Gisela Jahn
Treffpunkt Reiterhof
Ist es normal, wenn man auf einen Reiterhof eingeladen wird und sich gar nicht darüber freuen kann? Jutta hat ihre Gründe, und nur widerstrebend findet sie sich mit der Neuigkeit ab, die ihr ihre Mutter eröffnet. Sie hat einen Mann kennengelernt, mit den sie zusammenleben möchte.
Wie sich bald herausstellt, hat dessen Tochter Billie fast dasselbe Problem. Gemeinsam suchen die beiden Mädchen nach einem geeigneten Ausweg.
Wie können sie verhindern, dass ihre Eltern sich für eine gemeinsame Zukunft zusammenfinden?
Table Of Contents
Erstes Kapitel - Jutta hat Sorgen
Zweites Kapitel - Ungemütliche Aussprache
Drittes Kapitel - Wichtige Einladung
Viertes Kapitel - Ankunft auf dem Reiterhof
Fünftes Kapitel - Feindschaft oder Freundschaft?
Sechstes Kapitel - Zwei Mädchen suchen einen Ausweg
Siebtes Kapitel - Jutta sieht sich um
Achtes Kapitel - Wo steckt Billie?
Neuntes Kapitel - Billie allein im Wald
Zehntes Kapitel - Erste Annäherungsversuche
Elftes Kapitel - Jutta lebt sich ein
Zwölftes Kapitel - Abschied vom Reiterhof
Dreizehntes Kapitel - Wieder in der Schule
Vierzehntes Kapitel - Billie kommt in die Stadt
Fünfzehntes Kapitel - Bille und Marianne
Die Credits
Wütend trat Jutta gegen das zusammengeknüllte Butterbrotpapier, das ihre Freundin Marianne achtlos und völlig gegen die Hausordnung auf den Schulhof geworfen hatte. Doch im Augenblick, in der ersten großen Pause, hatte das »Hähnchen« Hofaufsicht. Das »Hähnchen« hieß eigentlich Anneliese Hahn und war die Geschichtslehrerin für die Unterstufe am Albert-Schweitzer-Gymnasium. Das »Hähnchen« kümmerte sich im allgemeinen nicht besonders darum, was die Schülerinnen in den Pausen trieben. Lediglich beim Rauchen auf der Toilette durfte man sich nicht erwischen lassen - es sei denn, man hatte es auf eine saftige Strafpredigt abgesehen.
Jutta machte einige Schritte, drehte sich auf dem Absatz ihrer Clogs um und wanderte unruhig zurück. Nur mit Mühe konnte sie Tränen der Wut und. Verbitterung zurückhalten, die ihr beinahe in die Augen getreten wären
Marianne, ihre Freundin, bemerkte von allem anscheinend überhaupt nichts. Bei ihr dauerte es immer eine Weile, bis sie spürte, ob jemand ein Problem hatte. Jetzt kam sie langsam heran und sah
Jutta nachdenklich an. Sie zögerte noch einen Augenblick, dann fragte sie: »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«
Als Jutta schwieg, musterte Marianne ihre Freundin noch einmal. Dann stellte sie trocken fest: »Du machst ein Gesicht, als würdest du am liebsten die ganze Schule in die Luft sprengen!«
Und als Jutta immer noch nichts erwiderte, überlegte Marianne weiter, was sie auf dem Herzen haben könnte.
»Hast du wirklich eine solche Angst vor der Lateinarbeit, die Frau Langer für morgen angesetzt hat?«, wollte sie schließlich wissen. Denn etwas anderes konnte Jutta eigentlich gar nicht beschäftigen, davon war Marianne überzeugt. »So schlimm kann es doch nicht sein!«, versuchte sie deshalb ihre Freundin zu trösten. »In Latein bist du schließlich eine der Besten. Wenn es eine Englischarbeit wäre, dann würde ich dich ja noch verstehen. Da hast du letztes Mal eine Fünf geschrieben, die musst du jetzt wieder ausbügeln...«
»Kannst du mich nicht einmal fünf Minuten in Ruhe lassen!«, fauchte Jutta ihre Freundin an. Marianne Holzbinder fuhr zurück, als sei sie von einer Schlange gebissen worden.
»Mein Gott!«, sagte sie beleidigt. »Fräulein Rühr-mich-nicht-an! Was ist denn nur in dich gefahren, dass du auf einmal nicht mehr mit mir sprechen willst?«
Jutta warf ihr nur einen wütenden Blick zu. Marianne hatte sich schon umgedreht, um zu den anderen Mädchen zu gehen, die sich aufgeregt über die bevorstehende Lateinarbeit unterhielten. Doch im allerletzten Augenblick erkannte sie, dass Jutta ihre Unbeherrschtheit schon wieder bereute.
»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll!«, sagte Jutta leise. Marianne kam wieder heran. Die beiden Freundinnen steckten die Köpfe zusammen.
»Im Augenblick würde ich am liebsten abhauen!«, sagte Jutta. »Irgendwohin auf eine kleine Insel, wo mich niemand findet.«
»Und warum?«, erkundigte sich Marianne.
»Es geht um meine Mutter ...«, begann Jutta. Doch dann stockte sie. Sie wusste, dass Marianne gern alles weitererzählte, was man ihr anvertraute. Aber dann beschloss sie doch, mit ihrer Freundin zu sprechen. »Meine Mutter will wahrscheinlich wieder heiraten!«, sagte sie.
Jeder in der Klasse wusste, dass Jutta mit ihrer Mutter allein lebte, seitdem ihr Vater vor vier Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Daraufhin hatte Grit Fassbender wieder begonnen, in ihrem alten Beruf als Werbegrafikerin zu arbeiten. Mutter und Tochter lebten in einer hübschen kleinen Wohnung in der Innenstadt, gleich in der Nähe der Schule.
»Heiraten?« Marianne schaute Jutta ungläubig an. Sie kannte Frau Fassbender von ihren zahlreichen Besuchen bei Jutta. Sicher, anfangs hatte sie sich schon Gedanken darüber gemacht, das so eine hübsche Frau wie Juttas Mutter immer noch allein lebte. Doch im Laufe der Zeit war es ihr ganz natürlich vorgekommen.
»Ja, heiraten!«, erwiderte Jutta. »Es ist ... sie hat noch nicht mit mir darüber gesprochen, aber ich weiß es trotzdem.«
»Woher denn?«, wollte Marianne wissen und legte die Stirn in Falten.
»Ich habe gelauscht, als sie telefoniert hat!«, erklärte Jutta. »Sie hat mit ihm gesprochen, wie sie bisher mit keinem Mann gesprochen hat. Verstehst du - die beiden haben sich heimlich getroffen.«
Mariannes Neugier war geweckt. »Wie war das denn genau?«, fragte sie. »Was hat deine Mutter denn gesagt?«
»Das kann ich dir jetzt nicht alles erzählen!« Jutta zog es vor, jetzt nicht ins Detail zu gehen. Sie hatte das Gefühl, Marianne ohnehin schon viel zuviel anvertraut zu haben, ohne dass sie selbst genau sagen konnte, warum sie dieses Telefongespräch ihrer Mutter so beschäftigte.
Aber Mariannes Neugier war geweckt, und sie ließ nicht locker. »Warum hast du denn nicht schon früher etwas bemerkt?«, erkundigte sie sich. »Ich meine - so etwas passiert ja nicht von heute auf morgen, dass zwei Menschen sich kennenlernen und vielleicht auch heiraten wollen.«
Jutta starrte auf den Boden. Sie versetzte dem zusammengeknüllten Butterbrotpapier einen weiteren Stoß. »Natürlich passiert so etwas nicht von heute auf morgen!«, sagte sie. »Zuerst habe ich geglaubt, dass dieser Mann nur einer von Mutters Freunden ist, verstehst du? Sie ist schon immer ziemlich gesellig gewesen, hin und wieder geht sie mit Geschäftsfreunden oder Kollegen aus. Oder sie lädt sie ein. Das gehört zu ihrem Beruf. Aber mit keinem von denen hat sie sich so unterhalten wie mit ihm.«
»Und wie hat sie mit ihm gesprochen?«
»Wie ein junges Mädchen hat sie sich benommen!«, erklärte Jutta und machte eine hilflose Handbewegung. »Sie haben ausgemacht, dass wir das Wochenende bei ihm auf seinem Reiterhof draußen vor der Stadt verbringen sollen. Und das Tollste daran ist: Die beiden glauben wirklich, dass es mir da gefallen wird.«
»Pferde und reiten?« Marianne war mit einem Mal Feuer und Flamme. »Jutta, bist du denn völlig verrückt? Wie kannst du dich nur ärgern, wenn deine Mutter einen Reitstallbesitzer heiraten möchte?« Marianne schüttelte den Kopf und zog Jutta in einen stillen Winkel des Schulhofes.
»Überlege doch einmal ein bisschen!«, riet sie ihr enthusiastisch. »Wenn die beiden heiraten und er dein Stiefvater wird, dann kannst du jeden Tag reiten. Und brauchst keinen Pfennig dafür zu bezahlen. Du kannst dir die Pferde aussuchen, du brauchst dich nicht an die Stunden zu halten ...«
Wieder schüttelte Marianne den Kopf. »Also, ich sage dir, wenn mir so etwas passieren würde, ich würde ...«
Marianne verschlug es allein bei der Vorstellung, dass ihrem Vater ein Reiterhof gehören könnte, die Sprache. Jutta lächelte, denn sie konnte Mariannes Begeisterung durchaus verstehen. Ihre Freundin war eben eine Pferdenärrin. »Pferdeverrückt« nannte sie es. Ihr ganzes Taschengeld sparte Marianne, um sich zweimal im Monat ihre Reitstunden leisten zu können.
Aber Jutta hatte eben mit Pferden nichts im Sinn, das konnte sie mit aller Bestimmtheit sagen. Sie hatte Marianne einige Male zu ihren Reitstunden begleitet. In eine kalte Reithalle, die irgendwo draußen am Stadtrand lag. Frierend hatte sie eine Weile zugeschaut, wie Marianne auf einem schrecklich hohen Pferd im Kreis herumgeritten war. Dann war Jutta wieder hinaus in die Sonne gegangen und hatte gewartet, bis ihre Freundin erhitzt und überaus zufrieden aus dem Stall gekommen war. Seitdem fragte sich Jutta immer wieder, was einem Menschen nur an diesem Gehoppel auf einem Pferderücken gefallen konnte.
Marianne zupfte sie am Ärmel.
»Es hat geklingelt!«, sagte sie. »Der Unterricht geht weiter.«
Während Jutta mit Marianne ins Schulgebäude eilte, beschäftigten sich ihre Gedanken schon wieder mit dem Telefongespräch, das ihre Mutter gestern Abend geführt hatte. Mit diesem Mann, der nun offensichtlich ihr Stiefvater werden sollte.
Denn aus all dem, was Jutta gehört hatte, konnte man eigentlich gar keinen anderen Schluss ziehen.
Es war am vergangenen Abend gewesen. Jutta lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und war so in das Buch, das sie gerade las, vertieft, dass sie das erste Klingeln des Telefons überhörte. Erst beim dritten oder vierten Läuten wurde sie aufmerksam, doch als sie auf dem Weg ins Wohnzimmer war, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Grit Fassbender hatte den Anruf also schon angenommen.
»Ich freue mich, dass du anrufst!«, hörte Jutta ihre Mutter sagen, und. ihre Stimme hatte einen seltsamen, sanften Klang. »Ich habe schon den ganzen Abend gewartet.«
Es folgte eine lange Pause, in der Juttas Mutter nur hin und wieder »Mhh« machte oder leise lachte. Und dann sagte sie auf einmal: »Oh, das wäre herrlich ... Wir können am Sonnabend losfahren und dann das Wochenende bei dir auf dem Reiterhof verbringen.« Dann sagte der Mann am Telefon wieder etwas, und Juttas Mutter erwiderte: »Ich bin sicher, dass ihr beiden euch gut verstehen werdet. Du bist ihrem Vater in sehr vielen Dingen ähnlich, Gerold. Und welches Mädchen kann außerdem einem Reiterhof mit einem Dutzend Pferden widerstehen? Hoffentlich freundet sie sich auch mit Billie an ...«
Es hatte nur einige Sekunden gedauert, bis Jutta die Bedeutung dieser Worte begriff. Bisher hatte ihre Mutter sich niemals mit einem Mann geduzt und so vertraulich mit ihm gesprochen. Und wer war diese Billie, von der sie gesprochen hatte?
Weiter erfuhr Jutta noch, dass der Reiterhof dieses Mannes einige Kilometer draußen vor der Stadt bei einer Ortschaft namens Kleinstetten lag, und dann fiel ihr auch wieder der bunte Prospekt eines Pferdehofes ein, den sie vor einigen Tagen auf der Flurkommode entdeckt hatte. Sie hatte angenommen, dass es sich um einen Auftrag für ihre Mutter handelte, denn hin und wieder gestaltete Frau Fassbender nebenbei für einige Geschäftsleute Werbedrucksachen. Jutta schlich leise zur Kommode und zog die oberste Schublade heraus. Richtig, da lag das bunte Faltblatt noch.
»Ferien auf dem Reiterhof« stand in hellen Buchstaben über dem Foto einer Gruppe von Reitern, die über eine Weide galoppierten. Jutta blätterte den Prospekt auf. »Inhaber Gerold Kehrmann und seine Reitlehrer freuen sich, Ihre Bekanntschaft zu machen!«, hieß es am Schluss des kurzen Textes, in dem alle Vorzüge eines Ferienaufenthaltes auf dem Reiterhof beschrieben wurden.
»Also dann bis zum Wochenende!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer. Das Telefongespräch war zu Ende, Jutta huschte in ihr Zimmer zurück und legte sich aufs Bett. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie welke Blätter im Sturm. Warum hatte ihre Mutter ihr nur nichts von diesem Mann erzählt? Warum hatte sie auf einmal Geheimnisse vor ihr?
In der folgenden Englischstunde saß Jutta geistesabwesend auf ihrem Platz und hörte nur die Hälfte der Vokabeln, die Herr Bramkamp, der Englischlehrer der 8 b, aus der neuen Lektion vorlas und erklärte.
»Jutta?!«
Wie durch eine dicke Watteschicht drang ihr Name an ihr Ohr. Erschrocken fuhr Jutta auf und sah, wie die anderen Mädchen in der Klasse schadenfroh grinsten. Herr Bramkamp sah sie streng an.
»Weißt du, dass ich dich jetzt schon zum zweiten Mal aufrufe?«, fragte er.
»J-ja!«, stotterte Jutta.
»Gut, dass du dich auch an das erste Mal erinnerst!«, sagte Herr Bramkamp. »Ich dachte schon, ich hätte umsonst gebrüllt!« Wieder kicherten ein paar Mädchen, doch der Lehrer ließ sich nicht dadurch irritieren. »Würdest du jetzt bitte die
Freundlichkeit haben, den ersten Abschnitt aus unserem neuen Lesestück zu übersetzen?«, bat er Jutta freundlich.
»Was …« Jutta sah die lachenden Gesichter ihrer Mitschülerinnen, die alle ihre Englischbücher aufgeschlagen vor sich liegen hatten.
»Ich ... ja, natürlich!« Jutta griff rasch nach ihrem Buch. Es dauerte eine Weile, bis sie das neue Lesestück gefunden hatte.
Ihre Klassenkameradinnen konnten sich vor Lachen und Kichern kaum noch halten. Sie tuschelten von »Liebeskummer« und »rumgeträumt«. Wütend sah Jutta Herrn Bramkamp an, der an allem schuld war.
Als der Lehrer erkannte, dass Jutta während der Stunde kaum aufgepasst hatte und deshalb auch nicht mehr als drei Sätze übersetzen konnte, sagte er leise: »Nach der Stunde möchte ich mich gern einmal mit dir unterhalten, Jutta.«
»Jetzt übersetzt Karin weiter!«, fuhr Herr Bramkamp mit dem Unterricht fort und sorgte damit für Ruhe in der Klasse.
Nach der Englischstunde, als die anderen Schülerinnen auf den Hof hinuntergegangen waren, blieben Jutta und Herr Bramkamp noch eine Weile im Klassenzimmer.
»Du warst ja richtig erschrocken, als ich dich vorhin aus deinen Tagträumen gerissen habe!«, begann Herr Bramkamp. »Was hat dich denn so sehr beschäftigt?«
»Es war … nichts!«, versuchte Jutta auszuweichen, nachdem sie für einen Moment mit dem Gedanken gespielt hatte, Herrn Bramkamp alles zu sagen. Doch der Englischlehrer war bekannt dafür, dass er sich nicht mit Ausreden abspeisen ließ.
»Hast du dir vielleicht wegen der nächsten Englischarbeit Sorgen gemacht?«, fragte er. »Dann würde ich dir allerdings raten, im Unterricht etwas mehr aufzupassen als heute.«
»Nein … das ist es nicht!«, sagte Jutta zögernd.
Sie drehte sich um und sah aus dem Fenster hinunter auf den Hof. »Es ist … wegen meiner Mutter. Ich glaube, sie will wieder heiraten.«
»Na, dann herzlichen Glückwunsch!«, verkündete Ralph Bramkamp. Dann sah er erst Juttas versteinertes Gesicht. »Oder ist es gerade das, was dich so deprimiert?«, fragte er.
»Natürlich!«, entfuhr es Jutta. »Wir brauchen keinen Mann. Mutti und ich haben allein gelebt, seitdem mein Vater ums Leben gekommen ist. Ich sehe nicht ein, warum sich das auf einmal ändern soll.« Sie stemmte die Hände auf das Fensterbrett.
»Da kommt einfach so ein Reiterhofbesitzer an, und auf einmal tut meine Mutter alles, was er sagt. Ich finde das einfach ekelhaft.«
»Sieh mal, Jutta«, versuchte Herr Bramkamp sie zu beruhigen, »du betrachtest das Ganze im Augenblick wohl noch ziemlich einseitig. Vielleicht solltest du auch einmal versuchen, die Sache mit den
Augen deiner Mutter zu sehen.«
»Warum denn?«, maulte Jutta. »Warum soll ich mich in ihre Lage versetzen, wenn sie sich nicht in meine Lage versetzt hat?«
»Du wirst langsam erwachsen«, fuhr Herr Bramkamp fort. »Wenn du erst einmal dein Abitur gemacht hast, wirst du von zu Hause wegziehen, und dann wäre deine Mutter ganz allein. Kannst du nicht verstehen, dass sie auch gern einen Menschen haben möchte, der für sie da ist und der sie versteht?«
Jutta erwiderte nichts. Sie sah ein, dass der Lehrer mit seinem Einwand recht hatte, aber trotzdem war sie wütend auf ihre Mutter.
»Du hast doch sicher auch einen Freund, mit dem du gern zusammen bist«, fuhr Herr Bramkamp fort. »Genauso wird es mit deiner Mutter sein. Sie möchte wahrscheinlich einfach mit einem Menschen zusammenleben, den sie gern hat.«
»Und was ist mit mir?«, sagte Jutta laut. »Ich bin wohl auf einmal gar nicht mehr da?«
»Ich bin sicher, dass deine Mutter dich kein bisschen weniger liebt, wenn sie wieder heiraten sollte.« Herr Bramkamp hatte seine Bücher unter den Arm geklemmt. »Leider habe ich im Augenblick nicht mehr Zeit, um mich mit dir zu unterhalten!«, sagte er. »Aber vielleicht denkst du einmal ein wenig darüber nach, was ich dir eben gesagt habe. Du meinst bestimmt, dass das alles nur Belehrungen waren, die Erwachsene immer von sich geben. Aber ich glaube, ich weiß, wovon ich spreche, denn meine Tochter hat fast genauso reagiert, als sie mich kennenlernte.«
Er lächelte, als er Juttas überraschten Blick sah.
»Sabine war zwölf Jahre, als ich ihre Mutter geheiratet habe. Ihr Vater war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Es hat zwar einige Zeit gedauert, bis ich mich mit Sabine verstand, aber heute möchte ich sie für nichts auf der Welt wieder hergeben.« Herr Bramkamp nickte Jutta ermunternd zu. »Ich glaube, du wirst deine Mutter auf keinen Fall verlieren, wenn sie wieder heiratet. Wahrscheinlich gewinnst du sogar einen Vater dazu!«
Damit verließ Herr Bramkamp das Zimmer.
Gerede!, dachte Jutta, während sie die Treppe hinunterging. Auf dem Schulhof umringten sie sofort ihre Klassenkameradinnen.
»Was wollte er denn von dir?«, fragte Greta.
»Nichts!«, murmelte Jutta. Die Neugier der anderen ging ihr auf die Nerven.
»Nun sag doch schon!«, drängte Greta.
»Einen Heiratsantrag hat er mir gemacht!«, entgegnete Jutta trocken. Greta starrte sie an.
»Einen Heiratsantrag?«, wiederholte sie ungläubig. »Und ... du hast doch nicht etwa ja gesagt?«
Greta sah sich ratlos um, als die anderen plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen.
Die restlichen Schulstunden gingen vorüber, doch Jutta nahm sich jetzt zusammen und fiel nicht noch einmal unangenehm auf. Nach dem letzten Klingeln ging sie heim, ohne sich um Marianne und die anderen Mädchen zu kümmern, die noch ins Eiscafé neben der Schule wollten. Zu Hause warf sie ihre Schultasche in ihrem Zimmer auf das Bett und schaute in der Küche nach, was sie heute zum Mittagessen kochen sollte.
Seit sie aufs Gymnasium ging, kümmerte sie sich um das Mittagessen, weil ihre Mutter in der Mittagspause nur »auf einen Sprung« aus der Firma, in der sie arbeitete, herüberkommen konnte.
Jutta schälte die Kartoffeln und setzte einen Blumenkohl in einem Topf mit etwas Wasser auf die Herdplatte. Während sie den Tisch deckte und die hübschen bunten Sets, die sie ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte, unter die Teller legte, kamen ihre trübsinnigen Gedanken zurück Bald, dachte sie, würden die schönen Tage vorbei sein, an denen sie mit ihrer Mutter wie mit einer guten Freundin die kleine Wohnung teilte.
Allein schon der Gedanke, dass ihre Mutter bald mit einem Mann zusammenleben Würde, den sie noch nicht einmal kennengelernt hatte, machte sie ganz unglücklich.