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Für Bobby, mein neach-gaoil

 

Amo enim, et efflictim te, quicumque tu es.

Denn ich bin verliebt, und von ganzem Herzen,

wer immer du auch bist.

Apuleius, Metamorphosen V, 6

Die Geschichte von Amor und Psyche

Hast du dich nie wie eine Plastiktüte gefühlt, die der Wind vor sich her treibt?

KATHY PERRY, Firework

ERSTER TEIL

begadang (indonesisch):

Die ganze Nacht über wach bleiben und reden

1

Luca, ich liebe dich für immer

Spataro, du altes Schwein

Liebe ist wie ein Parfüm – leicht aufzutragen, schwer zu entfernen und unmöglich zu vergessen.

Gestern hab ich mit Casali gefikt, es war unglaublich.

Du hast das Wichtigste vergessen: die Größe?

Schreib ficken wenigstens richtig, du Analphabet!

Gioia Spada kennt die Sprüche inzwischen auswendig, trotzdem kann sie nicht anders, als sie jeden Morgen wieder zu lesen, einen nach dem anderen, während sie im Schneidersitz auf dem Klodeckel sitzt und in ihr Cornetto beißt.

Vor der Tür hört sie ein paar ihrer Klassenkameradinnen lachen, die sich vor dem Spiegel schminken und gegenseitig um Rat fragen, was sie dem Blödmann schreiben sollen, der »nie was von sich hören lässt«. Sie würde ihre ganze Vinylplattensammlung von Pink Floyd darum verwetten, dass dieser Idiot von Casali die Sätze selbst an die Tür geschrieben hat. Er ist genau der Typ, der sich heimlich in die Mädchentoilette schleicht und solche Sprüche hinschmiert, damit alle Mädchen in der Schule denken, dass er ein Wahnsinnstyp ist. So eine Art Marketing-Maßnahme in eigener Sache. Ziemlich clever, aber auch verdammt geschmacklos.

Jetzt läutet es zum ersten Mal. Ihre Mitschülerinnen machen sich lachend davon, und Gioia hat ihr Cornetto erst zur Hälfte aufgegessen. Sie fasst sich unwillkürlich an die kleine Narbe hinter dem rechten Ohr und zählt die Sekunden, die sie braucht, um nach draußen gehen zu können, ohne von jemandem gesehen zu werden.

Sie frühstückt immer in der Schule, denn zu Hause kann man es nur aushalten, wenn man schläft. Besser wäre es noch, dort einfach tot zu sein, denn nur ein Toter könnte sich in dieser Atmosphäre wohlfühlen. Deshalb kommt sie seit ein paar Monaten immer früher in die Schule, schließt sich auf dem Mädchenklo ein und isst ihr Cornetto.

Gioia ist siebzehn, sie hat rote Haare und unzählige Sommersprossen im Gesicht. Ihre Augen sind wie zwei große blaue Seen und scheinen stets ganz klar, auch wenn sie betrübt sind. Immer trägt sie eine karierte Flanelljacke, dazu eine abgerissene, löchrige Jeans, aber nicht von der Art jener abgerissenen, löchrigen Jeans, die zwei Monatsmieten kosten. Gioias Jeans sind einfach nur alt, und sie hat keine anderen. Sie ist ziemlich dünn, doch im Vergleich zu dem, was in ihrer Klasse die Norm ist, hat sie immer noch ein paar Kilo zu viel. Sie achtet nicht darauf, es ist ihr völlig egal; sie hat sich auch noch nie geschminkt und widmet dem Kämmen und Anziehen nicht mehr Zeit als ein Junge, vielleicht sogar weniger.

Für die Jungen ist sie jedenfalls ein Objekt, das kilometerweit vom Radar körperlicher Attraktivität entfernt ist. Bei der letzten Hit-Liste der schönsten Mädchen der Klasse, die mit sadistischem Grinsen herumgereicht wurde, stand Gioia an vorletzter Stelle. Vermutlich war sie nur deshalb nicht die Letzte, weil das Mädchen, das nach ihr kommt, eine Stoffwechselstörung hat und über hundert Kilo wiegt.

Jede andere, die sich auf diesem Platz entdeckt hätte, wäre vermutlich traumatisiert und könnte von diesem Schock nur durch jahrelange Therapie geheilt werden, aber Gioia Spada ist es nicht.

Sie war nur sehr wütend auf den Verfasser der Liste und hat das Blatt mit all den Namen in den Papierkorb geworfen, bevor das Mädchen mit dem Übergewicht es lesen konnte.

Gioia Spada ist ein seltsames Mädchen.

Wenn sie es versuchen würde, könnte sie sehr apart aussehen, aber rechnen Sie nicht mit dem beliebten Klassiker, wo der Pechvogel der Schule seine Brille abnimmt und plötzlich wunderschön ist. So ein Mädchen ist sie nicht. Und eine Brille trägt sie auch nicht.

Es läutet zum zweiten Mal.

Gioia wirft den Rest des Cornettos in die Toilette, zieht ab und öffnet vorsichtig die Tür. Ihre Schulkameradinnen sind alle fort. Auf den Spiegel hat jemand mit Lippenstift etwas hingekritzelt.

Na, Trauerkloß, isst du vielleicht zu viele Pflaumen, dass du immer so lange auf dem Klo hockst?

2

Gioia, deren Name eigentlich »Freude« bedeutet und die von allen Mitschülern nur »Trauerkloß« genannt wird, betritt die Klasse, während sie in voller Lautstärke The Great Gig In The Sky hört. Das hat den Vorteil, dass sie nicht mitbekommt, was die anderen reden, vor allem aber kann sie sich so an ihren Tisch beim Fenster setzen und eins ihrer Lieblingsspiele spielen, das sie »Symposion« nennt. Sie schaut sich die Lippenbewegungen ihrer Mitschülerinnen an und legt ihnen Worte in den Mund, die sie sich ausdenkt. Rechts von ihr sitzen Giulia und Silvia, die gerade darüber reden, wie lange ihr Lidschatten hält, und Gioia stellt sich vor, dass sie sagen:

Diese Szene aus American Beauty ist wirklich voll schön.

Ja, jedes Mal wenn ich sie sehe, bin ich total gerührt.

Vor ihr, zwei Tische weiter vorne, streiten sich drei Jungen heftig über einen Elfmeter, den Juventus Turin nicht gekriegt hat, und Gioia stellt sich vor:

Aber was redest du für einen Müll, de Gregori ist doch viel besser!

Bist du bescheuert? Und was ist mit Vecchioni?

Ihr seid beide Idioten. De André ist der Beste von allen.

Gioia findet es unfair, dass man nicht den ganzen Tag seine Kopfhörer aufbehalten kann. Wenn das ginge, wäre die Welt ein besserer Ort.

Während sie darauf wartet, dass der Lehrer zur ersten Stunde hereinkommt, nimmt sie einen Kugelschreiber aus dem Federmäppchen und schreibt ein paar Worte auf ihren linken Arm. Langsam und sorgfältig malt sie die Buchstaben mit dem Tintenroller aus, damit man sie auch von weitem gut lesen kann, und so entsteht der Satz Wenn ein Glückliches fällt.* [* Anm. aus Rilkes 10. Duineser Elegie: die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung / die uns beinah bestürzt / wenn ein Glückliches fällt.]

Gioia hält immer wieder inne, betrachtet ihren Arm aus einigem Abstand und bewundert das Ergebnis mit zufriedenem Lächeln. In ihren Ohren erklingt das Gesangssolo von Clare Torry, wunderbar, ja schicksalhaft, denn es bewahrt sie davor, das Gekicher der Klassenkameraden zu hören, die ihr morgendliches Ritual beäugen, bei dem sie immer denselben Satz auf ihren linken Arm schreibt. Keiner hat die geringste Ahnung, was diese Worte bedeuten. Seit Gioia vor drei Monaten in die neue Schule gekommen ist, wurde sie sofort als »Das Mädchen-das-gewaltig-einen-an-der-Klatsche-hat« oder »Das-Mädchen-mit-den-Megaproblemen« klassifiziert, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie sich jeden Morgen immer dieselben Worte auf den Arm schreibt.

»Was zum Teufel soll das sein? Ist das Polnisch – oder was?«, wurde sie am dritten Tag von Giulia Batta gefragt, dem Mädchen, das ganz oben auf der Liste der Klassenschönsten steht.

»Oder was«, hat Gioia gesagt und sie dabei nicht mal angesehen. Sie hätte ihr gern erklärt, dass es Deutsch ist und dass man diese Worte kaum übersetzen kann, die in etwa bedeuten: »Wenn das Glück herabfällt«, und sie hätte ihr auch gern gesagt, warum sie diese Worte jeden Tag immer wieder auf ihren Arm schreibt. Doch die Art, wie Giulia sie fragte und die feixenden Blicke der anderen ließ sie nur sagen: »Oder was.« Und das war im Übrigen auch das einzige Wort, das sie mit ihren neuen Klassenkameraden in den ersten Wochen wechselte. Manche Dinge kann man eben nur jemandem sagen, der sie auch versteht. Deshalb reden wir ja auch so wenig über das, was uns wirklich wichtig ist.

Nur einer, ihr Philosophielehrer Bove, kennt den Vers. Er kam an jenem Tag, als sie auf dem Schulhof stand, den Rücken an die Wand gelehnt, und einen Cracker aß, an ihr vorbei, ging wieder zurück, blieb kurz stehen, sah auf ihren Arm und sagte: »Ah, der gute alte Rilke.«

Gioia blieb mit offenem Mund stehen und sah, wie er pfeifend weiterging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Prof. Bove war der Einzige, der das Gedicht wiedererkannt hatte, aus dem diese Zeile stammt, und in dieser neuen Schule das Wort an sie richtete. Er war auch der Einzige, mit dem Gioia wirklich Lust hatte zu reden.

»Guten Morgen, Kinder«, sagte der Biologielehrer, aber niemand entgegnete seinen Gruß.

Früher hatte Gioia die Lehrer gegrüßt, aber dann merkte sie, dass ihnen das völlig gleichgültig war. Ihr »Guten Morgen« beim Hereinkommen war kaum mehr, als seine Karte in die Stechuhr zu stecken. Es war den Lehrern völlig schnuppe, ob auch nur irgendjemand ihren Gruß erwiderte. Vielleicht war es etwas kindisch, aber Gioia hätte es gefallen, wenn es so gewesen wäre wie früher, als die Kinder aufstanden, wenn der Lehrer hereinkam, und alle zusammen laut riefen: »Guten Morgen, Herr Lehrer.«

»Soll ich heute vortragen oder euch abfragen?«, fragt der Lehrer.

Die Antwort ist vorauszusehen und erfolgt einstimmig. »Vortragen.«

Eigentlich wissen sogar die Landkarten an der Wand, dass heute Montag ist und deshalb der Lehrer die Schüler abfragt.

»Seid ihr sicher? Ist heute nicht Montag?«

»Doch, aber letztes Mal haben Sie gesagt, dass Sie heute vortragen wollen«, sagt Casali von der letzten Bank mit seinem üblichen unvergleichlichen Arschgesicht.

Der Lehrer aber hat den Braten gerochen. Er zieht ein Heft aus der Tasche, wirft einen raschen Blick hinein und sagt:

»Tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen, Casali, aber ich fürchte, Sie legen mir da Worte in den Mund, die ich nie gesagt habe.«

Die Lehrer reden immer so kompliziert, nur damit man sich klein und mickrig vorkommt. Wenn es nach Gioia ginge, müsste man für Lehrer einen extra Höllenkreis erfinden.

»Dann würde ich sagen, lieber Casali, dass Sie wegen Ihres ungeschickten Versuchs, mich zu täuschen, einer der beiden Glücklichen sind, die sich hier neben mich setzen dürfen, um sich mit mir über Lymphozyten und Leukozyten zu unterhalten.«

Casali wendet sich mit hilfesuchenden Blicken an seine Kameraden, aber nichts geschieht. Er sieht nach unten, tut so, als suche er etwas in seiner Schultasche, und dann Schweigen.

»Ich warte auf Sie, Signor Casali.«

»Ich komm ja schon!«, sagt Casali und tastet mit seiner Hand unter dem Tisch herum. Die ganze Klasse weiß schon, was passieren wird, das sieht man daran, dass alle außer Gioia anfangen, in ihrem Biologiebuch zu blättern und zu versuchen, in kürzester Zeit so viele Informationen wie möglich aufzunehmen. Die Hand unter dem Tisch bedeutet, dass bald ein anderer als Casali befragt wird.

Er steht auf und setzt sich neben den Lehrer, mit dem ruhigsten Gesichtsausdruck der Welt.

»Wie kommt es, dass Sie so vergnügt aussehen, Casali?«

»Weil ich mich vorbereitet habe und kaum erwarten kann, es Ihnen zu beweisen.«

»Sehr gut, Casali, dann fange ich gleich mit einer schwierigen Frage an.«

»So schwierig wie möglich.«

»Genau die richtige Einstellung, Casali. Also erklären Sie mir doch bitte mal die Etymologie des Wortes Leukozyten.«

Casali grinst. Man sieht, dass er in Gedanken schon rückwärts zählt.

Drei.

Zwei.

Eins …

Es klopft an die Tür des Klassenzimmers. Der Hausmeister Mario kommt herein. »Guten Tag, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber es ist dringend. Eine wichtige Nachricht für …« Er schaut auf seinen Zettel: »Gianluca Casali. Sie sollen bitte sofort ins Sekretariat kommen.«

Die Schüler fangen an zu kichern.

»Was ist denn los?«, fragt der Lehrer.

»Ich weiß es nicht genau. Da ist ein Anruf aus dem Krankenhaus …«, antwortet der Hausmeister.

Casali macht ein besorgtes Gesicht. Er steht auf und sagt zu dem Lehrer: »Vielleicht können Sie mich ja nachher prüfen?«

»Schon gut, das ist jetzt nicht so wichtig. Schnell, Casali, gehen Sie!«

Casali springt auf, bereit, aus dem Klassenzimmer zu stürzen.

Keiner der Mitschüler verzieht eine Miene. Keiner hat den Mut, aufzustehen und zu sagen, was wirklich Sache ist. Und zwar allein aus Angst. Weil Casali ein Bandenchef ist, der abgefahrene »Killer«-Partys veranstaltet, und wer nicht eingeladen wird, fliegt aus der Kategorie »Jemand« in die Kategorie »Niemand«. Und außer Gioia vielleicht, der es egal ist, möchte kein lebendes Wesen zum »Niemand« werden – nicht mal die Lymphozyten oder Leukozyten.

Casali verwendet den Trick nun schon zum dritten Mal in diesem Schuljahr, bei verschiedenen Lehrern natürlich, aber tatsächlich zum dritten Mal.

Er gibt Mario zehn Euro, und Mario zieht eine riesige Nummer ab, kommt in die Klasse und tut so, als ob sich eine Familientragödie ereignet hätte. Drei Minuten später sind die beiden im Hausmeisterbüro und spielen Briscola oder sehen sich auf dem Tablet Pornos an.

Gioia wäre die Einzige aus der Klasse, die etwas sagen könnte, denn:

1. wird sie auf diese Partys sowieso nie eingeladen, und

2. selbst wenn sie eingeladen würde, könnte sie dort nur hingehen, wenn sie vorher Beruhigungsmittel nimmt.

Wenn sie etwas sagen würde, würde das allerdings bedeuten, dass sie eine miese Verräterin ist, ein elender Wurm, das niedrigste Wesen des Universums.

Dazu muss man jedoch sagen, dass der Trauerkloß Gioia Spada in den Augen der meisten Klassenkameraden von Anfang an eine miese kleine Person war. Und die, die nicht dieser Meinung sind, haben sie bisher vielleicht einfach bloß übersehen.

Nicht dass sie viel dafür tun würde, um dieses Etikett loszuwerden. Im Gegenteil. Obwohl sie weiß, dass sie durch das, was sie sagt oder tut, nur noch mehr gehässige Bemerkungen hinter ihrem Rücken provoziert und noch mehr spöttisches Lachen, schafft sie es manchmal nicht, sich zurückzuhalten.

Sie weiß, dass das falsch ist, sie weiß, dass sie mit blöden Kommentaren und Repressalien zu rechnen hat, sie tut es trotzdem. Dabei weiß sie gar nicht warum. Jetzt ist wieder so ein Mal. »Signore«, sagt sie zu dem Lehrer, während Casali noch in der Tür steht. Achtzehn Köpfe wenden sich ihr zu. Sechsunddreißig Augen schleudern wütende Blitze auf sie. Casalis Unterkiefer arbeitet und er wirft ihr einen drohenden Blick zu. Das Spiel ist gleich zu Ende.

»In Ordnung, Signorina Spada«, sagt der Lehrer.

»Wie meinen Sie das – in Ordnung?«, fragt sie.

»In Ordnung, kommen Sie her, dann frage ich Sie ab.«

»Nein, ich wollte etwas anderes sagen.«

»Das ist jetzt nicht der richtige Moment, wir haben sowieso schon Zeit verloren. Sie können mir das in der Pause erzählen, ja? Und jetzt gehen Sie schon, worauf warten Sie denn noch?«, sagt er zu Casali, der hinter dem Rücken des Lehrers eine obszöne Geste in Richtung Gioia macht.

Achtzehn Münder brechen in ein höhnisches Lachen aus. Als sie nach vorn zum Pult geht, sieht sie mindestens drei nach oben gerichtete Mittelfinger.

Gioia seufzt, beißt sich auf die Lippen und streicht mit dem Zeigefinger über die kleine Narbe hinter ihrem rechten Ohr. Dann flüstert sie ganz leise ihren Lieblingsfluch: »Scheißwelt«.

3

Es ist ja nicht so, dass sie es nicht versucht hätte. Sie hat es versucht, seit sie sich erinnern kann.

Sie hat versucht, so zu werden wie die anderen. Es hat nicht funktioniert. Sie hat versucht, sie selbst zu sein. Aber auch das hat nicht funktioniert. Als sie versuchte, wie die anderen zu sein, hat sie sich dauernd verhaspelt: Sie hat versucht, dieselben Sätze zu sagen, dieselben Gesten zu machen, aber alles kam irgendwie falsch rüber. Das Timing stimmte nie, die Tonlage war nicht richtig, alles. Sie lachte, ohne den Witz zu verstehen, und versuchte Witze zu machen, die niemand anderes verstand. Sie geriet ins Stolpern, nicht nur sprichwörtlich, sondern auch wirklich, und alle lachten. In dieser Zeit entstand der Name Trauerkloß.

Eines schönen Tages sagte sie sich: Wenn die mich wollen, wie ich bin, dann ist es gut, wenn nicht, dann Amen.

Und es wurde Amen.

Ein Flügelschlag, und alle sahen in ihr nur noch die Andere, das seltsame arrogante Mädchen, dem man aus dem Weg gehen musste wie der Beulenpest. Und ebenso machte sich keiner mehr die Mühe, herauszufinden, wer Gioia Spada wirklich war – dieses Mädchen, das nie redete, und wenn doch, dann spuckte sie defätistische Bemerkungen aus, als ob es kein Morgen geben würde.

Und ja – von außen betrachtet, ist Gioia vielleicht ein Mädchen, dem man besser aus dem Weg geht. Eine, die offen mit der ganzen Welt nicht klarkommt. Bei der man sich ernsthaft fragt, ob die Gesichtsmuskeln, die für das Lächeln verantwortlich sind, bei ihr nicht funktionieren.

Und doch. Vielleicht ist da doch noch etwas Anderes. Aber das weiß niemand.

Gioia Spada ist eine, die in der Lage ist, bei einem Geschenk nur das Kärtchen zu lesen und zu vergessen, das Päckchen zu öffnen. Gioia Spada nimmt keinen Regenschirm mit, wenn es regnet, und wenn sie doch einen dabeihat, spannt sie ihn nicht auf. Wenn sie ein Buch findet, das ihr gefällt, stürzt sie sich nicht darauf, sondern liest es ganz langsam, weil sie fürchtet, sie würde es sonst zu schnell auslesen. Gioia Spada lächelt nur selten, aber wenn sie es tut, ist es, als ginge das Licht an. Gioia Spada weiß nicht, wer Belén Rodrígez ist. Wenn sie einen Aufsatz schreibt, lässt sie alle Punkte und Kommas weg und setzt sie erst zum Schluss ein. Wenn sie einem Hund begegnet, streichelt sie ihn. Wenn sie eine Jacke anzieht, knöpft sie sie meistens falsch zu. Sie hat in ihrem Zimmer eine ganze Wand mit Fotos von Sängern, Schriftstellern, Malern und Dichtern, von denen 95 Prozent bereits gestorben sind. Wenn sie Pizza isst, fängt sie beim Rand an. Gioia Spada redet fast nie mit Leuten, besonders nicht mit denen ihres Alters, und nicht weil sie alle hasst oder sich für etwas Besseres hält, sondern weil sie genau hinsieht und spürt, dass sie alle eine veränderte Version ihrer selbst zeigen, eine Art schlechte Kopie, wie einen Doppelgänger, den man in die Schule, zur Arbeit, auf die Piazza schickt, während man selbst zu Hause bleibt, verborgen, in einem abgeschlossenen Zimmer, aus Angst, es könnte einen jemand sehen. Gioia Spada ist jemand, der – wäre da auch nur einer, der nicht seinen Doppelgänger rumschicken würde – nicht eine Sekunde zögern würde, sich dieser Person anzuheften wie ein Doppelklebeband. Von Gioia Spada sagen alle, dass sie die Menschen hasst und dass sie sich auf einer einsamen Insel am wohlsten fühlen würde, aber das stimmt nicht, sie mag die Leute, sie ist verrückt nach ihnen, sie hört genau zu und sieht genau hin, um sie zu verstehen.

Sie hasst nicht die Menschen – was sie hasst, sind die Lügen, und leider kann man das eine in der Regel nicht ohne das andere haben.

Niemand weiß es, aber als sie in der Grundschule war und man sie fragte: »Was willst du denn mal machen, wenn du groß bist?«, hat sie immer dasselbe gesagt: »Ich will jemanden glücklich machen.«

4

»Die völlig versifften Toiletten eines Nachtclubs putzen mit all der Pisse neben der Schüssel, dem Dreck und den Kotzeresten.«

»Ja, würd ich machen.«

»Mit der Hand alle Ein-, Zwei- und Fünfcentstücke in einer Bank zählen, wenn einer gleich neben dir steht und dauernd laut irgendwelche Zahlen sagt.«

»Das auch, klar.«

»Mit irgendeinem der Jungs aus deiner Klasse Sex haben.«

»Puh, das wäre zwar heftig, wär’ mir aber trotzdem lieber.«

Gioia geht langsam, sie hebt kaum die Füße, und ihre Schuhe schleifen über den Boden. Sie spricht mit Tonia, die neben ihr geht. Wie jeden Tag zählt Tonia all das auf, was Gioia Spada lieber tun würde, als nach Hause zu gehen – in die winzige zweistöckige Wohnung, die sich in den riesigen Mietskasernen im Arbeiterviertel befindet. Jeden Tag denkt sich Tonia neue schreckliche Dinge aus, aber nur selten findet Gioia darunter etwas, was sie nicht lieber täte, als die Tür zu öffnen und den Mief zu atmen, der ihr aus der Wohnung entgegenschlägt.

Hässliche und baufällige Häuser hat sie in den siebzehn Jahren ihres Lebens schon oft gesehen, aber dieses hier hat die besondere Eigenschaft, in einem Vorort mit lauter Sozialbauten zu stehen, zwischen grauen Betonblocks, auf deren Mauern Graffiti und obszöne Sprüche geschmiert sind, wo nur missgelaunte alte Leute mit mürrischen Gesichtern leben, denen man nicht einen guten Morgen wünschen und denen man schon gar nicht zulächeln möchte. Aber nach Jahren auf der Warteliste sind sie in der Rangordnung nach oben gerutscht, und eines Tages machte ihre Mutter im Morgenrock einen Brief auf und sagte mit Tränen in den Augen »Wir kriegen ein Haus!«, und so sind sie vor drei Monaten hierher gezogen.

»Eine schwere Hämorrhoiden-Operation, wo man anschließend eine Woche nicht sitzen kann«, sagt Tonia jetzt.

»Wär mir trotzdem lieber!«

Tonia ist ihre beste Freundin. Sie hat ein größeres Mundwerk als ein Kerl von der Marine und ist stets bereit, Gioia gute Ratschläge zu geben und ihr in schwierigen Momenten zu helfen. Sie ist groß, trägt einen kinnlangen Bob, und ab und zu kommt ihr südlicher Akzent durch. Sie ist die Einzige, die Gioia ein bisschen zum Lachen bringen kann. Sie ist die perfekte Freundin. Ehrlich, direkt, redet nicht um die Dinge herum und hält nichts von der Kunst, in der alle Mädchen, die Gioia sonst kennt, offenbar Experten sind – nämlich bittere Pillen zu versüßen. Gioia hat sich immer gefragt, warum die meisten Mädchen eine beste Freundin haben wollen, die total vorsichtig ist und stets nach den richtigen Worten sucht, um den anderen nur ja nicht zu verletzen. So eine wie Tonia ist viel besser, findet Gioia. Wenn sie sich schlecht benimmt, dann sagt sie nicht: »Vielleicht könntest du, na ja, eventuell mal versuchen …« sondern: »Das war total daneben, meine Liebe, aber wirklich!«

Tonia ist die perfekte Freundin, aus tausend Gründen, vor allem aber aus einem: Es gibt sie gar nicht.

Tonia Vicenzi, achtzehn Jahre alt, Tochter eines Vaters aus dem Piemont und einer Mutter aus Salerno, hat Gioia schon zwei Tage, nachdem sie mit ihrer Mutter und ihrer Oma Gemma hierher gezogen ist, kennengelernt. Sie existiert nur in Gioias Kopf. Sie ist ihre imaginäre Freundin. Sie hat sich in vielen Situationen als sehr nützlich, ja unersetzlich erwiesen. Sie spielt Volleyball (und es findet immer ein Spiel oder ein Training statt, bei dem man zusehen kann, wenn Gioia unbedingt von zu Hause wegwill), sie geht auf eine andere Schule (man weiß ja nie, wann ihre Mutter auf die Idee kommt, mit ihr Kontakt aufzunehmen, um herauszufinden, wie es in der Schule läuft), und die Eltern haben ihr verboten, ein Smartphone zu benutzen, bevor sie achtzehn ist, weil sie so altmodisch sind und strenge Prinzipien haben (und so besteht kein Risiko, dass ihre Mutter sich die Nummer beschafft und sie anruft). Auch Gioia hat kein Smartphone, ja, sie hat tatsächlich keins; vermutlich ist sie die einzige Siebzehnjährige der westlichen Welt, die kein Smartphone hat. Nicht etwa, weil Gioias Mutter gesunde Prinzipien hätte, nein, sie können es sich einfach nicht leisten, denn das einzige Einkommen, das sie haben, ist die Rente der Oma und ihre Witwenrente, und das muss für drei Personen und eine Katze reichen.

»Wie wäre es mit … Von Anfang bis Ende alle Folgen von Reich und Schön gucken.«

»Nein, Tonia, das geht jetzt echt nicht.«

Sie redet mit Tonia immer mit normal lauter Stimme. Sie redet sehr oft mit ihr, vor allem, wenn es ihr schlecht geht und sie jemanden braucht, der sie aufmuntert.

Seit der ersten Klasse hat Gioia die Eigenschaft, sich vor der Welt abzuschotten. Zuerst bemerkten es die Lehrerinnen. Dieses Mädchen verbrachte seine Zeit meistens damit, ins Leere zu starren, und passte im Unterricht nicht auf. Gioia hatte entdeckt, dass die Welt in ihrem Kopf wesentlich spannender war als die Welt draußen.

»Was hast du gegen Reich und Schön?«, fragt Tonia, als sie fast am Ziel sind.

»Das fragst du jetzt nicht im Ernst, oder?« Gioia verdreht die Augen.

Abgesehen von bescheuerte Serien wie Reich und Schön sich anzuschauen, würde sie wirklich alles tun, um nicht das Bild sehen zu müssen, was sich ihr bietet, sobald sie die Tür aufmacht. Ihre Mutter, die halb betrunken im Sofa vor dem Fernseher hängt, die Spüle, die vor schmutzigen Tellern überquillt, um die ein paar Fliegen kreisen, ihre Oma Gemma in der Kammer unter der Treppe mit ihrem Tropf und dem Katheter, der gewechselt werden muss, und Gacco, die Katze, die sich mit ihren scharfen Krallen unbeirrt über die Möbel hermacht. Dann der schreckliche Geruch nach ungelüfteten Räumen, die Schimmelflecken in der Ecke zwischen Küche und Wohnzimmer, der Wasserhahn, der unablässig tropft, seit sie hier eingezogen sind.

Manchmal hat ihre Mutter einen Freund bei sich. Das passiert immer wieder mal. Meistens sind es Kerle zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, die sie kurz vor Feierabend in irgendeiner Kneipe kennengelernt hat, und die nur darauf warten, jedermann erzählen zu können, dass sie Sex mit einer MILF hatten; oder Männer über fünfzig, arbeitslos, abgerissen mit Drei-Tage-Bart und ein paar Koffern. Beim letzten Mal hat so ein fünfzigjähriger Typ mit überkämmter Glatze, als Gioia beim Reinkommen »Hallo!« sagte, nur gemeint: »Du hast mir ja gar nicht erzählt, dass du eine Tochter hast.«

Das Peinlichste an der Sache ist, dass ihre Mutter nie einem ihrer Freunde erzählt, dass Gioia ihre Tochter ist. Wenn sie sie überhaupt vorstellt, dann als ihre »Mitbewohnerin« oder »jüngere Schwester« oder »Cousine, die mich gebeten hat, hier ein paar Tage wohnen zu dürfen«.

Gioia hat keine Ahnung, warum ihre Mutter das macht. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass die jeweiligen Verehrer, wenn sie von der Tochter erfahren, gleich Reißaus nehmen. Dabei sollte es erstens ihr Ziel sein, diese Typen möglichst schnell wieder loszuwerden, statt sich zu fürchten, dass sie wieder gehen. Und zweitens sind die Männer, die sich ihre Mutter ins Bett holt (und zwar gleich am ersten Abend, manchmal schon nach der ersten Stunde) noch nie auf den Gedanken gekommen, dass sie mit ihr so etwas wie eine ernsthafte Beziehung aufbauen könnten.

Wenn sie an dem »Funky Pussy« vorbeigekommen ist, das jemand auf die Hauswand gesprüht hat, steigt sie die beiden Stufen zum Eingang hinauf, legt die Hand an den Türgriff und wartet einen Moment.

»Scheißwelt«, murmelt sie heute schon zum zweiten Mal.

Sie sagt es, weil sie von drinnen die Stimme ihrer Mutter hört, die gerade jemanden anschreit. Als sie die Antwort hört, weiß sie sofort, wer dieser Jemand ist.

»Vielleicht wäre es doch besser gewesen, alle Staffeln von Reich und Schön zu sehen«, sagt sie mit einem Seufzer.

5

»Du weißt doch genau, dass du dich diesem Haus nicht mal nähern darfst!«

»Wie viel Geld habe ich in all den Jahren zum Fenster rausgeworfen! Und dann hast du mich auch noch verlassen! Eigentlich bin ich derjenige, der hier die Miete zahlt, und deshalb habe ich jedes Recht, hier zu sein.«

»Das einzige Geld, das du rausgeschmissen hast, war für die beiden geschmacklosen Eheringe, und die waren auch noch gebraucht!«

»Du hast recht, es ist meine Schuld, alles meine Schuld! Ich hätte mich nicht in eine so blöde Kuh wie dich verlieben dürfen!«

»Hör auf, so zu brüllen, du weckst meine Mutter auf!«

»Ich brülle nicht!«

»Klar brüllst du!«

»Nein, ich brülle nicht!«

»DOCH, DU BRÜLLST, UND WIE!«

»NEIN, GANZ UND GAR NICHT!«

Die meisten Diskussionen zwischen ihren Eltern verlaufen so, sie sind laut, und immer wieder sagt sie zu ihm (oder er zu ihr), dass er (oder sie) brüllt. Dann entgegnet der andere, das sei nicht wahr, und beide werden immer lauter. Am Ende brüllen sie dann wirklich, was sie am Anfang nicht getan haben.

»Ciao«, sagt Gioia. Keiner antwortet ihr. Sie kommt herein, zieht sich die Schuhe aus, doch weder ihr Vater noch ihre Mutter scheinen sie bemerkt zu haben. Was eigentlich nur gut ist.

»Darf man erfahren, was du hier machst und wie du die Adresse herausbekommen hast?«

»Das habe ich dir doch gesagt. Ich brauche meinen Lebenslauf, mein PC ist kaputt, und ich weiß, dass in diesem Computer hier eine Kopie gespeichert ist.«

»Wir haben uns vor drei Jahren getrennt!«

»Na und?«

»Dein Lebenslauf ist nicht auf dem neuesten Stand.«

»Willst du damit sagen, dass ich in den letzten drei Jahren nichts gemacht habe?«

»Nein, ich wollte damit sagen, darin fehlen Sachen wie: ›Besuchte ständig Nutten, obwohl er eine Frau und eine Tochter hatte‹ oder: ›Beschimpfte dauernd seine Frau, weil er ständig betrunken war.‹«

Halt! Gioia begreift, was die Stunde geschlagen hat, und es ist besser, sich jetzt bemerkbar zu machen.

Die Stunde schlägt, denkt sie immer, wenn ihre Mutter etwas sagt, wodurch die Lage sofort ausufern könnte, wenn sie den Vater provoziert, einen wunden Punkt berührt, sich über ihn lustig macht und ihn in seiner Mannesehre verletzt, wenn man das so nennen kann. All das führte in früheren Zeiten zu Ohrfeigen, dann kam die Polizei ins Haus, schaulustige Nachbarn zeigten sich am Fenster und schüttelten den Kopf.

Sie hat sich immer gefragt, wieso ihre Mutter, die ihn doch kannte und wusste, dass er auf bestimmte Dinge, die sie sagte, mit Schlägen reagierte, nie einfach den Mund gehalten hat. Okay, sehr wahrscheinlich hätte er sowieso die Hand gegen sie erhoben, aber warum zum Teufel musste sie jetzt unbedingt diesen gemeinen Satz sagen?

Das ist Gioia echt ein Rätsel.

Dieser letzte Satz über seinen Lebenslauf ist ein typisches Beispiel für Alarmglocken. Wenn Gioia jetzt nicht gleich vor ihnen steht und laut und deutlich guten Tag sagt, liegt die Mutter bald am Boden, während der Vater türenschlagend das Haus verlässt – ohne seinen Lebenslauf. Und was noch schlimmer wäre: Nicht dass er ohne das Papier keine Arbeit findet, sondern dass er bald wiederkommt.

Lieber als die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, würde sie jetzt einen Reich und Schön-Marathon machen, aber ohne Werbepausen.

»Guten Tag!«, sagt sie laut und zeigt sich in der Tür.

»Mein Schätzchen!«, ruft die Mutter, läuft ihr entgegen und umarmt sie, als sei sie gerade von einem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt.

»Ciao, Gioia«, sagt ihr Vater leise und zündet sich eine Zigarette an. Die Mutter küsst sie, und Gioia fühlt etwas Nasses auf den Haaren, das heißt, ihr laufen schon die Tränen herunter.

»Ach, da ist übrigens noch etwas anderes …«, fügt der Vater mit leiser Stimme hinzu.

Gioias Mutter erstarrt, wischt sich die Tränen ab und sieht ihn an. Die Katze Gacco läuft schnurrend unter ihren Beinen durch, als wäre dies ein schöner Moment.

»Was willst du noch?«

»Ich muss hier übernachten, nur ein paar Tage.«

6

»Was hat er da gesagt?«

Gioia Spada hat sich mit ihrer Oma Gemma in dem Zimmerchen eingeschlossen. Zwischen den Lippen hält sie einen Stift und starrt vor sich ins Leere, als versuchte sie sich zu erinnern. Vor ihr auf dem Bett liegt ein offenes Notizbuch. Darin stehen lauter Wörter, auf jeder Seite und hinter jedem Wort zwei Zeilen, wie eine Erklärung.

»Sieh mal, das fängt mit P an!«, sagt sie laut vor sich hin. Sie meint ein griechisches Wort, das sie heute in der Schule vom Biologielehrer gehört hat, als er ihr nach der Prüfung, die schwer war, eine Predigt hielt (in diesem Fall sagte er ihr, dass ein Jugendlicher in ihrem Alter schon in der Lage sein müsse zu entscheiden, was er aus seinem Leben machen wolle, und sie würde nichts dafür tun, wenn sie nichts lernte. Das sei ein Widerspruch in sich, denn ja, man könne sich natürlich auch dafür entscheiden, nichts zu lernen).

»ProProProhairesis!«, sagt sie, schlägt mit der Hand auf das Bett der Alten und schreibt dann eilig das Wort ins Notizbuch, daneben ein Gleichheitszeichen und dann die Definition: »Die Fähigkeit, auszuwählen und vernünftig zu entscheiden.«

Sie schaut noch ein paar Sekunden hin, dann wiederholt sie leise den Satz, blickt ins Leere und denkt, dass sie zumindest zwei Personen außerhalb dieses Zimmers kennt, die mit über vierzig Jahren immer noch keine Prohairesis haben. Dann schließt sie das Notizbuch, legt den Stift auf den Nachttisch und schaut zu ihrer Oma hinüber.

Wenig später sitzt sie bei ihr, bei gedämpftem Licht und mit Kopfhörern, und hört in größtmöglicher Lautstärke Another Brick In The Wall.

Gioia hört nur Musik, die fast jeder andere normale Jugendliche alt oder genauer gesagt prähistorisch nennen würde. Diesen Vorteil – oder Nachteil, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es sieht – verdankt sie ihrem Opa Alfredo, Gemmas Ehemann, der starb, als Gioia neun Jahre alt war. Die ersten neun Jahre hat Gioia im Haus ihrer Großeltern verbracht, weil ihre Eltern ständig fort waren, um Arbeit zu suchen und sie noch öfter wieder zu verlieren. Es hat sie gerettet, dass sie so viel Zeit bei den Großeltern verbracht hat. Nachmittage lang hörte sie mit dem Opa diese Platten, er erklärte ihr, was die Worte bedeuteten, erzählte ihr, wie die Songs entstanden waren. Amerikanische und englische Gruppen, italienische Liedermacher, aber auch den Rock der Neunziger, all das haben ihre Klassenkameraden nie gehört. Opa Alfredo war früher nur einfacher Stahlarbeiter gewesen und inzwischen in Rente, aber seine musikalische Bildung war enorm. In jungen Jahren war er sogar DJ bei einem kleinen Lokalradio gewesen. Als er starb, hat er Gioia eine Sammlung aller Vinylplatten von Pink Floyd hinterlassen. Sie freut sich darüber nicht weniger als über sechs Häuser mit Swimmingpool.

Die Musik von Pink Floyd hat etwas, das es nirgendwo sonst gibt. Sie reißt einen nach oben, hat etwas Erhebendes, oft ist sie traurig, aber auch sanft, und inmitten dieser sanften Traurigkeit erwacht man und spürt, dass man nicht mehr traurig ist, dass man mit den Füßen nicht mehr den Boden berührt, dass man jenseits ist, dass die Welt dort unten liegt und man selbst darüber schwebt, dass man in Sicherheit ist, weit weg und deshalb sicher.

Das würde Gioia sagen, wenn jemand sie fragen würde, warum sie diese Musik so oft hört. Aber es fragt sie nie jemand. Es ist schwierig, jemanden zu finden, mit dem man reden kann, aber das ist nicht das Schwerste. Schwer ist es, jemanden zu finden, der einem die richtigen Fragen stellt, auf die man seit Jahren eine Antwort hat, ohne es zu wissen. Jetzt streiten sich ihre Eltern schon seit drei Stunden um Dinge, die passiert sind, als Another Brick In The Wall noch gar nicht geschrieben war. Gioia ist im Zimmer ihrer Großmutter, die weit über achtzig ist, weil nichts sie so beruhigt, wie sie anzuschauen.

Nicht nur ihre Oma, es sind vor allem die Falten, die Falten alter Menschen, die sie stundenlang ansehen könnte.

Diese Falten sind Straßen, Wege, Reisen, Irrtümer. Und je mehr Falten jemand hat, desto mehr Leben ist in seinem Gesicht zu lesen. Gioia Spada ist oft hier – weil sie sich oft entspannen muss, wenn sie zu Hause ist – und folgt dann dem Lauf dieser Rillen auf der Haut und versucht sich vorzustellen, durch wie viel Lachen, wie viele Tränen und wie viel Schmerz und wie viel Glück sie entstanden sind. Sie sind wie Berge, die sich am Horizont abzeichnen und einem von einer Landschaft erzählen, sie sind wie feste Punkte, Zeichen, Schilder, sie sieht sie an, und wenn es auch nur für ein paar Sekunden ist, weiß sie, wohin sie gehen, was sie tun soll, wer sie ist und wo ihr Platz ist.

Aus irgendeinem absurden Grund beneidet Gioia ihre Oma um ihre Falten. Sie hätte auch gerne welche. Nicht aus einer Laune heraus. Nicht weil sie ein Sonderling ist, sondern weil sie auch so viel Leben in ihrem Gesicht haben möchte. Sie möchte die Furchen mit den Fingern berühren und wissen, dass auf ihrer Haut etwas geschehen ist: dass sie nicht immer hier war, eingesperrt, dass das Leben ihr etwas hinterlassen hat. Ganz gleich, ob es ihr weh- oder guttut: Sie sehnt sich nach diesen Zeichen.

So wie die Narbe hinter ihrem Ohr, die vielleicht das Kostbarste ist, was sie hat. Sie berührt sie sehr oft, immer, wenn sie daran denkt, was sie nicht sein will, wohin sie nicht gehen darf.

Hinter der Tür wirft der Vater wahrscheinlich gerade der Mutter vor, sein Leben ruiniert zu haben, oder sie sagt ihm, er solle abhauen, dass er hier nicht schlafen kann, dass er es wegen des Scheidungsurteils gar nicht darf.

Oma Gemma hat die Augen geschlossen und atmet leise. Sie versucht zu sprechen, und Gioia nimmt die Stöpsel des Kopfhörers aus dem Ohr und beugt sich über die Lippen der alten Frau. Sie sagt nur noch selten etwas, das Sinn ergibt, aber manchmal geschieht es.

»Gghhh … gghhh.«

Nein, heute passiert es leider nicht.

Das Dumme ist, jetzt, wo sie die Ohrstöpsel herausgenommen hat, dringen die Stimmen dieser Verrückten im Zimmer nebenan zu ihr, okay, sie haben sie zur Welt gebracht, und sie müsste ihnen dankbar sein, aber von dieser einen Sache abgesehen, wäre es für sie und die Welt besser gewesen, wenn sie sich nie kennengelernt hätten.

»Das sind zwei Idioten, findest du nicht auch?«, sagt Gioia zu ihrer Oma, auch wenn sie weiß, dass keine Antwort kommt. Sie weiß nie genau, ob die Oma immer versteht, was sie ihr sagt, oder nur manchmal.

»Was wollt ihr euch noch alles an den Kopf werfen und euch gegenseitig anschreien? Ihr wisst doch, dass ihr euch nicht versteht: Soll jeder in ein Zimmer gehen, und Ende der Vorstellung.«

Oma Gemma versucht etwas zu sagen, aber sie bringt kein Wort heraus.

»Ich weiß, ich weiß, ich muss stark sein. Ich muss so tun, als ob nichts wäre. Es sollte mir egal sein. Das weiß ich schon.«

Oma Gemma seufzt tief.

»Wie gern würde ich rübergehen und den beiden mit der Bratpfanne eins überziehen, damit sie endlich still sind.«

Kaum hat sie diesen Satz gesprochen, da geht die Kammertür auf, und ihr Vater erscheint. Seine Augen sind rot, er ist außer Atem.

»Komm hier raus!«