der Lampe funkeln.
Es war dunkel geworden – war es Abend, oder blendeten die schweren Regenwolken einfach nur das Tageslicht aus? Wie viel Zeit war vergangen seit dem Vorkommnis am Fluss? Die Petroleumlampe hing von einem Haken an der Wand über meinem Bett und schwang leicht in der feuchten, kühlen Luft, die durch die Fensterläden drang. Die Flamme flackerte.
Ich hörte den Regen, der nicht mehr so wütete wie zuvor.
»Pree? Warum hast du nicht getan, wie dein Vater dir geheißen hat? Antworte mir.«
Lange Haarsträhnen klebten mir an Kinn und Hals, und ich hob matt die Hand, um sie zurückzustreichen; dabei schob ich abermals die Hand meiner Mutter weg, die sich wieder an den Knöpfen meines Mieders zu schaffen machen wollte. Wieder trat sie zurück und tastete nach dem Rohrstuhl neben dem Bett. Die dünnen Stuhlbeine ächzten, als sie sich setzte. Mein Schweigen erstaunte meine Mutter offensichtlich. Sonst hatte ich immer eine rasche – und oft scharfe – Antwort auf ihre Fragen und Anweisungen parat.
»Eine Menge Inder und viele Mischlinge nehmen den christlichen Glauben an, sie werden davon angelockt wie Wespen von Zuckerwasser », sagte sie in die Stille hinein, »und du – die Tochter eines Pfarrers der Kirche von England – weigerst dich, dem Herrn dein Herz zu öffnen!« Sie starrte auf mich herab.
Noch immer schwieg ich. Sie hatte gelogen; ich wusste, dass es nur selten echte, freiwillige Konversion bei den Eingeborenen gab, zumindest was die Bemühungen meines Vaters betraf. Die flackernde Flamme warf tanzende Schatten auf die rauen Wände, deren weißer Verputz abblätterte. Der Rhythmus erinnerte mich an den brutalen Tanz, der zu Ehren Kalis, der Göttin des Todes, aufgeführt wurde. Im Jahr zuvor hatte ich in Lahore gesehen, wie ein Anhänger des Kults, in dessen Rücken unzählige Haken steckten, wild herumwirbelte. Sein Gesicht hatte einen glückseligen Ausdruck, während er über den Köpfen der Zuschauer auf der Bühne seinen Tanz aufführte und die Haken sein Fleisch in scharfe geometrische Formen zerfetzte – Dreiecke, zeltförmige Figuren und Pyramiden. Ich erinnerte mich daran, dass ich dachte, sein Fleisch hätte sich in etwas anderes verwandelt: in eine geschmeidige, beliebig verformbare Materie. Schockiert und gleichzeitig wie gebannt hatte ich dagestanden, unfähig, den Blick von dem Gesicht des Mannes abzuwenden. Seine Lippen waren in einem stummen Schrei geöffnet, und doch waren seine wie Kristall glitzernden Augen voller Freude, so als wären sie Zeugen einer Herrlichkeit, die der Menge verborgen blieb.
Ich machte die Augen fest zu. Der Anhänger des Kali-Kults, der seinen Körper verstümmelte, die nackten Sadhus, die jeglichem weltlichen Besitz entsagten und sich langsam zu Tode hungerten, die Christen, die den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden – all das Leiden der Menschen für ihren Glauben und ihre spirituelle Vervollkommnung wirbelte durch meinen Kopf.
Ich wollte dieses Leiden nicht. Auch wenn meine Eltern Missionare waren, wollte ich nicht in den Grenzen einer Religion gefangen sein, gezwungen, ihren Glauben zu übernehmen, nur weil ich ihre Tochter war. Ich war erst fünfzehn, und dennoch wollte ich die Freiheit haben, selbst zu entscheiden.
Als ich die Augen wieder aufschlug, bewegte sich meine Mutter und verdeckte die Schatten des sich in Ekstase befindenden Hindus. Ich blinzelte.
»Nun? Was hast du als Entschuldigung vorzubringen, Pree? Es wäre alles nicht geschehen, wenn du deinem Vater die gebührende Antwort auf seine Frage gegeben hättest. Ich bin furchtbar verzweifelt wegen dir. Warum bist du nur so dickköpfig und versperrst dich gegen die Wege des Herrn?«
Noch immer starrte ich die Wand an. »Ich weiß nicht, Mutter«, sagte ich ruhig. Vielleicht hatte ich meine ganze Energie verbraucht. Tatsächlich war ich vom Kämpfen schrecklich müde. Nicht nur von dem Kampf, der sich an diesem Tag ereignet hatte, sondern von dem schon so lange andauernden zähen Kampf zwischen meiner Mutter und mir, zwischen dem Herrn und mir.
Und ich war nicht nur müde, sondern auch aufgewühlt, zutiefst bestürzt über die Tatsache, dass mein Vater den unsinnigen Forderungen meiner Mutter Folge geleistet und mich auf solch beängstigende Weise behandelt hatte. Ich konnte das Bild seiner windgepeitschten Erscheinung, den Ausdruck von Verwirrung und rasendem Zorn auf seinem sonst so friedlichen Gesicht nicht aus meinen Gedanken verbannen.
Zwar hatte ich ein paar Mal erlebt, wie er wütend geworden war – immer dann, wenn er versucht hatte, Misshandlungen von Menschen oder Tieren zu verhindern –, aber nie hatte er selbst jemanden misshandelt. Auch wenn er bei verschiedenen Gelegenheiten mit meinem Verhalten unzufrieden gewesen war, so war es stets meine Mutter, die mich mit harter Hand und mit dem Stock bestrafte und mich anschließend in die Abstellkammer sperrte. Die einzige Reaktion meines Vaters auf meine Mätzchen, wie er mein Verhalten nannte, war ein langer,. sorgenvoller Blick und die üblichen Fragen, auf die ich die gewünschten Antworten geben musste.
»Wohin kommen die Sünder, Pree?«
»›Hinabfahren müssen die Frevler zum Totenreich, alle Heiden, die Gott vergessen‹, Vater, Psalm 9, Vers 18.«
»Und, Pree, wie kannst du der Hölle entkommen?«
»›Glaube an Jesus den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus‹, Vater, Apostelgeschichte 16, Vers 31.«
Dann nickte er und wandte sich zufrieden ab.
Bereits im Alter von zehn Jahren war mir klar geworden, dass mein Vater zwar ein freundlicher und gutwilliger Mann war, aber einen schwachen Charakter hatte. Er ließ sich von meiner Mutter herumkommandieren. Er schaffte es nicht, sich gegenüber Glory und Sanosh, unseren beiden Dienern, Respekt zu verschaffen. Sogar Marta, unser Wasserbüffel, senkte störrisch den Kopf, wenn er sie vor den Wagen spannen wollte. Auch hatte mein Vater keinerlei geistigen Einfluss auf die Eingeborenen, die in unsere Krankenmission kamen, um sich medizinisch versorgen zu lassen. So weit ich mich erinnerte, war es ihm nur in einem Fall gelungen, jemanden zum Christentum zu bekehren: im Falle von Pavit. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Vater, abgesehen von den Bibellesungen und den morgendlichen Gebeten, recht wenig über religiöse Dinge sprach. Er erledigte seine Arbeit auf der Krankenstation, half allen, die ihn aufsuchten, so gut es ging. Aber er zeigte keinerlei Bestreben mehr, ihnen das Evangelium nahezubringen, ja, er schien jedes Interesse daran verloren zu haben.
Nein, in unserer Familie lag alle Macht bei meiner Mutter, sie war der starke Elternteil, war diejenige, die wieder und wieder von mir verlangte, dass ich Passagen aus der Heiligen Schrift vorsagte, damit sie sich vergewissern konnte, dass sie fest in meinem Kopf verankert waren. Als Frau eines Pfarrers hätte sie selbst in der Lage sein sollen, die gängigen Texte aus der Bibel aufzusagen, doch mir fiel immer öfter auf, dass es ihr zusehends Schwierigkeiten bereitete, Bibelverse zu erinnern, und das ärgerte sie.
Überhaupt war sie voller Ärger: über die Säuglingsgräber hinter der Mission, die Ameisen im Mehl, die fortschreitende Fäulnis an den Wänden, ihre angeschlagene Gesundheit. Und natürlich darüber, dass es ihr nicht gelang, mich zu der jungen Frau zu machen, die sie gern in mir gesehen hätte.
Ich war Zeugin ihres Ärgers, und weil ich jung war, auch sein Opfer. Lange hatte ich mich gar nicht bemüht, es zu verstehen, sondern es einfach akzeptiert, wie ein Kind so manches akzeptiert. Aber diese Zeit war vorbei, und ich wollte ihr nicht länger erlauben, mich so zu behandeln, wie sie meinen Vater und die anderen Missionsangehörigen behandelte. Es war nicht meine Schuld, dass sie hierhergekommen war, in diese elende, heruntergekommene Mission an einer staubigen, schmalen Landstraße, die von der Grand Trunk Road abzweigte, einer der ältesten Fernstraßen Asiens. Ich hatte sie nicht dazu gebracht, sich für ein Leben in frommer Armut zu entscheiden. Ich war nicht verantwortlich für ihre Misere. Und ich würde mich nicht verantwortlich machen lassen.
Meine Mutter war groß, fast so groß wie mein Vater, und grobknochig, mit knubbeligen Handgelenken und Schlüsselbeinen. Ihre großen Hände waren immer rot. Ihr dichtes, gelocktes Haar, das einst leuchtend orange war, hatte einen ausgeblichenen Ingwerton angenommen und fiel ihr strähnig über Gesicht und Schultern. Im Gegensatz zu meinem Vater und trotz des roten Haars neigte ihre Haut nicht zu Sonnenbrand, und selten trug sie eine Kopfbedeckung. Sie war mit Sommersprossen übersät, die nach jahrelanger Einwirkung der unbarmherzigen indischen Sonne ineinanderzulaufen schienen, sodass ihre Haut dunkel und fleckig wirkte. Für gewöhnlich trug sie ein Kleid aus schlaffer, zerknitterter Baumwolle ohne Mieder und ohne jede Verzierung, es hatte nicht einmal einen Spitzenbesatz am Kragen. Wenn sie in der Krankenstation arbeitete, knöpfte sie häufig den Kragen und die Ärmelbündchen auf; manchmal rollte sie die Ärmel sogar hoch und entblößte ihre sehnigen, fleckigen Unterarme und Handgelenke. Einmal hörte ich, wie mein Vater sie deshalb leise rügte.
»Mutter?«, sagte er. Er nannte sie immer Mutter, wenn wir allein waren, und Mrs Fincastle in Gegenwart anderer, auch wenn es sich nur um Eingeborene handelte, die kein Englisch verstanden. Er warf einen verstohlenen Blick zum Eingang und wies mit einem Nicken zu den beiden Hindus – einer hinkend und der andere ihn stützend –, die auf der Veranda standen. »Deine Ärmel«, sagte er in ruhigem, festem Ton.
Sie hob das Kinn. »Wir sind hier nicht in einem Salon in London, wenn ich dich daran erinnern darf, Reverend.« Sie nannte ihn fast immer Reverend – Pfarrer –, egal ob sie allein waren oder in der Öffentlichkeit. »Ich werde meine Ärmel hochrollen, wann es mir beliebt.«
So liefen die Gespräche zwischen meinen Eltern meist ab: Er bat um etwas, und sie versagte es ihm.
Doch trotz des mangelnden Respekts, den meine Mutter meinem Vater entgegenbrachte, suchte sie doch ständig das Gespräch mit ihm. Stets wollte sie mit ihm über ihre Gesundheitsprobleme reden. Immerzu forderte sie seine Aufmerksamkeit diesbezüglich, lechzte nach seinem Mitgefühl. Ihre Gesundheit war ihr Lieblingsthema; sie betonte, dass es ihr nicht gut gehe, weil sie unter den schrecklichen Lebensumständen in Indien leide. Sie zog Fälle aus dem Patientenbuch der Krankenstation heran, um darzulegen, dass sie unter ähnlichen Symptomen wie die entsprechenden Patienten litt und sich mit einer bestimmten Krankheit angesteckt hatte; manchmal versuchte sie auch, meinen Vater zu überzeugen, dass er sie zur Ader ließ oder ihr einen Einlauf machte.
Doch auf ihre inständigen Bitten schüttelte er immer nur den Kopf, offensichtlich bestürzt über ihre permanenten Forderungen nach invasiven Maßnahmen, um ihren Körper von diversen Giften zu befreien. Und obwohl er ihr immer wieder sagte, sie solle keine weiteren Medikamente einnehmen, trank sie regelmäßig flüssiges Kalomel. Als ich ein paar Jahre zuvor meinen Vater gefragt hatte, was das für ein Mittel sei, hatte er mir erklärt, dass es sich um eine weißliche Mixtur aus Quecksilber und Chlor handele. Er schüttelte den Kopf und blickte mit grimmiger Miene auf das Maisfeld, das sich hinter dem Haus erstreckte. »Ich kann ihr noch so sehr davon abraten, sie ist fest davon überzeugt, dass es sie vor vielen Krankheiten verschont oder sie von denjenigen heilt, an denen zu leiden sie sich einbildet. Seit ich es nicht mehr bestelle, bezieht sie es von jemandem in Lahore. Ich habe keine Ahnung, woher sie es bekommt und wo sie es aufbewahrt.«
Sein in die Ferne gerichteter Blick kehrte zu mir zurück, und er sah mich an. »Dieses Mittel hat auch ihr Zahnfleisch zerstört.«
Bis dahin hatte ich gedacht, dass es sich bei Mutters Problem ganz einfach um faulende Zähne und eine Zahnfleischerkrankung handelte; ich hatte unzählige Fälle dieses Leidens auf der Krankenstation gesehen. Aber nun erfuhr ich, dass ihre Mundkrankheit von ihrem allzu langen Kalomel-Konsum kam – was zu überhöhtem Speichelfluss führte. Deshalb hielt sie immer ein Taschentuch an die Lippen – um den Speichel wegzuwischen, der ihr permanent aus dem Mund lief. Aber sie tat es auch aus Eitelkeit, um ihr allmählich verfaulendes Zahnfleisch zu verbergen. Manchmal blutete es, ihre Zähne waren braun und weich, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie herausfallen würden. Wegen all dem hatte sie starken Mundgeruch, der Geruch nach verrottendem Fleisch. Oft hatte ich mich diesem heißen, stinkenden Atem ausgesetzt gefühlt, manchmal auch ihrem schäumenden Speichel, der sich wie ein Regen auf mein Gesicht ergoss, wenn meine Mutter mich packte und mich zu ihr hinzog, um mich wegen irgendeines Ungehorsams zu maßregeln.
»Wird ihr Mund noch schlimmer werden?«, fragte ich meinen Vater.
Er nickte. »Ja. Und es kann auch ...« Er unterbrach sich und wandte den Blick ab.
»Es kann auch ... was?«, fragte ich, aber er wollte nicht weiter darüber sprechen.
Als ich mich in jener Nacht an seinen Blick erinnerte, ging ich mit einer Kerze in der Hand in die Krankenstation, wo in einer langen Reihe seine zerfledderten medizinischen Bücher standen. Schließlich fand ich, wonach ich suchte, in Buchans Domestic Medicin – einen Abschnitt über die Eigenschaften und die Wirkung von Kalomel. Ich zog die Kerze näher heran und begann zu lesen. In dem medizinischen Handbuch stand, dass Kalomel als Heilmittel bei Cholera eingesetzt wird und dass es reinigende Wirkung hat, dass es aber nur in geringen Dosen und nur für kurze Zeit eingenommen werden sollte, weil es ansonsten die Mundschleimhaut schädigt.
Doch eine weitere Entdeckung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, und ich verstand, warum mein Vater es nicht fertiggebracht hatte, darüber zu reden: Das in Kalomel enthaltene Quecksilber kann das Gehirn angreifen, sodass es zum schleichenden Wahnsinn führt.
Während ich in meiner nassen Kleidung auf dem Bett lag, war mein Kampfgeist gänzlich aus mir gewichen. An jenem besonders stürmischen Abend, als der Monsunregen über die Ebenen von Nordindien fegte, hatte ich keine Energie mehr, um mit meiner Mutter zu kämpfen. Gewiss war meine ungekannte Lethargie die unmittelbare Folge des Martyriums, das ich am Nachmittag erlitten hatte.
Doch als Folge meiner körperlichen und psychischen Erschöpfung verspürte ich einen Anflug von Verständnis für die Unzufriedenheit meiner Mutter. Fühlte sie sich immer so, wie ich mich jetzt fühlte? Ich sah sie an; sie betrachtete mich mit einem seltsamen, fast ein wenig besorgten Ausdruck.
»Du weißt nicht, warum du dem Herrn nicht Einlass in dein Herz gewähren kannst? Du weißt es wirklich nicht? Du, die Tochter von Missionaren, die in einem gottesfürchtigen Heim groß geworden ist, das dem Herrn stets höchste Ehre erwiesen hat, du weißt nicht, warum du nicht so fühlst, wie dein Vater und ich fühlen?«
»Ja. Ich weiß es nicht.« Mit einem Mal wurde ich doch ärgerlich – nein, wütend –, weil sie nach allem, was ich mitgemacht hatte, noch immer nicht aufhörte, in mich zu dringen. Ich spürte, wie die alte Kraft wieder in mir erwachte, und setzte mich im Bett auf. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es nicht. Ich kann es einfach nicht, Mutter.« Meine Stimme hatte sich bedrohlich erhoben, während ich sie anstarrte. Ich wusste, sie erkannte, dass ich die Wahrheit sprach, denn ihr Blick wurde mit einem Mal scharf und gleichzeitig kummervoll, und das ließ mich nur stärker werden. Ich empfand wohl sogar ein seltsames, wenngleich schuldbewusstes Vergnügen daran, Zeugin ihrer Bestürzung zu werden.
»Wie hat Vater mich nur so grausam behandeln können?«, fragte ich noch lauter. »Ums Haar wäre ich ertrunken.« Ich bemühte mich, entrüstet zu klingen. Doch möglicherweise hörte ich mich nur launisch an. Ich knöpfte mein Mieder auf und schälte mich aus dem Oberteil meines Kleids.
Meine Mutter stand vom Stuhl auf, und wieder knarrte das trockene Holz, ein Geräusch, das sich wie ein spitzer Schrei der Erleichterung anhörte. Die Schultern hochgezogen, drehte sie sich mit steifer Bewegung um, um mir nicht beim Entkleiden zuzusehen. »Also wirklich, Pree. Dir mangelt es einfach an Bescheidenheit.«
Ich hatte mich gerade meines nassen Petticoats entledigen wollen und hielt inne, während mir die seltsame Bemerkung meines Vaters in den Sinn kam, die er über Darshan und Jafar gemacht hatte. »Was hast du Vater eigentlich erzählt, was ich angeblich mit Sanoshs Jungs unternommen habe?«, fragte ich. »Welche Lügen hast du ersonnen, um ihn zu dieser Taufe zu überreden?«