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© Schafgans DGPh 2017
Winrich C.-W. Clasen, Jahrgang 1955, Studium der Romanistik, Evangelischen Theologie und Kunstgeschichte in Bonn; Verleger in Rheinbach. Seit 2011 schreibt er unter dem Pseudonym Paul Schaffrath Kriminalromane. Der Nebel von Avignon ist sein vierter Roman.
Der Nebel von Avignon
Provence-Krimi
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Lektorat: Clemens Wojaczek, Rheinbach
Vorangestelltes Zitat aus:
Georges Brassens, Chansons. Das Gesamtwerk,
Übertragen von Gisbert Haefs, Frankfurt am Main 1996, S. 286f.
Umschlagfotos (Haus in Caromb / Vaucluse; 2014):
Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach;
Flaschenhals mit Scherben auf Wein, 2017; fotolia
Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg
978-3-87062-280-0 Paperback
978-3-87062-290-9 epub
978-3-87062-291-6 mobi
eBook-Erstellung:
BookDesigns, Potsdam
20171202
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C’est pas seulement à Paris
Que le crime fleurit,
Nous, au village, aussi, l’on a
De beaux assassinats.
Feine Verbrechen – sie gedeihn
nicht in Paris allein.
Auch hier in unserm kleinen Ort
gibt’s manchen schönen Mord.
Georges Brassens
Inhalt
Die Hauptpersonen
Die tote Ratte
Das Geräusch von brechenden Zweigen
Der feine Geruch nach Hopfen im Süden
Draußen ist drinnen
Die Farben des Dufts
Ein Weinhändler mit klebrigen Händen
Die Schmerzen der Beine beim Meditieren
Tausende von Flaschenetiketten
Die schlammige Straße
Zur Sauberkeit von Füßen
Wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen
Die Behandlung dissoziativer Identitätsstörungen
Das Dorf in Brandenburg
Der Geisterseher
Das Drei-Körper-Problem
Schildkröten und Hasen
Drei Farben: Schwarz, Weiß und Rot
Die Vorteile sozialer Netzwerke
Über die Zugehörigkeit zu einer Klasse
Bed & Breakfast in Frankreich
Wein aus Pappbechern
Der längste 200-Meter-Lauf
Leidenschaft hat eine Form
Überstürz nichts bei der Liebe
Die tiefere Wahrheit von Gästebüchern
Rochade
Die Entwirrung des doppelten Spierenstichs
Wind, Sand und Sterne
Alles fließt und nichts bleibt
Anmerkungen zur Entstehung von Wolken
Auf einen Kaffee mit Pascal Dupont
Eigentumsverhältnisse in französischen Herrenhäusern
Ein Uhr mittags
An den Herden der Welt, heute: Die Provence
Nachbemerkungen
Die Hauptpersonen
Krüger (51 J.), Erster Kriminalhauptkommissar – entwirrt ein französisches Knäuel
Carmen Rasche (43 J.), Universitätssekretärin – wendet ihre Fremdsprachenkenntnisse an
Markus Schneider (42 J.), Kriminalhauptkommissar – wird in den Urlaub geschickt
Soufian Merad (46 J.), Lastwagenfahrer – fährt zu schnell
Adil Merad (17 J.), Sohn – rächt seine Mutter
Didier Cain (30 J.), Facharbeiter – will einen Blick verkaufen
Alphonse Cain (32 J.), Automechaniker – will ein Grundstück unbedingt behalten
Bertrand Bonnefoy (53 J.), Untersuchungsrichter – arbeitet mit Touristen zusammen
Pascal Dupont (35 J.), Capitaine der Gendarmerie – hört auf die Stimme seines Herrn
Jane & Ethan G. Grosse, Ehepaar – bewohnen ein altes Haus
Élodie Marin (31 J.), Grafikerin – strebt nicht nur auf dem Papier neue Verbindungen an
Philippe Papineschi, Weinhändler – lebt bis zum letzten Tropfen
Alain Schwartz (53 J.), Wirt – laviert am Rande der Pleite
Mireille Dubois (56 J.), Wäscherin – hält sich knapp über Wasser
Frédéric de la Tour (39 J.), Hotelbesitzer – sitzt immer am Empfang
Zeit: eine Woche im Herbst 2015
Schauplätze: Malaucène / Vaucluse, Villeneuve-lès-Avignon / Gard und andere Orte in der Provence
Die tote Ratte
Montagmorgen. Soufian Merad stand verzweifelt mit beiden Füßen auf der Bremse. Sein Mercedes-Lastzug brach nach links aus, mähte eine kleine Mauer um, die parallel zu einem noch ausgetrockneten Bachbett verlief, und wurde erst durch einen großen Baum in seiner Fahrt gestoppt. Fast in Zeitlupe kippte er um.
Einen Moment war es still. Dann brach das Inferno los. Eine Stichflamme schoß aus der Fahrerkabine und versengte das, was an Ästen des großen Baumes vor dem Fahrzeug noch übrig war. Ein dumpfer Knall folgte, und der Lkw fing an zu brennen, gefolgt von einer Explosion, die die Fahrerkabine wegkatapultierte. Dann löste sich wie von Geisterhand ein Teil des großen Tanks, in dem die Fracht transportiert worden war, und der gesamte Inhalt ergoß sich auf den Waldboden. Ein eigenartiger, süßlicher Geruch lag in der Luft, als der blaue Citroën der Gendarmerie kurz vor der Unfallstelle mit quietschenden Reifen zum Stehen kam.
Der Tag im Hafen von Marseille hatte schon schlecht begonnen. Montagmorgen, natürlich. Als er von der Fähre herunterfuhr, die zweiundzwanzig Stunden zuvor Algier verlassen hatte, hatte sein Lastzug einen Platten, was bei den dicken Reifen relativ selten vorkam. An Land mußte er einen zehn Zentimeter langen Stahlnagel mit der Kneifzange herausziehen und mit einem Kollegen zusammen dann den Reifen wechseln, was ewig dauerte. Bevor er wieder ins Führerhaus stieg, trat er auf eine halb verweste Ratte. Er war unempfindlich, was Tiere im Allgemeinen anging, gleichgültig, ob sie nun lebendig oder, wie in diesem Falle, tot waren. Aber eine tote Ratte? Seit dem Mittelalter hatten sich die Menschen vor ihnen gefürchtet – zu Recht, als man endlich wußte, wie die Pest übertragen wurde. Es schüttelte ihn tatsächlich. Sicherheitshalber bekreuzigte sich Merad, bevor er den Motor anließ, auch wenn das Kreuz eigentlich zu einer anderen Sekte gehörte.
Bei der Mautstation vor der A7 nach Norden funktionierte die Kreditkarte nicht, die ihm sein Chef mit der Bemerkung mitgegeben hatte, er solle sie sinnvoll einsetzen. Wahrscheinlich hieß das nur, daß er horizontal zu lagernde Frauen selbst entlohnen sollte.
Zu allem Überfluß mußte er dann noch bei Lançon de Provence tanken, da irgendein Idiot in Algerien den Lastzug mit fast leerem Tank auf dem Hof der Firma abgestellt hatte. Merad fluchte.
Zumindest das Wetter war gut. Auf die Provence war eben Verlaß; ob Juli oder Dezember – in der Regel schien die Sonne. Und in diesem Oktober 2015 war es nicht mehr ganz so heiß. Als ob ihm Hitze etwas ausmachen würde. Aber er war nicht mehr in Algerien geboren worden, wo es so heiß werden konnte, daß eine kühle Brise vom Meer wie eine Verheißung des Paradieses empfunden wurde. Noch im Krieg war seine Familie nach Aix-en-Provence geflüchtet, wo er 1969 zur Welt gekommen war. Dennoch hatte es ihn immer wieder zurück in die alte Heimat auf der anderen Seite des großen Meeres gezogen, in der man sich wieder sicherer bewegen konnte, nachdem auch die 1961 gegründete OAS in die Geschichte eingegangen war. Einige wenige Angehörige dieser französischen Untergrundorganisation lebten noch; wenn man ihnen begegnete, neigten sie dazu, mit ihren Erlebnissen zu prahlen. Einmal war es ihm jedenfalls so ergangen.
Obwohl Merad einen französischen Paß besaß, fühlte er sich nur zum Teil als Angehöriger der grande nation. Seine Haut war relativ dunkel, und er war nicht sonderlich groß, was ihm schon zu Schulzeiten den Spitznamen Die Ratte eingetragen hatte. Jetzt, da immer mehr Flüchtlinge ihren Weg nach Europa fanden, mußte er ständig seinen Ausweis vorzeigen. Die Zeiten änderten sich zu rasch. Bei der letzten Tour vor vierzehn Tagen hatte er sich bei einer Routinekontrolle einige deutliche Worte der Gendarmerie zu »Syrern, Afrikanern und sonstigen Arabern« anhören müssen, ehe er seinem Unmut mit einigen deftigen Argot-Worten Luft verschafft hatte, was den Polizisten erst verblüfft und dann erfreulicherweise zum Lachen gebracht hatte.
Merad steuerte den Mercedes-Lastzug zurück auf die Autobahn. Wie immer hielt sich der Verkehr in Grenzen; eine Maut hatte eben auch Vorteile, vor allem, wenn man sie nicht selbst zu bezahlen hatte. Viele seiner Kollegen umgingen die Gebühr und fuhren lieber die meist parallel zur Autobahn verlaufende Route nationale. Aber Autobahn ging eben schneller.
Zwanzig Minuten später war Merads Laune endgültig in den Keller gerutscht. Eigentlich hätte er nur noch eine Stunde Fahrt vor sich gehabt, bis er seine Ladung in Châteauneuf-du-Pape abliefern konnte. Aber jetzt war die Autoroute du Soleil gesperrt. Wahrscheinlich war es wieder ein größerer Steinschlag hinter Orgon oder irgendein blöder Unfall.
Der Mercedes-Lastzug verließ bei Sénas die Autobahn.
Merad überlegte. Wenn er auf der Landstraße nach Norden weiterfuhr, gab es wahrscheinlich spätestens auf der Höhe von Cavaillon einen großen Stau, weil seine Kollegen auf die gleiche Idee gekommen waren. Wenn er jedoch über die Alpilles fuhr, kostete ihn das locker eine Dreiviertelstunde mehr. Andererseits war die Strecke über die kleine Bergkette bei Les Baux-de-Provence reizvoll und nicht von Verkehrskameras getrübt. Entschlossen bog er daher wenig später auf die D 569 ab. Gut, kam er eben später in Châteauneuf an.
Wie mochten wohl Urlauber die inzwischen totfotografierte Gegend sehen? Merad erinnerte sich an die ersten Rucksacktouristen, die in den Siebzigern in Frankreichs Süden aufgetaucht waren, in der Regel auf der Durchreise an die Côte d’Azur, wo sie dann »am Strand von St. Tropez inmitten von Zigarettenkippen bekifft einschlafen« würden. So hatte es jedenfalls seine ältere Schwester ausgedrückt. Er war damals noch zu klein für Drogen gewesen. Aber schon damals hatte er nicht verstanden, warum man in der Mittagshitze mit schweren Säcken auf dem Rücken herumlaufen mußte.
Beim ersten Mal hatte er das verlassene Dorf von Les Baux-de-Provence noch nett gefunden, sehr malerisch, und man hatte von dort einen schönen Blick in die Ebene. Aber er war wohl mehr ein Mann der Straße; unterwegs zu sein, war für ihn immer interessanter gewesen, als irgendwo anzukommen.
Bei Roquemartine war die D 25, auf der er inzwischen fuhr, so schmal geworden, daß Merad den Lastzug deutlich verlangsamen mußte, um im Falle eines Falles – falls ein Fahrzeug ihm entgegenkommen würde – auf den unbefestigten Randstreifen ausweichen zu können. Aber bis auf einen alten Traktor mit einem noch älteren Bauern am Steuer war ihm bislang niemand begegnet. Er gab wieder Gas.
Der Lastzug raste die einspurige Straße hinunter. Würde jetzt jemand dem Fahrer begegnen, hätte er keine Chance. Merad grinste. Seit er diese Strecke fuhr, war alles gut gegangen. Jedes Mal hatte er eine Wette mit sich selbst abgeschlossen, jedes Mal mit einem anderen Gewinn, und jedes Mal hatte er gewonnen. Bestimmt war das heute genauso.
Was könnte er sich denn heute als Wettgewinn ausmalen? Ein Wochenende mit Madeleine, seiner aktuellen Freundin – ohne Telefon, damit ihn der Chef nicht wieder störte, um ihn zu einer dämlichen Fahrt wie dieser hier zu überreden. Immerhin brachte die Unternehmung Geld, etwas mehr als üblich, damit er nicht darüber redete.
Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als der nicht zurückgeschnittene dicke Ast einer Kiefer, die zu dicht an der Straße stand, gegen das Führerhaus schlug. Die Vegetation wurde spärlicher, während sich die hier fast schnurgerade verlaufende Nebenstraße den Berg zur Rechten langsam hochtastete. Einmal mußte er scharf bremsen, weil der letzte Regen Geröll auf die Straße gespült hatte. Auch sein Laster hätte hier leicht ins Rutschen geraten können.
Plötzlich tauchte hinter einer leichten Kurve ein Auto der Gendarmerie auf. Der blaue Citroën C4 war fast schräg den Berghang hinauf abgestellt; sein Blaulicht auf dem Dach war eingeschaltet. Zu sehen war niemand.
Merad hatte automatisch gebremst, fuhr nun aber mit normaler Geschwindigkeit weiter. Vielleicht hatten sich nur irgendwelche ferienwütigen Ausländer verlaufen.
Gleich würde die kleine S-Kurve kommen, zuerst nach rechts, dann nach links, dann wieder geradeaus, gefolgt von weiteren kleinen Kurven, die man gut fahren konnte, wenn man die Strecke kannte.
Merad überlegte. Das hier war seine zwölfte Fahrt nach Châteauneuf-du-Pape, die dritte in diesem Jahr. Bei den beiden vorangegangenen hatte er problemlos die Autobahn nutzen können. Im letzten Jahr war das anders gewesen; da war er vom Pech verfolgt und hatte bei den Fahrten jedes Mal, aber auch wirklich jedes Mal den Umweg über die Alpilles nehmen müssen.
Sei’s drum. Wenn er das Gaspedal ein bißchen stärker hinunterdrückte, würde er einen Großteil der Zeit wieder hereinholen.
Aus einem Waldweg bog plötzlich ein weiteres Fahrzeug der Gendarmerie auf die Straße. Merad konnte noch rechtzeitig ausweichen und ließ mehrfach die kraftvolle Hupe des Lkws ertönen. Der Mercedes war leicht ins Schlingern geraten, was Merad einige hundert Meter weiter aber längst korrigiert hatte. Er fluchte erneut. Was hatten die verdammten flics auch hier zu suchen!
Die schmale Straße ging in eine weitere Rechtskurve über. Zu spät sah Merad die Absperrung mitten auf dem Asphalt. Hinter den Baken war eine große Kiefer auf die Fahrbahn gekippt. Er hätte doch langsamer fahren müssen; man wußte nie, was hinter der nächsten Kurve kam. Wie auch sonst im Leben.
Das Geräusch von brechenden Zweigen
Montagvormittag. Krüger schaute dem englischen Oldtimer hinterher, bis er in der Kurve, die die Avenue de Verdun stadtauswärts nahm, verschwunden war. Für Oktober war das Wetter mehr als ordentlich: Er saß bei strahlendem Sonnenschein und 25° im Schatten vor »Le Blueberry« und wartete auf den bestellten Perroquet, zu dem ihn Carmen überredet hatte. »Wenn du schon vormittags mit Alkohol anfangen willst, wie die anderen Touristen – der gemeine Franzose als solcher trinkt ja erst abends, und dann nur Rotwein –, dann nimm wenigstens die Sorte Pastis, die man hier trinkt«, hatte sie gesagt.
Was auch immer das sein mochte.
Krüger sah sich um. Der Ort war doch ganz nett; er kam natürlich nicht an Oxford heran, aber immerhin … Schräg gegenüber lag ein kleiner Supermarkt, dessen Betrieb sich anscheinend lohnte, wenn die große Kette SUPER U hier eine Filiale unterhielt. Ein paar Andenkenläden mit den üblichen Geschenken – jedenfalls konnte er Cadeaux entziffern –, Restaurants, die man in den kommenden Ferientagen vielleicht noch ausprobieren konnte, und ein Blumenladen machten es den Touristen leicht, hier ihre Zeit herumzubringen. Vor allem mit Nichtstun durch Sitzen am Straßenrand bei kühlen Getränken. Außerdem konnte man darüber sinnieren, was Menschen dazu trieb, sich in enge Klamotten mit Werbeaufdruck zu zwängen, dann in glühender Hitze auf einem Rennrad mit siebenundachtzig Gängen herumzufahren, die sechzehnhundert Höhenmeter zum Mont Ventoux hinauf zu überwinden und den dadurch in Schieflage geratenen Flüssigkeitshaushalt des Körpers anschließend durch Hinzufügen von reichlich Alkohol – schließlich befand man sich in einem Zentrum der französischen Weinwirtschaft – wieder auszugleichen. Rennräder gab es hier wirklich genug; für die Fahrradliebhaber wurden immerhin vier Geschäfte betrieben.
Die Kellnerin kam und stellte ein kleines Tablett auf den wackligen Tisch. Ein einzelnes Glas mit einer grünen Flüssigkeit stand darauf.
»Voilà, M’sieur«, sagte die junge Frau und ging wieder nach drinnen hinter die große Theke.
Krüger betrachtete das Getränk mißtrauisch. Die Farbe sah eher nach der eines Toilettenreinigers aus, und der Inhalt schmeckte wahrscheinlich auch so. Er nahm das Glas in die Hand und roch vorsichtig daran. Etwas chemisch. Oder so.
»Na, Herr Kommissar? Was machst du denn für ein Gesicht?«
Carmen setzte sich neben ihn, so daß beide auf die »Brasserie Chez Soi« auf der anderen Straßenseite sehen konnten, deren Terrasse trotz der vormittäglichen Tageszeit ebenfalls schon gut besucht war.
»Ein echtes Ale wäre mir jetzt lieber«, brummelte Krüger.
»Da mußt du wahrscheinlich lange für suchen«, sagte Carmen. »Das bekommst du nur in deinen englischen Kneipen, nicht hier im tiefen Süden Frankreichs, in der Provinz.«
»Das ist ja eben das Problem.« Er seufzte. Warum nur hatte er sich von seiner Freundin überreden lassen, seine kostbaren Ferien in der Provence, in der Nähe von Avignon, zu verbringen? Krüger war in Hamburg geboren worden, wie sein Vater; er war also geborener Hamburger und nicht bloß gebürtiger wie jemand, der zufällig dort auf die Welt gekommen war und dessen Vater von woanders stammte. Alles südlich der Elbe war ihm eigentlich suspekt, und daß er seit fast zwanzig Jahren im Bonner Polizeipräsidium arbeitete, war mehr dem Zufall als eigener Absicht zu verdanken.
»Gefällt es dir hier überhaupt nicht?« Etwas wie Traurigkeit huschte über ihr Gesicht.
»Ach, weißt du«, begann Krüger. »Zuletzt war ich vor zehn Jahren hier unten, aber noch weiter, am Mittelmeer, in der Camargue. Das ist ja einmal ganz nett, aber zweimal … Irgendwie kennt man dann alles schon.« Er verstummte. Das hatte etwas lahm geklungen.
»Was meinst du mit alles?«
Gleich kam der strenge Lehrerinnenblick, wenn man unpräzise antwortete. Krüger fand es immer wieder erstaunlich, welche Autorität seine hübsche Freundin mit ihren dunklen Locken und der schlanken Figur nur dadurch ausstrahlte, daß sie vorhanden war und Wohlwollen oder Mißbilligung durch millimetergroße Bewegungen ihrer Augenbrauen ausdrücken konnte.
Er sah sich um. »Was verbindet man denn schon mit Südfrankreich? Platanen, unter denen man im Schatten sitzt und sich von der Mittagshitze erholt. Haben wir; die stehen da hinten.« Er zeigte die Straße hinauf, in der eben der crèmefarbene englische MG aus den dreißiger Jahren verschwunden war. »Weiter diese Stoffmuster, mit denen du mich jagen kannst, für Tischtücher, Schürzen, Topflappen, was weiß ich. Auch vorhanden.« Er zeigte auf die kleine Tischdecke, auf der sein Glas stand; schwarze Oliven und die dazugehörigen Zweige mit grünen Blättern waren zu sehen. »Außerdem die bunte Keramik für Müslischalen in allen Größen. Alles nur Klischees. Und blaugestrichene Fensterläden, deren Fotos später Buchcover von irgendwelchen blöden Provence-Krimis zieren. Haben wir gestern zu Genüge in der Altstadt gesehen.« Er deutete hinter sich. »Baguette bis zum Abwinken nicht zu vergessen. Guck dich nur mal um.« Gerade kam eine alte Frau mit drei Baguettestangen vorbei, die wie üblich in ein kleines Stück Papier, das mit Tesafilm zusammengehalten wurde, eingeschlagen waren. »Es gibt hier im Umkreis von zweihundert Metern vier oder fünf Bäckereien, keine zweihundert Meter auseinander. Alle Franzosen essen das Gleiche.«
»Schmeckt dir das etwa nicht?«
»Rotwein – habe ich noch vergessen«, murmelte der Kommissar, schwieg dann aber, als er einen warnenden Blick seiner Freundin auffing.
Carmen kannte Krügers Laune zur Genüge, die wie eine Schlechtwetterfront langsam aufzog und von der man nie sagen konnte, wie lange sie blieb. Allerdings tauchte sie meist nur dann auf, wenn der Kommissar sich in einen aktuellen Fall verbissen hatte und mit seinen Ermittlungen nicht weiterkam. Aber jetzt, in den Ferien?
»Doch, schon. Aber warum hast du ausgerechnet Malaucène ausgesucht, right in the middle of nowhere?«
Jetzt protestierte Carmen doch energisch. »Wir. Wir haben das ausgesucht. Ich habe es nur vorgeschlagen. Und in der Pampa liegt das nun beileibe nicht. Vaison-la-Romaine, wo schon die Römer vor zweitausend Jahren waren, ist nur einen Katzensprung entfernt. Und die Städtchen an der Rhône …«
»Die Römer sind aber rechtzeitig wieder abgezogen«, grummelte Krüger. »Können wir ja auch noch machen.«
»Kannst du machen«, fauchte Carmen. »Eigentlich wollte ich mich erholen und nicht streiten.«
Krüger bereute sofort seine Bemerkungen. »Tut mir leid. Immer nach England zu fahren, wird ja auch irgendwann langweilig. Aber du kennst mich doch – nur herumzusitzen und nichts zu tun …«
»Kannst du doch sehr gut. Wenn ich an unsere Romreise vor ein paar Jahren erinnern darf: Da hast du immer in irgendwelchen Gärten gesessen und gelesen. Und nicht an deinen Beruf gedacht.«
»Wenigstens gab es da noch diesen betrügerischen Amerikaner mit den gelben Socken, dem wir schließlich das Handwerk …« Er verstummte.
»Vielleicht taucht ja auch hier noch irgendein Schurke auf, den du dann festnehmen kannst.« Jetzt lächelte Carmen endlich, und die kleinen Grübchen, die Krüger so sehr mochte, waren auch wieder vorhanden.
Er nahm das Glas in die Hand und probierte vorsichtig. »Hhm. Das schmeckt ja doch gut. Woher kennst du das?«
»Och, aus einem früheren Leben.« Carmen warf ihre dunklen Locken in den Nacken. »Ziemlich früher.«
Krüger hatte sich nie für das Vorleben seiner Freundin interessiert. Vergangenheit war Vergangenheit und ging ihn nichts an. »Nicht aus einem Cocktail-Buch?«
Carmen lachte. »Ich lese keine Physikbücher, die sich mit Mischungsverhältnissen von Flüssigkeiten und darüber hinaus noch mit Prozentrechnung befassen.«
Krüger grinste und sah sich wieder um. »Eigentlich ist es doch ganz schön hier, oder?«
Seine Freundin nickte. »Nichts zu tun ist eine wunderbare Tätigkeit. Hat schon fast etwas Zen-Mäßiges. Weißt du, diese Ruhe, wenn man eines dieser buddhistischen Rätsel lösen muß.«
»Koan«, sagte der Kommissar.
»Sag ich doch«, sagte Carmen. »So ähnlich, wie wenn der Meister zum Schüler sagt: Wie geht die Bewegung des Nichtstuns?«
Krüger gluckste. »Wunderbar. Und der Schüler grübelt über der Antwort, bis er alt und weise ist.« Er überlegte. »Oder: Wie klingt der Laut eines brechenden Zweiges?«
»Du meinst das Geräusch einer klatschenden Hand.«
»Nee, nee, Zweig, Ast, Stock, so ein ganz morscher, wenn er knackt.«
»Das hat aber mit Buddhismus nichts mehr zu tun.«
»Hat es auch nicht. Fiel mir nur gerade so ein. Stammt aus der Polizeischule und dient dazu, Schußgeräusche bei einer Vernehmung genauer zu beschreiben. Analog kann man auch – also ohne das Schreien des Verletzten – das Reißen einer Achillessehne nehmen, das ähnlich laut wie–«
»Schalte doch mal ab, Krüger. Wenigstens einmal. Nur diesen Urlaub!« Carmen sah ihn bittend an.
»Okay.« Er griff zu seinem Glas und nahm einen weiteren Schluck. »Höchst erfrischend. Was ist das überhaupt?«
»Anisschnaps. Außerdem Eiswürfel, Wasser und zum Schluß etwas Minzsirup. Dann verfärbt sich das Eiswasser nach dem Eingießen des gelben Anis milchig-weiß und wird nach Hinzufügung der Minze schließlich grün. Die Farben eines Papageis, verstehst du. Perroquet.«
»Danke, Frau Lehrerin. Woher kannst du eigentlich so gut Französisch? Das meine ist leider ziemlich eingerostet.«
»Zuerst Schule«, sagte Carmen. »Dann Uni. Schließlich Urlaubsfahrten nach Frankreich. Ziemlich viele.«
»Muß ich nicht wissen«, sagte Krüger.
»Aber in Malaucène bin ich wirklich zum ersten Mal. Mit dir.« Sie streichelte seinen Arm.
Beide schwiegen.
Als ob die Götter den kleinen Moment der Zweisamkeit unterstreichen wollten, war es plötzlich überall ruhig. Kein Auto war zu hören. Die unermüdlichen Radfahrer waren verschwunden, ebenso die Passanten. Die, die in den Bars und Cafés saßen, schwiegen und bewegten sich nicht. Fast schien es, als habe jemand einen Schalter mit der Aufschrift Ruhe umgelegt.
Dann brach irgendwo ein Ast.
Und noch einer.
Und noch einer.
Und ein letzter.
Totenstille.
Zehn Minuten später war am Eingang zur Altstadt die Hölle los. Mehrere Polizeiwagen der Gendarmerie standen auf dem Cours des Isnards vor dem Anfang der Rue Cabanette, einer davon direkt vor Krügers Tisch. Der Kommissar war ruhig sitzengeblieben und hatte nur mehrfach zu seinem Getränk gegriffen. Carmen hatte sich an ihrem Tee verschluckt und hustete in ein Papiertaschentuch. Schließlich fragte sie: »Das waren doch Schüsse, oder?«
Krüger nickte. »Ich bin zwar im Urlaub, aber immer im Dienst: Vier, glaube ich. Irgendetwas Kleinkalibriges, klang fast nach einer Damenpistole.«
»Was sind das denn jetzt wieder für Vorurteile? Nur weil die meisten von uns kleiner sind als die Herren der Schöpfung, heißt das nicht, daß unsere Waffen automatisch leiser sind.«
»Mit den Waffeln der Frauen …«, murmelte er fast unhörbar, hatte aber wie immer in solchen Fällen Carmens scharfe Ohren unterschätzt. Statt einer Entgegnung kam ein Stoß per Ellenbogen.
»Sorry, Ma’am«, sagte Krüger automatisch.
Auf der Straße hatten sich inzwischen Passanten zusammengefunden, die in Gruppen aufgeregt diskutierten. Wahrscheinlich waren sie nur von der Präsenz der Polizeifahrzeuge angelockt worden. Wissen konnten sie noch nichts über ein mögliches kriminelles Geschehen im Gassengewirr des alten Malaucène, dachte der Bonner Ermittler. Ein bißchen neugierig war er ja selbst, gestand er sich ein.
Plötzlich kamen aus Richtung der alten Kirche, die am Ortsausgang nach Les Barroux lag, zwei Gestalten angelaufen. Auf Höhe des Fahrradladens schräg gegenüber sprangen sie in einen im Halteverbot abgestellten SUV, drehten mitten auf der Straße, nicht ohne zwei Frauen zur Seite zu hupen, und verschwanden mit quietschenden Reifen in der Avenue du Maquis in Richtung des Mont Ventoux. Die Falschparker hatten wohl die plötzliche Polizeipräsenz bemerkt.
»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Krüger zu Carmen und zeigte auf das davonbrausende Fahrzeug. »Sonst hätte es ein Knöllchen gegeben.«
Wie aus dem Nichts hatte sich ein stämmiger Polizist vor Krüger aufgebaut. Ohne Begrüßung sagte er auf Französisch: »Haben Sie was gesehen?«
»Nicht sehr präzise«, sagte Carmen leise.
Krüger stand auf. »Krüger, et vous?«
»Monsieur le commissaire Krüger«, sagte Carmen und stand ebenfalls auf.
Der Mann nahm tatsächlich Haltung an. »Pascal Dupont, Gendarmerie, Vaison-la-Romaine.«
Das hatte selbst Krüger verstanden, sonst hätte Carmen übersetzen müssen. Anscheinend gab es keinen auswärtigen Dialekt in Europa, den sie nicht beherrschte. Er suchte seine ziemlich in Vergessenheit geratenen Kenntnisse der französischen Sprache zusammen und sagte: »Non.«
Dupont sah ihn irritiert an. »Quoi, non?«
Krüger warf Carmen einen Blick zu. »Erklär ihm mal, daß wir harmlose Touristen sind und allenfalls etwas gehört haben, nämlich vier Schüsse.«
Die daraufhin zwischen dem Polizisten und Carmen geführte Unterhaltung führte zum raschen Abzug von Dupont.
Krüger setzte sich wieder. »Alles habe ich ja doch nicht verstanden. Was hast du denn gesagt?«
»Daß wir Touristen sind, du außer Dienst bist und vier Schüsse die Stille zerrissen haben.«
»Oha. So lyrisch?«
»Das mögen die Franzosen doch sehr, seit Jules Vernes Zeiten.« Carmen grinste.
»Und dann noch ohne Konjunktiv.«
»Den Konjunktiv bei indirekter Rede habe ich weggelassen; der Mann hat mich auch so verstanden.«
»Hat ihm das gereicht?«
»Hat es. Er käme allerdings noch mal auf dich zurück, da ein urlaubender Kommissar als Augenzeuge immer noch besser sei als jeder andere Ausländer.«
»Wunderbar. Der Mann hat gar keine Vorurteile. Hat er denn auch gesagt, was passiert ist?«
»Hat er.« Carmen führte das inzwischen abgekühlte Teeglas – die deutsche Unsitte, Tee im Glas zu servieren, hatte anscheinend ihren Weg in den Süden gefunden – zum Mund und trank.
Krüger lächelte in sich hinein. Spannung auch in Alltagsgesprächen war immer gut.
Schließlich setzte seine Freundin das Glas wieder ab und sagte: »Dupont sagte, ein Mann von der anderen Seite der Rhône sei erschossen worden. Es habe nach einer regelrechten Hinrichtung ausgesehen.«
Der feine Geruch nach Hopfen im Süden
Dienstagvormittag. Der kleine Ort auf der anderen Seite der Rhône mit etwas mehr als zehntausend Einwohnern hatte eine bewegte Geschichte hinter sich. Immer wieder hatte er versucht, sich aus dem Schatten von Avignon zu erheben, hatte mal dem aktuellen König Unterschlupf gewährt, häufiger von der katholischen Kirche durch Gewährung von Privilegien profitiert und immer den örtlichen Bauleuten viel Geld bezahlt. Aber zu mehr als zu einem Annex der ehemaligen Papststadt hatte er es nicht gebracht, was sogar in seinem Namen zum Ausdruck kam: eine Neustadt, durch Bindestriche und Brücken mit Avignon verbunden, Villeneuve-lès-Avignon.
Markus Schneider ließ den Reiseführer wieder sinken. Ein merkwürdiger Schreibstil. Statt nüchtern zu berichten und dem Leser das Urteil zu überlassen, hatte der Autor Partei für Avignon, die ohnehin überlaufene »Hauptstadt« des Departements Vaucluse, ergriffen und den viel hübscheren und stilleren Ort gegenüber im Departement Gard heruntergemacht.
Er warf das Buch in den Papierkorb und verließ sein Hotelzimmer. Was Lene wohl machte? Seine Frau war mit den Kindern zuhause in Bonn-Beuel geblieben und hatte ihn ermuntert, eine Woche alleine zu verreisen, »um mal wieder aufzutanken«. Wahrscheinlich hieß das nur, daß er nach seiner Rückkehr etwas mehr im Haushalt eingespannt werden sollte, was ja als solches nicht schlecht war und was er auch gerne machte, was aber eben nicht immer ging, wenn Ermittlungsarbeit dazwischenkam, die sich nie an Bürozeiten hielt. Kriminalhauptkommissar war eigentlich ein Fulltime-Job für Singles.
Vor dem Hotel blieb er stehen und studierte die Fassade des »L’Atelier«, eines ehemaligen Bürgerhauses aus dem 16. Jahrhundert mit zwei Stockwerken und hellblau gestrichenen Fensterläden. Noch schöner war aber der wunderbare, mit Wein und Efeu bewachsene Innenhof, der am frühen Morgen und am Spätnachmittag, wenn die Sonne wieder Schatten zuließ, zum Faulenzen einlud.
Er schnupperte. Gab es einen typischen Geruch von Frankreichs Süden? Irgendwie ein leichter Wind, Kornfelder, etwas Lavendel, überreife Weintrauben? Hier roch es nur nach Staub. Wann es wohl zuletzt geregnet hatte? Und wieviel Geld gab man im Süden zur Wässerung der Gärten aus?
Irgendwo dudelte Musik. Auch hier hatte leider der angelsächsische Einheitspop im Viervierteltakt mit stets zu lautem Baß Einzug gehalten. Die Zeit französischer Chansons war wohl lange vorbei. Joe Dassins Sommerhit L’été indien lief neben vielen anderen großartigen Liedern auf allen Radiostationen, als Schneider gerade fünf Jahre alt geworden war. Diese Art Musik hatte er dann mit fünfzehn für sich entdeckt. Das war noch Musik gewesen.
Er überlegte. Was konnte er heute unternehmen? Das Wetter war zu schön, um es mit Museumsbesuchen zu konterkarieren. Das ehemalige Kloster der Kartäuserinnen wollte er sich für einen Nachmittag aufsparen. Für Weinproben war es noch zu früh. Er beschloß, etwas für seine Gesundheit zu tun und einen Spaziergang durch Villeneuve-lès-Avignon zu unternehmen.
Eine Stunde später hatte Schneider genug. Eigentlich war sein heutiges Ziel, das Fort St. André, eine wuchtige mittelalterliche Festung aus dem vierzehnten Jahrhundert, die auf dem kleinen Berg oberhalb des Ortes thronte, von überall zu sehen; jetzt hatte er es aber aus den Augen verloren. Außerdem schwitzte er, was in Deutschland im Oktober sicher ungewöhnlich war, hier aber an der Tagesordnung. Oder sollte er dem Klimawechsel die Schuld in die Schuhe schieben? Aber wahrscheinlich war es in der Provence schon immer warm gewesen. Kein Wunder, daß sich schon die Römer hier wohlgefühlt hatten.
Die Bürgersteige gaben zusätzliche Hitze ab, was Schneider, der seine Lederjacke mitgenommen hatte, allmählich zu ärgern begann. Vielleicht hätte er doch nach England fahren sollen, da gab es wenigstens überall Schatten.
Außerdem hatte er Durst, was für jemanden, der nicht wie jeder Zwanzigjährige den ganzen Tag eine Wasserflasche mit sich herumschleppte, zu einem Problem zu werden begann.
Er sah sich um. Kein Restaurant in Sicht, kein Café, nichts. Doch, halt! Da hinten. Er kniff die Augen zusammen. Bar Tabac war an einer Straßenecke auf einem kleinen Schild zu lesen.
Als Schneider näherkam, wurde er unsicher. Das sah ganz nach einem längst geschlossenen Familienbetrieb aus, der nur zur Aufbesserung der schmalen Rente der Großmutter und für die Nachbarschaft als Treffpunkt hatte dienen sollen. Er wollte schon kehrtmachen, als ein älterer Mann aus dem Eingang trat. Die hängenden bunten Plastikstreifen über die gesamte Breite der Tür schienen noch aus den Siebzigern zu stammen.
»You want Pastis?« fragte er auf Englisch mit dem üblichen französischen Akzent des Südens.
Schneider beschloß, ihn zu verblüffen. Seine Mutter war Halbfranzösin gewesen und in St. Malo aufgewachsen; ihr italienischer Vater war im Zweiten Weltkrieg dort hängengeblieben. Im Rheinland hatte es seine Mutter jedoch nicht lange ausgehalten; ihr französisch-italienisches Temperament kam mit dem eines gutmütigen, aber langweiligen Kölners nicht zurecht. Schneider erinnerte sich noch an die vielen Streitigkeiten seiner Eltern. Als er volljährig geworden war, war seine Mutter ausgezogen und nach St. Malo zurückgegangen. Tant pis.
In seinem besten Französisch sagte Schneider: »Sehr gerne. Noch lieber allerdings hätte ich ein kühles Bier.«
Der Franzose guckte ob des verwendeten Idioms erfreut und hielt die Tür auf, respektive die Plastikstreifen zur Seite.
Schneider trat ein, wobei sich seine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen mußten. Er war in einer einfachen Schänke gelandet mit der für Frankreich und auch viele andere Länder auf der Welt üblichen Ausstattung: eine große Holztheke, ein Regal mit einem Spiegel als Rückwand, auf dessen Brettern Weinflaschen und Gläser standen, die unvermeidliche Kaffeemaschine, hier von Lavazza, und mehrere windschiefe Tische und Stühle davor. Das alte Werbeschild aus Email für Ricard fehlte ebenfalls nicht.
An einem quadratischen Tisch saßen zwei Männer vor ihrem Pastis; ein drittes Glas schien dem Wirt zu gehören, der Schneider bedeutete, sich auf den freien vierten Stuhl zu setzen.
Der Kommissar tat wie geheißen und wollte schon erneut um ein Bier bitten, als der Wirt hinter der Theke bereits eine Art Pilsglas genommen hatte und die gelbe Flüssigkeit aus einer Flasche hineinlaufen ließ. Wahrscheinlich Kronenbourg, dachte Schneider; weiter als bis Flandern waren die französischen Brauereien zwecks Biereinkaufs ja nicht gekommen. Vernünftigerweise sollte man hier Wein trinken, aber das gegen den Durst zu tun, konnte er sich nur schwer vorstellen.
Die beiden Männer am Tisch hatten nur kurz gegrüßt und dann ihr Gespräch wieder aufgenommen. Wenn Schneider den Zusammenhang richtig verstanden hatte, ging es um noch unbebaute Grundstücke in Villeneuve, die sich für den jeweiligen Besitzer als Goldgrube herausgestellt hatten oder es tun würden.
»Stell dir vor«, sagte gerade Mann 1, »das Grundstück gehört dir. Und du kannst es an den Meistbietenden verkaufen.«
»Würde ich aber nicht«, sagte Mann 2. »Das befände sich doch schon seit den Zeiten der Päpste im Besitz unserer Familie.«
»Dann könntest du das Grundstück doch deinen vier Kindern vermachen; Platz genug für vier Häuser wäre ja vorhanden. Nach deren Bau kann man den Papstpalast auch von dort aus sehen, nicht bloß von dir zuhause.«
»Dauernd die Errungenschaften der katholischen Kirche zu betrachten, ist auch langweilig. Das ist doch alles hypothetisch.« Das war Mann 3, der Wirt. Er war an den Tisch getreten und stellte das Bier vor Schneider ab.
Der Kommissar trank in großen Zügen zwei Drittel des Glases aus. Wenn man den Hopfen auch kaum roch, so schmeckte man ihn doch wenigstens einigermaßen. An ein deutsches Pils kam das Getränk allerdings nicht heran.
»Euch gehört das Grundstück aber nicht«, sagte der Wirt gerade. »Das besitzen seit dem Tod des Onkels doch die feindlichen Brüder.«
Schneider horchte auf. Am Rhein gab es in der Nähe von Boppard zwei benachbarte Burgen, die als Die feindlichen Brüder bezeichnet wurden. Die dazugehörige Sage endete, anders als es der Titel nahelegte, mit einem versöhnlichen Schluß. Vielleicht war das hier ja anders. »Mögen Sie einen neugierigen Touristen aufklären?«
Mann 1 betrachtete den Kommissar näher. »Der letzte, der unsere Stadt besucht und so gut Französisch gesprochen hat wie Sie, kam aus Paris und ist später Präsident geworden.«
Der Wirt kannte den Witz schon und verzog keine Miene, als Mann 2 hinzufügte: »Vom Tennisclub in Les Angles um die Ecke.«
Schneider lachte pflichtschuldig und klärte die drei Franzosen über seine Abstammung auf. Dann sagte er: »Also, die feindlichen Brüder.«
»Alphonse und Didier Cain«, sagte der Wirt. »Alphonse ist Automechaniker in einer Werkstatt in Avignon und fährt jeden Tag über die Brücke mit dem Fahrrad dorthin. Didier hat tausend Berufe gehabt, ein unsteter Mensch. Zur Zeit arbeitet er für einen Weinhändler in der Nähe von Châteauneuf.«
»Und worüber haben sich die beiden zerstritten?« fragte Schneider.
»Ach, so dies und das. Dauernd. Schon seit Schulzeiten«, sagte Mann 1.
»Zuletzt haben sie sich wegen des Grundstücks in die Haare gekriegt.« Mann 2 trank einen zu großen Schluck und rülpste dezent.
»Didier wollte verkaufen, Alphonse nicht«, sagte der Wirt. »So einfach ist das. Dann hätte er sich nämlich mit dem Geld zur Ruhe setzen können und nie wieder arbeiten müssen.«
»Soviel sind bei euch die Grundstücke wert?« Schneider staunte.
»Die richtigen«, sagte Mann 1. »Die mit Blick auf den Eiffelturm in Paris, mit Blick auf den alten Hafen in Marseille oder eben mit Blick auf den Papstpalast bei uns.«
Mann 2 pflichtete ihm bei. »Du mußt nur dezent flüstern, Grundstück mit unverbaubarem Blick auf den Palast der Päpste zu verkaufen, dann kannst du dich vor Angeboten aus aller Welt nicht retten. Mindestens die Engländer kaufen hier alles, ohne vorher überhaupt zu gucken, wo das liegt.«
Das übliche Ressentiment der Franzosen gegenüber ihren Brüdern auf der anderen Kanalseite, vermutete Schneider.
»Alphonse reicht aber sein Einkommen – und ein Glas Wein abends bei mir«, fügte der Wirt hinzu. »Ende der Diskussion.«
»Habt ihr eigentlich mitbekommen, daß gestern nachmittag die Polizei bei uns oben war?« fragte Mann 2.
Die anderen drei Herren schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Die haben nach Alphonse gefragt, der in seiner Autowerkstatt nicht zu finden war.« Mann 2 leerte sein Glas. Ein zweiter leiser Rülpser folgte.
Kunstpausen, bei denen Krüger es zur Meisterschaft gebracht hatte, schienen auch außerhalb Deutschlands bekannt zu sein, dachte Schneider. Er tat dem Mann den Gefallen und fragte: »Und?«
»In der Nähe von Vaison ist gestern ein Mann erschossen worden. Es soll sich um Didier handeln.«
Draußen ist drinnen
Dienstagmorgen. Krüger gähnte und reckte sich. Vorsichtig warf er einen Blick auf die Uhr auf dem Nachtisch. Erst halb sieben. Wie lange er wohl Urlaub haben mußte, um nicht zur üblichen Zeit wach zu werden?
Auf der anderen Bettseite drehte Carmen sich im Schlaf und murmelte etwas Unverständliches. Behutsam nahm Krüger ihre Bettdecke und zog sie über ihre nackte Schulter. Dann stand er leise auf und ging eine Stufe tiefer in die Wohnküche, die mit einer großen grünen Anrichte, einer kleinen Küchenzeile und einem Eßtisch für vier Personen ausgestattet war. Die Fenster gingen zur Straße, und wenn die über hundert Jahre alten Platanen nicht zurückgeschnitten waren, was etwa alle vier Jahre geschah, saß man im Grünen. »Rosalie« war schon eine feine Unterkunft, dachte er.
Das Appartement lag im zweiten Stock eines napoleonischen Herrenhauses, nicht weit vom Ortseingang von Malaucène entfernt. Die Besitzer, Jane und Ethan G. Grosse aus London, hatten es vor über zehn Jahren günstig erworben und liebevoll restauriert. Zur Finanzierung hatten sie Ferienwohnungen und Doppelzimmer eingerichtet, die fast das ganze Jahr über – was für die Provence keine Kunst war – vermietet waren. Rechts neben dem Haus gab es eine Baulücke, in der ein moderneres Einfamilienhaus stand; links setzte sich die Häuserreihe fort.
Hinter dem Gebäude erstreckte sich ein großer Garten mit verschiedenen Sitzecken, die von Büschen und Bäumen umgeben waren, so daß die maximal vier Ferienmietparteien sich voneinander ungestört erholen konnten. Die Haustür lag unter einem schmalen Balkon mit einem handgeschmiedeten Eisengitter, und die Fensterläden waren natürlich hellblau gestrichen.
Schon das Treppenhaus des Herrenhauses, das um 1800 von einem General Napoleons für seine Familie gebaut worden war, war liebevoll eingerichtet. Eine Wand neben der großen Treppe zeigte zahlreiche Gemälde mit Frauenporträts, Zeichnungen der Dentelles de Montmirail und Stiche von Malaucène und Umgebung; neben dunkelgrünen Vorhängen vor den Fenstern, die im Sommer Schutz vor der Hitze des Midi boten, stand ein Louis-Quinze-Sessel unter einem barocken Wandspiegel, eine schwere Biedermeier-Kommode machte ihr dunkles Holz durch eine helle Schale mit Früchten wett. Ein wunderbarer Ort für die Ferien, dachte Krüger; schade, daß man zuhause nicht auch so hochherrschaftlich wohnen konnte. Aber dann war das ja nichts Besonderes mehr, was einen aus dem Alltag reißen konnte.
Er überlegte, ob er das Frühstück in den Garten verlegen sollte. Wahrscheinlich war es aber noch zu kühl draußen; immerhin stand Herbst als Jahreszeit auf dem Kalender, und da wurde es erst gegen zehn warm. Der Kommissar bedauerte, daß der wunderbare Jugendstil-Wintergarten des Hauses den Feriengästen wohl versperrt blieb – er wäre ein idealer Ort für ein English Breakfast gewesen –, er konnte aber andererseits gut verstehen, daß die Wirtsleute ihn für sich behalten wollten. Er zog sich leise an, nahm Wohnungs- und Hausschlüssel mit und verließ das Haus, um ein Baguette zu holen.
In Richtung Zentrum kam nach etwa hundert Metern auf der rechten Seite die erste Boulangerie, die schon frühmorgens von den Kunden belagert wurde. Das Fenster zur Backstube war offen; drinnen werkelte ein älterer Mann im Unterhemd, und es roch verführerisch. Deutschland mit seinen verdammten Großbäckereien sollte sich daran mal ein Beispiel nehmen, dachte Krüger. Aber wer stand heutzutage noch morgens um drei auf? Als er den kleinen Verkaufsraum der Bäckerei an der Straßenecke betrat, sprang ihm sofort in dem kleinen Zeitungsständer neben der Verkaufstheke die Überschrift einer der örtlichen Tageszeitungen ins Auge. La Provence hatte die übliche Größe ihrer Hauptschlagzeile wohl nochmal erhöht; quer über die gesamte Seite war zu lesen: Exécution par la Mafia à Malaucène?, was niemand Krüger übersetzen mußte. Zusammen mit einem Baguette, das beim Umgreifen verheißungsvoll knackte, kaufte er das Blatt, um den Artikel zur gestrigen Schießerei später in der Ferienwohnung zu lesen. Für Carmen erstand er noch zwei Croissants und ging zurück.
Als er leise die Wohnungstür aufschloß, zog ihm schon vielversprechender Kaffeeduft entgegen. Seine leise Enttäuschung, Carmen nicht mehr schlafend unter der Bettdecke vorgefunden zu haben, wurde von der Aussicht auf einen weiteren ganzen Tag mit ihr allein mehr als wettgemacht. Ferien waren doch etwas Schönes.
»Soll ich es dir übersetzen?« fragte Carmen und wollte Krüger die Zeitung aus der Hand nehmen.
»Danke, nein; selber lesen macht schlau.«
»Auch, wenn es Ausländisch ist?«
Das Grübchen sah schon verdammt illegal aus und lud zum Küssen ein.
Krüger versuchte, sein Don-Juan-Lächeln aufzusetzen, was ihm aber gründlich mißlang. In den letzten Jahren hatte er es nicht mehr verwenden müssen, da er ja Carmen gefunden hatte beziehungsweise sie ihn, nachdem er ihr vor über fünf Jahren in Bonn fast vor die Füße gefallen war. Er blätterte die Zeitung durch. »Ah, endlich«, sagte er. »Erst auf Seite 4 steht die Fortsetzung der Schlachtzeile von Seite 1.«
Carmen kicherte. »Normalerweise erfinde ich doch die neuen Wörter, oder? Naja, mal darfst du ja auch ’ran.« Sie biß ein großes Stück vom Croissant ab und sagte etwas undeutlich: »Lecker. Man müßte hier leben. Und hier essen. Täglich. Ist sonst noch etwas in der Welt passiert?«
Krüger blätterte die Zeitung durch, bis er eine verständliche Überschrift fand. »Das internationale Geschehen findet erst auf Seite 24 statt.«
»Die Ergebnisse der Boule-Spiele im Altersheim sind eben wichtiger«, sagte seine Freundin.
Der Kommissar hörte aber nicht zu, sondern las konzentriert und berichtete gleichzeitig das Gelesene. Furchtbar viel wußte das Blatt über die gestrige Schießerei aber auch nicht. Der Erschossene war Mitte vierzig, arbeitete als Weinhändler in Châteaurenard und besaß ein Landgut in der Nähe des Pont du Gard.
»Von unserem Reporter vor Ort«, sagte er. »Gaston …«
Carmen lachte. »Wenn er so arbeitet wie sein Namensvetter in den Comics von André Franquin, dann kannst du die Seriosität des Berichts komplett vergessen.«
»Egal. Ich wollte mir nachher mal die Füße vertreten. Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Seine Freundin ahnte schon, was folgen würde: die Besichtigung des Tatorts. Aber vielleicht bliebe dann Krügers Laune über den Rest des Urlaubs durchgehend gut, wenn er endlich wieder ein Rätsel, zumal eines im befreundeten Ausland, zu knacken hätte. »Hat Gaston denn geschrieben, wo das Ganze passiert ist?«
Krüger zuckte zusammen. Auch nach fünf Jahren mit Carmen hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, daß er so leicht zu durchschauen war. Aber er war schon immer ein schlechter Pokerspieler gewesen. Er suchte, bis er den entsprechenden Satz im Zeitungsartikel gefunden hatte. »Nee, da steht nur dans les ruelles étroites de l’ancienne ville.«
»In den engen Gäßchen der alten Stadt – poetisch, aber unpräzise«, sagte Carmen. »Aber du mit deiner Spürnase wirst den Tatort bestimmt sofort finden.«
War das jetzt Scherz, Satire, Ironie oder tiefere Bedeutung? Bei Carmen, der studierten Germanistin, konnte man sich da nie sicher sein, dachte der Kommissar. Außerdem war sie Theologin und wußte über alle letzten Dinge Bescheid – was in einem Mordfall immer sehr nützlich war.
»Dann man los!« sagte Krüger und trat auf die Avenue de Verdun vor dem Haus, nur um sie schräg gegenüber vor der Kirche wieder zu verlassen und durch die Porte Soubeyran daneben in die Altstadt zu gehen. Er schritt so forsch aus, daß Carmen Mühe hatte, ihm zu folgen.
Anscheinend hat er Witterung aufgenommen, dachte sie, zumindest, was den neuen Fall betraf, der ja noch gar keiner war, weil er außer der Zeitungsmeldung noch nichts wußte.
Malaucène war ein typisches Städtchen des Südens, wie man sie zu Hunderten auch in Italien oder in Spanien fand. Irgendwann einmal hatte jemand eine größere oder kleinere Kirche gebaut, um die sich dann rasch in Kreis- oder Ovalform Häuser geschart hatten. Der Durchmesser eines solchen Ortes betrug oft nur wenige hundert Meter. Manchmal gab es statt der Kirche ein kleines Château, das aber genauso oft die Jahrhunderte nicht überlebt hatte und nur noch als Ruine zu besichtigen war. Die Ortskirche lag dann etwas abseits. Im Falle Malaucènes war ein mittelalterlicher Glockenturm noch stehengeblieben und bildete gewissermaßen das Wahrzeichen des Ortes; den Platz des Schlößchens nahm seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein Kalvarienberg ein. Einige Straßen zwischen den Gebäuden waren so eng, daß nur eine Handkarre auf sie paßte. Es gab Passagen, die unter ersten Stockwerken hindurch in die nächste Gasse führten; es gab Brunnen, die in der Neuzeit mit einem eisernen Gitter versehen worden waren, damit niemand versehentlich hineinfiel, und es gab herrschaftliche Häuser, die oft die dreifache Breite einfacherer Behausungen einnahmen, alle mit Fensterläden, die in den verschiedensten Pastellfarben gestrichen worden waren, und manches Mal mit einem großen Tor, das in einen Innenhof führte.
Der örtliche Geschichtsverein hatte erfreulicherweise überall Tafeln aufstellen lassen, auf denen alte Fotos mit Erläuterungen das Städtchen von vor über hundert Jahren zeigten, so daß man den aktuellen Zustand mit dem alten Bild vergleichen konnte. Und überall verliefen Stromleitungen, die meisten ordentlich an den Fassaden befestigt. Manche waren allerdings auch lose – daß sie nicht als Wäscheleine mißbraucht wurden, war erstaunlich, dachte Carmen, als sie mit ihrem Freund die Altstadt durchwanderte. Die meisten Häuser waren hervorragend restauriert, aber es gab immer noch welche unterschiedlichen Verfalls, die laut Schaufenster der Immobilienfirma im Zentrum »käuflich zu erwerben« waren, was für Krüger nicht in Frage kam, allein schon sprachlich nicht: entweder würde er kaufen oder erwerben, aber nicht beides zusammen. Und sollte er tatsächlich mal ins Ausland umziehen müssen, dann nur dorthin, wo fußläufig ein Pub erreichbar war.
Er überlegte, wie es war, so dicht aufeinander wie hier zu wohnen. Für ihn war das nichts, auch wenn er selbst in einer Altstadt wohnte, der Bonner nämlich. Aber da war der Abstand zu den Nachbarn größer: Die Straßen waren breiter.
Eine Dreiviertelstunde später standen die beiden, nachdem sie den Hügel, der sich aus dem Gassengewirr mitten in der Altstadt erhob, einmal umrundet hatten, ergebnislos wieder vor »Le Blueberry«. Krüger überlegte. »Wo haben wir gestern nochmal gesessen?«
»Ein Gedächtnis wie ein Goldfisch; ohne deinen Wasserträger bist du hilflos, oder?« Auch mit schiefgelegtem Kopf sah Carmen bezaubernd aus. »An dem Tisch.« Sie zeigte in die entsprechende Richtung. »Vor deiner Nase.«