Über Christian Meyer-Landrut

Christian Meyer-Landrut ist Diplomarchitekt und betreibt in Weimar ein Architekturbüro mit Schwerpunkt im Industriebau. Als Johanniter-Ritter ist er ehrenamtlicher Landesvorstand der Johanniter-Unfall-Hilfe Sachsen-Anhalt/Thüringen.

Informationen zum Buch

Welche Spuren Kriegserlebnisse hinterlassen, bleibt für die Nachgeborenen letztlich unbegreifbar. »Deserta« ist der Versuch Christian Meyer-Landruts, sich seinem Vater anzunähern, zu verstehen, wie es in seiner Seele ausgesehen haben mag, der mit 17 Jahren als Soldat an der Ostfront die Schrecken des Krieges erleben musste. Anhand von Fragmenten aus Erzählungen seines Vaters sowie Berichten von dessen Bruder hat er sich herangetastet, die Geschichten miteinander verwoben und seinen Vater direkt angesprochen, ihn bei seinem Namen gerufen. So ist »Deserta« das Ergebnis einer sehr persönlichen Spurensuche, einer Annäherung an unbeschreibliche und unausgesprochene Erfahrungen, die bis heute nachwirken – deserta: wüst und leer – und die es zu überwinden gilt.

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Meinen Kindern Johanna, Jakob und Elisabeth gewidmet.

Der Schnee hält nicht ewig, nur bis zum Frühjahr.

Aber auch der Mensch hält nicht ewig. Bis zum Frühjahr hält er nicht.

An die deutschen Soldaten im Osten, 1942,
Bertolt Brecht

Christian Meyer-Landrut

Deserta

Ich rufe dich bei deinem Namen.

Inhaltsübersicht

Über Christian Meyer-Landrut

Informationen zum Buch

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Vorwort

1 Potsdam I

2 Totenkopf

3 Sportpalast

4 Charkow

5 Gomorrha

6 Tscherkassy

7 Feldpost

8 Urlaub

9 Schlachtschiff

10 Südfront

11 Hinrichtung

12 Liebesgeschichte

13 Witebsk

14 Minsk

15 Wolfsschanze

16 Posen

17 Henken

18 Selbstmord

19 Demmin

20 Rache

21 Potsdam II

22 Seelower Höhen

23 Deserta

24 Lübeck I

25 Berlin

26 Begegnung

27 Elbe

28 Flucht

29 Lübeck II

30 Lübeck III

31 Schichtungen

– Schichtung 1 –

– Schichtung 2 –

– Schichtung 3 –

– Schichtung 4 –

– Schichtung 5 –

– Schichtung 6 –

– Schichtung 7 –

– Schichtung 8 –

– Schichtung 9 –

– Schichtung 10 –

– Schichtung 11 –

– Schichtung 12 –

32 Potsdam III

Nachwort

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Danksagung

Impressum

Vorwort

Das Persönliche ist politisch

Wir leben im Zeitalter der neuen Unübersichtlichkeit. Selbst die Gewissheit, dass sich aus dem Zweiten Weltkrieg für uns eine ständige Verantwortung und Aufgabe ableitet, löst sich auf und verwandelt sich in einen politischen Kampfplatz. Ebenso zeigt uns Christian Meyer-Landrut an dieser Stelle auf, dass wir uns auch von der einst gewissen Vorstellung verabschieden müssen, unsere Privatsphäre lasse sich von den öffentlichen Belangen des Staates abgrenzen. Unsere ganz eigenen Fragen, Vorstellungen und Wünsche sind nicht nur ein Ausdruck unserer jeweils eigenen Identität, sondern sie sind mit der nationalen und internationalen politischen Ordnung verwoben. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Eltern in den Tumulten des Zweiten Weltkriegs verdeutlicht dies auf ganz eindringliche Weise. Die Gewalt des Krieges findet nicht nur in den Geschichtsbüchern zwischen fixierten Jahreszahlen statt, sondern ist mit den Abertausenden Verwundungen und Verlusten fest verankert und bis heute wirksam. Gewalt hört nicht einfach auf, sondern wirkt über Generationen nach. Sie gehört nicht in die Vergangenheit, sondern ist lebendiger Bestandteil unserer Existenz.

Das hier vorliegende Buch könnte aus diesem Grund kaum aktueller sein. Es geht hier nicht nur um eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem vom Krieg gezeichneten Vater, um damit eventuell die eigene Jugend besser zu verstehen. Vielmehr stellt das Buch eine Einladung dar, uns von diesen verschwiegenen Erfahrungen zu erzählen und ihnen damit eine Stimme und Sprache zu geben. In diesem Sinne ist es ein politisches Buch, in dem die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zwar auf die persönliche Ebene projiziert werden, das aber dabei nicht stehenbleibt. Aus diesem Grund ist der Ruf nach dem Vater im Kern politisch: Es geht nicht nur darum, der Vergangenheit den richtigen Platz einzuräumen, sondern gleichzeitig damit unsere Gegenwart besser zu verstehen und unsere Zukunft so zu gestalten, dass sich diese Erfahrungen nicht wiederholen müssen.

Prof. Dr. Oliver Kessler

1
Potsdam I

Juni 1942

Der Krieg tobt nun schon seit fast drei Jahren.

In Moskau fielen die letzten Granaten – vor einem Jahr, im Sommer 1941 – aus dem Himmel. Das ist lange her.

Achi – bist 17 Jahre alt – rückst im Sommer 1942 in die Schlieffen-Kaserne in Potsdam ein.

Hier verhallten die letzten Preußischen Tugenden – so ritterlich – Kavallerie in Panzer getauscht. »Suum cuique«; wurde noch vom alten Fritz geprägt:

Einem modernen Staatswesen erster Diener. »Jeder soll nach seiner Façon selig werden.« Gelebte Renaissance! Rückbezug auf eine griechische Polis. Platon schrieb:

»Jeder soll das Seine tun, und zwar in Art und Umfang so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und individuellen Umständen entspricht.« Ergänzend: »Dass auch jeder das Seine bekomme und dass niemandem das Seine genommen werden soll!«

Der rote Adler stieg in die Luft, Brandenburg erhob sich, Preußen wurde ein großer Staat!

Suum cuique. Jedem das Seine.

In Potsdam rückst du ein. Vor über 200 Jahren wurde die Garnisonskirche geweiht: 17. August 1732, mit 90 Meter hohem Turm, weit über den Landstrich hinausragend – als stolzes Wahrzeichen. Die Kirche von Beginn an; Patronatskirche des Königs von Preußen. Am 21. März 1933 fand hier die konstituierende Sitzung des Reichstags statt, nachträglich der Handschlag von Hitler mit Hindenburg: »Der Tag von Potsdam!«

Buchenwald ließ nicht mehr lange auf sich warten – Preußen fiel, … Deutschland fiel für tausend Jahre in Barbarei und »Jedem das Seine« prangte von nun an auf dem Tor in Buchenwald. Wurde von den Nazis verbraucht. Jedweder menschlicher Fürsorge beraubt – für immer. Nicht mehr zu gebrauchen. Für immer stigmatisiert.

Nach einem kurzen harten halben Jahr stehst du auf dem Appellplatz:

Augen – gerade – aus! –

Das Gewehr – über! –

Gewehr ab! Augen – gerade – aus! –

Das Gewehr – über! –

Rechts – um –

Im Gleichschritt – Marsch! –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

(Die mit aufrechtem Gang grub man ein.)

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Abteilung – Halt! –

Links – um –

Im Gleichschritt – Marsch! –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

Links – zwo – drei – vier –

(Das Kriechen war bequemer als das Aufrechtgehen.)

Großer Zapfenstreich –

Großer Zapfenstreich – Stillgestanden! –

Das Gewehr – über! –

Großer Zapfenstreich –

(Musikkorps und Spielleute: langer Wirbel mit anschließenden acht Trommelschlägen – preußischer Zapfenstreich.)

(Musikkorps: drei Fanfaren)

(Spielleute: Zeichen zum Gebet.)

Helm ab – zum Gebet –

Ich bete an die Macht der Liebe,

die sich in Jesu offenbart;

(Genaues wusste man nicht. Hin und wieder sollte man töten, dann wieder nicht. Verbrannte man Tausende, bekam man ein Ehrenkreuz umgehängt. Erschlug man einen Einzelnen, hat einen der Henker geholt.)

Ich geb’ mich hin dem freien Triebe,

wodurch ich Wurm geliebet ward;

ich will, anstatt an mich zu denken,

ins Meer der Liebe mich versenken.

(so tönt es saftig weiter und weiter und weiter, Strophe um Strophe, Herz Jesu, Liebesmatsch).

Helm auf –

(Spielleute: Abschlagen nach dem Gebet.)

(Musikkorps: Ruf nach dem Gebet.)

Das Gewehr – über! –

Achtung – präsentiert das – Gewehr! –

(Musikkorps: Nationalhymne.)

Zur Meldung – Augen – rechts –

Führer, ich melde den Großen Zapfenstreich ab! –

Augen – gerade – aus!

Das Gewehr – über! –

Rechts – um –

Im Gleichschritt – Marsch! Achtung – präsentiert das – Gewehr! –

(Musikkorps und Spielleute: langer Wirbel mit anschließenden acht Trommelschlägen, Abmarsch zu den Klängen des preußischen Zapfenstreichmarsches).

Dies alles geschieht im Rahmen der Gelöbnisfeier. Du schwörst:

»Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid,

dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler,

dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als

tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.«

Nun bist du vereidigt auf den Führer und morgen wird es an die Südfront gehen.

2
Totenkopf

Januar 1943

Wohin schaust du? Achi, in Uniform, mit dem Totenkopf auf dem Kragenspiegel. In welcher Einheit bist du? Ich werde das noch einmal näher untersuchen müssen. Die Soldaten der Panzertruppen der Wehrmacht trugen zur schwarzen Dienstuniform aluminiumfarbene Totenköpfe auf beiden Kragenspiegeln und knüpften so an die Tradition der Totenkopfhusaren an.

Totenkopfhusaren waren Husaren-Regimenter der preußischen Armee. Sie trugen ein Totenkopfsymbol an der Pelzmütze, so auch das 2. Leib-Husaren-Regiment »Königin Viktoria Luise von Preußen«. Sie kämpften für Preußen in ganz Europa seit dem 18. Jahrhundert. Besonders bizarr ist das Bild von Viktoria Luise in der Uniform der Totenkopfhusaren, deren Regimentschef sie höchstselbst war. Die Idealisierung und Schönheit des Krieges wurden so in Luise auf erschreckende Weise in Szene gesetzt. Es ist eigentlich unglaublich.

Kann es trösten, dass du nicht Soldat in der berüchtigten 3. SS Panzerdivision Totenkopf warst? Dein Bruder stritt dies vehement ab und bestätigte, dass du bei einer Panzertruppe der Wehrmacht gedient hast, in der Tradition der preußischen Kavallerie stehend. Auch wenn die Wehrmacht die gleichen Kriegsverbrechen verübte – verbrannte Erde hinterließ –, war die Unterscheidung für deinen Bruder sehr wichtig: Und – bedenke die Blutgruppentätowierung, sagte er.

Die SS-Einheiten erhielten dieses trügerische Privileg, dass allen Angehörigen der Waffen-SS und der SS-Totenkopfverbände in den linken Oberarm ihre Blutgruppe tätowiert wurde – zur Erleichterung medizinischer Hilfe.

Das sollte sich rächen. Nach dem Krieg – der Wind hatte sich gedreht – versteckten sich Soldaten der Waffen-SS aus Angst vor Rache. Das war auch nicht unbegründet. Die Tätowierung verriet sie nun! Verriet Gräueltaten, die mit einer enthemmten Tötungsbereitschaft von SS-Mitgliedern einherging.

Wohin schaust du, in die Vergangenheit oder in die Zukunft? Die Kindheit ist auf jeden Fall in der Ausbildungszeit auf der Strecke geblieben – auf Schießplätzen, in ewigen Nachtmärschen und auf dem Appellplatz in Reih und Glied. Da war ja noch ein anderes Bild von dir am Anfang der Wehrausbildung, Sommer 1942. Da könntest du gerade von Bord einer Segeljacht gestiegen sein, nach einem Törn auf dem Finnischen Meerbusen, oder mit Luise im Lustgarten ausgeritten sein. Auf der Rückseite des Bildes steht geschrieben: »Achi 1942 – mit 17 Jahren in den Krieg.« Ein halbes Jahr später mit Totenköpfen am Revers zeichnet der Krieg schon seine ersten Spuren.

3
Sportpalast

18. und 22. Februar 1943

Achi, wo bist du in den ersten Februartagen 1943?