1. Afrikaflug
2. Fünf Faden tief
3. Der Weg nach Libertalia
4. Der Nordwind-Express
1. Auflage
Copyright © 2018 Tanja Schwarz-Bädecker
Copyright © 2019 Edition Graugans
Friedrichstraße 95
D-10117 Berlin
www.edition-graugans.de
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-944704-52-4
Cover, Karte und Layout: Leni Waltersdorf
Satz: Jo Wittgenhausen
Lektorat: Nadine Muriel
Umschlagfotos: iStock
Serien-Logo: Lisa-Maria Graf
Druck: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Meinen Eltern
Echo oNgasa agasolaka adashoshaga.
Was Ngassa einmal an sich genommen
hat, gibt er niemals wieder her.
−Spruch des Sukuma-Volkes
Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel; es war
wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen,
wie die Stimme des Allmächtigen, wenn sie gingen;
es war ein tosendes Rauschen gleich dem Lärm
eines Heerlagers. Wenn sie standen, ließen sie
ihre Flügel herabhängen.
−Hesekiel 1,24
Fünf Faden tief liegt Vater dein:
Sein Gebein wird zu Korallen;
Perlen sind die Augen sein:
Nichts an ihm, das soll verfallen,
das nicht wandelt Meereshut
in ein reich und seltnes Gut.
Nymphen läuten stündlich ihm,
Da horch! ihr Glöcklein – Bim! Bim! Bim!
−William Shakespeare, Der Sturm
„Du hast es schließlich so gewollt.“
Worte wie Fleischhaken. Meine Blicke wandern dorthin, wo ich die Stimme vermute. Ich sehe aber niemanden – nur einen schwarzen Fleck, wo Sterne leuchten sollten.
„Ich soll das gewollt haben?“, sage ich. „Du spinnst.“
Ich bekomme keine Antwort.
Das Holzboot ächzt unter mir. Der See hebt und senkt sich, als würde sich ein Ungeheuer auf seinem Grund ringeln. Ngassa windet sich im Schlaf, denke ich. Ngassa, der gleich unser Schicksal besiegeln wird, aber vorher noch seinen Spaß mit uns treiben will.
Ja, er ist da. Ich brauche ihn aber nicht zu sehen. Ich spüre ihn.
Da draußen, wo ich den Horizont vermute, schimmern noch die Laternen der afrikanischen Nachtfischer auf ihren Einbäumen und Daus. Der Verwesungshauch des Sees steigt in meine Nase, dazu der beißende Neoprengeruch meines klammen Tauchanzugs. Der Anzug kneift um die Brüste, um Hüfte und Schenkel, als wäre er für ein kleines Mädchen gemacht. Das bin ich aber nicht mehr. Jedenfalls nicht, seitdem ich ihn – meinen Reisekameraden – kenne. Einen Augenblick lang habe ich Lust, zurückzufahren und Matthew um einen größeren zu bitten.
Aber Matthew wird nie wieder Tauchanzüge aushändigen. Matthew wird nie wieder etwas tun.
Ich soll das also gewollt haben? Niemals. Denn ich hasse das Wasser. Nicht, dass ich Angst davor hätte. Ich gehe gern an den Strand und ich schwimme ziemlich gut. Trotzdem, Wasser ist einfach nicht mein Element. Es ist dieses Gefühl, nicht zu wissen, was unter mir ist. So wie jetzt. Und es soll mein Wunsch sein, mit diesem Spinner im Victoria Nyanza tauchen zu gehen?
Ich hasse den See. Ich hasse diese Nacht. Und ich hasse ihn.
Tue ich’s wirklich? Kann ich meinen Reisekameraden tatsächlich hassen, nach allem, was uns schon verbindet? Ich suche ihn wieder, taste die Dunkelheit mit meinen Blicken ab, finde aber nur seinen Schatten. Für einen Moment vergesse ich sogar, wie er aussieht. Ist er weiß oder schwarz? Ein Mensch oder ein Geist? Spielt das alles jetzt, wo wir beide gleich unter den Wellen verschwinden, zu Ngassa hinabsinken werden, überhaupt eine Rolle?
Ich weiß aber, wie er aussieht. Ich weiß inzwischen auch, wie er wirklich heißt, wo er herkommt und was er sucht. Was er tun wird, wenn er es findet, kann ich mir hingegen nicht vorstellen.
Nein, ich habe diese Nacht nicht gewollt. Dennoch ist mir bewusst, dass ich mich tatsächlich an einem Tag vor nicht sehr langer Zeit für ihn entschieden habe. Denn eigentlich treffen wir ständig Entscheidungen, oder? Wir treffen sie in jeder Minute des Tages, ohne zu ahnen, dass es überhaupt Entscheidungen sind. Der einfache Gang zum Eckladen besteht aus Hunderten, ja, Tausenden von Entscheidungen, und jede einzelne davon kann unvorstellbare Konsequenzen nach sich ziehen.
Ich habe in letzter Zeit eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen, und nun bin ich hier. Dabei wollte ich die ganze Zeit über nur behilflich sein. Aber wenn wir uns einmal für einen Menschen, für einen Reisekameraden entscheiden, wissen wir nie, wo die Reise enden wird.
Das alles haben mir meine „wunderbaren Ideen“ eingebrockt. Nein, ich will nie wieder eine wunderbare Idee haben. Eine Prise gesunden Menschenverstands würde mir völlig ausreichen.
Ein Streichholz zischt und blitzt auf. Mein Reisekamerad zündet eine Kerosinlampe auf dem Boden des Bootes an. Seine dunklen Augen und die helle Stirn leuchten kurz auf. Wir machen uns fertig. Schultern unsere Sauerstoffflaschen, checken unsere Ausrüstung. Ich stecke meine blonden Haare so gut es geht unter die Kopfhaube und verschlucke meine Angst, während sich meine Därme zu Knoten schnüren.
Ich schaue aufs Wasser. Meine Mutter hatte mich doch eindringlich vor tropischen Gewässern gewarnt. Vor der Blutwurmkrankheit, vor diesen Parasiten, die buchstäblich in deinen Blutkreislauf eindringen, sodass der See ein Teil von dir wird und für immer in dir weiterlebt.
Das Wasser ist schwarz und ölig wie Tinte. Tue ich, was er von mir verlangt, werde ich in einen See wie aus Tinte eintauchen und vielleicht nie wieder zurückkehren. Wie entsetzlich! Und ich weiß jetzt schon, wenn ich eines Tages mal versuche, das alles aufzuschreiben, wird es ebenfalls so sein, als ob ich in einen See aus Tinte eintauche und erst wieder das Licht der Welt erblicke, sobald endlich alles auf Papier gebannt ist.
Aber ... Wer weiß? Vielleicht kann ich dadurch den See, den Geist Ngassas, tatsächlich von meinem Körper abstreifen, aus meinem Blut spülen und endlich ins Reich der Lebenden zurückkehren. Einfacher geht’s nicht: Mein Heft aufschlagen, einen Füller zwischen die Finger nehmen und losschreiben. Tinte wie Herzblut verschütten, bis alles gesagt ist. Erst dann werde ich meinen Frieden finden.
Aber zunächst gilt es, mich um seinen Frieden zu kümmern. Ich hab’s doch gewollt, behauptet er. Vielleicht hat er doch recht.
Mein Reisekamerad setzt sich die Maske auf, nimmt das Mundstück zwischen die Zähne, das schwarze Wasser schlägt über seinem Kopf zusammen und weg ist er. Ohne ein Wort zu sagen, denn es ist schon alles gesagt.
Kann ich ihm einfach so folgen? Auf den Bodenbrettern liegt eine Traube Fingerbananen. Ich denke nicht nach, sondern packe sie, reiße die Bananen einzeln ab und schmeiße sie ins Wasser, während ich laut vor mich hin sage: „Ntale Ngassa nakulomba!“
Ich weiß, das ist blanker Aberglaube. Ngassa gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben. Es kann ihn niemals geben. Aber was kann es mir jetzt noch schaden?
Ich werde nie bereiter sein als in diesem Augenblick. Die Gesichtsmaske beschlägt, das Mundstück schmeckt bitter. Ich setze mich auf den Rand des Bootes, kippe mich nach hinten ...
… und übergebe mich dem Geist des Sees.
Ich hatte schon immer eine Schwäche für Masken. Masken basteln, Masken sammeln, Masken tragen, und zwar so lange, wie ich mich erinnern kann. Das ist kein Hobby, das ist ein Schicksal. Heute, wo ich fünfzehn bin und seit knapp neun Monaten mit meinem großen Bruder Daniel und unserer Mutter in Ostafrika lebe, kann es schnell zu einer Tragödie werden.
Es gibt keine Direktflüge von München nach Daressalam. Für gewöhnlich fliegen wir zunächst nach Amsterdam oder London und von dort direkt zur tansanischen Hauptstadt, wo uns unser Stiefvater am Flughafen abholt und in seiner einmotorigen Cessna nach Zimmermann’s Bend am Ruahafluss bringt. Aber dieses Mal fliegt der Airbus nur bis Nairobi und ich muss dort zwei Stunden auf den Anschlussflug warten. Ich sage „ich“ und nicht „wir“, denn Daniel hat nur anderthalb Stunden zu warten, bis seine Maschine ihn weiter nach Arusha bringt. In den kommenden sechs Wochen, in denen er seinen Computer-Leistungskurs im Internat absolviert, werde ich nicht nur vaterlos, sondern auch bruderlos sein. Sozusagen eine Zweidrittelwaise. Das kann heiter werden.
Heute ist der sechste Januar. Dreikönigstag. Epiphanias. Aber von Sternsingern und Vanillekipferln gibt es hier keine Spur, von besinnlicher Feiertagsstimmung erst recht nicht. Gestresste Reisende aller Nationen hetzen an uns vorbei. Ein Lautsprecher kündigt den Abflug der Maschinen nach Kairo und Entebbe an, während wir die uns verbleibende gemeinsame Zeit totschlagen.
Daniel und ich vergnügen uns in den Andenkenläden. In den „Giftshops“. Ein tolles Wort – als könne man dort nicht nur Ansichtskarten und Plüschtiere kaufen, sondern auch eine Packung Arsen und eine Schachtel Zyankalipillen und meinetwegen auch ein paar Mäusefallen für zwischendurch. Als Zweidrittelwaise brauche ich aber keine Mäusefallen, sondern ein wesentlich stärkeres Mittel gegen Quälgeister und Gefahren.
Ich werde rasch fündig. Dort, über einer Kleiderstange mit Batiktüchern und „Jambo Bwana!“-T-Shirts, schaut eine Reihe gruseliger Holzmasken auf mich herunter. Strähnige weiße Haare hängen von ihren schwarz lackierten Köpfen und rasiermesserscharfe Zähne blecken in höhlenartigen Schreimäulern. Wie die Ahnengeister einer längst aufgefressenen Kannibalensippe fixieren sie die ahnungslose Menschenwelt aus hungrigen Augen. Die wären etwas für meine Sammlung im Missionshaus. Echte Stammeskunst. Dennoch kann ich den Stamm nicht ausmachen. Makombe? Chagga? Luguru?
„Ist es nicht komisch, dass man die beste afrikanische Kunst immer auf Flughäfen und in Hotelläden findet anstatt auf dem Straßenmarkt oder im Busch?“, frage ich Daniel.
Ich hänge das orange-rote Batikkleid, das ich gerade angeschaut habe, wieder auf die Stange und lege das Basecap vom „Hard Rock Café Nairobi“ zurück ins Regal. Mein langes, strohblondes Haar ist zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, der wie ein Wasserfall meinen Rücken hinunterstürzt. Das ist jedenfalls der Effekt, den ich erzielen möchte. Den „Victoria-Falls-Look“ nenne ich ihn. Er kam jedenfalls gut an bei unserem Heimatbesuch in München, zusammen mit meiner tief gebräunten Haut, während ich auf die Menschen hier unten wahrscheinlich nur blass und fremd wirke. Ich ziehe den dicken schwarzen Wollpulli, den mir meine Oma gerade zu Weihnachten geschenkt hat, über den Kopf. Der Temperaturunterschied zwischen München und Nairobi Anfang Januar beträgt fast dreißig Grad, und obwohl die Klimaanlage ihr Bestes gibt, schwitze ich wie ein Sieb.
„Und ist es nicht komisch, wie einfach man die Leute reinlegen kann?“, antwortet Daniel. Er nimmt eine besonders grimmig dreinblickende Maske von ihrem Haken an der Wand und zeigt mir den Aufkleber auf der Unterseite. „Made in China“, liest er vor.
„Was für ein Betrug!“ Ich verschränke die Arme. Mein Ärger über diese Halsabschneider lässt mich meine eigene Gutgläubigkeit vergessen. Und ich stelle fest: Nichts auf dieser Welt ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht.
Das hätte das erste Warnzeichen sein sollen.
Daniel hält die Maske vor sein Gesicht, sodass nur sein brauner Haarschopf dahinter hervorlugt. „Und die Zähne sind aus Plastik! Siehst du, Jenny? Nur das Beste für die Touris.“ Er schaut mich durch die Augenlöcher an und grunzt wie ein Dämon, bis wir beide lachen. „Exotikkitsch!“ Er hängt die Maske an ihren Haken zurück und wischt sich die Hände an seiner Jeans ab. „Wie praktisch, wenn ganze Flugzeugladungen von Touristen hier durchgeschleust werden, die keine Ahnung haben, wo sie sind und was sie ihren Lieben daheim schenken sollten. Hauptsache, fremd und aus der Ferne! Als ob man eine Ahnenmaske einfach kaufen könnte wie eine Tafel Schokolade. Wenn man den Leuten hier glaubt, ist mit den Ahnen aber nicht zu spaßen. Aber apropos Schokolade ...“ Daniel legt beide Hände auf seinen Bauch und sieht einen Moment lang selber wie eine afrikanische Ahnenfigur aus. „Komm, wir essen was. Wir warten schon ewig und ich verhungere gleich.“
Wir verlassen den Laden und lenken unsere Schritte in Richtung Snackbar. Vor der Auslage eines Elektronikladens bewundern wir die neuesten Smartphones, die, wie wir beide wissen, für uns draußen in der Pampa, wo wir wohnen, ohne Empfang und ohne zuverlässige Stromversorgung nur noch Staubfänger wären. Für uns gibt es kein GPS, keine Musikvideos, keine sozialen Netzwerke, nichts von den Dingen, auf die man heute angeblich nicht verzichten kann. Wir stehen unmittelbar davor, in eine Welt zurückzukehren, wo wir unsere Erlebnisse und Empfindungen nicht durch Mikroprozessoren und soziale Medien filtern lassen, sondern durch Augen, Ohren und vor allem durch Erinnerungen, Geschichten und Mythen, die bis in eine Zeit lange vor unserem Erdendasein zurückreichen und die lange nach unserem Ableben weiterwirken werden. Ob dieser Zustand einen Verlust oder einen Gewinn darstellt, wird sich zeigen.
Als wir an der Glaswand des belebten Wartebereichs vorbeigehen, prüfe ich die Computeranzeige auf einem der großen Bildschirme. Obschon die Zeit so langsam zu vergehen schien, ist es später, als ich gedacht hatte.
Als wir an einer Reihe von Plastiksitzen vorbeigehen, stößt Daniel plötzlich einen Fluch aus. Er dreht zuerst eine Pirouette dreht, dann fallen seine 1,85 Meter krachend zu Boden.
„He, was soll das?“, frage ich. „Das ist ein Flughafen und kein Aerobic-Studio.“
„Sehr witzig.“ Daniel rappelt sich wieder auf und wischt sich den Staub von den Hosenbeinen. „Siehst du nicht, dass ich ausgerutscht bin?“ Dann bückt er sich und hebt einen langen weißen Zettel aus dünner Pappe vom Fußboden auf. Der Umriss von Daniels Schuh zeichnet sich darauf ab wie der Daumenabdruck eines Riesen.
„Was hast du da?“, frage ich.
„Nichts“, sagt Daniel. In der einen Hand hält er das Papier, mit der anderen reibt er sich das Knie. „Nur eine Touristenbroschüre oder so was. Manche Leute haben noch nie von Mülltonnen gehört.“
Er wirft den Zettel in einen Papierkorb neben ihm.
„Eine Broschüre? Aber es waren keine Bilder darauf“, sage ich. „Warte. Sehen wir es uns genauer an, bevor du es einfach wegschmeißt.“
Daniel zuckt mit den Achseln und zieht das Papier wieder aus dem Papierkorb. Es ist an einem Ende klebrig, da es in einen halbvollen Colabecher gefallen ist.
Daniel dreht den Zettel um. „Hey, es ist eine Bordkarte! British Airways ... Da hat tatsächlich jemand seine Bordkarte verloren, als er von seinem Sitzplatz aufgestanden ist. Sie muss ihm aus der Hosentasche gefallen sein.“
Ich nehme ihm den Zettel aus der Hand. „Paul Reynolds“, lese ich vor. „Und schau’ mal – er ist auf meinen Flug nach Dar gebucht!“
Ich denke kurz nach ... und treffe eine Entscheidung.
„Daniel, wenn dieser Paul Reynolds seine Bordkarte nicht wiederfindet, dann wird er ganz schön in Schwierigkeiten geraten. Wir müssen ihn suchen und sie ihm zurückgeben.“
Ehrlich – ich bin die geborene Pfandfinderin.
„Ihn suchen? In dieser Menschenmenge? Lass uns doch einfach bei British Airways Bescheid sagen. Die können sich darum kümmern und ihn ausrufen.“
„Und wenn er die Ansage nicht hört?“, frage ich. „Er braucht sie gleich. Wir werden ihn schon finden.“
Wir schauen uns in dem riesigen Wartebereich um, der mit Hunderten von Passagieren gefüllt ist, die alle auf Flüge nach Kapstadt und Dakar, Amsterdam und Neu-Delhi warten. Lauter Menschenmasken. Hunderte von Daumen befummeln Hunderte von Smartphones.
Ganz vorne sitzen indische Geschäftsmänner mit Turbanen auf den Köpfen und lesen in der Londoner Times. „Ich glaube, die können wir ruhig ausschließen“, sagt Daniel.
Wir gehen zur nächsten Sitzreihe, wo sich vier afrikanische Priester auf Kiswahili unterhalten. Auch unwahrscheinlich. „Paul Reynolds?“, fragt Daniel trotzdem, aber er erntet nur verständnislose Blicke.
Vier amerikanische Bergbauingenieure mit öligen Jeans und Cowboyhüten sitzen einige Reihen weiter und paffen trotz des Rauchverbots an den Zigaretten, die sie wohl gerade im Duty-Free-Shop gekauft haben. Apropos „Giftshop“! Ich nehme die Bordkarte aus Daniels Hand und gehe auf sie zu. „Heißt einer von Ihnen Paul Reynolds?“, frage ich auf Englisch.
Die Männer drehen sich um und schauen mich langsam von oben bis unten an. „Süße“, sagt einer von ihnen, „ich werde jeder sein, den du magst, wenn’s dich nur glücklich macht.“
Zu allem Überfluss zwinkert er mir auch noch zu.
Also ein erstklassiges Ekelpaket. Aber mich haut so was nicht um. Es ist schließlich nicht das erste Mal in den letzten Monaten, dass ich von fremden Männern angezwinkert werde, und das liegt vermutlich nicht nur am „Victoria-Falls-Look“.
Ich gehe weiter zu einer Gruppe in Khaki gekleideter Touristen aus Dänemark, zu einem jungen Paar aus Polen, das offensichtlich auf Hochzeitsreise ist, zu einem Kreis von afrikanischen Diplomaten in gediegenen dunklen Anzügen, zu drei kenianischen Polizisten, zu einem Piloten der KLM und schließlich zu einer Mutter mit zwei Paar zappeliger rothaariger Zwillinge, jeweils circa vier und sechs Jahre alt, die sich alle um die gleiche Smarties-Packung streiten. Ihre Babysitterin, wer immer sie auch sein mag, tut mir leid, die Mutter sowieso. Aber keiner von diesen Menschen heißt Paul Reynolds.
Daniel nimmt mir die Bordkarte wieder aus der Hand. „Ich zeig dir, wie man’s macht, Schwesterherz. Wenn Mr. Paul Reynolds auf den Flug nach Dar wartet, dann hat er bestimmt genauso viel Hunger wie wir, oder? Also, suchen wir ihn in der Snackbar.“
Die Snackbar besteht aus etwa zwei Dutzend weißer Plastiktische und einer Holztheke, an der sich zwei pakistanische Kellner geradezu ineinander verkeilen, um die Wünsche der ständig anwachsenden Kundenmenge zu befriedigen. Kaffeebecher, Orangensaftfläschchen, Brötchen, Sandwichs, in Plastik eingeschweißte Cashewnüsse und Kartoffelchiptüten sausen wie Schneebälle über die Theke.
„Paul Reynolds?“ Daniel hält die Bordkarte in die Luft. „Heißt jemand hier Paul Reynolds?“ Die Köpfe der Gäste drehen sich kurz um und werden geschüttelt. Nun erweist sich Daniel als der Pfadfinder der Familie. Er geht von Tisch zu Tisch, als würde er Geld fürs Rote Kreuz sammeln. „Paul Reynolds? Paul Reynolds?“ Er dreht sich wieder zu mir. „Siehst du? Er existiert gar nicht.“
So schnell gebe ich nicht auf. „Ein letzter Versuch“, sage ich und brülle: „Heißt irgendjemand hier Paul Reynolds?!“
„Wer will’s wissen?“ Die Stimme kommt von hinter uns. Daniel und ich drehen uns um und erblicken einen schlanken jungen Weißen mit schwarzem Haar, etwa so alt und so groß wie Daniel, der auf einem Barhocker am Fenster sitzt und an seinen Fingernägeln kaut. Sein langärmeliges grünes Hemd und seine neue schwarze Jeans sind zerknittert, als hätte er schon eine lange Reise hinter sich. Auf seinem Knie balanciert er einen breitkrempigen Strohhut. Auf dem runden Plastiktisch vor ihm steht eine halbleere Colaflasche. Ganz der coole Weltreisende, wie im Klamotten-Katalog. Die Fensterscheibe hinter ihm zittert und die Flasche gleich mit, als ein Jumbo der Air India Vollgas gibt und die Startbahn hinunterdonnert.
Komisch. Ein Weltenbummler mit abgeknabberten Fingernägeln. Wanderlust und schwache Nerven. Wie passt das zusammen?
„Du hast deine Bordkarte verloren“, sagt Daniel und hält ihm den Zettel mit den Fingerspitzen entgegen.
Paul Reynolds greift nach der Gesäßtasche seiner Jeans. „Offensichtlich“, sagt er. Die großen schwarzen Augen in seinem wohlgeformten, etwas farblosen, bartstoppligen Gesicht verraten keine Gefühle. Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, denke ich. Wie Schneewittchen.
Er reißt die Bordkarte aus Daniels Hand und faltet sie, bevor er sie in die Brusttasche seines Khaki-Hemdes steckt und die Tasche demonstrativ zuknöpft. Er dreht sich wieder um und schaut dem Jumbo beim Start zu. „Danke, übrigens“, sagt er über seine Schulter.
„Nicht sonderlich freundlich, oder?“, flüstert mir Daniel ins Ohr.
Ich schaue den jungen Mann genau an. Habe ich schon gesagt, dass er gut aussieht? Das tut er, keine Frage. Wenn sein Gesicht eine Maske wäre, würde ich sagen: Eine erstklassige Arbeit! Wenn nur nicht die Sache mit den Fingernägeln wäre.
„Okay“, sage ich, „bei den Pfadfindern heißt es, dass man jeden Tag eine gute Tat verrichten soll. Da auch wir jetzt unseren heutigen Auftrag pflichtgemäß erledigt haben, können wir nun mit reinem Gewissen etwas essen.“ Ich gehe mit Daniel zurück zur Theke, wo wir beide ein Käsesandwich und eine Cola bestellen.
„Was denkst du, warum er nach Dar fliegt?“, frage ich, nachdem ich den letzten Bissen meines Sandwichs verschlungen habe. „Sein Dialekt ist nicht ganz eindeutig. Ich würde auf einen Engländer tippen. Er könnte aber auch ein Waliser oder sogar ein Schotte sein, ich halte sie manchmal schwer auseinander. Aber wie oft fliegt so ein britischer Junge allein nach Ostafrika?“
„Vielleicht besucht er Verwandte?“ Daniel pickt die letzten Brotkrümel von seinem Teller. „Oder er ist unterwegs in geheimer Mission?“
„Oder er befindet sich auf einer Suche“, sage ich. „Weißt du noch, diese Literatureinheit im Sommer, wo du die alten Ritterromanzen lesen und die Bögen dazu ausfüllen musstest? Vielleicht ist der Junge wie die Ritter der Tafelrunde auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Oder wie Siegfried, der den Drachen tötet, um an den Nibelungenschatz heranzukommen. Oder was auch immer.“
„Du hast vielleicht Vorstellungen.“ Daniel wirft seinen Pappteller in den Müllbehälter. „Ein Ritter mit einem dämlichen Strohhut! Ich jedenfalls kann nicht behaupten, dass mir seine Reisepläne schlaflose Nächte bereiten werden.“
Ich schaue über meine Schulter. „Sieh nur, wie er auf seinem Hocker wippt. Ich weiß nicht, was du denkst, aber mich macht diese Geschichte neugierig. Mal sehen, was wir aus unserem Sir Lancelot herauskriegen.“
„Wie du willst“, sagt Daniel. „Aber es ist nie sonderlich klug, seine Nase in die Privatangelegenheiten anderer Menschen zu stecken. Es hört sich fast an, als würde dir wieder deine weibliche Neugier zu schaffen machen.“
Ich lache auf. „Daniel, ich bitte dich. Was weißt du schon über die weibliche Neugier? Oder über das weibliche Sonstwas? Wenn ich an diese Céline in München denke ...“
„Schnauze!“
Aber nun ist auch Daniels Neugier geweckt. Zwei Pfadfinder auf Entdeckungstour also. Wir greifen nach unseren Colas und schlendern zurück zu Paul Reynolds, der immer noch am Fenster hockt und auf die leere Startbahn und die flache, baumlose Ebene dahinter hinausstarrt.
„Wir haben gesehen, dass du nach Dar fliegst“, sagt Daniel.
Paul wirbelt herum und fixiert Daniel einen Moment lang wie ein Gespenst. Endlich scheint er sich an Daniels Gesicht zu erinnern, aber er lächelt nicht. „Was ist damit?“, will er wissen, und dreht sich wieder zum Fenster.
„Na ja“, sagt Daniel, eher überrascht als beleidigt. „Du bist halt ziemlich weit von zu Hause weg.“
„Vielleicht.“ Paul dreht sich wieder zu uns um und schaut uns an, als wolle er einen Vorwurf zurückweisen. „Aber ihr wohl genauso, oder?“
„Eigentlich nicht“, erwidere ich und lächele wie eine Schaufensterpuppe. Es fühlt sich schön an, endlich etwas Vernünftiges sagen zu können. „Wir wohnen in Tansania. Wir sind im vergangenen Mai mit unserer Mutter dorthin gezogen.“
„Mm-hm.“
Ich betrachte die abgenutzte Tragetasche aus grauem Segeltuch, die vor Pauls Füßen liegt. Vom Griff baumelt ein Namensschild der British Airways. Und dann entdecke ich den Namen, der in ordentlichen handgeschriebenen Druckbuchstaben auf dem Zettel steht: Paul Reynolds, 21 Bedford Place, London. „Du kommst also aus London“, stelle ich fest.
Paul rutscht auf seinem Hocker hin und her. „So ungefähr.“
„Daniel und ich stammen aus München. Wir haben gerade mit unseren Großeltern dort Weihnachten gefeiert. Es war super – der Christkindlmarkt am Marienplatz, Schlittschuhlaufen vorm Nymphenburger Schloss, Partys mit unseren Freunden, Tanzen im Club. Und nun kehren wir zurück zu unserer Mutter in Tansania. Wieder Sonne tanken.“ Ich senke meine Stimme. „Und was machst du in Afrika?“
„Ich ... habe hier zu tun“, sagt Paul. „Nichts Besonderes.“
„Ist es deine erste Reise hierher?“, fragt Daniel.
„Ja, schon, aber was soll’s? Gibt’s ein Gesetz dagegen?“
„Wieso?“, frage ich. „Wir sind halt neugierig. Weißt du, es gibt hier einen alten Spruch: ‚Wer einmal von den Wassern Afrikas getrunken hat, der wird immer wieder dorthin zurückkehren‘.“
Paul schüttelt den Kopf. „So was Dämliches habe ich noch nie gehört.“
„Na wunderbar.“ Daniel gibt auf. „Schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Sehr angenehm.“
Wir drehen uns um und gehen in den Wartebereich hinaus.
„Wirklich ein reizender Kerl, meinst du nicht?“, fragt Daniel. „Er tut so, als wären wir zwei Spione, die ihn aushorchen wollen. Dabei haben wir lediglich seine verdammte Reise gerettet. Dabei kümmert es uns einen Dreck, was er vorhat.“
„Ja, ich verstehe es auch nicht“, sage ich. „Da frage ich mich ...“
„Ach nein, nicht schon wieder deine weibliche Neugier!“
„Klappe!“
Im Wartebereich bemerke ich, dass sich eine Menschenschlange vor einem der Flugsteige gebildet hat. Der Lautsprecher ruft: „... Ich wiederhole: Alle Passagiere des Fluges Air Tanzania 414 nach Arusha bitte zum Flugsteig 16.“
„Das wär’s dann“, sagt Daniel. Er umarmt mich und gibt mir einen kurzen Bruderkuss. „Wir sehen uns in sechs Wochen wieder“, beruhigt er mich, während er seinen Rucksack schultert und sich langsam entfernt. „Und lass dich nicht von diesem komischen Paul Reynolds verrückt machen.“
Weg ist er.
Nun stehe ich alleine da. Als Zweidrittelwaise.
Der Flughafen, modern und effizient, könnte sich überall auf der Welt befinden – in Nairobi, München oder Peking – was mir plötzlich das beklemmende Gefühl gibt, mich im Nirgendwo aufzuhalten. Verschollen im Weltall, ohne Rückflugticket.
Ich schlendere von einem Geschäft zum anderen, rieche an Parfümflakons und blättere durch ausländische Zeitschriften, bis auch mein Flug ausgerufen wird. Ich passiere den Flugsteig, wo ich meine Bordkarte der freundlichen afrikanischen Mitarbeiterin vorzeige, und steige einige metallene Stufen auf das sengend heiße Vorfeld hinunter, wo mich ein Flughafenbus mit qualmendem Dieselmotor erwartet. Von Paul Reynolds entdecke ich keine Spur. Er hat wahrscheinlich die Durchsage verpennt. Sein Problem. Ich stelle meine Tasche zwischen die Füße und halte mich an dem öligen Lederriemen fest, der von der Decke baumelt. Kaum sind alle Passagiere an Bord, schließen sich die pneumatischen Türen und der Bus ruckelt los.
Sekunden später tritt der Fahrer auf die Bremse. Drei schwere Koffer kippen um. Irgendwo flucht ein Ire. Die Türen zischen auf. Herein tritt die lange Gestalt Paul Reynolds’, mit seinem Strohhut auf dem Kopf und seiner Tragetasche aus Segeltuch in der Hand. Der Busfahrer brüllt ihn auf Kiswahili an. Die Türen schließen sich wieder und der Bus fährt dem Flieger entgegen.
Drei Minuten später halten wir an. Ich verlasse den Bus mit den anderen Fluggästen und steige die Aluminiumtreppe hoch. Der weiße Airbus der British Airways glitzert in der Nachmittagssonne. Ich habe einen Sitz am Gang. Während ich gerade dabei bin, mich anzuschnallen, bemerke ich wie Paul als Letzter an Bord kommt.
„Nicht doch ...“, flüstere ich. Aber bevor ich den Gedanken zu Ende führen kann, steht mein neuer Freund schon neben mir und begutachtet die Sitznummern über meinem Kopf. Seine Blicke landen auf mir. „Es sieht so aus, als würde der Fenstersitz mir gehören.“
Das musste wohl so sein. Ich nicke und stehe auf. Paul rutscht knapp an mir vorbei, wobei er seinen festen Po meine rechte Schulter streift, und lässt sich auf den Fenstersitz plumpsen. Die Gepäckablage hat einer wie er offenbar nicht nötig, denn er stopft seine Tragetasche unter den Sitz vor sich, sodass er seine in klobigen Wanderschuhen steckenden Füße obendrauf stellen muss. Als er es sich so weit wie möglich bequem gemacht hat, blättert er ein paar Augenblicke in der Bordzeitschrift, bevor er sich nach hinten legt und die Augen schließt. Gleich wird er losschnarchen, ich weiß es.
Mein Glückstag!, denke ich, während ich versuche, es mir so gut wie möglich gemütlich zu machen. Aber was soll’s? So schlimm ist er vielleicht gar nicht. Schließlich hat er ebenfalls eine schlaflose Nacht hinter sich, und was macht und sagt man nicht alles, wenn man müde ist? Und man muss die Sache von der praktischen Seite her sehen: Wenn man noch keine sechzehn ist und weiblich, dazu gerade Zweidrittelwaise geworden und allein in Afrika unterwegs, dann ist vielleicht männliche Reisebegleitung gar nicht so schlecht. Schließlich dauert der Flug nur zwei Stunden.
Und danach werde ich ihn sowieso nie wiedersehen.
Immer mehr Reisende kommen an Bord und suchen ihre Plätze. Ich schalte mein Handy aus und ziehe zwei Bücher aus meiner Tasche: mein Journal und die englische Shakespeare-Ausgabe, die ich eigentlich schon während des Hinflugs durchackern wollte. Jetzt, auf dem Rückflug, habe ich sie bisher auch nicht in die Hand genommen. Egal. Dafür werde ich zu Hause genug Zeit haben.
Stattdessen schlage ich mein Reisejournal auf. Das kleine, gebundene Moleskine-Notizbuch ist vollgeschrieben mit Stadtimpressionen, Dialogen am großelterlichen Esstisch in Passau, aufgeschnappten Gesprächsfetzen aus der Münchener U-Bahn und vielem mehr. Ich hatte nämlich die originelle Idee, für meinen Blog eine Art Essay über Weihnachten in Bayern zu schreiben. Wirklich genial, oder? Aber jetzt, da ich wieder in Afrika bin, kommt mir dieser Plan nicht mehr so berauschend vor. Ja, wenn ich durch das Flugzeugfenster die blauen Jacaranda-Bäume und die rote Erde Kenias erblicke, bezweifle ich fast, dass es so etwas wie Weihnachten mit Schnee und Tannenbäumen überhaupt gibt.
Mit einem solchen Schmarrn kann ich gewiss keinen Blumentopf gewinnen. Wenn ich nur eine richtig spannende Geschichte entdecken könnte. Ein Thema, an dem ich mich so richtig festbeißen kann. Irgendetwas Ungewöhnliches, das mich und meinen Blog mit einem Mal berühmt macht! Aber was könnte das wohl sein?
Ich weiß schon, wie das geht. Einfach den Stift in die Hand nehmen und weiterschreiben, bis mir die zündende Idee kommt.
Ich blättere zur drittletzten Seite. Gleich unter meinen Impressionen vom Mittelaltermarkt am Wittelsbacher Platz beginne ich eine neue Zeile. Nach wenigen Minuten ohne nachzudenken kritzle ich die Worte: Wer ist er eigentlich?
Moment mal – warum schreibe ich das? Was geht es mich an, wer dieser Paul Reynolds ist? Es ist völlig gleichgültig, dass er gut aussieht. Und eine wohlklingende Stimme hat. Und gut riecht. Gut riecht? Ich denke nach. Was waren diese Viecher, die wir mal im Biologieunterricht behandelt haben? Pheromone – in die Luft freigesetzte Hormone, mit denen Tiere ihre Partner anlocken. Und, wenn ich mich richtig erinnere, nicht nur Tiere ... Ekelhaft! Ich rümpfe die Nase und verbanne den Gedanken aus meinem Kopf.
Nichtsdestotrotz schaue ich unwillkürlich wieder zu ihm hinüber. Er ist wach und seine Blicke wandern zu meinem Journal. Na und? Als Engländer wird er kaum Deutsch können, jedenfalls nicht gut genug, um meine Krakelschrift zu entziffern. Wie alt ist er eigentlich? Achtzehn? Neunzehn? Aber warum denke ich überhaupt an ihn? Eigentlich will ich an Joseph denken – Joseph, den Sohn unserer Haushälterin in Zimmerman’s Bend, dem ich in den letzten Monaten immer näher gekommen bin. Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen, und wenn er jetzt tatsächlich Afrika verlässt und nach Europa geht ...
Ich ziehe Josephs Foto aus dem Buch, wo ich es immer griffbereit halte, und betrachte es. Der große junge Mann mit der dunklen Haut und den freundlichen Augen steht im weißen Hemd und Schlips neben einem blutroten Bougainvillea-Strauch und lächelt mich an. Ich lächle zurück, dann schüttle ich den Kopf und beschäftige mich wieder mit meinem Journal.
Die Flugbegleiterin schließt die Außentür und der Pilot schaltet die Triebwerke ein. Minuten später sind wir in der Luft und fliegen mit knapp neunhundert Stundenkilometern der tansanischen Grenze entgegen.
Nachdem wir circa zwanzig Minuten geflogen sind, kommt wieder die Flugbegleiterin mit ihrem Bordwagen den Gang entlang und verteilt Sandwichs und Getränke. Während ich die Frischhaltefolie von meinem Roastbeef-Sandwich abziehe, schaue ich aus dem Fenster. Gerade taucht ein massiver schwarzer Berg mit einem schneebedeckten Krater aus den Wolken auf. Ich betrachte den Giganten mit seiner schwindenden Gletscherkrone ehrfürchtig wie einen Götzen. Doch nach und nach ertappe ich mich dabei, dass ich Pauls zerklüftetem Profil weit mehr Aufmerksamkeit schenke als den zerklüfteten Felswänden hinter dem Fenster.
Ich gebe meinem unfreiwilligen Reisekameraden, der an seinem Sandwich kaut und ein kleines gebundenes Buch durchblättert, einen Stoß mit dem Ellenbogen und sage: „Das ist der Kilimanjaro, der höchste Berg Afrikas.“
Paul schaut kurz zu mir auf, dann wirft er einen Blick aus dem Fenster. „Kenne ich doch. Ich habe schon Bilder davon gesehen.“
Meinetwegen! Ich zucke mit den Achseln. Dann blicke ich über Pauls Schulter auf sein Buch. Es handelt sich ebenfalls um eine Art Notizbuch, dicht vollgekritzelt mit Einträgen auf Englisch und auch in einer anderen, mir unbekannten Sprache. Ich kann nur die Wörter „at the bottom of Lake Victoria“ in krakeliger Kursivschrift am Ende der linken Seite ausmachen.
„Na, du bist also auch ein Freund des Analogen“, sage ich.
Paul schaut erneut auf. „Wie bitte?“
„Du führst auch ein Journal“, sage ich. „Die meisten Leute tippen oder sprechen ihre Gedanken in ihr Smartphone.“
Paul klappt das Buch zu und starrt mich an. „Na und?“ Er steckt das Buch in seine Segeltuchtasche. „Alles, was digital ist, kann gehackt werden. Und manche Leute bestehen eben auf eine Privatsphäre.“
Er greift nach der Bordzeitschrift und schlägt die Seite mit der Landkarte von Tansania auf.
„Sorry, ich wollte dich nicht stören.“ Ich tue so, als hätte ich nicht gemerkt, dass sich diese letzte Bemerkung auf mich persönlich beziehen soll.
„Nicht der Rede wert“, murmelt er.
„Reist du viel?“
Paul blickt nicht auf. „Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
„Mein Bruder und ich reisen, solange ich mich erinnern kann.“ Ich lehne meinen Sitz zurück. „Unser Papa sagte immer, wir wären seit unserem dritten Lebensjahr schon sechs Mal um die Erde gekreist. Und das liegt eine Weile zurück, inzwischen sind wir bestimmt sieben oder acht Mal um die Welt geflogen.“
„Tatsächlich?“ Paul konzentriert sich weiterhin auf seine Landkarte. „Da seht ihr euren Alten wohl nicht so oft, oder?“
Ich lächle. Wenigstens hört er mir jetzt zu, denke ich. Aber dann mache ich wieder ein ernstes Gesicht. „Unser Vater ist vor fast zwei Jahren gestorben. Es war ein Flugzeugabsturz.“
„Tut mir leid“, sagt er. Aber Mitgefühl hört sich anders an.
„Schon gut. Damals war alles natürlich ganz entsetzlich. Du hast keine Vorstellung. Mama ist völlig zusammengebrochen, als wir die Nachricht erhielten. Sie gab ihre Arbeit auf und hat kaum noch die Wohnung verlassen. Sie ist Ärztin, weißt du, und sie hatte vorher eine fantastische Karriere hingelegt als Ratgeberin und Schriftstellerin. Vielleicht hast du von ihr gehört? Sie heißt Christine ...“
„Nicht mein Ding.“
Ich rede einfach weiter. „Sie hat Ratgeberkolumnen und Beziehungsbücher geschrieben. Es waren auch ein paar Bestseller dabei. Nach Papas Tod war damit Schluss. Aber etwa ein Jahr später hat sie eine Stelle in einer Dorfklinik in Tansania gefunden und dort gleich einen Mann namens Will Chapman geheiratet. Er ist Buschpilot und Naturfotograf und arbeitet für die Klinik und die tansanische Nationalparkverwaltung.“
„Hört sich ganz schön romantisch an“, sagt Paul. Ich finde jedoch, dass er alles andere als romantisch klingt, während er die Seiten der Bordzeitschrift umblättert und anfängt, eine doppelseitige Landrover-Anzeige so penibel zu studieren, als handle es sich um einen wichtigen Vertragstext.
„Na ja, es war zunächst ganz schön hart, das kannst du mir glauben“, fahre ich fort. „Und mit Will haben wir uns in den ersten Monaten auch nicht sonderlich gut vertragen. Aber Will brachte uns das Fliegen bei, und nach einer Weile lernten wir Kiswahili sprechen, sodass wir mit den Menschen vor Ort reden konnten, und wir haben wirklich gute Freunde gefunden.“ Ich denke wieder an Josephs Bild und lächle. „Wir erhalten beide Homeschooling, mit Arbeitsblättern und so, obwohl unsere Oma fest davon überzeugt ist, dass wir dabei verblöden und auf ein anständiges deutsches Gymnasium gehören. Aber dann sind wir in eine ganz schwierige Sache hineingerutscht – das ist eine lange Geschichte. Und als Will von diesen Leuten entführt wurde, mussten wir ihm in seiner Cessna hinterherfliegen. Wir haben halb Tansania abgesucht – alles aus der Luft!“
„Ich nehme an, ihr habt ihn wieder gefunden?“, fragt Paul so, als hätte ihm eine zufällige U-Bahn-Bekanntschaft gerade von einem entlaufenen Kätzchen erzählt.
„Tja ...“ Ich zögere. Vielleicht hätte ich das alles nicht so ausführlich erzählen sollen. „Ich dachte nur, du hättest vielleicht davon gehört. Wir waren in allen Zeitungen und wurden mehrfach im Fernsehen interviewt, auch von der BBC. Du musst irgendwas davon gehört haben.“
„Sorry“, sagt Paul. „Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Ich gucke keine Tratschsendungen.“
Ich beiße mir auf die Lippe. Das geschieht mir recht, so anzugeben, denke ich. Vielleicht hätte ich lieber ihn nach irgendetwas aus seinem Leben fragen sollen, statt immerzu über mich zu quatschen. Auch wenn er nicht allzu auskunftsfreudig zu sein scheint. Aber Jungs mögen es ja angeblich, wenn man Interesse an ihnen zeigt.
„Welches Sternzeichen bist du eigentlich?“, frage ich, weil mir spontan nichts Unverfänglicheres einfällt. „Mein Sternzeichen ist Aquarius. Wassermann, obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht viel aus Wasser mache. Aber besser als Fisch ist es auf jeden Fall. Oder hältst du nichts davon?“
„Richtig geraten.“
„Lass mich sehen ... Wann hast du Geburtstag?“
„Ist das wichtig?“
„Dir ist es bestimmt wichtig, oder?“
„Meinetwegen.“ Er seufzt so, als hätte er es mit einer nervigen Dreijährigen zu tun. „Am fünfzehnten Februar. Zufrieden?“
Ich glaube meinen Ohren nicht. „Hey, da habe ich doch Geburtstag! Ich werde sechzehn!“
„Herzlichen Glückwunsch.“ Er steckt seine Nase in sein Journal und lässt mich gänzlich aus seiner Realität verschwinden.
Etwas rumort in meinem Inneren. Dieser Kerl teilt einen Geburtstag mit mir. Ich meine, wo gibt es denn so was? Jetzt ist meine Neugierde erst recht geweckt. Ich muss mehr über ihn herausfinden.
„Und was machst du so?“, frage ich.
„Reisen.“
„Das habe ich mir schon gedacht.“ Ich gebe mir echt Mühe, charmant zu wirken. „Ich meine, wo reist du überhaupt hin?“
Paul steckt die Zeitschrift wieder in die Sitztasche und schaut zum Fenster hinaus. Der Kilimanjaro ist längst hinter uns verschwunden und durch die hohen Wolken lassen sich einige Fetzen einer weiten, sandigen Ebene erblicken.
„Nach Afrika“, antwortet er. „Wie ich schon gesagt habe.“
„Aber Afrika ist ganz schön groß“, sage ich, „und es gibt dort viele spannende Reiseziele für einen mzungu.“
„Für einen ... was?“
„Für einen mzungu. Einen Weißen. Ein Weißer heißt mzungu, mehrere heißen wazungu. Europa selbst heißt Uzungu. Als Engländer bist du ein Mwingereza und ich bin eine Mjerumani. So heißen wir auf Kiswahili. Es wird überall in Ostafrika gesprochen. Und – es tut mir leid, ich habe nicht richtig hingehört – wo reist du hin?“
„Ich habe nichts gesagt, aber wenn die Maschine nach Daressalam fliegt, dann reise ich wohl nach Tansania, wie du dir vielleicht denken kannst.“
„Auch Tansania ist ein riesiges Land“, sage ich. „Das haben mein Bruder und ich gleich zu Anfang gelernt. Das kannst du aber auch alles in unserem Online-Journal lesen.“ Ich lockere meinen Sitzgurt und drehe mich ganz zu ihm hin. „Wir schießen Fotos, schreiben Texte über unsere Erlebnisse und verpacken das Ganze in einen Blog auf unserer Webseite. Ich will Fotojournalistin werden, das steht inzwischen fest.“ Meine Gedanken wandern kurz zu Daniel, der sich durchaus vorstellen kann, auch etwas in dieser Richtung zu machen, gleichzeitig aber auch ziemlich in Flugtechnik vernarrt ist. Er ist wohl der Praktischere von uns beiden. Wahrscheinlich wird er Buschpilot, wie sein Stiefvater, oder jedenfalls Pilot. Als wir jetzt in München waren, hat er zwei ganze Tage in einem Flugsimulator verbracht und alle möglichen Modelle durchprobiert. Dann widme ich meine volle Aufmerksamkeit wieder Paul Reynolds.
„Aber Moment mal...“ Ich schlage mir an die Stirn. „Mensch, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Jenny. Jenny Sandau.“ Ich reiche ihm die Hand.
„Sehr erfreut.“ Paul hat offenbar noch nie was vom Händeschütteln gehört. Er zieht stattdessen sein Reisejournal wieder aus der Tasche und schlägt es mit einer derartig entschiedenen Bewegung auf, dass der Einband wie eine Walnuss beim Öffnen knackt. Ich seufze und lehne mich wieder in meinem Sitz zurück. Meine weibliche Neugier wird dieses Mal wohl unbefriedigt bleiben. Aber so geheimnisvoll kann dieser Typ gar nicht sein. Wie meine Freundin Marita aus dem Gymnasium in München immer zu sagen pflegte, besteht das Geheimnis der Männer darin, dass es eben kein Geheimnis gibt. Männer sind sehr einfach strukturiert. Sie begeistern sich fürs Essen, für Autos, Fußball und Sex. Sag ihnen dauernd, wie cool sie sind, wie stark und wie klug, und sie werden dir aus der Hand fressen.
Ans Fressen will ich aber gar nicht denken. Das Roastbeef-Sandwich hat leicht ranzig geschmeckt und nun liegt es wie ein alter Hausschuh in meinem Magen. Ich trinke meinen letzten Schluck Ginger Ale, um den Geschmack zu tilgen. Dann schlage ich mein eigenes Journal wieder auf. Auf die letzte Seite schreibe ich die Worte „Was interessiert es mich, wer er ist?“ und unterstreiche sie dreimal.
Höchste Zeit also, diesen Paul Reynolds wieder in die Freiheit zu entlassen. So nützlich ist männliche Reisebegleitung nun offenbar auch wieder nicht. Ich schaue aber trotzdem wieder zu Paul hinüber, der damit beschäftigt ist, sein Journal durchzublättern. Ich gucke über seine Schulter und sehe, dass eine Seite ... mit Hakenkreuzen vollgekritzelt ist. Wie aus der Nazizeit. Mal mit vier, mal mit nur drei Zacken. Und er malt schon an einem neuen! Und er hat auch eine Schlange gezeichnet. Was ist mit ihm los?
Nun bemerke ich auch, dass die Nägel an seinen langen, feingliedrigen Fingern bis auf die Haut abgeknabbert sind. Ein Weltreisender mit abgeknabberten Fingernägeln und Hakenkreuzen im Reisejournal. Außerdem sind fast alle Seiten mit einem endlosen Dreiecksmuster gefüllt – Dreiecke innerhalb von Dreiecken, in einem fort:
Wie besessen. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Ein letzter Versuch, denke ich. Es kann nicht schaden.
„Also, besuchst du Verwandte oder so etwas?“, frage ich mit der liebenswürdigsten Stimme, die ich aufbringen kann.
Paul schaut von seinem Journal hoch und sieht mir in die Augen. Er seufzt. „Nein, nichts dergleichen“, antwortet er.
„Es geht um Arbeit. Um einen Job. Manche Leute müssen schließlich arbeiten.“
Autsch! Aber ich wittere Blut. Endlich habe ich ein Thema, mit dem ich ihn aus der Reserve locken kann. „Du hast einen Job in Afrika bekommen?“
Ich mustere ihn noch einmal genauer. Er kann doch keinen Tag älter als achtzehn sein, denke ich. Eher siebzehn. Aber wer weiß? Es könnte trotzdem stimmen.
„Es ist eine Art Praktikum. Ich soll als medizinischer Volontär in einer Klinik arbeiten. Ich bin so etwas wie ein Entwicklungshelfer. Mehr gibt’s nicht zu erzählen. Zufrieden?“
„Das ist wirklich interessant“, sage ich. „Ich kenne so gut wie alle Kliniken in Tansania. Wir kommen wirklich viel rum. Um welche handelt es sich denn?“
„Ist das wichtig?“
„Vielleicht auch nicht.“ Ich kratze mich am Ohrläppchen. „Ich gehe dir auf die Nerven, nicht wahr?“ Ich drehe mich weg. „Ich weiß, dass es keinen Sinn macht, dir so viele dumme Fragen zu stellen. Dunia duara.“
„Du ... was?“
„Dunia duara. Das ist ein Swahilispruch, den unsere Mutter gerne verwendet. Er heißt ‚die Erde ist rund‘. Die Idee dahinter ist, wenn man zu weit in eine Richtung geht, kommt man immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Und wenn man zu tief in die Erde buddelt, kommt man am anderen Ende der Erde wieder heraus.“
Paul schnaubt. „Sehr geistreich. So etwas lernst du bei deinem Homeschooling? Ich glaube, ich muss deiner Oma recht geben, was die Verblödung angeht.“
Nun würde ich ihm am liebsten eins auf die Nase geben. Und warum bei der Nase aufhören? Aber ich bin schon nahe am Ziel, ich spüre es.
„Nein, du verstehst nicht! Der Spruch bedeutet, dass es Dinge gibt, die man einfach nicht ergründen kann. Sie gehen über unsere Fragen und unsere Denkfähigkeit hinaus. Ab einem bestimmten Punkt lohnt es sich daher gar nicht mehr, danach zu suchen. Wie zum Beispiel die Frage nach deinem Reiseziel. Ich fürchte, das ist eine der letzten großen, unlösbaren Fragen unserer Zeit.“
Paul schweigt einige Sekunden lang, bevor er sagt: „Du bist wirklich vollgepfropft mit ostafrikanischer Weisheit, nicht wahr?“ Er senkt den Blick wieder auf sein Tagebuch.
„Das liegt wohl daran, dass ich schon so lange hier lebe. Die Sprüche enthalten tatsächlich viel Weisheit. Sie erklären die Wirklichkeit hier viel besser als jede Statistik oder wissenschaftliche Theorie. Kaum ist man hier, fängt man schon an, die Welt durch allerlei Symbole und auch durch Swahilisprüche zu begreifen.“
„Und hört man jemals wieder damit auf?“
Ich weiß nicht, ob ich das als philosophische Frage oder gemeine Beleidigung auffassen soll. Die Wahl liegt bei mir. „Na ja, du tust so geheimnisvoll.“
„Es ist doch kein Geheimnis, wo ich hinfliege“, sagt Paul. „Es ist einfach unwichtig. Es ist da unten, irgendwo im Busch.“
„Liegt es am Victoriasee?“, frage ich.
Paul schaut hoch. „Was sagst du?“
„Tut mir leid. Ich hatte über deine Schulter geguckt, und da stand in deinem Journal irgendwas über den Victoriasee.“
Paul schlägt sein Tagebuch wieder zu und verbirgt es tief in seine Tasche. „Nein“, sagt er. „Ganz und gar nicht. Der Kaff liegt in der Mitte des Landes. Du hast bestimmt noch nie davon gehört.“
„Schieß los“, sage ich. „Es interessiert mich. Schließlich lebt man nur einmal.“
Paul schaut sich um und rutscht auf seinem Sitz hin und her. „Es ist wirklich nicht wichtig, aber meinetwegen: Wenn ich mich richtig erinnere, dann heißt der Ort Zimmermann’s Bend. Wahrscheinlich ein richtiges Loch.“
Ich richte mich auf. „Zimmermann’s Bend? Aber da wohne ich doch!“
Paul schluckt. „Das wird ein Missverständnis sein.“
„Es gibt kein Missverständnis“, sage ich, obwohl ich es selbst kaum glauben kann. „Es gibt nur ein Dorf namens Zimmermann’s Bend. Es liegt nordwestlich von Iringa. Am Rande des Ruaha-Nationalparks.“
Paul knabbert an seinem rechten Daumennagel, bis er blutet. Dann wühlt er in seiner Tasche und zieht einen zerknitterten Brief hervor.
„Lass mal sehen“, sage ich. Ich reiße ihm den Brief aus der Hand und falte ihn auseinander. Tatsächlich: Der Brief stammt von Doctors Without Limits – genauer, von Mamas Chef, Dr. Kaiserwetter. Er gratuliert Mister Paul Reynolds zu seiner neuen Stelle als freiwilliger Praktikant in der DWL-Klinik in Zimmermann’s Bend, Region Iringa. Und … „Das ist doch der Name meiner Mutter: Dr. Christine Chapman“, entfährt es mir.
Paul reißt das Schreiben wieder an sich, als hätte ich gerade aus seinem intimsten Liebesbrief vorgelesen. „Da muss dem alten Kaiserwetter ein Fehler unterlaufen sein.“ Er tut ganz unbesorgt, aber seine Unterlippe zittert. „Ich werde das schon geradebiegen, wenn ich in Dar ankomme. Vergiss es einfach.“
„Aber warum hat uns Mama nichts davon gesagt, dass sie einen Praktikanten erwartet?“, frage ich. „Wir haben erst vor zwei Tagen miteinander telefoniert.“
Paul kramt in seiner Tasche. Er scheint sich wieder gefangen zu haben. „Wie ich sagte, es muss ein Missverständnis sein.“ Er beginnt ein weiteres Mal, in seinem Journal zu stöbern. „Das werde ich gleich am Flughafen klären. Und nun, hast du etwas dagegen, mich jetzt in Ruhe zu lassen? Ich habe zu tun.“