KRIMINELLE GESCHICHTEN
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Das Copyright der Geschichten, soweit nicht anders angegeben, liegt bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung.
Für die Beiträge von Alfred Komarek und Stefan Slupetzky gelten folgende Nachweise:
»Kellerleichen«. Aus: Alfred Komarek, Zwölf mal Polt. Kriminalgeschichten.
© Haymon Verlag, Innsbruck 2011. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
»Mein kleiner Münchner Grabgesang«. Aus: Stefan Slupetzky, Halsknacker
© 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
1. Auflage 2019
Copyright dieser Ausgabe © 2019 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion Pro, Adobe Garamond bold, Core Circus
Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries
Umschlagmotive: © Westend61/gettyimages und © David Glen/gettyimages
ISBN: 978-3-7104-0218-0
eISBN: 978-3-7104-5028-0
Anita Hetzenauer
Das Gedächtnis des Lügners
Claudia Rossbacher
So oder so
Michael Opoczynski
Feenwiese
Margarita Kinstner
Schlafe, mein Prinzchen
Hans Leister
Die Hintermänner
Ellen Dunne
Fahrzeugkontrolle
Monika Pfundmeier
Irrläufer
Ines Eberl
Maiglöckchen
Astrid Miglar
Direttissima
Alfred Komarek
Kellerleichen
Matthias Wabner
Nachsuche
Heidi Troi
Der Tote im Wilden See
Paul Martzak-Görike
Applaus für den Mörder
Eva Rossmann
Sunshine ist tot
Lotte Maria Kaml
Der Drink des Tages
Stefan Slupetzky
Mein kleiner Münchner Grabgesang
Bernhard Kreutner
1984
Die Autorinnen und Autoren
Gewinnerbeitrag
des 1. Servus Krimiwettbewerbs
Komme ich also heim am Mittwoch vor sechs Wochen, zur selben Zeit wie immer, und was rieche ich, als ich im Flur Jacke und Schuhe ausziehe: nichts.
Ich mag Veränderungen nicht. Wenn’s nach mir ginge, dann müsste sich überhaupt nie etwas ändern, und wenn es jeden Tag das Gleiche abends zum Essen gäbe, es wäre mir egal. Wo es geht, versuche ich schon, dass alles so ist, wie es immer ist. Deshalb nehme ich jeden Tag denselben Weg heim von der Arbeit, obwohl es gleich lang ist durch die Stadt, oder am Inn entlang. Zuerst schaue ich immer zum Pendling hinauf, um zu sehen, wie das Wetter wird. Du weißt schon, »Hat der Pendling einen Hut, wird das Wetter gut« und so weiter. Zum Kaiser schaue ich auch hinauf. Zum Wilden und zum Zahmen. Das musst du noch in Zell herüben machen, denn sobald du über den Inn drüber bist, siehst du keine Felsen mehr. Nur mehr Wald, weil du schon so dicht dran bist an den Bergen. Dann nehme ich die Fußgängerbrücke über den Inn, und ich weiß noch, dass es nix war mit dem grünen Inn, als vor sechs Wochen die erste Veränderung eintrat. Es war mehr eine braune Brühe, wenn du mich fragst. Wobei der Inn wirklich oft grün ist. So wie es im Kufsteiner Lied besungen wird. Du kennst den Text wahrscheinlich eh besser als ich, wenn du kein Kufsteiner bist. Während ich so am Inn entlanggeh, schaue ich hinauf zur Festung. Ob das mobile Dach über der Arena offen oder zu ist, welche Farbe die Beleuchtung gerade hat. Dann biege ich ab, und es gibt viel zu sehen. Eisstadion, Erholungszone am Fischergries, erst steil den Unteren Stadtplatz hinauf, dann Oberer Stadtplatz, vorbei am Gymnasium, dann zwei Ecken noch, und ich bin daheim. Reihenhaus, bald abbezahlt.
Komme ich also heim am Mittwoch vor sechs Wochen, zur selben Zeit wie immer, und was rieche ich, als ich im Flur Jacke und Schuhe ausziehe: nichts. Das ist seltsam, denn die Klara und ich – die Klara ist meine Frau, aber das hast du dir eh schon denken können –, wir beide legen Wert darauf, abends warm zu essen. Als wir vor neunzehn Jahren geheiratet haben, da haben wir das angefangen, und seither ist das so. Jedenfalls komme ich heim, und es riecht nicht nach Essen, obwohl am Mittwoch immer Klara kocht. Klara ist überhaupt nicht in der Küche, es ist nichts hergerichtet, nichts. Ich rufe nach ihr, sie antwortet nicht. Im Erdgeschoss ist sie nicht, nicht im Garten, also schnell die Treppe hinauf, Schlafzimmer – nichts, Gästezimmer – nichts. Da habe ich dann schon so ein komisches Gefühl gehabt. Du weißt schon, wenn es dir den Magen so ungut zusammenzieht. Das ist nicht besser geworden, als ich sie endlich gefunden habe. Im Badezimmer. Sie steht im Brautkleid vor dem Spiegel und schneidet sich mit der großen Küchenschere die Haare ab. Dreht sich nicht einmal um, schneidet einfach eine Strähne nach der anderen ab. Und ich stehe da, schaue sie an, das Brautkleid, die Schere, die Haare, und das Erste, was ich herausbringe, ist: »Dass du da noch hineinpasst!« Sie schaut mich über den Spiegel an, wie ich überhaupt noch nie angeschaut worden bin, und schnippelt einfach weiter. Ich versuche, ihr die Schere wegzunehmen, weil es doch so schade ist um ihre Haare. Die Klara hat nämlich sehr schöne Haare. Lang und blond, da fallen die paar grauen gar nicht auf, die sich mittlerweile dazwischengeschummelt haben. Fast in den Finger geschnitten hätte sie mir, und ich glaube, ich halte sie am Oberarm ein bisserl zu fest, weil sie sich so wehrt. Es ist aber eh schon zu spät. Für mehr als eine Igelfrisur reicht es nicht mehr. Sagen tut die Klara gar nichts, obwohl ich schon wissen will, was in sie gefahren ist. Weil normal ist das nicht, ehrlich nicht. Sie steht nur da und schaut durch mich durch die ganze Zeit. Der Reißverschluss beim Brautkleid ist aufgegangen, und sie hat keinen BH drunter an und dann noch die wilde Frisur, ich glaube, sie ist verrückt geworden. Reden tut sie dann aber mit ganz normaler Stimme, als sie endlich etwas sagt. »Wer lügt, braucht ein gutes Gedächtnis«, sagt sie und schaut mich sogar an dabei. Deshalb vermute ich, sie meint mich, aber verstehen tue ich nur Bahnhof. Ich überlege, was sie meinen könnte, aber mir fällt nichts ein, und erklären will sie mir nichts. Geht einfach an mir vorbei ins Schlafzimmer und knallt die Tür zu, dass das Foto von ihrem Bruder von der Wand fällt. Gehe ich halt zum Grünen Bären, weil gegessen habe ich ja auch noch nichts gehabt, und außerdem gehe ich immer auf ein Seiterl zum Bären, wenn mich etwas aufregt oder beschäftigt. Mein bester Freund, der Otto, sitzt da auch fast jeden Abend, seit die Rosa bei ihm ausgezogen ist. Am nächsten Tag ist die Klara wieder ganz normal. Abgesehen von den Haaren natürlich.
Ich habe das in den letzten Wochen schon fast vergessen gehabt. Oder sagen wir besser: verdrängt. Aber ausgerechnet heute muss ich beim Heimgehen von der Werkstatt wieder daran denken, weil der Inn noch dreckiger daherkommt als vor sechs Wochen. Wundern tut mich das nicht, weil es seit Mittag gegossen hat wie kurz vorm Weltuntergang. Als ich bei der Haustür hineingehe, da merke ich sofort, dass wieder etwas nicht stimmt. Du weißt schon, der fehlende Geruch. Dieses Mal bin ich gleich die Treppe hinauf und ins Bad, aber da ist sie nicht. Ich schaue im ersten Stock, im Erdgeschoss, im Garten, sogar im Keller, Klara ist nicht da. So etwas ist überhaupt noch nie vorgekommen. Vorsichtshalber durchsuche ich noch einmal das ganze Haus. Ich weiß schon, eine 1,70 m große Frau, die übersiehst du nicht so gleich, aber trotzdem. Was ich dann aber doch finde, ist ein Zettel auf der Arbeitsplatte in der Küche. Herausgerissen aus dem Buch, in das sie ihre Rezepte immer schreibt. Zuerst denke ich, es ist ein Abschiedsbrief, aber dann lese ich noch einmal. »Ich kann mit dir nicht mehr leben« steht da. Spontan freue ich mich, dass sie sich nicht umbringen will, aber dann wird mir bewusst, dass sie mich verlässt, so mir nichts, dir nichts fast ein halbes gemeinsames Leben kaputtmacht. Weißt du, in so einer Situation, da weißt du gar nicht mehr, was du denken sollst.
Nach einer Viertelstunde halte ich es daheim nicht mehr aus, schnappe mir meine Jacke, und hinaus geht es in den Regen, der noch stärker geworden ist. Erste Ecke, zweite Ecke, Gymnasium, Blick hinauf zur Festung. Ganz automatisch gehe ich, wo ich immer gehe, doch das trifft sich gut, denn der Grüne Bär liegt auch auf diesem Weg. Oberer Stadtplatz, hinunter zum unteren Stadtplatz, und schon bin ich da. Es ist nichts los, nur am Erkertisch sitzt eine Gruppe, offensichtlich Touristen. Mag wohl niemand aus dem Haus bei diesem Sauwetter. Ich setze mich an die Bar, und Manfred stellt mir ein Bier hin. »Siehst aus, als könntest eines brauchen«, meint er und schiebt noch ein Schüsserl mit Erdnüssen zu mir herüber. Ich nehme erst einen Schluck und dann noch einen, bevor ich so beiläufig wie möglich sage: »Die Klara ist weg.« »Ach so«, sagt er nur und hat es plötzlich furchtbar eilig, seinen Gläserspüler einzuschalten, obwohl der noch nicht einmal halb voll ist. Wie ich ihm so zuschaue, da kommt mir ein Verdacht. »Sag mal, weißt denn du was?«, frage ich, und als er daraufhin zum Tisch mit den Touristen hinübergeht und fragt, ob bei ihnen alles passt, da bin ich mir sicher. Der Manfred verheimlicht mir etwas. »Bei mir passt nicht alles!«, sage ich so laut, dass sich die Urlauber zu mir umdrehen. Jetzt kommt der Manfred zu mir herüber, und er sieht mich mit so einem mitleidigen Blick an, von dem ich kotzen könnte. »Weil wir schon miteinander in die Schule gegangen sind, sonst würde ich nichts sagen«, sagt er ganz leise, damit die Touristen nicht mithören können, obwohl sie immer noch zu uns herüberschauen. »Heute, gar nicht lang bevor du gekommen bist, da war sie da«, jetzt flüstert er schon fast und wird noch leiser, als er weiterredet, »und sie war nicht allein«. »Jetzt sag schon«, herrsche ich ihn an, aber der Manfred redet eh schon weiter: »Mit dem Otto war sie da. Er hat seine Hände nicht von ihr lassen können, und sie, na ja, abgeneigt war sie nicht. Hat ihn jedes Mal abgeschmust, wenn er ihr gesagt hat, wie toll sie ausschaut, mit der neuen Kurzhaarfrisur.« Der Manfred will noch mehr erzählen, aber mir platzt der Kragen. »Der Otto! Ausgerechnet der Otto!« Ich spüre, wie mir das Adrenalin einschießt. »Wenn ich den erwische, den bringe ich um!« Dass ich sehr laut geworden bin, merke ich erst, als ich sehe, wie die Touristen zusammenzucken und schnell wegschauen. Dabei komme ich erst so richtig in Fahrt. »Diese Drecksau, die grausige! Nach allem, was ich für ihn getan hab! Diese undankbare Sau, die!« Der Manfred nimmt mich am Arm und will mich wieder auf meinen Barhocker zurückschieben. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich aufgesprungen bin, aber ich will mich nicht wieder niedersetzen, und beruhigen tue ich mich auch nicht. Jetzt sofort werde ich das klären mit dem Otto. »Der wird sich gleich anschauen, dem werde ich es zeigen!«, schimpfe ich weiter und bin schon ohne zu zahlen bei der Tür hinaus. Der Manfred hält meinen Arm immer noch fest und läuft deshalb neben mir her. Irgendwann lässt er dann aber doch los. »Mach keinen Blödsinn, Hans-Peter«, ruft er mir nach.
Ich mache nie Blödsinn, aber garantieren kann ich jetzt für nichts, da bin ich ganz ehrlich. Meine Frau und der Otto! Da kannst du nicht erwarten, dass ich so tue, als sei nichts passiert. So schnell wie heute bin ich noch nie den Unteren Stadtplatz hinauf. Die Klara, meine Klara ausgerechnet mit dem Otto, nein, das kann ich mir gar nicht vorstellen, wo doch die Klara immer gesagt hat, sie kann die Rosa gut verstehen, dass sie es mit dem Otto nicht mehr ausgehalten hat. Oberer Stadtplatz. Mit seiner Sauferei und so. Haben wir ja alles gehört, wo wir doch Wand an Wand wohnen. Also Reihenhaus an Reihenhaus. Gymnasium. Mein Leben lang wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass dem Otto die Klara gefällt. Gut, als ich sie kennengelernt habe, da hat er schon gemeint, er würde sie nehmen, wenn ich sie nicht mehr mag. Erste Ecke. Aber dann war die Sache mit ihrem Bruder, und da hat er sie mir ja richtiggehend ausgeredet. Hat gesagt, ich soll schauen, wie ich sie unauffällig wieder loswerde. Zweite Ecke. Weil es besser ist. Na und wenn dir dein bester Freund so einen Rat gibt, dann tust du natürlich das genaue Gegenteil. Schwer war es dann aber schon mit ihr die ersten Jahre.
Weil ich es so gewohnt bin, stehe ich schon vor meiner eigenen Tür statt vor Ottos. Da kann jetzt zwar nur ich was dafür, aber es macht mich trotzdem noch zorniger auf den Otto, als ich es eh schon bin. Drüben drücke ich auf die Klingel, bis mir der Daumen wehtut. Nichts rührt sich. Daheim ist er aber sicher, weil das Licht im Gang an ist und der Otto immer alle Lichter ausschaltet, wenn er weggeht. Ich spüre, wie meine Wut einen Gang zulegt. Ich rufe: »Mach auf, du Sau!«, und was mir halt noch so alles gerade einfällt. Zur Bekräftigung trete ich ein paar Mal gegen die Tür. Drinnen rührt sich immer noch nichts. Feig ist er also auch noch! Da gibt es gar keinen Ausdruck dafür, wie grantig mich das macht, wirklich nicht. Trotzdem habe ich in dem Moment einen Geistesblitz: der Schlüssel! Du kannst nicht ewig neben jemandem wohnen, ohne zu wissen, wo der seinen Ersatzschlüssel hinlegt. Irgendwann bekommst du das mit, ob du willst oder nicht. Gehe ich also zu dem dämlich grinsenden Männlein mit dem Herz in der Hand, das neben der Gartenbank steht, hole den Schlüssel darunter hervor und lasse mich selbst ins Haus. Drinnen ist alles so wie bei uns, nur spiegelverkehrt. Und anders möbliert natürlich. Dafür stehen Klaras Schuhe da. Die für die besseren Gelegenheiten. Ihre Jacke hängt an der Garderobe. Die beste. Ich hab nicht gewusst, dass du noch wütender werden kannst, wenn du schon bis in die Haarspitzen hinein wütend bist, aber glaub mir, es geht. Klaras Schuhe so Seite an Seite mit Ottos Schuhen, als ich das sehe, da legt es mir im Hirn endgültig einen Schalter um, und mir ist alles wurscht. »Komm her, du Sau, wennst dich traust!«, brülle ich. Nichts rührt sich, obwohl die übernächsten Nachbarn mich sicher auch noch gehört haben. Na dann suche ich halt. Darin habe ich inzwischen eh Übung. Klo, Küche, Wohnzimmer herunten. Garten lasse ich aus, es schüttet immer noch. Niemand da, aber zwei Weingläser auf dem Couchtisch, halb ausgetrunken. Also hinauf. Auf der Stiege ein Pullover. Von Otto. Ein paar Stufen weiter, wieder ein Pullover. Der, den ich Klara letztes Jahr zu Weihnachten gekauft habe. Da malt sich deine Fantasie dann gleich Bilder aus, die möchtest du gar nie in deinem Kopf drin haben. Ich schaue dann oben zuerst ins Gästezimmer, das beim Otto früher einmal das Kinderzimmer war und irgendwie immer noch ist. Es ist niemand drin. Hab ich zwar schon vermutet, weil vor der Schlafzimmertür noch mehr Gewand auf dem Boden herumliegt. Dafür lehnt im Kinderzimmer gleich neben der Tür der Baseballschläger, der dem Markus gehört hat, als er noch klein war. Mensch, hat der Bub seinen Baseball oft in unseren Garten gepfeffert! Nicht einmal beschweren haben wir uns können, weil die Klara und ich, wir haben ihm die Baseballsachen geschenkt gehabt zum Geburtstag. Vorsichtshalber nehme ich das Holzding mit. Damit ich etwas habe, zum Festhalten. Lust habe ich keine, in Ottos Schlafzimmer hineinzugehen. Weil ich eben vermute, dass ich fündig werde, und seien wir ehrlich, sehen willst du das nicht, wenn deine Frau mit deinem besten Freund, na du weißt schon. Bin ich halt hinein. Es ist wer drin im Bett, das erkenne ich sofort, obwohl nur so eine Nachttischfunsel leuchtet. Der Otto ist es. Er liegt auf der Seite da und schläft. Nackert ist er. Das sehe ich, weil sein weißer Arsch nur halb zugedeckt ist. Die Klara ist nicht da. Ihre Unterwäsche schon. Ihre schönste, aber das hast du dir eh schon denken können. Der Otto schaut so richtig entspannt aus, wie er so schläft, und es wirkt, als hätten seine Arme grade noch jemanden fest an sich gedrückt. Dass der so selig schlafen kann, wo ich doch ordentlich Radau gemacht habe, wundert mich. Also mir könnte das nur passieren, wenn es vorher mit der Klara so richtig zur Sache gegangen wäre. Du kannst dir eh vorstellen, dass ich das schon die ganze Zeit vermute. Gehe ich also zum Otto hin und rüttle ihn ein bisschen am Arm. Mit der linken Hand, weil ich mich mit der rechten am Baseballschläger festhalten muss. Kaum wecken lässt er sich, und als er so schön langsam zu sich kommt, noch bevor er die Augen aufmacht, da sagt er: »Klara?« und tastet mit der Hand neben sich auf der Matratze herum. Ich habe es ja gewusst. Bis zum Schluss habe ich gehofft, ich täusche mich. Es hätte ja rein zufällig noch eine andere Frau die gleichen Sachen haben können wie die Klara, obwohl ich natürlich selbst nicht dran geglaubt habe. Hoffen kannst du immer, das hat schon meine Oma gesagt. Mich macht das, wie der Otto so »Klara?« sagt, natürlich saugrantig. »Nix Klara, Hans-Peter«, stelle ich richtig. Da reißt er aber die Augen auf, der Otto, als er meine Stimme hört, und zieht ganz schnell die Decke bis zum Kinn hinauf. Direkt, als ob er sich vor mir fürchten tät. Aber das ist vermutlich auch berechtigt, denn ich habe eine Sauwut und gar nicht bemerkt, dass ich den Baseballschläger schon mit beiden Händen so halte, wie man halt einen Baseballschläger hält. Nicht mehr bloß nach festhalten, eher schon Richtung Angriff schaut das aus. »Wie kannst du nur mit meiner Klara!«, brülle ich ihn an, damit er mich ganz sicher versteht. Dazu fuchtle ich ein bisschen mit dem Baseballschläger herum. Er soll nur merken, wie ernst es mir ist. Der Otto kriegt es mit der Angst, als ich ihn mit dem Baseballschläger an der Stirn ein bisserl erwische. »Hilfe! Komm doch zur Vernunft! Ich bitte dich!«, ruft er und rollt sich aus dem Bett. Weil ich ihm den Weg zur Tür abschneide, rennt er pudelnackert, wie er ist, zum Balkon. Ich hinterher. Der Balkon ist ganz schön klein, wenn du in so einer Situation bist. Der Otto zögert gar nicht lang und springt hinunter wie eine Katze. Da bin ich ihm dann nicht mehr nach. Gelandet ist er eher wie eine Wassermelone. Vom Prinzip her natürlich. Was muss der Depp auch seinen kompletten Garten mit Granitsteinen pflastern. Ich denke mir gleich, dass da nichts mehr zu machen ist, aber ich geh doch hinunter nachschauen. Über die Stiege halt. Unten ist die Terrassentür schon offen, und wer beugt sich da über den Otto? Die Klara. Ihren Pullover, den von der Stiege, hat sie wieder an und eine Hose auch, aber ich trau mich wetten, sie hat nichts drunter. »Ich glaub, er ist tot«, sagt sie. Ganz ruhig. Dann schaut sie mir in die Augen und sagt: »Danke, dass du das für mich getan hast.« Ich versteh gar nichts. Denke, sie spinnt. Sie beugt sich zu Otto hinunter, dem schon der Regen da hineinfließt, wo das Blut herausrinnt, und sagt zu seinem leblosen Körper ohne auch nur einen Hauch von Mitleid in der Stimme: »Du hast es verdient. Ich hab dem Fredi geschworen, dass ich seinen Mörder find. Lang hat es gedauert.« Ich erschrecke. »Woher weißt du, dass …«, fange ich an, bin aber gleich wieder still. Der Fredi, das musst du wissen, der war ihr Bruder. Zusammengefahren ist der worden, ewig her schon, Fahrerflucht. Jetzt dreht sie sich zu mir um: »Vermutet habe ich es schon lang, und irgendwann verplappert sich ein jeder, der sich seine eigenen Lügen nicht merken kann.« Klara hört gar nicht mehr auf zu reden: »Vor sechs Wochen erst hast du gesagt, du warst nie auf einem Konzert der Stones. Und der Otto, der erinnert dich dran, wie du ihm mit eingegipstem Arm das Auto repariert hast. Und das Beste: ein Mechaniker, der plötzlich nie mehr freiwillig Auto fährt. Glaubst du, ich bin blöd? Nur gut, dass ihr beide so berechenbar seid!« Aus ihrer Stimme spritzt der Hass nur so heraus. Schön langsam dämmert mir, in was für einer Situation ich stecke. Hier der Otto, den ich mit dem Baseballschläger vom Balkon gescheucht habe, da meine Frau, die herausgefunden hat, was der Otto und ich mit dem Tod ihres Bruders zu tun haben, und von der Hauptstraße her höre ich die Polizei.
Ich überlege nicht lang, klettere über den Zaun auf das Fußgängerwegerl und gehe los. Über die Parallelstraße zur ersten Ecke. Natürlich muss ich jetzt an damals denken, als der Otto und ich zum Konzert der Stones wollten. Winter war es und dunkel, die Straße unbeleuchtet. Der Otto ist gefahren, ich habe ja den Arm im Gips gehabt. Zweite Ecke. Deshalb habe ich die CD auch nicht gescheit in den CD-Player hineinbekommen, und sie ist mir hinuntergefallen. Da waren wir beide kurz abgelenkt, und so ist es passiert. Gymnasium. Dass es ein Mensch war und der Klara ihr Bruder, das haben wir nicht gewusst. Oberer Stadtplatz. Sind einfach weitergefahren. Natürlich nicht mehr zum Konzert. Unterer Stadtplatz. Da war uns die Lust drauf komplett vergangen. Stattdessen zurück, gleich zur Werkstatt. Fischergries, Begegnungszone. Ich habe ja damals schon einen Schlüssel gehabt. Bei Licht haben wir dann schon geahnt, dass es kein Reh gewesen ist. Eisstadion. Wegen der Haare, die am Blut geklebt sind. War eine Schinderei, alles zu reparieren mit dem Gipsarm. Innbrücke. Der Inn schaut schwarz aus mit ein paar gelben Punkten, wo sich die Beleuchtung von der Festung spiegelt. Fast wie der Himmel. Das hätte ich mir nicht gedacht, dass ich so bald schon in den Himmel komme.
Nichts anderes als Biomüll war der Mensch,
hatte er erst einmal seinen letzten Atemzug getan.
Franz Enter hasste Fliegen. So oder so. Zum einen litt er unter schrecklicher Flugangst – allein der Gedanke daran, ein Flugzeug oder gar einen Helikopter zu besteigen, löste bei ihm heftiges Zittern und Schweißausbrüche aus. Zum anderen waren ihm die Insekten der gleichlautenden Gattung ein Gräuel.
Mit einer Handbewegung verscheuchte Enter die Stubenfliege vom Frühstückstisch und griff zum Messer, um reichlich Butter aufs Bauernbrot zu schmieren. Fast ein ganzes Jahr lang, seit seinem letzten Urlaub am Bauernhof, hatte er sich auf dieses Brot gefreut. Für ihn das beste auf der Welt, selbst gebacken von der Resi.
Den Ur-Sauerteig hatte noch ihre Mutter, die Altbäuerin, aus Roggenschrot und Wasser angesetzt und ihn liebevoll nach dem viel zu früh verstorbenen Bruder Willi benannt. Jedes Mal, wenn am Koglerhof Brot gebacken wurde, blieb ein Teil vom Sauerteig im Kühlschrank zurück, bis zum nächsten Mal. Dann wurden Mehl und Wasser hinzugefügt, die »Onkel Willi« wieder auf den nötigen Laibesumfang brachten. Bevor er zu neuem Brot verarbeitet wurde, durfte er weitere 24 Stunden ruhen, wobei abermals ein Teil von ihm für den übernächsten Backvorgang zurückbehalten wurde.
So hatte Onkel Willi seit gut 40 Jahren überlebt, und das Brot schmeckte von Mal zu Mal besser. Die Butter von der Sennerin der nahen Rossalm tat ein Übriges. Freilich durften auch Resis selbst gemachte Marmeladen, das eine oder andere Stück Schinken, Speck, Hauswurst sowie Schafkäse und Freilandeier von den umliegenden Bauernhöfen bei einem anständigen Frühstück nicht fehlen. Die anschließenden Wanderungen verlangten Enter schließlich einiges an Energie ab. Leider nicht im Entferntesten so viel, wie er seinem Körper zuvor zugeführt hatte. Aber das kümmerte ihn im Urlaub noch weniger als sonst.
Die kostbarsten Wochen des Jahres, die er stets am Land verbrachte, waren ihm heilig. Das Einzige, was ihm auch hier auf die Nerven ging, waren diese lästigen Fliegen. Aus guten Gründen. Während er das Verb »fliegen« mit nackter Todesangst assoziierte, erinnerte ihn das Substantiv spontan an die Leichen, die seinen Berufsalltag bestimmten. An Letztere hatte sich der Kriminalinspektor der Mordkommission zwar längst gewöhnt, nicht aber an die Schmeißfliegen, die der Geruch des Todes scharenweise anzog. Ihre Maden nahmen Leichen als Erste in Beschlag, um sie nach und nach zu zersetzen. Erst später kamen all die anderen Aasinsekten hinzu, die demselben komplexen Ökosystem dienten, quasi der biologischen Müllentsorgung. Nichts anderes als Biomüll war der Mensch, hatte er erst einmal seinen letzten Atemzug getan. So manches Ersatzteil zählte gar zum Sondermüll und musste deswegen eigens entsorgt werden.
Ob es einem nun gefiel oder nicht, der natürliche Verwesungsprozess war durchaus sinnvoll. Nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch aus kriminalistischer. Je nach Zerfallszustand und Insektenbesiedelung konnten Forensiker den Todeszeitpunkt eines Mordopfers bestimmen, wenn dieser länger als zwei Tage zurücklag und sich anhand der Körpertemperatur, Leichenstarre und Totenflecken nicht mehr eingrenzen ließ.
In seinem Urlaub fand Enter die Gesellschaft von Leichen und Fliegen jeglicher Art allerdings entbehrlich. Besonders dann, wenn er in Ruhe essen und am allerwenigsten an die Arbeit denken wollte. Seine flache Hand krachte auf die Tischplatte hernieder. Das Buttermesser hob ein Stück weit vom Teller ab, um im nächsten Augenblick scheppernd dortselbst wieder zu landen. Der Kaffee, den er sich eben nachgeschenkt hatte, schwappte über den Tassenrand und hinterließ eine Pfütze auf der Untertasse.
Vom Nebentisch ertönte ein spitzer Schrei. Mit erschrockener Miene fasste sich Frau Professor Krautwaschl an die Brust. Nicht zum ersten Mal fragte sich Enter, wie die einstige Deutsch- und Englischlehrerin den jahrzehntelangen Unterricht an einem Gymnasium überlebt hatte. Oder war ihr ramponiertes Nervensystem eine Spätfolge davon? Der ihr angetraute, ebenfalls pensionierte Ingenieur Krautwaschl tadelte Enter mit einem strengen Blick. Der murmelte eine halbherzige Entschuldigung und deutete zur Fliege, die nun am Rand seines Brotkörberls hockte, die vorderen Beine aneinanderreibend, ihn unverschämt angrinsend. Wenigstens empfand er es genau so und nicht anders. Na warte, du Mistvieh …
Abermals wachelte Enter die Fliege von ihrem Platz, die daraufhin endlich beschloss, an den Tisch der Krautwaschls zu wechseln. Dort wurde sie nicht einmal ignoriert. Einigermaßen erleichtert wandte Enter seine Aufmerksamkeit wieder dem Magazin zu, das die heimische Natur und das Landleben von seinen schönsten Seiten zeigte. Zwischen dem dritten Brot und dem zweiten Kaffee las er den Bericht über den Brauch des »Sunnwend-Rachns«.
Während landauf, landab die Sonnwendfeuer gen Himmel loderten, war man in einem weststeirischen Dorf darum bemüht, die Flammen mit frischem Reisig und wohldosierten Wassergüssen möglichst niedrig zu halten und dicken weißen Rauch zu erzeugen. Der zog dann über Wiesen und Felder und sorgte angeblich für ein gutes Erntejahr. Bereits Tage vorher sammelten die Frauen des örtlichen Kultur- und Brauchtumsvereins Kräuter und Blüten, aus denen sie »Sunnwendbuschen« und »Sunnwendgürtel« banden. Letztere sollten Krankheiten aus dem Körper des Trägers ziehen, sofern dieser mit dem Gürtel um die Leibesmitte über die rauchende Glut sprang und ihn anschließend im Feuer verbrannte.
Die geweihten Sunnwendbuschen durften nach dem Fest mit nach Hause genommen und dort aufgehängt werden, um Unheil abzuwenden. Sprangen Mann und Frau Hand in Hand übers glosende Reisig, stand ihre Hochzeit bevor.
Nun gut, aufs Heiraten konnte Enter getrost verzichten. Eine Scheidung hatte ihm schon gereicht. Alles andere klang nach einem Heidenspaß, der in zwei Tagen wieder stattfinden würde. Besagtes Dorf war nicht allzu weit vom Koglerhof entfernt. Kesselgulasch, Türkensterz, Mehlspeisen und Johanniskrautschnaps erleichterten ihm den Entschluss, zur Sonnenwende in Graden vorbeizuschauen.
Dass die verdammte Fliege just in dem Moment auf dem Magazin landete, als Enter es kraftvoll zuklappte, besiegelte ihr Schicksal. Die Krautwaschls hatten den Frühstücksraum längst verlassen, sodass der Frau Professor ein weiterer Schrecken erspart blieb. Schade war es allerdings um die Zeitschrift.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen erhob sich Franz Enter vom Frühstückstisch. An diesem prachtvollen Urlaubstag wollte er sich einer seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen hingeben – der Jagd nach Schmetterlingen und Libellen. Freilich ohne ihnen Schaden zuzufügen, er war ja kein Unmensch. Sondern um sie mit seiner neuen Kamera zu fotografieren. Im Gegensatz zu Fliegen mochte er die anmutigen Geschöpfe nämlich.
Die Sommerwiese, auf der sich Hunderte heimische Schmetterlingsarten tummelten, war zu Fuß in einer guten Stunde zu erreichen. Dem kleinen Badesee, der eine weitere Stunde entfernt lag, wollte er nach dem Mittagessen einen Besuch abstatten. Vielleicht sogar ein paar Runden im kühlen Nass schwimmen, ehe er sich den Libellen widmen würde.
Die gute Laune verging Franz Enter, kaum dass er eine halbe Stunde durch den Wald gewandert war. Erst hörte er nur das Surren. Dann erblickte er sie in der Nähe des Gestrüpps. Zuletzt nahm er den Geruch wahr. Den Geruch, den er schon so oft gerochen hatte, dass er ihn erst später als die meisten anderen Menschen registrierte. Noch konnte er kehrtmachen, ging es ihm durch den Kopf. Bestimmt war nur ein Wildtier hinter den Sträuchern verendet. Der Förster würde es gewiss bald finden und wegschaffen. Aber nein …
Die Schusswunde auf der Stirn des Jägers war nicht zu übersehen. Ebenso wenig die zahlreichen Schmeißfliegen, die ihrer Natur gehorchten. Enter hätte heulen können. Nicht einmal in seinem Urlaub blieb er von Leichen verschont. Und von diesen Mistviechern. Ja, Franz Enter hasste Fliegen. So oder so.
Abends wurde es unheimlich auf der Feenwiese.
Mythenumwoben, ein verwunschener Ort.
Dann war es geisterhaft dunkel und still.
»Anton!«
Kurze Pause.
Lauter: »Anton!«
Er hörte den Ruf seiner Mutter ganz genau. Sie hatte schon mehrfach gerufen. Lauter und drängender. Aber er wollte nicht kommen. Noch nicht, nicht jetzt.
Ein paar Minuten blieben ihm, bevor er Ärger riskierte.
Vorsichtig grub er weiter in diesem Loch, das er da unter dem verzweigten Wurzelgeflecht entdeckt hatte. Da zwischen den alten und mürben Wurzeln dieses schweren umgestürzten Baumes, da war eine Höhle, wie sie Kaninchen graben. Ob eins drin hockte? Er hatte den Gang mit den Fingern vertieft, immer tiefer, immer mit der Angst, den die Finger aussenden, wenn die Augen nichts sehen können. Könnte da was beißen?
Er spürte Steinchen und Erdkrümel und zwängte die Hand ganz hinein vorbei an dünnem Wurzelwerk, grub noch etwas tiefer. Dann stießen seine Fingerspitzen auf etwas Fremdes. Ha! War da ein Nest? Hockte jemand drin?