Er fragte sich oft, ob wir etwa alle Figuren in einem von Gottes Träumen sind.
Als er das Bewußtsein wiedererlangte, war das erste, was er sah, eine Frau in Weiß. Dieser Engel sprach ihn, obwohl sie einander noch nie vorgestellt worden waren, mit Vornamen an: Tom.
»Sind Sie Nonne?« fragte er.
»Nein, ich heiße Jasmine. Ich bin Krankenschwester. Kommen Sie, Tom, ich muß Sie wecken. Ich muß Ihnen das andere Kissen unterschieben. Und das Kopfteil von Ihrem Bett hochstellen. So …« Mit dem Fuß drückte sie auf einen Hebel des Krankenhausbetts, so daß Tom leicht angehoben wurde. »Sonst fühlen Sie sich womöglich erschöpft«, sagte sie. Bevor er etwas entgegnen konnte, schob sie ihm ein Thermometer in den Mund und griff nach seinem Handgelenk. Dabei schaute sie auf ihre Uhr. Er sah, daß es zwanzig nach zwölf war. Durch die Vorhänge schien die Sonne, demnach war es Tag.
Während sie seinen Puls fühlte, nickte er ein. Als er, wie es ihm vorkam, eine halbe Stunde später wieder erwachte, war es dunkel. Wie er von der neuen Schwester erfuhr – einer Nachtschwester namens Edna, wie sie ihm verriet –, war es zwanzig vor elf – abends. So lenkt unser Gewerbe also unsere Wahrnehmungen und unsere Träume, dachte er: Tom war Filmregisseur von Beruf. Überblendete die Morgenszene mit der Abendszene. Dieselbe Schwester, aber war es wirklich dieselbe? Jedenfalls war es Edna und dieselbe Szene.
»Wo steckt der Arzt?« fragte Tom.
»Er hat heute nachmittag hereingeschaut. Waren Sie wach?«
»Vielleicht.« Tom war sich nicht sicher. Er meinte, sich undeutlich an das über ihn gebeugte Gesicht eines Arztes erinnern zu können.
Edna ließ sein Bett herab, indem sie den Hebel betätigte. Sein Fuß war an einen Tropf angeschlossen, den er im Wachzustand zwar bemerkt, aber noch nicht hatte kommentieren können. Edna hatte nahezu schwarze Hautfarbe. »Wo stammen Sie her, Edna?« – »Aus Ghana«, antwortete sie, oder verwechselte er sie mit jemand anderem? Als er aufwachte, war es frühes Morgenlicht.
Auftritt eine Dame in Weiß, diesmal mit Schleier. »Sind Sie eine von den Nonnen?« So war es. Schwester Felicitas war gekommen, ihm eine Blutprobe zu entnehmen.
»Man hat mir bereits Blut entnommen«, sagte er.
»Das war Ihr Urin.«
»Was wollen Sie mit meinem Blut anfangen?«
»Es trinken«, sagte sie.
»Wieviel Uhr ist es?«
»Sieben.«
»Wie können Sie so früh am Morgen schon so putzmunter sein?«
»Es ist spät. Wir stehen bereits um fünf Uhr auf.«
»Haben Sie da vorhin gesungen? Ich habe jemanden singen hören.«
»Das waren wir in der Kapelle.«
Im Nu war sie fortgehuscht, ein weißer Wisch. Herein kam sein Frühstückstablett, das die dunkelhäutige Edna zu stützen schien.
»Nennen Sie so etwas Frühstück?«
»Nahrung bekommen Sie zu Anfang in flüssiger Form, danach als Brei und dann erst in fester Form.«
Sie schenkte ihm milchigen Tee ein. Er schlug die Augen auf. Das Tablett war verschwunden.
Ihm fielen die Pläne wieder ein, die er vor der Operation geschmiedet, das Gelübde, das er abgelegt hatte. Er hatte vor, es zu erfüllen.
»Guten Morgen.«
Zwei Frauen mit Putzlappen und Eimer traten herein. Die eine wischte Staub, während die andere den Boden scheuerte. Danach kamen zwei Schwestern, um sein Bett zu machen. Sie halfen ihm beim Aufstehen und führten ihn zum Badezimmer. Sie rasierten ihn mit kundiger Hand. Ach, rasieren Sie doch weiter, es ist so angenehm. Aber dann zogen sie den Stecker aus der Steckdose. Jemand hatte einen riesigen Blumenstrauß auf den hinteren Tisch gestellt, Rosen, Lilien und Astern, sehr auffällig und sehr teuer.
Der Chirurg: Sie werden schon wieder auf die Beine kommen.
Was meinte er damit, ich werde schon wieder auf die Beine kommen? Und so ernst. Ich hatte nie das Gegenteil angenommen.
Neben seinem Bett ein Nachttisch auf Rädern, den er beliebig hin und her schieben konnte. Auf dem Nachttisch ein Telefon. Gut, ich warte, bis ich mich etwas kräftiger fühle, nach der Flüssignahrung und dem Brei.
»Wann bekomme ich festes Essen, Edna?«
»Ich bin nicht Edna, ich heiße Greta. Morgen erhalten Sie festes Essen.«
»Greta, wo stammen Sie her?«
»Aus Hamburg.«
Er kam sich vor wie ein Besetzungschef. Greta ist für die Rolle genau richtig gebaut. Aber für welche Rolle?
Das Telefon klingelte.
Er hatte Mühe, sich umzudrehen und den Hörer abzunehmen, aber Greta kam ihm zu Hilfe, indem sie den Tisch so hinstellte, daß sich das Telefon in greifbarer Nähe befand.
»Ja?« Seine Stimme klang krächzend.
»Tom, bist du’s? Tom, bist du’s?«
»Ich denke schon. Morgen bekomme ich festes Essen.« Eigentlich war er um einiges wacher, als er sich anmerken lassen wollte.
»Ich kann dich doch heute nachmittag besuchen kommen?«
»Nein, morgen.«
Claire, Toms Frau, fand sich am Nachmittag ein. Er hatte ihr noch nichts von den Plänen verraten, die er geschmiedet hatte. Sie würde neugierig sein, aber nicht beunruhigt. Das war ein Vorteil, wenn man eine sehr reiche Frau hatte. Man konnte Pläne schmieden, ohne daß sie sich sofort Sorgen darum machte, wie sie sich auf ihr Budget auswirkten. Früher einmal hatte Tom eine Frau gehabt, die jede seiner Handlungen, jeden seiner Gedanken immer nur auf ihr Budget bezog. Jetzt, wo sie geschieden war und eine eigene gutbezahlte Anstellung hatte, war sie um vieles glücklicher.
Er hatte Magenschmerzen. Schon kam Schwester Benedict mit ihrer Spritze.
»Tom …! Tom …!«
Claire stand lächelnd an seinem Bett und hielt seine Hand. »Du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie.
Niemand hatte das Gegenteil behauptet.
Er sagte: »Ich möchte Fortescue-Brown sprechen.« Das war sein Anwalt, voller Hektik und Geschäftigkeit. Nie kam man bei ihm zu Wort. Ich bleibe nur deswegen bei ihm, dachte Tom, weil ich zuviel am Hals habe, um ihn zu wechseln.
»Fortescue-Brown?« fragte Claire.
»Ja, Fortescue-Brown«, antwortete er.
»In einem solchen Augenblick willst du Fortescue-Brown sprechen?«
»So ist es«, sagte er.
Sie rückte einen Stuhl heran, setzte sich dicht an sein Bett und schob den Tisch auf Rädern zur Seite. Als er wieder aufsah, stand nur noch der Stuhl da, und eine Krankenschwester kam mit einem Tablett voll ekligen Abendessens herein.
»Wie heißen Sie?«
»Ruth.«
»Also, Ruth, diese weiße Brühe kann ich unmöglich essen.«
»Was würden Sie denn gerne essen? Ich kann Ihnen auch etwas anderes besorgen.«
»Ich strenge jeden Muskel meiner Vorstellungskraft an, um mir etwas anderes auszudenken. Lassen Sie nur.«
»Sie müssen bei Kräften bleiben«, sagte Ruth. Sie hatte eine Wespentaille und einen ausladenden Hintern. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Sie war um die Dreißig, hatte strohblondes, zurückgekämmtes Haar und ein blasses Gesicht. In Filmen aus längst vergangenen Zeiten hätte sie eine gute deutsche Spionin abgegeben. Sie verschwand, und zu seiner Überraschung kam sie mit einem weichgekochten Ei zurück, das er geistesabwesend verzehrte.
»Erwarten Sie heute abend Besuch?« Ruth war gekommen, um sein Tablett wieder mitzunehmen. Ihre Uhr zeigte halb sieben an.
»Meine Tochter Marigold, eine Frau, die aussieht wie ein Priester im Laienstand.«
Plötzlich war Marigold da.
»Na, Papa, ich höre, du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie mit ihrem nach unten gezogenen Lächeln, ließ ihren schmächtigen Körper auf einen Stuhl gleiten und schlug ihren Mantel über die flache Brust. Sie hätte nie heiraten sollen. Kein Wunder, daß James, ihr Mann, beschlossen hatte, Reisebücher zu schreiben.
»Wie geht’s James?« erkundigte sich Tom.
»Soviel ich weiß, ist er in Polynesien.«
»Ich habe nicht gefragt, wo er sich befindet, sondern wie.«
»Sprich nicht so viel, sonst überanstrengst du dich noch«, sagte sie. »Ich hab dir Trauben gekauft.« Sie sagte »gekauft«, nicht »mitgebracht«. Sie warf eine Plastiktüte auf den Nachttisch. »Das ist ja eine wunderbare Klinik«, sagte sie. »Ich schätze, der Aufenthalt kostet ein Vermögen. Natürlich sollte man in einem Fall wie dem deinen an nichts sparen.«
Man glaube nur nicht, daß Marigold sonderlich benachteiligt war.
Am Morgen rief Tom seinen Anwalt an und machte mit ihm einen Termin um drei Uhr nachmittags in der Klinik aus.
Liebe und Sparsamkeit, sinnierte Tom. Ich habe sie stets als Gegensätze angesehen, dachte er. Weshalb werden sie dauernd im selben Atemzug genannt, als wären es benachbarte Themen? Sollte es möglich sein, daß das, was ich Liebe nenne, gar keine Liebe ist?
Er war gerührt, weil Cora, seine bildhübsche Tochter aus erster Ehe, eigens nach London geflogen war, um ihn zu besuchen. Sie hatte sich aus diesem Anlaß Urlaub von irgendeiner Tätigkeit für Channel Four in Lyon genommen. Ihre ersten Worte waren: »Papa, du wirst schon wieder auf die Beine kommen.« Weiter sagte sie, ihr Mann Johnny habe seine Stelle als Sachbearbeiter bei Parsimmons & Gould, der Farbenfirma, verloren – sei überflüssig geworden. Sie habe sich einen billigen Flug erschwindelt, um Tom sehen zu können. Und was, dachte er, hat Johnnys Entlassung mit mir und meinen Knochenbrüchen zu tun? Und ihr billiger Flug? War sie nun aus Liebe gekommen oder was?
Und ich freue mich, fuhr er in Gedanken fort, daß Johnny seinen Arbeitsplatz verloren hat. Ich freue mich mit der Freude eines, der die Wahrheit liebt: Der Mann ist schon immer überflüssig gewesen.
Er sagte: »Marigold war hier.«
»Ich weiß«, erwiderte Cora.
»Sie hat mir Weintrauben mitgebracht«, fügte er versuchshalber hinzu.
»Ich weiß«, antwortete Cora. »Willst du dir nicht die Nachrichten ansehen?«
Auf einer Konsole in der Ecke stand ein Fernsehgerät, auf dem Nachttisch lag die Fernbedienung. Tom schaltete ein. Ein nigerianischer Politiker wurde interviewt. »Demokratie«, sagte er, »ist keine Ein-Mann-Show.« Tom schaltete wieder aus.
»Haben Sie Schmerzen?« fragte Fortescue-Brown.
»Ja, Mr. Brown, die habe ich in der Tat.«
»Nun, Tom«, sagte Fortescue-Brown, »denken Sie mal nach. Sie werden ja schon wieder böse. Böse und hochmütig. Es war nun wirklich nicht nötig, daß Sie auf den Kran kletterten. Für die Regie eines Filmes reicht ein gewöhnlicher Kamerawagen heute doch völlig aus. Aber nein, Sie müssen natürlich eine Extrawurst gebraten kriegen, Sie müssen ganz oben neben dem Kameramann stehen, zusammengepfercht und ohne Sicherheitsgurt. Sie wollen unbedingt Gott sein.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Gott einen Sicherheitsgurt trägt?«
»Nach zwanzig Jahren Anwaltstätigkeit für Sie würde mich nichts, aber auch gar nichts mehr wundern. Wann kommen Sie denn aus dieser Besserungsanstalt heraus?«
»Nächste Woche, aber ich muß zwei Krankenschwestern mit nach Hause nehmen.«
»Gleich zwei?«
»Eine für tagsüber und eine für nachts. Ist es Ihr Geld oder meins?«
»Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Sie eine Versicherung abschließen sollen.«
»Habe ich aber nun mal nicht. Treiben Sie Geld auf. Kratzen Sie’s zusammen.«
Kaum war er aus der Tür, schleuderte Tom ein gefülltes Wasserglas gegen die Tür, so daß Fortescue-Brown es hören konnte. Überall Glassplitter und Wasser. Da war doch noch etwas gewesen, was er dem Anwalt hatte sagen wollen. War da nicht ein Gelübde? Aber was für ein Gelübde?
Tom lächelte den Reinemachfrauen freundlich zu, während sie aufwischten. »Es ist mir aus der Hand gerutscht, als ich mich aufsetzen wollte.«
»Versuchen Sie nur nicht, sich allein aufzusetzen, Mr. Richards. Klingeln Sie doch.«
Tom lag da und dachte nach … Ja, dort oben auf dem Kran habe ich mich gefühlt wie Gott. Es war wunderbar, Befehle durchs Megaphon zu rufen und gottgleich zuzuschauen, wie sich die Schauspieler unten auf meine Anweisungen hin immer wieder neu gruppierten. Besonders die beiden großen Stars und die kleinen Sternchen, die viel zuviel Gage erhalten und sich einbilden, sie selbst könnten besser Regie führen. Da oben gab’s kein »Einen Moment bitte, könnte ich vielleicht vorschlagen …«, das am Boden meine Arbeit ständig verzögert hat. Dort oben brauchte ich nicht eine ganze Minute lang zu unterbrechen und mir ihre Vorschläge anzuhören. Was glauben sie denn, was Dreharbeiten sind? Eine Übung in Demokratie oder was? Ich bereue den Kran keinen Augenblick. Ich will nur wissen, wer mir alles versaut hat. Wer ist schuld daran, daß sich die Räder in dem Kabelgewirr verfangen haben, so daß ich Knall auf Fall abgestürzt bin. Zwölf Rippen und eine Hüfte gebrochen, und ein Riesenglück, daß ich noch am Leben bin.
Als Tom Richards ins Obergeschoß seines Hauses getragen wurde, ließ er die Krankenträger einen Augenblick anhalten. Von unten drangen Stimmen herauf.
»Fünf, das macht also fünf in der Familie.«
»Ja, wenn du es so betrachtest …«
»Ja, fraglos ein Rekord. Wie diese Familien, die sämtliche Söhne im Krieg verloren haben, ein halbes Dutzend Männer, und bei allen war Nachlaßsteuer fällig.«
»Ach, wir sind schon besser dran als Kriegerwitwen.« Das war die Stimme seiner Frau. »Entlassen werden ist schließlich was anderes als auf dem Schlachtfeld fallen.«
»Fühlt sich aber ähnlich an«, entgegnete Toms Bruder.
Auf diese Weise fand Tom heraus, daß seit seinem Sturz außer Coras Gatten Johnny zwei weitere Männer und zwei Frauen in seiner Familie ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Wie er später zufällig entdeckte, hatte eine andere Familienangehörige, die Personalchefin war, ihrerseits achtundzwanzig Männer in ihrem Büro entlassen.
Tom vertraute sich Krankenschwester Julia an: »Ich verliebe mich leicht und oft. Wenn ich von Liebe überwältigt werde, befinde ich mich in einem Zustand völliger Verzauberung und vergesse all die anderen Male, da ich wegen einer Frau in Verzückung geraten bin. In dieser Situation spielt es keine Rolle, wer meine Frau ist, was sie weiß, was sie glaubt. Nichts zählt außer der Frau meiner gegenwärtigen Leidenschaft, meiner Träume.«
Es war vier Uhr nachmittags. Julia machte Anstalten, nach Hause zu gehen. Die Nachtschwester trat ihren Dienst um acht an.
»Und wer ist die Glückliche diesmal?« erkundigte sich Julia.
»Niemand. Mit einem beschädigten Rückgrat, einer gebrochenen Hüfte und zerschmetterten Rippen werde ich vielleicht nie wieder lieben können.«
»Bei all den glamourösen Filmstars in Ihrem Leben?« fragte Julia. »Das glaube ich nicht.« Sie räumte sein Serviertablett fort.
»Vielleicht kann ich nie wieder Regie führen. Glauben Sie, irgend jemand würde sein Geld in einen überflüssig gewordenen Regisseur investieren?«
»Persönlichkeit ist alles«, meinte Julia.
»Ich nehme an, Sie haben einen Mann«, sagte Tom.
»Ja, und drei Kinder.«
»Drei hübsche Kinder.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Sie sind die einzige junge Mutter, die ich kenne, die das nicht gesagt hat. Was ist Ihr Mann von Beruf?«
»Mechaniker in einer Autowerkstatt.«
»Hat er einen sicheren Arbeitsplatz?«
»Ach, ich glaube schon. Man hält große Stücke auf ihn.«
Ihre Tracht war malvenfarben, mit zarten weißen Streifen, ihre Haare blond, an den Wurzeln nachgedunkelt. Sie hatte eine hübsche, nicht allzu schlanke Figur, die erkennen ließ, daß sie drei Kinder zur Welt gebracht hatte. Ihre Augen waren hellblau. Sie war nichts Besonderes. Gerade deshalb gefiel sie ihm. So, wie er an dem Mädchen in Frankreich Gefallen gefunden hatte, das auf einem Campingplatz Hamburger und Sandwiches verkauft hatte. Sie hatte seine Einbildungskraft so anhaltend beschäftigt, daß sie ihm wochenlang nicht aus dem Sinn gegangen war. Er skizzierte ein Exposé über sie. Er nannte sie Jeanne. Er zog einen Filmautor heran, der ein erstes Drehbuch verfaßte. Er beschaffte Geld. Abgestürzt war er bei den Dreharbeiten zu diesem Film. All das hatte mit dem Anblick eines Mädchens in einem rosa Kittel begonnen, das für die Zeltbewohner eines sommerlichen Campingplatzes in Hochsavoyen Sandwiches zubereitete und auf einem behelfsmäßigen Spirituskocher Hamburger grillte – in einem so winzigen Kabuff, daß nur Franzosen es fertigbrachten, darin zu kochen. Mit Ausnahme dieses ersten Anblicks hatte Tom an dem Mädchen kein weiteres Interesse. Sie würde nie erfahren, daß sie einen Film inspiriert hatte, der erst in den Händen des einen, dann in denen eines anderen Regisseurs lag.
Julia war nach Hause gegangen. Tom blieb zurück, grübelte über seinen Film in den Händen eines anderen Regisseurs und steigerte sich allmählich in eine Wut hinein. Er mußte an die Pläne denken, die er geschmiedet, an das Gelübde, das er abgelegt hatte, ehe er sich dem Eingriff unterzog, der auf seinen Sturz folgte. Die Pläne, das Gelübde – sie waren aberwitzig. Er hatte seine Vorhaben unter Schockeinwirkung gefaßt. Kein Wunder, daß sie ihm nicht einfallen wollten, als er mit Fortescue-Brown sprach. Sie bestanden darin, mit Fortescue-Browns Hilfe das Hamburger-Mädchen auf dem Campingplatz aufzuspüren und ihm anonym ein ungeheures Vermögen zu vermachen – als unverhofftes Geschenk. Mit Fortescue-Browns Hilfe würde er schnellstmöglich ein Vermögen auftreiben müssen, am besten vermutlich, indem er klammheimlich seine Frau Claire ermordete und ihr Geld erbte.
Tom war entsetzt. Das Drehbuch, das ein Element dieses Szenarios enthielt, war eine Sache, das wirkliche Leben eine andere. Das Neue an Toms dunklen Plänen war natürlich der Mord. Der Wohltäter des Mädchens im Film war schon reich.
Habe ich im Krankenhaus bei den Nonnen wirklich ein solches Gelübde abgelegt, solche Pläne geschmiedet? fragte er sich. Ich muß unter Schockeinwirkung gestanden haben, dachte er, unter Drogeneinfluß. Schuldbewußt dachte er an Claire, seine nette, gütige Frau. Was hätte wohl Fortescue-Brown davon gehalten, wenn er ihm den Plan auseinandergesetzt hätte? Er hätte Tom für verrückt erklärt. Aber der Film war natürlich nicht realistisch, es wimmelte darin von Bildern des alten Mannes in den Jahren, die auf jene Geste folgten – er versucht, seine natürlichen Ängste zu überwinden und dem jungen Mädchen nachzuspüren, aus Liebe, einzig aus Liebe …
Die Tür ging auf. Claire kam herein, in hautengen Blue jeans, einer Bluse und zwei Perlenketten, gefolgt von Johnny Carr, seinem Schwiegersohn, der soeben von seiner Farbenfirma auf die Straße gesetzt worden war.
»Johnny wollte dich besuchen, Tom«, sagte Claire. »Er wird nicht lange bleiben.«
»Falls du der Meinung bist, du solltest nichts unversucht lassen, vergeudest du deine Zeit«, entgegnete Tom.
»Tom, wie fühlst du dich?« fragte Johnny. »Alles andere zählt doch nicht.«
»Ach.«
Dabei wollte Johnny Carr mit seinem Besuch bei Tom tatsächlich die Lage sondieren, und er war außer sich, daß man ihn so taktlos mit der Wahrheit konfrontiert hatte. Er hätte sich denken können, daß Coras Vater der letzte war, der sich durch Leiden erweichen ließ. Und außerdem hatte Claire ihn viel zu früh zu dem Besuch gedrängt: »Er könnte dir bestimmt helfen, Johnny. Er kennt so viele Leute.«
So aber sagte Tom: »Mit Entlassungen ist es ganz einfach: Niemand feuert einen Angestellten, der ausgesprochen gut ist, es sei denn, der ganze Laden macht dicht. Geht dein Farbenkonzern etwa pleite?«
»Nein, es wird nur umstrukturiert. Aber laß gut sein, Tom …«
»Wie du willst.«
Johnny hatte seinen besten Straßenanzug angezogen, den er für Einstellungsgespräche in erstklassigem Zustand erhalten wollte. Nach seinem Besuch bei Tom fuhr er nach Hause, legte seinen guten Anzug ab und schlüpfte in seine Alltagskleider.
»Wie geht’s Papa?« fragte Cora.
»Es scheint ihm einigermaßen gut zu gehen.«
»Einigermaßen!« rief Cora aus, die ihren Vater gern hatte. »Was soll das heißen, einigermaßen? Schließlich hat er sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Dreiundsechzig Jahre alt und Pflegerinnen bei Tag und bei Nacht. Armer Papa, er hat Glück, daß er noch am Leben ist. Er schuftet so hart, alles, was er hat, investiert er in Filme. Filme sind sein ganzes Leben. Wie kann es ihm da einigermaßen gut gehen?«
»Er möchte dich sehen«, sagte Johnny.
»Hat er das gesagt?«
»Ja.«
»Soll ich einfach hinfahren oder einen Termin vereinbaren?« fragte Cora.
»Mach einen Termin mit seiner Sekretärin aus«, schlug Johnny vor. »Im Geist ist er schon wieder bei der Arbeit.«
Cora fuhr einfach hin. Ihre Tätigkeit in Frankreich war beendet, und sie saß wieder in ihrem Büro bei Channel Four. Sie war hochgewachsen, hatte hellbraunes Haar und trug zuweilen eine große Brille mit Goldrand. Sie hatte lange Beine und schmale Hüften, und als sie Tom besuchte, trug sie einen kurzen Rock und einen Pullover, beide türkisfarben. Cora war neunundzwanzig.
Mit ihrer Mutter Katia, einer ganz andersartigen Schönheit bulgarisch-polnischer Herkunft, hatte sie keinerlei Ähnlichkeit. Katia war dunkelhaarig und unerschrocken. Sie lebte längst in zweiter Ehe. Sie habe »ihre Strafe abgebüßt«, sagte sie; ihre Schuld der Gesellschaft gegenüber hatte sie beglichen, indem sie mit dem Filmregisseur Tom Richards zusammenlebte; jetzt konnte sie wieder Atem schöpfen bei dem hochbezahlten Geschäftsführer einer Bausparkasse. Der war gewiß kein Genie, dafür aber, anders als Tom, auch kein großer Geldverschwender.
Cora saß auf einem Stuhl am Krankenbett, während Krankenschwester Julia Toms Laken glattstrich und die Kopfkissen aufschüttelte.
»Wir hätten gern Tee«, sagte Tom.
Julia sah auf ihre Uhr.
»Die Uhrzeit interessiert doch gar nicht. Wir hätten gern Tee.«
Cora war so schön, daß Tom wünschte, sie wäre nicht seine Tochter. Er konnte sich an ihr nicht satt sehen. Cora hatte ihn stets geblendet, stets betört. Aus Fürsorglichkeit war er stets zurückhaltend gewesen, so daß er sich über jeden anderen Mann ärgerte, der sich bei Cora nicht zurückhielt. Die Männer standen bei ihr Schlange. Die Krönung war Johnny, den sie geheiratet hatte, die Närrin. Wegen seines guten Aussehens, zugegebenermaßen das eines Filmstars. Aber die Ehe war kein Film und Cora keine Regisseurin; sie hatte ihm die Rolle eines Ehemannes zugewiesen, und er spielte sie hundsmiserabel. In Spielfilmen hat der Ehemann ein Drehbuch, an das er sich halten kann. Johnny hatte fast nichts.
»Jetzt ist er arbeitslos«, sagte Tom.
»Wer ist arbeitslos?«
»Johnny.«
»Ach, Johnny. Er schaut sich gerade nach einer anderen Stelle um. Millionen sind arbeitslos.«
»Wie kommt ihr mit euerm Budget zurecht?«
»Du klingst wie Mama. Wir haben nicht viel Zeit gehabt, eines aufzustellen.«
»Ach, Cora, komm mir nicht auf die Idee, einen Mann finanziell auszuhalten. Ich bitte dich inständig, fang mir bloß nicht damit an.«
»In frohen wie in kummervollen Tagen …«, erwiderte Cora. »Man heiratet, was immer daraus werden wird. Ich wollte sehen, wie’s dir geht. Ich wollte nicht über Geldangelegenheiten reden, Papa.«
Julia brachte ein Tablett mit Tee, gefolgt von Claire.
»Du hast ja einen ganzen Harem, der dich umsorgt, Tom«, sagte sie. »Was willst du mehr?«
»Meine Arbeit«, antwortete Tom. »Ich will meinen Film zu Ende drehen, aber ich kann nicht. Das wird ein anderer übernehmen. Ich bin bettlägerig. Ich bin arbeitslos.«
»Es wird schon noch andere Filme geben«, meinte Claire. »Das war doch bisher auch so.«
»Mein Film ist unersetzlich«, sagte Tom. »Kein Kunstwerk ist zu ersetzen. Ein Kunstwerk ist wie ein lebendiger Mensch.«
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