Der Kalif von Berlin
Thriller
Copyright: © 2019: Dietmar Peitsch
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
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978-3-7482-9449-8 (Paperback)
978-3-7482-9861-8 (Hardcover)
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Frühjahr 2011
Er kann sich gar nicht satt sehen an den Bildern. Immer wieder lässt er die Aufzeichnungen über den Bildschirm laufen. Die Flugzeuge, die in die Twin Towers rasen. Flammen, die aus den Gebäuden schlagen. Rauch, der schwarz in den Himmel steigt. Dann das Zusammenbrechen der Türme. Langsam, wie in Zeitlupe. Die herumfliegenden Trümmer. Staub. Schreie. Polizisten und Feuerwehrleute, die das Szenario mit offenen Mündern anstarren. Dann George W. Bush, der mit offenem Mund ins Leere glotzt, als ihm die Nachricht während des Besuchs einer Schule ins Ohr geflüstert wird. Anschließend das Geplapper der Politiker. Hilflose Hektik der Sicherheitsbehörden. Wilder Aktionismus.
Der Staat gerät ins Wanken. Das ist gut.
Dann flimmern die Bilder aus Madrid über den Bildschirm. Die wie Deckel von Sardinenbüchsen aufgewölbten Dächer der Eisenbahnwaggons. Herumliegende Leichenteile. Verstreutes Gepäck. Und wieder hilflose Politiker, die nur dummes Zeug reden.
So muss man es machen. Seine Wangen glühen beim Betrachten der Bilder.
Ein Jahr später in London. Schade, dass die Anschläge in der U-Bahn stattgefunden haben, sodass vom Geschehen auf den Aufzeichnungen nicht viel zu erkennen ist. Nur der gesprengte rote Bus ist zu sehen. Rot ist er. Rot wie Blut.
Richtig so. Den arroganten britischen Pinkeln muss man es zeigen.
Er schlägt sich mit der rechten Faust in die flache linke Hand.
Jetzt folgt ein Anschlag dem nächsten. Es herrscht Krieg. Die Welt hat Angst. Gut so. Das korrupte, selbstgefällige System muss ausgelöscht werden. Die Sicherheitsbehörden müssen lahmgelegt werden. Der Staat muss handlungsunfähig gemacht werden. So muss es sein.
Er lacht auf. Hört den Hass in der eigenen Stimme.
Ja, er hasst. Hasst die Menschen, die seine Größe nicht anerkennen wollen. Hasst das System, das selbstgefällig herrscht.
Man muss die Bevölkerung beunruhigen. Angst erzeugen. Menschen töten.
Zittern sollen sie. In den USA, in Europa, in Deutschland, in Berlin. Ja, in Berlin. Berlin, das europäische Zentrum der Dekadenz, muss angegriffen werden. Wenn die anderen es nicht tun, muss er handeln. Er wird Größe haben. Wird Stärke zeigen. Wenn alles zerstört ist, wenn alle in Angst leben, wenn nichts mehr funktioniert, wird er derjenige sein, der das alles geleistet hat.
Er springt auf und läuft erregt im Zimmer auf und ab.
Er fasst einen Entschluss.
1
Dienstag, 17. Mai 2016
Scheiße, dachte Heiko Peikert, als sich die schwere Sicherheitstür am Eingang zu den Diensträumen der Berliner Verfassungsschutzbehörde hinter ihm schloss. Das lange, kalte Pfingstwochenende war vorbei. Er war nicht wie geplant mit seinem Segelboot über den Wannsee gekreuzt. Selbst für einen leidenschaftlichen Wassersportler wie ihn waren die letzten Tage zu ungemütlich gewesen. Jetzt erwartete ihn wieder eine Woche voller Hektik und Stress.
Seit Monaten herrschte Anspannung beim Berliner Verfassungsschutz. Seit den Anschlägen in Paris und Brüssel war seine Dienststelle permanent gefordert. Von allen Seiten gab es Hinweise auf angeblich verdächtige Personen, auf mögliche Anschlagsplanungen, auf konspirative Aktivitäten islamistischer Extremisten. Und immer wieder die Warnung: erhöhte Terrorgefahr. Doch nicht nur Islamisten sorgten für Anspannung, auch rechtsmotivierte Straftaten beschäftigten den Verfassungsschutz. Hetze gegen Flüchtlinge, Schmierereien, Bedrohungen. Kaum ein Tag verging ohne besorgniserregende Neuigkeiten. Zum Glück gelangte vieles davon nicht an die Öffentlichkeit.
Was würde ihn wohl heute erwarten?
Peikert fuhr sich mit der Hand durch das Haar und nickte dem Pförtner in seinem Dienstraum hinter der Glasscheibe zu. Dann schob er seine Chipkarte in den Schlitz des kleinen grauen Kartenlesers neben der inneren Tür der Schleuse und tippte den Sicherheitscode ein. Der Pförtner hob grüßend die Hand und verzog sein Gesicht zu einem sparsamen Lächeln. Als sich die innere Schleusentür zur Seite schob, schlug Peikert der charakteristische Geruch von Büroräumen entgegen: Ausdünstungen von Teppichböden, Gerüche von Kunststoffen und Reinigungsmitteln. Vor ihm öffnete sich ein langer fensterloser Flur. Graue Wände zogen sich zu beiden Seiten hin, die Türen der Dienstzimmer zeichneten ein regelmäßiges Muster hinein. Am schwarzen Brett hingen die üblichen Verlautbarungen des Personalrats, für die sich niemand ernsthaft interessierte.
Peikert warf einen Blick auf seine Armbanduhr: sieben Uhr zwanzig. Er hatte es eilig. Wie an jedem Arbeitstag würden sich auch heute alle leitenden Mitarbeiter Punkt acht Uhr zur Morgenlage beim Direktor des Landesamts für Verfassungsschutz, Erhard van Daalen, versammeln. Heute würden die sicherheitsrelevanten Ereignisse des Pfingstwochenendes besprochen werden. Gestern hatten Meldungen über sexuelle Übergriffe beim Karneval der Kulturen am Pfingstsonntag die Presse beherrscht. Die Täter stammten überwiegend aus Nordafrika und der Türkei. Immerhin waren elf Männer festgenommen worden, sieben von ihnen hatten einen Haftbefehl erhalten. Die Straftaten waren zwar Sache der Polizei, aber die Auswirkungen konnten auch den Verfassungsschutz beschäftigen. Für die Rechten waren die Ereignisse sicher ein gefundenes Fressen zum Polemisieren. Mal sehen, was die Kollegen gleich zu berichten hatten.
Peikert durchquerte sein Vorzimmer, das um diese Zeit noch verlassen war und eine muffige Tristesse ausstrahlte. In seinem Büro schlug ihm die über das lange Wochenende stickig gewordene Luft entgegen. Er öffnete deshalb als Erstes das Fenster und atmete tief ein. Es folgte das übliche Morgenritual: Er warf sein dunkelgraues Anzugjackett über die Lehne seines Bürostuhls, lockerte die leuchtendblaue Krawatte und beförderte die Aktentasche unter den Schreibtisch. Dann startete er den Computer, und während das Betriebssystem hochgefahren wurde, öffnete er seinen Stahlschrank.
Sieben Uhr fünfundzwanzig. Schnell holte er die Akten aus dem grauen Panzerschrank, an denen er am vergangenen Freitag gearbeitet hatte. Er warf einen kurzen Blick auf die Betreffzeilen, um sich zu vergegenwärtigen, was er heute erledigen musste. Etwas Besonderes war nicht darunter: zwei Anfragen aus dem Haus zur Auslegung des Verfassungsschutzgesetzes und der Antrag eines NPD-Mitglieds auf Einsicht in die beim Verfassungsschutz über ihn geführte Akte. Lustlos beförderte er den Packen in den Eingangskorb, um ihn im Laufe des Tages abzuarbeiten. Wichtiger war jetzt, was ihm sein Computer an aktuellen Informationen bereithielt. Er begann mit den Protokollen aus der Telekommunikationsüberwachung, seinem Hauptarbeitsgebiet.
Heiko Peikert leitete seit fünf Jahren die Abteilung Rechts- und Grundsatzangelegenheiten des Verfassungsschutzes in Berlin. In dieser Funktion war er auch G 10-Aufsichtsbeamter des Amtes und damit verantwortlich für die Post- und Telekommunikationsüberwachung. Als G 10 wurde im Sprachgebrauch der Sicherheitsbehörden das Gesetz über die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses bezeichnet, das das in Artikel 10 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht des Post- und Fernmeldegeheimnisses einschränkte. Es schrieb vor, dass die Post- und Telekommunikationsüberwachung unter der Aufsicht eines Juristen zu erfolgen hatte. Und dieser Jurist war Peikert.
Jetzt rief er die einzelnen Dateien auf und informierte sich, was seine Mitarbeiter in der G 10-Stelle für ihn aufbereitet hatten. Die Protokolle aus dem Beobachtungsbereich des Rechtsextremismus zeigten wüste Beschimpfungen gegen Flüchtlinge. Die Vorfälle vom Karneval der Kulturen hatten die Rechten aufgestachelt. Abschlachten, einen Kopf kürzer machen, wir brauchen wieder ein Auschwitz waren noch die harmlosesten Äußerungen.
Inzwischen war es sieben Uhr vierundvierzig geworden. Die Zeit drängte. Peikert machte sich an die Sichtung der Wochenendereignisse, die der Lagedienst seiner Dienststelle zusammengestellt hatte. Aus vier Flüchtlingsheimen war die Einreise mutmaßlicher islamistischer Terrorristen gemeldet worden, doch die Meldungen hatten nicht verifiziert werden können. Die Moschee in der Leinestraße im Bezirk Neukölln, hieß es weiter, könne ein möglicher Treffpunkt extremistischer Islamisten sein. Peikert brummte unwirsch: „Typisch. Einerseits Falschmeldungen, andererseits Vermutungen. Wieder mal nichts Greifbares.“
Das Lagezentrum der Polizei berichtete ausführlich über die Ereignisse am Pfingstsonntag beim Karneval der Kulturen. Peikert hatte jetzt keine Zeit, sich damit zu befassen, obwohl ihn die Vorgänge brennend interessierten. Außerdem hatte es acht Bombendrohungen in Berlin gegeben. Eine gegen ein Flüchtlingsheim, eine zweite gegen eine Parteizentrale, die restlichen unspezifisch und wirr. Alle waren von der Polizei als nicht ernsthaft eingestuft worden. Peikert schüttelte den Kopf. Er wollte nicht in der Haut der Polizisten stecken, die das hier zu entscheiden hatten.
Sieben Uhr fünfundfünfzig. Peikert wurde unruhig. Das Lagebild des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums musste bis nach der Morgenlage warten. Ein letzter Kontrollblick in den Spiegel. Eilig kämmte er sich durch die dunkelblonden, an den Schläfen bereits ergrauenden Haare, warf sich sein Jackett über, zog die Krawatte fest und spurtete über den Gang.
Van Daalens Büro war ein helles, geräumiges Eckzimmer. Gegenüber der Eingangstür machte ein riesiger Schreibtisch mit Teakholzfurnier jedem Besucher sofort die Bedeutung des Berliner Verfassungsschutzleiters klar. Ein klobiger, mit schwarzem Leder bezogener Schreibtischsessel dahinter unterstrich diesen Eindruck. Auf der gegenüberliegenden Seite nahm ein großer Besprechungstisch, um den sich gepolsterte Stühle mit bequemen Armlehnen reihten, viel Raum ein. Hier saß bereits die Leiterin der Extremismusabteilung, Doktor Sabine Schwart-Hertel, eine elegante Erscheinung mit graumelierten kurzen Haaren, in die eine modische Brille gesteckt war. Neben ihr lehnte sich der Leiter der Observationsgruppe, Mario Ostermann, in seinem Stuhl zurück. Er strahlte auch an diesem Morgen seine gewohnte Ruhe aus. Ihm gegenüber raschelte der Leiter des Lagedienstes wichtig in seinen Papieren. Am Kopfende des Tisches thronte van Daalen und beobachtete seine Mitarbeiter. Mit seiner stattlichen Größe von fast zwei Metern überragte er sie deutlich.
„Morgen“, grüßte Peikert und bedachte die Anwesenden mit einem kurzen Nicken. Er nahm seine stahlumrandete Brille ab und putzte sie intensiv.
Punkt acht Uhr war die Runde vollzählig versammelt.
„Guten Morgen“, eröffnete van Daalen die Besprechung. „Ich hoffe, Sie hatten trotz des schlechten Wetters ein angenehmes Pfingstwochenende. Lassen sie uns beginnen.“
Jeder in der Runde referierte kurz die wichtigsten Ereignisse des Wochenendes aus seinem Bereich. Peikert berichtete, wie die rechte Szene auf den Karneval der Kulturen reagiert hatte.
„Ja. Reaktionen waren zu erwarten“, nickte Schwart-Hertel.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und einer von Schwart-Hertels Mitarbeitern trat ein. „Entschuldigung“, sagte er mit respektvoller Miene. „Aber ich habe hier etwas Wichtiges, das nicht warten kann.“ Er reichte seiner Abteilungsleiterin ein paar Blatt Papier. Die zog die Augenbrauen hoch, während sie las.
„Eine Meldung des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE.“ Schwart-Hertel nahm ihre Brille aus den Haaren und setzte sie auf. „Ein IS-Angehöriger soll gestern aus Paris nach Berlin eingeflogen sein. Hakim El-Bahi, vermutlich ein Aliasname. Er steht in Frankreich unter Beobachtung, weil er zu dem Kreis von Extremisten zählt, die Anschläge während der bevorstehenden Fußballeuropameisterschaft in Frankreich begehen könnten. Warum er nach Berlin gekommen ist, weiß der DGSE nicht.“ Schwart-Hertel runzelte die Stirn. „El-Bahi steht im Verdacht, Attentate des IS in Europa zu organisieren. Er soll sich häufig in Rakka aufhalten. Die Stadt ist bekanntlich das Zentrum des IS. Vor den Anschlägen in Paris am 13. November letzten Jahres ist er mehrmals mit deren Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud zusammengetroffen.“
Einige Augenblicke herrschte Stille im Raum. Nur das leise Rauschen des Autoverkehrs drang durch die geschlossenen Fenster.
„Kann der IS Anschläge in Berlin planen?“, fragte van Daalen dann. „Während der Fußballeuropameisterschaft etwa? Zum Beispiel auf der Fanmeile?“
„Bisher haben wir keine Hinweise in diese Richtung“, antwortete Schwart-Hertel. „Es gibt allerdings Mitteilungen aus Frankreich, dass sich mehrere Islamisten in der Bundesrepublik aufhalten und hier Anschläge planen. Der Generalbundesanwalt hat deshalb mehrere Ermittlungsverfahren eingeleitet. Näheres kann ich nicht sagen, da die Ermittlungen der höchsten Geheimhaltung.“ Sie hielt einige unscharfe Fotos in die Höhe. „Diese Bilder hat man uns aus Frankreich übermittelt. Sie zeigen El-Bahi beim Einchecken auf dem Flughafen Charles de Gaulle. Außerdem hat der DGSE eine Handynummer geschickt.“
„Auf den Bildern ist der Mann kaum zu erkennen“, krittelte Ostermann.
Van Daalen holte tief Luft. „Na, dann an die Arbeit“, befahl er. „Die Morgenlage brechen wir ab. Frau Doktor Schwart-Hertel, ermitteln Sie bitte, ob sich der Mann tatsächlich in Berlin aufhält. Herr Peikert, spüren Sie das Handy auf. Und Sie, Herr Ostermann, lassen El-Bahi observieren, sobald wir den Standort seines Handys festgestellt haben. Wir müssen wissen, wo er sich aufhält und mit wem er Kontakt aufnimmt. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier.“
Die Angesprochenen nickten. Peikert notierte sich die Telefonnummer und machte sich schnurstracks auf den Weg zur G 10-Stelle, dem Bereich, in dem sich die Technik für die Telekommunikationsüberwachung befand. Er drückte der Leiterin der G 10-Stelle den Zettel mit der Telefonnummer in die Hand. „Frau Seiboldt, können Sie bitte dieses Handy orten lassen?“ Ein kurzes Kopfnicken, und schon saß seine Mitarbeiterin am Computer, um verschlüsselte Mails an die Netzbetreiber zu versenden. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Ja, das Handy ist in Berlin“, erklärte Erika Seiboldt. Peikert atmete auf, weil er so problemlos Auskunft erhalten hatte. Das war nicht selbstverständlich, da einige Netzbetreiber meinten, es wäre ihnen rechtlich untersagt, Auskunft zu erteilen. Erika Seiboldt deutete auf den Bildschirm und las Peikert die Mail des Netzbetreibers vor: „Gestern Abend ist um einundzwanzig Uhr achtundfünfzig mit dem Handy vom Flughafen Tegel aus telefoniert worden. Ein weiteres Gespräch ist um dreiundzwanzig Uhr vier nach Syrien geführt worden. Bei diesem Gespräch befand sich das Handy in der Funkzelle, deren Basisstation auf dem Funkturm liegt. Seitdem ist es nicht aktiv gewesen. Es befindet sich aber immer noch in derselben Funkzelle.“
„Wo genau?“
„Das kann der Netzbetreiber nicht sagen, weil das GPS ausgeschaltet ist. Eine terrestrische Peilung ist im Moment wegen technischer Probleme beim Netzbetreiber nicht möglich.“
Peikert schüttelte unwirsch den Kopf. „Dann dürfte es schwierig sein, das Handy zu lokalisieren.“ Er notierte sich die International Mobile Subscriber Identity, kurz IMSI, die der Identifizierung eines Netzteilnehmers diente. Auch die IMEI, die Seriennummer, anhand der ein Endgerät identifiziert werden konnte, schrieb er sich auf.
Der Funkturm. In seiner unmittelbaren Umgebung lagen die Messehallen, das Internationale Congress Centrum und der Zentrale Omnibusbahnhof. Drei potenzielle Anschlagziele. Peikert zog hörbar die Luft ein. Das Internationale Congress Centrum stand weitgehend leer. Er erinnerte sich, dass vor einiger Zeit in einen Teilbereich Flüchtlinge eingezogen waren. Ob zurzeit eine Messe in den Hallen rund um den Funkturm stattfand, wusste er nicht. Aber der Omnibusbahnhof. Viele Menschen, keine Kontrollen, kein Überblick über das Geschehen. Hatten Islamisten nicht schon öfter Verkehrsmittel als Anschlagziele genutzt? Die Eisenbahnzüge in Madrid. Die U-Bahnen in London und Brüssel.
Er rief einen seiner Techniker und erklärte ihm die Situation. „Ich muss wissen, wo genau sich dieses Handy jetzt befindet. Wie können wir den genauen Standort feststellen?“
Der Techniker dachte einen Moment nach. „Wir könnten mit einem Auto die Gegend abfahren, stille SMS versenden und jeweils die Signalstärke und Richtung messen.“ Einen Moment zögerte der Mann. „Aber dürfen wir solche Messungen überhaupt vornehmen? Das haben wir noch nie getan. Sonst haben wir die Daten immer von den Netzbetreibern erhalten.“
Peikert hob unwillig die Schultern. „Wir machen das jetzt so! Ich prüfe die Rechtslage später. Bereiten Sie alles vor. Um neun Uhr ist noch einmal Lage beim Chef. Danach fahren wir los.“
Um Punkt neun Uhr saßen Peikert, Schwart-Hertel und Ostermann wieder bei van Daalen.
„Auf den Namen El-Bahi war gestern Abend ein Flug bei der Air France gebucht“, sagte Schwart-Hertel. „Die Maschine traf um einundzwanzig Uhr vierzig in Tegel ein. Ich habe bereits einen Mitarbeiter zum Flughafen geschickt, um die Aufzeichnungen aus den Überwachungskameras sicherzustellen.“
Danach schilderte Peikert, was er erfahren hatte und was er vorhatte.
Anschließend war Ostermann an der Reihe. „Ich schicke sofort einen Observationstrupp zum Funkturm“, erklärte er. „Sobald ich von Herrn Peikert die genauen Koordinaten erfahre, werden wir versuchen, El-Bahi aufzunehmen.“
„Gut.“ Van Daalen erhob sich. „Halten Sie mich weiter auf dem Laufenden“, verabschiedete er seine Mitarbeiter.
Peikert eilte zur Tiefgarage, wo der Techniker bereits einen Dienstwagen vorbereitet hatte. Ein Laptop, an dem eine Antenne mit einem kreisrunden Rahmen angeschlossen war, lag auf der Rückbank. Peikert setzte sich ans Steuer und startete den Wagen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Techniker den Rechner ergriff und hochfuhr. Quälend lang kam ihm die Fahrt zum Funkturm vor. Dichter Verkehr und rote Ampeln ließen den Dienstwagen immer wieder stoppen. Selbst auf dem breiten Kaiserdamm ging es nur langsam voran.
„Wie sollen wir vorgehen?“, fragte Peikert.
„Wir fahren um den Funkturm herum. Messedamm. Jafféstraße, Heerstraße, Masurenallee. In jeder dieser Straßen machen wir eine Messung.“
„Na, dann los“, sagte Peikert und setzte den Blinker.
Die erste Messung fand an der Ecke Messedamm Jafféstraße statt. Der Techniker hielt die Antenne in die Höhe und drehte sie langsam um die eigene Achse. Seine Miene war konzentriert. Peikert fuhr an den Straßenrand und schaute neugierig auf den Bildschirm. Dort sah er bunte Amplituden auf und ab zucken. „Und?“, fragte er erwartungsvoll.
„Hm, ich kann noch nichts sagen. Wir brauchen Vergleichsmessungen.“ Als Nächstes maßen sie an der Einmündung der Jafféstraße in die Heerstraße die Signale.
„Hier ist das Signal schwächer.“
Also weiter. Nächste Messung am Theodor-Heuss-Platz.
„Hier wird es stärker“, stellte der Techniker fest. „Das Signal kommt aus Richtung des Omnibusbahnhofs.“
Peikert fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Weiter ging es zur Kreuzung Messedamm und Masurenallee. Da meldete sich Peikerts Krypthohandy.
„Hier Ostermann. Haben Sie El-Bahi geortet? Meine Leute stehen bereit, um ihn aufzunehmen.“
„Einen Moment noch. Wir sind gleich soweit.“
Sie erreichten die große, vielbefahrene Kreuzung, an die der Zentrale Omnibusbahnhof grenzte.
„Hier muss es irgendwo sein“, sagte der Techniker, „ganz in der Nähe.“
Peikert stoppte und blickte sich um. Am Rande des Omnibusbahnhofs standen niedrige Gebäude mit Warteräumen, Ticketschaltern und Geschäften. Peikert sah etliche Busspuren, an denen sich die Busse hintereinander und nebeneinander aufreihten. Andere kreisten über den Platz. Menschen warteten in Trauben an den Haltestellen oder hasteten zwischen den Bussen hindurch. Peikert seufzte. Wie sollten die Observanten hier El-Bahi erkennen?
„Am besten, wir fahren mitten auf den Busbahnhof und messen dort noch einmal“, schlug der Techniker vor.
Peikert nickte schweigend. Kurzerhand fuhr er den Dienstwagen so zwischen die Busse, dass er von den Reisenden schwierig zu entdecken war.
„Was ist denn das?“ Der Techniker hantierte hektisch an seinem Laptop herum. „Das Signal ist nur noch ganz schwach.“
„Kann es sein, dass die Busse den Empfang stören?“, fragte Peikert. „Möglich. Ich probier’s noch mal.“
Da meldete sich Peikerts Kryptohandy wieder. Erika Seiboldt aus der G 10-Stelle war am Apparat. „Der Netzbetreiber hat gerade mitgeteilt, dass sich das gesuchte Handy in einer anderen Funkzelle eingeloggt hat. Es befindet sich jetzt weiter südlich.“
„Kein Wunder, dass ich keinen Empfang mehr habe“, brummte der Techniker. „Und nun?“
„Keine Ahnung.“ Peikert zog die Stin kraus und dachte laut nach: „Wenn sich das Handy die ganze Nacht über nicht bewegt hat, muss El-Bahi hier übernachtet haben.“
„Da drüben ist das Ibis-Hotel.“ Der Techniker deutete auf das Gebäude. „Wahrscheinlich hat er dort übernachtet.“
Peikert nickte. „Ich frage mal an der Rezeption.“ Er parkte den Wagen vor dem Hoteleingang und stieg aus. Unterwegs ließ er sich von Schwart-Hertel ein Bild von El-Bahi auf sein Handy schicken. Im Zickzack schlängelte er sich durch die Hotelgäste in der Lobby. Der Concierge war gerade bemüht, einem älteren, englisch sprechenden Paar zu erklären, wie es zur Museumsinsel gelangen konnte.
Wieder meldete sich Peikerts Handy. „Was ist denn nun?“, fragte Ostermann. „Wo ist El-Bahi?“
„Wahrscheinlich hat er im Hotel am Omnibusbahnhof übernachtet. Ich frage gerade nach.“
Peikert drängte sich an den Touristen vorbei und hielt dem Concierge seinen Dienstausweis und sein Handy mit dem Bild El-Bahis unter die Nase. „Hat dieser Mann hier übernachtet? Sein Name ist vermutlich Hakim El-Bahi.“ Der Concierge war sichtlich erschrocken. Sicher zog er aus dem arabisch klingenden Namen und dem Dienstausweis Peikerts seine Schlüsse. Er tippte am Computer herum, während Peikert sich mit den Ellenbogen auf den Tresen stützte.
„Ja, ein Herr Hakim El-Bahi hat vor einer Stunde ausgecheckt. Jetzt erinnere ich mich. Er hat einen Herrn in der Lobby getroffen und mit ihm das Hotel verlassen.“
„Hatte er Gepäck dabei?“, erkundigte sich Peikert.
„Ja, einen Rollkoffer.“
„Ist Ihnen an dem Rollkoffer etwas aufgefallen?“
„Nein…“ Der Concierge runzelte die Stirn. „Meinen Sie, da war eine Bombe drin?“
Peikert antwortete nicht.
„Wir haben in der Lobby eine Überwachungskamera“, fuhr der Concierge fort.
„Das ist gut“, nickte Peikert. „Dann geben Sie mir bitte die Aufzeichnungen.“
Der Hotelangestellte verschwand in einem hinter der Rezeption liegenden Raum. Peikerts Handy meldete sich erneut „El-Bahi ist jetzt in Dreilinden geortet worden“, meldete Erika Seiboldt.
Dann ist er vermutlich auf der Autobahn, überlegte Peikert. Wahrscheinlich in einem Linienbus.
Es dauerte nicht lange, bis er die gewünschte CD mit den Aufnahmen der Überwachungskamera in Händen hielt. Sein nächster Weg führte Peikert zum Ticketschalter des Busbahnhofs. Als er der Verkäuferin das Foto von El-Bahi zeigte, erinnerte sie sich nach einigem Überlegen: „Ja, der Herr wollte nach Leipzig, er hat zwei Fahrkarten gekauft.“
Peikert rief Ostermann an und erklärte ihm die Situation. „Der Bus ist vor zwanzig Minuten abgefahren.“
„Scheiße“, war der einzige Kommentar Ostermanns. „Ich werde die sächsischen Kollegen informieren.“
Peikerts nächster Anruf galt Schwart-Hertel. Seine Kollegin reagierte kontrolliert: „Wir müssen sichergehen, dass die beiden keine Bombe auf dem Zentralen Omnibusbahnhof abgelegt haben“, sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Erkennen Sie irgendwo alleinstehende Koffer oder Taschen?“
Peikert sah ein Gewirr von Reisegepäck. „Es herrscht zu viel Getümmel, als dass ich herrenlose Gepäckstücke erkennen könnte.“
„Dann ist das jetzt ein Fall für die Polizei“, bestimmte Schwart-Hertel. „Kommen Sie bitte zurück. Ich brauche dringend die Kameraaufzeichnungen aus dem Hotel. Ich will wissen, wer der zweite Mann ist.“
Gegen Mittag saß Peikert in Schwart-Hertels Büro. „Und? Konnte der Begleiter El-Bahis inzwischen identifiziert werden?“, fragte er. Sofort nach seiner Rückkehr vom Busbahnhof hatte er der Kollegin die CD gegeben, die inzwischen ausgewertet und mit den Bilddateien des Verfassungsschutzes abgeglichen worden war.
Schwart-Hertel nickte. „Er heißt Fahed Brahini, ein Berliner Islamist. Der Mann ist nicht in der Antiterrordatei erfasst und auch nicht als Gefährder eingestuft. Ich kann mich allerdings daran erinnern, dass der Name hin und wieder von meinen Mitarbeitern genannt wurde. Zurzeit wird seine Personenakte ausgewertet.“
„Dann haben wir ja bald weitere Einzelheiten“, sagte Peikert. „Hat Herr Ostermann schon mit den Kollegen in Sachsen gesprochen?“
„Ja. Die dortigen Observanten fahren dem Bus entgegen und beobachten ihn. Wir…“
Ein Mitarbeiter betrat eilig das Büro. „Die Polizei hat den Busbahnhof geräumt“, berichtete er. „Sprengstoffspürhunde sind vor Ort. Bisher ist nichts Verdächtiges festgestellt worden.“
„Das ist gut. Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass die beiden Männer einen Anschlag auf dem Omnibusbahnhof verüben wollten“, sinnierte Schwart-Hertel. „Viel eher glaube ich, dass sie Planer sind. Nach dem, was uns der DGSE mitgeteilt hat, zieht El-Bahi die Fäden im Hintergrund. Trotzdem ist es richtig, dass der Busbahnhof durchsucht wird.“
„Aber was planen sie?“, fragte Peikert. „Einen Bombenschlag? Im Zusammenhang mit der Fußballeuropameisterschaft?“
„Möglich“, antwortete Schwart-Hertel.
„Und wenn ja, wo? In Paris? In Berlin? Auf der Fanmeile? Oder woanders?“ Peikert stieß hörbar die Luft aus.
Schwart-Hertel zuckte mit den Schultern „Und ich frage mich, warum sie gerade nach Leipzig gefahren sind. Wir müssen sehr aufmerksam sein.“