Die Belehrung der Sinne
Georg Kühlewind wurde am 6. März 1924 in Budapest geboren. Mit etwa 40 Jahren hat er sich entschlossen, von vorne anzufangen und den geistigen Schulungsweg neu aufzubauen. Mit 55 ließ er sich von seinem Lehrstuhl für Physikalische Chemie an der TU Budapest pensionieren und widmete sich seither ausschließlich der Geistesforschung. Er hat über 20 Bücher geschrieben und weltweit unzählige Vorträge und Seminare gehalten zu Themen wie der Bewusstseinsschulung, der Psychologie, der Pädagogik, der Sprachwissenschaft und der Christologie. Georg Kühlewind ist am 15. Januar 2006 gestorben.
Vorwort zur Neuausgabe
von Andreas Neider
Vorwort
1. Über die Begrifflichkeit beim Wahrnehmen
2. Die Sprache und die Sinne
3. Die Entstehung des Weltbildes
4. Der Pendelschlag der Aufmerksamkeit
5. Wahrnehmen, Nachahmen, Hervorbringen
6. Über die Sinne und ihre Belehrung
7. Die Gestaltung der Wahrnehmungsübungen
8. Wahrnehmungsübungen
1) Einfaches Wahrnehmen
Vergleichendes Wahrnehmen von menschengeschaffenen und Naturdingen
2) Vorstellen
3) Zentrale Übung
4) Das negative Bild
5) Das Vergleichen von zwei Gegenständen
6) Das Fühlen von Qualitäten
7) Das Wirklichkeitsgefühl
8) Das Fühlen der Idee
9) Der Wille des Gegenstandes
Nachwort
Anhang I – XIV
Anmerkungen
Georg Kühlewind war ein Meister des Denkens und Wahrnehmens und damit auch ein Meister der Meditation, die beides vereint. Aber er war auf diesem Gebiet auch ein absoluter Pionier, ein Erkunder von spirituellen Wegen, ein Wegbereiter in bislang unbekannte Gefilde des Denkens und Wahrnehmens.
1990, als die erste Auflage des vorliegenden Buches unter dem Titel Die Belehrung der Sinne erschien, war er praktisch noch der Einzige, der die in Rudolf Steiners Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten enthaltenen Wahrnehmungsmeditationen, wie zum Beispiel «Blühen und Welken» oder die «Samenkornübung», als Grundübungen der Meditation so ernst nahm, dass er diesen für Ungeübte sehr anspruchsvollen Meditationen einen ganzen Kanon von propädeutischen Wahrnehmungsübungen voranstellte.
Doch 1990 war damit außer in den von ihm selbst geleiteten Übungsseminaren für die meisten Leser noch wenig anzufangen. Zu tief hatte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in anthroposophischen Kreisen die Meinung festgesetzt, dass man über Meditation und meditative Erfahrungen nicht sprechen dürfe und dass diese nur im stillen Kämmerlein und keinesfalls gemeinsam zu erarbeiten seien.
Kühlewind hatte mit diesen Vorurteilen bereits seit dem Beginn seiner spirituellen Lehrtätigkeit im Westen in den Siebziger- und Achtzigerjahren aufgeräumt. Er stellte viele seiner meditativen Übungen in seinen Büchern dar und übte diese dann mit den Teilnehmern seiner Seminare, oft über Jahre hinweg mit demselben, sich mehr und mehr verdichtenden Personenkreis. So bildeten sich im Laufe dieser Jahrzehnte überall in Europa, aber auch in den USA meditativ übende Gruppen, die sich ab und an auf größeren öffentlichen Tagungen auch zu größeren Kreisen erweiterten.
Das vorliegende Buch ist dezidiert auf die von Steiner entwickelten Wahrnehmungsmeditationen* hin orientiert. Und Kühlewind wäre nicht Kühlewind, wenn er dem von ihm selbst entwickelten Übungskanon nicht eine in ihrer Tiefe einmalige Darstellung des menschlichen Erkennens und seiner Entwicklung vor allem beim kleinen Kinde vorangestellt hätte.
Hierbei berücksichtigt er praktisch das gesamte, äußerst umfangreiche erkenntnistheoretische und auf die Sinneslehre bezogene Werk Rudolf Steiners. In der für ihn typischen, auf das Notwendige reduzierten, knappen Form entfaltet Kühlewind in den ersten sechs Kapiteln die anthroposophische Erkenntnis- und Sinneslehre und ergänzt diese im Anhang durch weiterführende Hinweise, vor allem aber durch ausführliche Hinweise auf die betreffenden Stellen im Werk Steiners, wobei er in absoluter Gründlichkeit praktisch keine Stelle ausgelassen hat.
Und hierin zeigt sich die wahre Meisterschaft Kühlewinds. Es werden nicht einfach nur ein paar Übungen angegeben, sondern diese werden erkenntnistheoretisch solchermaßen gründlich fundiert, dass der Übende, der sich der Mühe dieses Studiums unterzieht, in seiner Übungspraxis auf einem sehr soliden Fundament aufbauen kann.
Nicht um ein schnelles Erlangen von Hellsichtigkeit also, wie es in der heute vielerorts geübten Form der Wahrnehmungsmeditation Usus geworden ist, geht es Kühlewind, wie übrigens auch Steiner natürlich nicht, sondern um ein stufenweise, Schritt für Schritt sorgsam sich erweiterndes Bewusstsein des eigenen Denk- und Wahrnehmungsvermögens. Denn das ist die große Lehre, die uns Georg Kühlewind hinterlassen hat: Es geht nicht um ein schnell zu erwerbendes Hellsehen, sondern um eine grundlegende Gesundung unseres Bewusstseins, das in seiner Alltäglichkeit als letztlich erkrankt angesehen werden muss.
Die Gesundung kann, so Kühlewinds tiefe Überzeugung, vor allem dadurch erfolgen, dass wir unser Wahrnehmen reinigen und zu einem «reinen Wahrnehmen» weiterentwickeln. Ein «fühlendes Wahrnehmen» hat Georg Kühlewind diese neue Art des Wahrnehmens genannt. Wo dabei aber die Grenze zwischen dem Sinnlichen, vielmehr dem scheinbar «Sinnlichen» und dem Übersinnlichen verläuft, das möge der aufmerksame Leser nun anhand des vorliegenden Buches selbst erkunden.
Die vorliegende Neuveröffentlichung erscheint bezeichnenderweise genau 100 Jahre nach jenem Vortragszyklus Rudolf Steiners, in dem er die hier behandelte Thematik eines «reinen Wahrnehmens» in einmaliger Weise dargestellt und als einen «Licht-Seelen-Prozess» bezeichnet hat.* Dieser «neue Yoga-Wille», ein Atmen der Seele nicht mehr in der Luft, wie beim indischen Yoga, sondern im Licht, mit den Sinnen, den Steiner 1919 anregen wollte, ist heute, in einer Zeit, in der das natürliche Wahrnehmen mit allen unseren Sinnen durch virtuelle Medien und Computerbildschirme immer mehr zurückgedrängt wird, so aktuell wie nie zuvor. Insofern darf man dieser Neuveröffentlichung von Georg Kühlewinds Pionierleistung eine möglichst weite Verbreitung wünschen.
Im Lichtmonat Februar 2019 |
Andreas Neider |
* Eine Zusammenstellung dieser Wahrnehmungsmeditationen Rudolf Steiners findet sich in dem kleinen Band Andacht und Achtsamkeit – Stufen des Wahrnehmens, hrsg. von Andreas Neider, Basel 2014.
* Vgl. dazu den Vortrag vom 30.11. 1919 in Die Sendung Michaels, GA 194.
Dieses Büchlein ist um der Übungen willen geschrieben worden. Der Teil, den man den theoretischen nennen könnte, die ersten sieben Kapitel, erscheint im Verhältnis zum Übungsteil (achtes Kapitel) lang. Der Übungsteil jedoch ist so gedacht, dass der Lesende die Übungen wirklich macht: Dann wird dieses Kapitel schon lang genug! Außerdem stammt der «theoretische» Teil größtenteils aus den Erfahrungen an und mit den Übungen. Er musste ihnen vorausgehen, damit man weiß, warum die Übungen auf die beschriebene Weise gestaltet sind. Hoffentlich lässt sich die Wahrheit der «Theorie» auch dann einsehen, wenn man die Übungen noch nicht gemacht hat. «Theorie» und «theoretisch» stehen in Anführungszeichen, weil sie viel eher Empirie, Erfahrung sind und keineswegs deduziert, also «theoretisch» bloß im Vergleich mit den Übungen.
Die Bewusstseinsschulung und innerhalb ihrer die Wahrnehmungsschulung geht von der untersten rationalen Ebene des Bewusstseins aus. Das ist möglich, weil dieses Bewusstsein aus seiner überbewussten Quelle lebt und als Bewusstseinsseele auf sich blicken kann. Das Bewusstsein beginnt beim Säugling mit dem Fühlen. Es ist ein Fühlen ohne Gliederung, Erinnern, Ideenwahrnehmen und nicht ichhaft. Der Weg in Richtung der Ratio bringt durch die Sprache die logoshafte, ichhafte Gliederung, die Begrifflichkeit in immer differenziertere Form und auf immer niedrigere Stufen, was aber zugleich ein Austrocknen des Fühlens im Wahrnehmen zur Folge hat. Die Schulung baut auf diese Errungenschaften auf, sie ist aber bestrebt, sie auf höhere Ebenen zu führen und zu erweitern: als lebendige, fühlende, wollende Begriffe und entsprechende Gliederungen in der Welt, als eine Ich-bin-Erfahrung, die sich nicht auf den physischen Organismus stützt. Damit wird die Wahrnehmung belebt, fühlend und vernimmt das Wollen der Natur.
Da die Übungen von elementaren Erfahrungen am Wahrnehmen ausgehen und durchaus empirisch auseinander folgen, setzt sich der Verfasser mit keinen anderen Beschreibungen des Wahrnehmens oder mit irgendeiner Sinneslehre auseinander: Der Leser kann selber alles Beschriebene kontrollieren. Der so genannte theoretische Teil ist im völligen Einklang mit den Ansichten Rudolf Steiners über die Sinne und das Wahrnehmen. Die Übungen selbst sind als Hinführung zu den mehr fortgeschrittenen Wahrnehmungsmeditationen aufzufassen, die man in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? findet, z.B. «Blühen und Welken» (Kap.: «Stufen der Einweihung») oder das Anschauen eines Samenkornes (Kap.: «Kontrolle der Gedanken und Gefühle»). Weitere Bezüge zum Werk Rudolf Steiners und zu anderen Autoren sind jeweils im Anhang ausführlich dargestellt.
Der Erwachsene lebt in einer Wahrnehmungswelt, die ihm bekannt ist. Es kommt selten vor, dass er mit einem gänzlich Unbekannten konfrontiert wird. Das vertraute Ding, das vertraute Phänomen nimmt er gewöhnlich schon als solches, als ein «Das» wahr, ohne zu staunen, nachzudenken oder sich zu fragen: Was ist das? Das tut er nur in den Ausnahmefällen, wenn er auf etwas ihm Neues trifft: Dann tritt das Denken, die gedankliche Erklärung oder die gedankliche Intuition als deutende Instanz in Tätigkeit. Für die bekannten Wahrnehmungsphänomene ist die Deutung in der Vergangenheit geschehen und in das Sinnesleben eingebaut worden. Dadurch kommt die unterste Stufe des Wahrnehmens, die aber die häufigste ist, zustande: das informative Wahrnehmen.
Man kann im Hinblick auf das Beschriebene an einem Vexierbild sehr viel erfahren. Es besteht aus vielen Linien, einem wahren Gestrüpp. Wenn man weiß, dass im Dschungel der Linien irgendwo eine Katze verborgen ist, kann man sie mit einiger Mühe finden. Wenn man nicht weiß, was zu suchen ist, ob eine Katze, eine alte Frau oder ein Haus, wird man die Katze schwerer finden; man wird sie auch nicht finden, wenn man nicht weiß, wie eine Katze aussieht. Wenn man überhaupt keine Begriffe und Vorstellungen hat, findet man naturgemäß nichts. Das Bild zu entziffern bedeutet, in ihm eine begriffliche oder vorstellungsmäßige Gliederung zu finden.
Dieses Beispiel soll dazu dienen, die Rolle der Begriffe bzw. Vorstellungen beim Wahrnehmen zu beleuchten. Zu den genannten Erfahrungen gesellt sich eine weitere: Die Qualität des Wahrnehmens ist unabhängig davon, ob man die versteckte Gestalt findet oder nicht, unabhängig von der Gliederung des Bildes, die anhand der Vorstellung «Katze» geschehen kann. Anders gesagt: Wenn man ein Viereck neben einem unregelmäßigen und unbenannten Gebilde sieht, sind die Wahrnehmungsqualität und die Bildung der Erinnerungsvorstellung gleich. Man kann das unbenannte Gebilde auch benennen, z.B. «mablig». (Man beachte, dass man nur «etwas», d.h. ein begrifflich Konturiertes, mit Namen versehen kann.)
Ähnlich wie beim Vexierbild eine Gestalt nur gefunden werden kann, wenn man ihre Vorstellung besitzt, sieht man an doppeldeutigen Bildern beide Gestalten nur dann, wenn man beide Vorstellungen hat.
Aldous Huxley beschreibt in seinem Büchlein Die Kunst des Sehens den Prozess des Sehens. Demnach bestünde der Sehakt aus drei Teilprozessen: Empfinden (sensing), Herausheben (selecting) und Wahrnehmen (perceiving). Das Empfinden bewirkt eine Reihe von Farbflecken, die den «Rohstoff» des Sehens bilden. Durch das Herausheben wird ein Teil des visuellen Feldes von dem Rest abgegrenzt: ein Prozess, der seine physiologische Ursache in dem zentralen Punkt der Retina (fovea centralis), im Punkt des schärfsten Sehens hat und psychologisch von unserem Interesse bestimmt wird. Im Wahrnehmen wird das Empfundene und Herausgehobene als ein Gegenstand identifiziert (vgl. Anhang I).
Das Problem der Begrifflichkeit im gewöhnlichen Wahrnehmen zeigt sich klar im Hinblick auf das «Wahrnehmen» der Automaten, der Roboter. Dieses Problem ist bloß in der Phantasie der Science-fiction-Romanautoren so gut wie gelöst. In Wirklichkeit besteht da eine unüberwindbare Schwierigkeit: dass Automaten zwar Gedächtnis-Funktion (Speicher) besitzen können, nicht aber die Fähigkeit, Begriffe zu bilden. Daher müsste man z. B. auf folgende Weise verfahren, wenn man einem Automaten das Wahrnehmen eines Sessels «beibringen» wollte: Man müsste den betreffenden Sessel (aus Holz, mit viereckigem Sitz usw.) der Kamera des Roboters «zeigen» und gleichzeitig «Sessel» in das «Gedächtnis» einschreiben. Kamera und Gedächtnis fixieren ein Bild, auf dem der Sessel aus einem bestimmten Gesichtswinkel, vor einem bestimmten Hintergrund, bei einer bestimmten Beleuchtung usw. anwesend ist. Schon durch die Veränderung des Gesichtswinkels bietet der Sessel perspektivisch ein ganz anderes Bild. Dieses müsste wieder fixiert und unter der Deutung «Sessel» eingetragen werden. Es ist offensichtlich, dass derselbe Sessel aus allen möglichen Gesichtswinkeln, bei allen möglichen Beleuchtungen, vor allen möglichen Hintergründen (denn das Bild hebt den Sessel vom Hintergrund nicht ab), in allen möglichen unzähligen Umgebungen «gezeigt» und fixiert werden müsste. Dann hätte man erreicht, dass der Automat diesen Typ von Sessel «wiedererkennt». Mit einem anderen Typ, der sich in Farbe, Gestalt, Größe usw. vom ersten unterscheidet, müsste man den Prozess wiederholen usw.
Man vergleiche dieses Vorgehen mit dem Belehrtwerden eines Kindes: Ist einmal der Begriff «Sessel» funktionell, d. h. verstehend erfasst, so wird es jede Art von Sessel aus jeder Perspektive, auch einen Baumstumpf, auf dem jemand sitzt, als «Sessel» wiedererkennen. Der Begriff nämlich erfasst oder ist die Funktion des Gegenstandes, nicht eine Zusammenfassung einzelner äußerer Merkmale.
Am Beispiel des Automaten kann klar werden, dass das Tableau der Wahrnehmungen durch Begriffe bzw. Vorstellungen in Einzelheiten gegliedert wird. Dass wir es im Wahrnehmen sofort mit Einzelheiten zu tun haben, ist Ergebnis vorangehender Begriffstätigkeiten (vgl. Anhang Ia).
Dass oben auch «Vorstellungen» als gliedernde Mittel des Wahrnehmungstableaus erwähnt wurden, hat seinen Grund darin, dass der moderne Mensch kaum über begriffliche Intuitionen verfügt, die Naturphänomenen «entsprechen».1 Wir verstehen durch und durch, was das Wesen einer Vase ist, wissen aber nicht, was dem «Wesen» eines Grashalmes, eines Pyrits oder eines Igels entspricht. Die Naturdinge werden an ihren äußeren Merkmalen erkannt, d.h. am Vorstellungsbild. Dieses selbst ist begrifflich durchsetzt, man könnte sagen, es besteht aus Ersatzbegriffen, die nicht einmal benannt werden müssen. Der Ahornbaum ist durch seine Blätter zu erkennen, die eine bestimmte, nicht benannte, wiedererkennbare Form haben. Die «Begriffe» der Naturdinge sind eigentlich Vorstellungsbilder, Erinnerungsbilder, beruhen nicht auf «Verstehen» und entsprechen allenfalls der Forderung, eindeutige Zeichen von Gegenstandsarten zu sein (M. Schlick2). Diese Kennzeichnung sichert die «Anwendbarkeit» oder «Brauchbarkeit» der «Begriffe», die aber eigentlich bloße Namen sind, aber sie ist oder wäre keineswegs hinreichend für die «Herstellung» der Dinge, auf die die «Begriffe» sich beziehen, im Gegensatz zu den funktionell verständlichen Begriffen der menschengeschaffenen Gegenstände. Da diese letztlich aus Stoffen und Phänomenen der Natur zusammengesetzt sind – z. B. Kupfer und Elektrizität enthalten –, die als solche nicht funktionell verstanden werden, ist das Verstehen der menschengeschaffenen Gegenstände auf ihre Funktionalität als Ganzheit beschränkt.